Zur Schule mit dem Bus fahren, alleine zum Bäcker gehen, Klettern im Wald … Während Kinder wachsen und selbstständig die »Welt da draußen« erkunden, stehen viele Eltern Ängste aus und wollen den Nachwuchs vor Stress und Gefahren behüten. Aber ohne losgelassen zu werden, können Kinder nicht stark und autonom sein.
Die bekannten Erziehungsexpertinnen Julia Dibbern und Nicola Schmidt zeigen Wege, um aus der Geborgenheit der Familie heraus Vertrauen in sich und seine Kinder zu entwickeln. Mit vielen Anregungen und konkreten Tipps ermutigen sie Eltern, ihren Kindern nicht nur Liebe und Halt, sondern auch Freiheit mitzugeben. Mut, Neugier, Charakterstärke und Selbstständigkeit sind für Kinder ebenso wichtig wie Bindung und familiäre Wurzeln. So können Eltern wie Kinder die Herausforderungen der »Wild World« meistern.
Baby, baby, it’s a wild world
Lieben heißt loslassen
Wurzeln und Flügel
Was dieses Buch für euch tun kann
Warum Loslassen schwer bleibt
Logo schaffen die das!
Alles, was wir tun, macht einen Unterschied
Kinder einer Welt
Die Wild World ist selbst in Gefahr
Familienresilienz
Unverwüstliche Kinder
Was Eltern resilienter Kinder richtig machen
Widerstandsfähige Familien
Die Kunst des Möglichen
Unser Nordstern: gemeinsam, ehrlich, fair
Sich für das Gute entscheiden
Gemeinsam sind wir stärker
Aufrichtig zueinander sein
Fair währt am längsten
Bleibt auf Augenhöhe
Tut Gutes und redet darüber
Tut Gutes und schweigt darüber
Sieben Sachen
Vertrauen
Durchhaltevermogen
Mut
Selbstwert
Innerer Frieden
Bindung
Humor
Wild Kids
Grenzen
Auf sich selbst aufpassen
Verantwortung fur die Gemeinschaft
Mit Konflikten umgehen
Freundschaften
Medienkonsum
Wild Parents
Freiraume erlauben
Verantwortung lehren
Angst aushalten
Gefahren richtig einschatzen
Fehlertoleranz vorleben
Aufrichtigkeit vorleben
Zum richtigen Zeitpunkt kuscheln
In Kontakt bleiben
Catch’em being good
Nicht loben aber wenn,, dann richtig
Phasen erkennen
Wolfnapping
Wild World
Die Welt nach Hause einladen
Die Welt entdecken
Der Wald vor der Haustur
Mit der Welt umgehen
Konstruktiv werden
Fliegen lassen
Tappt nicht in diese Fallen!
Was unsere Erwartung mit Kindern macht
Wie wir den Mittelweg finden
Raising global children
Danke
Uber die Autorinnen
Quellennachweis
If you love somebody, set them free.
Richard Bach1
Blick zur Uhr, wo bleibt das Kind? Es sollte seit zehn Minuten zu Hause sein. Aber wer weiß, vielleicht ist der Bus verspätet. Schnell die Kartoffeln schon mal auf dem Blech verteilen, damit es dann schnell geht, in einer Stunde ist der Zahnarzttermin. Inzwischen ist das Kind siebzehn Minuten verspätet. Vor dem Fenster sind schon vor einer Ewigkeit zwei Kinder aus der gleichen Klasse vorbeigeschlendert … Langsam hilft tiefes Atmen nicht mehr gegen die Nervosität. Wo zum Geier bleibt das Kind? Anruf bei der besten Freundin, keiner geht ans Telefon. Bis zum Zahnarzttermin wird’s langsam knapp. Macht es Sinn, den Ofen jetzt schon anzuschalten? Anruf bei der Schule, nein, niemand ist länger geblieben, der Schulhof ist leer. Ist es albern, die Polizei anzurufen? Scheiß auf albern. »Machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagt der Polizist beruhigend, »rufen Sie in drei Stunden wieder an, in der Regel klären sich diese Dinge.« Machen Sie sich keine Sorgen, ha! Der hat gut reden. Atmen. Atmenatmenatmen. Mit zittrigen Händen beim Krankenhaus anrufen, ob sie ein zehnjähriges Kind …
Es klingelt an der Tür. Davor steht das Kind, nassgeregnet und vergnügt. »Ich hab den Bus verpasst«, sagt das Kind. »Da bin ich gelaufen. Und ich habe so eine süße Katze gesehen! Können wir nicht eine Katze haben?«
Machen wir uns nichts vor: Es ist nicht immer einfach, die Kinder, die wir über Jahre behütet, beschützt und betüddelt haben, auf einmal in diese Wildnis aus fremden Menschen, großen Straßenkreuzungen und engen Zeitplänen zu entlassen. Das liegt nicht daran, dass wir Glucken und Helikopter-Eltern sind. Wir sind einfach … Eltern!
Wenn wir Eltern von Kindern zwischen sechs und zwölf fragen, was sie am meisten stresst, kommt eine Antwort so gut wie immer: Wie kriegen wir Anspruch und Wirklichkeit unter einen Hut?
Bevor wir in diesem Buch erklären, was man alles für tolle Sachen unternehmen kann, um Kinder gut in die Selbstständigkeit zu entlassen, möchten wir wieder sagen: keinen Stress. Stress ist immer schlecht. Wir machen das gut. Ihr macht das gut. Unsere Kinder machen das gut. Man kann sich eine Menge Sorgen machen und manche davon sind auch berechtigt, aber andere sind nicht notwendig. Und perfekt muss sowieso keiner sein.
Hat euch vorher jemand gesagt, dass die ganze Kindheit aus Abschiednehmen besteht?
Aus »Ich lasse dich los«? Aus Kompromissen und möglichen Fehlentscheidungen? Uns nicht. Wir dachten früher wirklich mal: Wenn wir es einfach möglichst gut machen, uns vorher informieren, eine geeignete Umgebung schaffen und viel an uns arbeiten, dann kann doch eigentlich nicht mehr viel schiefgehen bei der perfekten Kindheit. Nun – inzwischen sind wir Meisterinnen im »Gut, das muss so reichen« und »Ups, das war Mist«. Das Leben geht weiter. Wir haben so oft Adieu gesagt, dass wir es kaum noch zählen können – und zwar nicht nur zu Kindheitsphasen (die im Nachhinein immer so schön waren und nie wiederkommen), sondern auch zu unseren eigenen Vorstellungen vom idealen Familienleben. Diese Abschiede waren nicht immer leicht, aber wir haben Wege gefunden, alle daran zu wachsen, und können euch heute davon berichten.
Besonders wichtig war für uns, mit anderen Eltern darüber zu sprechen. Am besten mit Eltern von größeren Kindern! Insofern hatte ich, Nicola, das Glück, dass ich dich, Julia, an meiner Seite hatte, mit deinem größeren Sohn und dem nie enden wollenden Strom von Bestärkung: »Du machst das gut, deine Kinder sind total entzückend, bei uns war das auch schwierig damals, ich hab das so und so gemacht.« Denn niemand ist damit allein, wir alle gehen durch diese Zeiten. Viele Eltern haben uns erzählt, wie aufregend es ist, wenn Kinder die ersten Schritte in die Welt hinaus tun. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese mit drei, fünf oder acht Jahren stattfinden – es gibt eine ganze Menge erste Schritte im Familienleben.
Es beginnt mit den Dreieinhalbjährigen, die bei IKEA plötzlich allein ins Småland wollen. Und das ist erst der Anfang. Ab dem Schulalter wird es dann aufregend: Knut erzählte uns auf Facebook, dass sein Sohn einen Tag nach dem fünften Geburtstag erklärt hat, er würde jetzt allein zum Spielen rausgehen. Knut blieb gelassen, genoss die Stunde Ruhe, hat dann aber doch ganz gelassen alle drei Minuten aus dem Fenster geguckt – es könnte ja regnen. (Das muss man im Auge behalten. Julia nickt verständnisvoll.) Aber es muss gar nicht draußen beim Spielen sein: Wir haben mit den Kindern beim Zahnarzt Termine zum Nachschauen – und während wir freundlich zur Prophylaxe gebeten werden, marschiert das Kind selbstbewusst allein mit der Sprechstundenhilfe in ein eigenes Behandlungszimmer, ohne uns!
Sanny, die sich selbst als »Glucke« bezeichnet, erzählt, dass sie ihren verträumten Jungen bald loslassen muss, damit er mit dem Bus in die Schule fahren kann und an einer Ampel eine Bundesstraße quert. Puh. Atmen! Auch Elisas Sohn will nach drei Monaten Begleitung jetzt endlich seinen Schulweg allein schaffen – mit Straßenbahn und Bus und Umsteigen. Und: Er schafft es! Als er einmal die Haltestelle verpasst, helfen ihm freundliche Passanten. Das Kind ist stolz – die Eltern lernen loslassen.
Anna durchwacht drei Nächte vor Aufregung, weil das Kind auf Klassenfahrt ist – wo das Kind auch nicht schläft, aber nicht etwa vor Angst, sondern weil es Party macht! Und dann sind da die Neunjährigen, die mit dem Rad ins Nachbardorf zu ihren Freunden fahren und fünf Zentimeter größer wiederkommen, wenn sie es geschafft haben.
Wir Eltern haben Herzklopfen. Wir sind gestresst. Wir machen uns einen Kopf. Wir machen uns Sorgen. »Wie wird das sein? Kann ich mein Kind da allein hinlassen? Wie wird es ohne mich, ohne uns, klarkommen? Wie soll das gehen? Wie wird man mit ihm umgehen? Was, wenn etwas passiert?«
Was wir Eltern dabei oft übersehen: Wir haben doch bis hierhin schon super Arbeit geleistet. Das sind doch großartige, starke, toughe Kinder! Die Kinder sind stabil, mutig, sie können Probleme lösen und anderen Menschen vertrauen, sich Hilfe holen und ruhig bleiben. Wenn wir ganz genau hingucken, können wir uns in den meisten Fällen entspannt zurücklehnen. Warum sorgen wir uns? Vielleicht können unsere Kinder etwas, was wir in dem Alter noch nicht konnten? Oder haben wir es nur vergessen?
NICOLA: Meine Tochter war dieses Jahr zum ersten Mal allein im Reitercamp. Ich war es, die vorher hinfahren und alles ansehen wollte. Ich war es, die es wichtig fand, die Betreuer (alle!!!) vorher zu sprechen. Und das, obwohl ich auf dem Sprung in ein artgerecht-Camp war. Ich war es, die bei der Abgabe noch drei Stunden Puffer eingeplant hatte, damit meine Siebenjährige sich »eingewöhnen« konnte. Als ich das meiner Tochter eröffnete, erklärte sie mir: »Mama, keiner fährt da vorher hin!« Als wir am Tag X auf dem Reiterhof ankamen, durfte ich der Reitlehrerin gerade noch die Hand schütteln. Dann drückte und küsste mich mein Kind und flüsterte mir freundlich ins Ohr: »Mama, das hier ist jetzt mein Camp. Du kannst jetzt in dein Camp gehen. Ich erzähle dir alles hinterher. Tschüss!« Ich hatte sieben Nächte lang Herzklopfen. Sie hingegen rief nicht mal an. Eine Woche später hüpfte sie mir freudestrahlend entgegen mit der freundlichen Frage: »Und? War dein Camp so cool wie meins?«
Halten wir fest: Unsere Kinder werden fliegen, ob wir das wollen oder nicht. Sie werden hinausziehen in diese Welt da draußen, und wir können nicht das Geringste daran ändern, dass sie dort ihre Erfahrungen machen. Wir, Nicola und Julia, wissen beide, wie aufregend und vielleicht auch beunruhigend das sein kann – obwohl natürlich alle Eltern mit dem Kopf wissen, dass es der Lauf der Dinge ist, dass es gut und richtig ist und all das. Aber sag das mal einem Mutterherz, das weint, weil der liebevolle kleine Sohn auf einmal zum wilden Kerl wird. Sag es einem Vaterherz, das sorgenvoll dabei zusieht, wie die Zehnjährige auf einmal mit Wimperntusche im Gesicht in die wilde Welt hinauszieht.
JULIA: Wir haben das mit der Schule damals ein wenig anders gelöst als üblich. Dieser andere Weg war nicht immer leicht, aber er war frei, und wir hatten grandiosen Spaß und wunderbare Erlebnisse – kurz gesagt, ich war eigentlich der Meinung, dass wir uns ganz gut darin eingerichtet hatten.
Und dann kam der Tag, an dem mein Sohn sagte: »Ich möchte ab der fünften Klasse in eine ganz normale Schule gehen wie die anderen.«
»Verstehe ich das richtig?«, fragte ich. »Ich will dir die Welt schenken, und du willst … naja … in die Schule?«
»Ja.«
Ich habe geschluckt. Und dann habe ich genickt. »Okay.«
Kurz davor hatte ich Jesper Juuls Pubertätsbuch gelesen, und ich glaube, es war dort, wo ich die Aussage fand, dass wir als Eltern nur zehn oder elf Jahre Einfluss hätten und dass der Drops danach im Prinzip eh gelutscht sei. Mit dieser heiligen Jesper-Aussage im Kopf und meinem selbstständig sich seinen Weg suchenden Kind im Herzen saß ich dann eines Tages im Kino und guckte Mamma Mia! Zum Glück waren die Plätze um mich herum einigermaßen leer, denn bei der Szene mit dem Nagellack holte es mich ein. Für alle, die den Film nicht kennen: Es geht darum, was die Hochzeit der noch sehr jungen Tochter mit der Mutter und den drei potenziellen Vätern macht. Eigentlich ist es leichte Kost. Aber es gibt eben diese eine Szene, wo die Mutter der Tochter in Vorbereitung auf die Feierlichkeiten liebevoll die Fußnägel lackiert und dazu singt (ja, der Film ist ein Musical), und zwar sinngemäß: »Da geht sie dahin mit ihrer Schultasche in der Hand. Und ich stehe hier und sehe ihr nach. Ich habe das Gefühl, sie für immer zu verlieren. Was ist mit all den Abenteuern passiert, mit all den Orten, die ich mir vorgenommen hatte, dir zu zeigen? Manches davon haben wir gemacht, aber das meiste nicht. Und warum? Das weiß ich nicht …«
An der Stelle war es mit mir so was von vorbei. What happened to these wonderful adventures?
Es war der Anfang zweier sehr verheulter Wochen, und am Ende ließ ich meine Vorstellung von all dem gehen, was ich mir so für die reiche, erfüllte Kindheit meines Sohnes ausgedacht hatte. Denn letztlich ist es sein Leben, und ich finde, er macht das ziemlich gut.
Sechs Jahre später kann ich sagen: Es gab dann trotzdem noch das eine oder andere Abenteuer. Als die Jungs auf den Brückenbogen geklettert sind zum Beispiel …
NICOLA: Oh Gott, da hatte ich Herzklopfen beim Zuhören! Aber das ist eine andere Geschichte und soll an einer anderen Stelle in diesem Buch erzählt werden.
JULIA: Stimmt. Um es vorsichtig auszudrücken: Ich habe mir an manchen Stellen zu viele Gedanken gemacht. Womit ich glücklicherweise nicht allein bin.
Auf den nächsten Seiten wollen wir euch daher erzählen, wie wir herausgefunden haben, dass Gelassenheit meist besser funktioniert als Aufregung, und was wir Eltern tun können, um unsere Kinder entspannt zu begleiten, während ihnen Flügel wachsen und sie die ersten Schwungübungen machen.
Ein bekannter Aphorismus sagt: »Wenn Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, verleih ihnen Flügel.«
Über die Wurzeln haben wir beide ja andernorts schon viel geschrieben, in diesem Buch geht es um die Flügel. Denn wir wissen aus eigener Erfahrung und aus den vielen Geschichten, die Eltern uns erzählt haben, dass die Sache im echten Leben nicht so einfach ist wie im Kalenderspruch. Emotional nicht und ganz praktisch manchmal auch nicht.
Dabei geht es nicht nur um den Augenblick, in dem das Kind zum ersten Mal allein in der Betreuung bleibt und die Mutter Kompensationskuchen essen und mit ihrer besten Freundin telefonieren muss, bis sie es endlich wieder abholen kann. Es geht nicht nur um den Moment, in dem die Zwölfjährige die Entscheidung trifft, fortan bei ihrem Vater zu leben, den die Mutter für die gestörteste Person unter der Sonne hält. Sondern es geht auch um die vielen Fragen, die sich Eltern jeden Tag stellen, und um das Spannungsfeld, in dem wir leben. Aus unserer Sicht ist der Trick:
Merksatz
Macht die Kinder stark.
Und dann lasst sie los und vertraut auf eure Arbeit.
Klingt einfacher, als es manchmal ist, das ist uns bewusst. Aber wir Eltern müssen aushalten, dass wir ab dem Schulalter vieles einfach nicht wissen. Wir wissen nicht, was wirklich auf dem Schulhof los ist. Wir wissen nicht, was die Kinder unter sich ausmachen. Wir wissen oft nicht einmal, was die Kinder in ihren kleinen Kinderköpfen mit sich selbst ausmachen – vielleicht erinnert sich die eine oder andere an die großen Welten, die wir als Kinder in unseren Köpfen getragen haben. Jetzt, da die Kinder das Schulalter erreichen, gehen sie in eine eigene Welt. Und das müssen sie auch. Wir können jetzt nicht mehr immer dabei sein.
Das Gute ist: Unsere Kinder breiten nicht von einem auf den anderen Tag ihre metaphorischen Flügel aus und hopsen aus dem Nest, sondern wir können das Wachsen über Jahre begleiten, von der ersten zarten Daune bis hin zu den Schwungfedern. Die ganze Zeit über können wir sie bei ihren Flugübungen unterstützen, genießen, wenn sie immer wieder zurückkehren, und in uns selbst das Vertrauen wachsen lassen, dass die das schon schaffen und wir unseren Job als Eltern ziemlich gut gemacht haben.
Im Gegensatz zu Eltern heute konnten die Eltern früherer Zeiten kaum in Versuchung kommen, ihre Kinder mit GPS-Trackern auszustatten. Aber auch wir heute haben Möglichkeiten, entspannt und vertrauensvoll mit dem Auszug unserer Kinder in die große Welt da draußen umzugehen.
Und wir müssen zum Glück das mit dem Loslassen auch nicht von Anfang an perfekt hinbekommen, sondern es genügt, uns selbst und unseren Kindern einfach immer mal wieder ein bisschen mehr zuzumuten. Die Beziehungen in der Familie lassen sich mit Gummibändern vergleichen, die immer wieder gedehnt werden und sich zusammenziehen. Immer wird jemand sich entfernen und zurückkehren. Nähe – Distanz – Nähe, ein fortwährendes Spiel zwischen Freiheit und Abhängigkeit.
Je älter die Kinder werden, desto größer werden die Distanzen – und desto entschiedener kehren sie bis zu einem bestimmten Alter wieder zurück und genießen die elterliche Nähe. Der Spruch »Wenn du jemanden liebst, lass ihn frei« passt nirgends besser als für Situationen, in denen Eltern ihre Kinder fliegen lassen müssen.
Freilassen bedeutet für uns: Vertrauen haben. Wissen, dass wir all die Jahre unser Bestes gegeben haben – und dass das reicht. Wissen, dass unsere Kinder stark genug sind, mit der wilden Welt klarzukommen – und sie vielleicht sogar zu einem besseren Ort zu machen, jedes auf seine Art.
Ja, wir müssen die Kinder loslassen. Aber nein, natürlich nicht blind. Natürlich lassen wir sie nicht in ihr Verderben rennen, sie surfen mit acht nicht ungeschützt im Netz herum und mit zehn liefern wir sie nicht dem Mobbing in der WhatsApp-Gruppe aus. Und in der Regel kennen die meisten Eltern auch die Elternhäuser der Freunde ihrer Kinder zumindest insoweit, dass sie sicher sein können, dass das Kind dort nicht unter die Räder kommt. Wir müssen eine gesunde Balance finden. Aber seien wir ehrlich: Die (vollkommen verständliche) Tendenz von uns Eltern ist eher, die Kinder zu wenig loszulassen.
In Wild World haben wir für euch viele praktische Tipps gesammelt, die das gemeinsame Entdecken der Welt froh und das Loslassen leichter machen. Beim Lesen werdet ihr hoffentlich schmunzeln und den einen oder anderen Aha-Moment erleben – oder feststellen, dass dies oder jenes bei euch ganz genauso ist.
Wir werden euch zeigen, warum wir uns erst mal entspannen können (das sind tolle Kinder) und wie wir uns grundsätzlich noch mehr entspannen können (es ist alles gar nicht so wild, wie es aussieht). Und wenn es mal schiefgeht (und es wird mal schiefgehen), wenn es blöde Zickereien unter Freunden, unerwiderte Liebe, unfreundliche Zahnärzte und Angst vor dem Klimawandel gibt – dann zeigen wir euch Wege, eure Familien wieder in Balance zu bringen. Außerdem sprechen wir über den Unterschied zwischen »gutem« und »schlechtem« Loslassen und über die Unterscheidung von Wünschen und Bedürfnissen.
Denn alle Eltern kennen das, was wir erlebt haben. Bei Babys geht es um die Erfüllung der primären Bedürfnisse, sie sollen sicher, warm und satt sein und sich gut entwickeln. Aber wenn sie größer werden, taucht auf einmal eine Menge neuer Fragen auf: Wie überlebt mein wildes Kind im Schulsystem? Warum sind eben noch nette Spielkameraden in der Gruppe manchmal so ätzend? Wie gehen wir mit gesellschaftlichen Zwängen um wie Hausaufgaben, Arztterminen oder Omas Tischregeln? Wie viel Ordnung und Sauberkeit ist eigentlich »artgerecht«? Wann kriegt das Kind ein eigenes Handy, mit oder ohne Datenflatrate? Wie erkläre ich meinen Kindern, dass man mit zehn Jahren mehr darf als mit sechs Jahren? Und wenn dann die Entwicklungsschübe, intellektuellen Sprünge und emotionalen Ausbrüche in der kleinen Pubertät im sechsten Lebensjahr kommen – ist dann immer noch totale Bedürfnisbefriedigung das Richtige? Was tue ich, wenn ein neunjähriges Kind kuschelnd auf den Schoß will und zwei Minuten später schreit: »Du nervst mich voll!«? Warum können auch gestillte, getragene, geborgene Kinder ganz schön kratzbürstig werden und wie geht man mit freundlichen Hinweisen nach der Manier »Ihr seid voll scheiße!!« um?
Gleichzeitig gibt es auch in der Welt der »großen« Kinder ein paar Dinge, die man richtig machen kann, auf die es wirklich, wirklich ankommt. Und wenn man die richtig macht, kann man auch mit Tiefkühlpommes nicht mehr viel falsch machen. Nicht mal mit Tiefkühlpizza.
Wenn ihr euch jenseits von Perfektion und Fluchtgedanken dafür interessiert, wie das geht, dann ist das hier das richtige Buch für euch. Für alle Eltern, aber auch Großeltern, Tanten, Onkel, alle, die Kinder begleiten und sie gut vorbereitet in die Welt loslassen möchten.
Dieses Buch ist auch für alle, die wie wir sagen: Die Kinder sind okay, und wir Eltern können das! Und die Welt da draußen ist übrigens gar nicht so schlecht!
Und wie bei Slow Family glauben wir auch diesmal, dass es einen großen Unterschied macht, ob unsere Kinder »Nein« sagen oder »Vielleicht eher nicht …«. Wir sind sicher, dass es eine Rolle spielt, ob wir ihnen zuhören und sie sich gesehen fühlen, ob wir den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, uns zu zeigen und auch mal auszuhalten, dass es Probleme gibt, für die wir keine Lösung anbieten können.
Es macht einen Unterschied. Ganz sicher. Alles, was wir tun, macht einen Unterschied. Wir wollen uns bewusst entscheiden, welchen Unterschied wir machen, wie die große Jane Goodall sagte. Und das gilt ganz besonders für das Zusammensein mit unseren Kindern.
Die Welt da draußen ist wild und scheint immer wilder zu werden – nicht unbedingt im positiven Sinne. Und manchmal, wenn wir wieder einmal irgendwo eine Schreckensnachricht gehört haben, sei es in den Nachrichten oder in der Nachbarschaft, ist es nicht so einfach, seine behüteten, gekuschelten, geliebten, zarten, empathischen Kinder dort hinauszulassen. Denn natürlich wollen wir, dass es unseren Kindern gut geht und dass sie sicher sind.
Wir haben gezittert, gebetet, auf die Uhr geschaut, das Internet durchforstet. Wir haben die halbe Familie verrückt gemacht auf der Suche nach der besten Schule, dem besten Sportkurs, dem besten Ferienort, den besten anderen Familien, den besten Spielkameraden. Wir wollten die Welt so, wie wir sie uns für unsere Kinder wünschten – und mussten einsehen, dass die Welt so ist, wie sie nun einmal ist. Und dass unsere Kinder das oft richtig prima finden.
Nachrichten, Bücher und auch Freunde können uns viel Angst machen: Kinder gehen, wenn man das alles glaubt, quasi alle naselang verloren, werden entführt, im Sportverein missbraucht, schaffen die Schule nicht, trinken zu früh zu viel Alkohol, gucken in der Grundschule Pornos, werden hyperaktiv vom Handyzocken und können nicht mit Geld umgehen. Wenn man diese angeblichen Tatsachen in sein Leben hineinlässt, kann einem mit Recht angst und bange werden.
Aber ist die Welt wirklich so furchterregend?
Nein, ist sie nicht! Wenn wir genau hinsehen, ist die Wirklichkeit nämlich ganz anders und viel besser. Wir wollen uns das mit euch ansehen – eine Welt voller starker Kinder, die von uns hin und wieder etwas Unterstützung brauchen, um loszuziehen und starke Erwachsene zu werden.
Fragt man Eltern größerer Kinder oder junger Erwachsener, welche Sorgen im Rückblick berechtigt waren, sagt ein Großteil dieser Eltern, dass eigentlich alle Sorgen überflüssig waren. Anke, Mutter eines inzwischen neunzehnjährigen jungen Mannes, meinte dazu: »Wenn ich das damals alles gewusst hätte, was kommt, ich hätte mich an der Hand genommen und gesagt: Komm, chill mal.«
Aber wir wissen, dass »Chill mal« allein nicht hilft. Deswegen haben wir uns erstens gefragt, wie man Kinder stark machen kann für die wilde Welt – damit wir uns tatsächlich entspannen können. Dabei mussten wir feststellen, dass starke Kinder die Sache sicherer, aber nicht einfacher machen! Denn starke Kinder sind nicht unbedingt einfache Kinder und sie haben oft ganz eigene Vorstellungen davon, wie sie ihre »Wilde Welt« gerne hätten:
Julia hat alles getan, ihren Sohn als durchs Leben schwebenden Weltbürger aufwachsen zu lassen, von der Gründungsinitiative für eine demokratische Schule bis zu ausgedehnten Reisen – während das weltgewandte Kind dann eines Tages frohgemut verkündete, es wolle jetzt doch bitte mal wie alle anderen eine normale Schule besuchen.
NICOLA: Und jetzt erzählst du mir wöchentlich, wie großartig diese Schule ist.
JULIA: Es ist immer noch eine Schule, da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber ich habe enorme Achtung vor den engagierten Menschen dort, die so achtsam und respektvoll mit den Jugendlichen umgehen.
Nicola hat ihre Tochter in einem erzkatholischen Umfeld mit aller Kraft vor der Strenge der Kirchenväter bewahrt und im Geiste tiefer Naturverbindung aufgezogen – nur damit das Kind eines Tages aus der Schule kommt und verkündet: »Mama, ich will jetzt Muslima werden, die haben so schöne Gebete und Kopftücher!« Was soll man da sagen, außer: »Okay, Schatz, dann schauen wir uns das jetzt mal genau an.«
JULIA: Und? Habt ihr?
NICOLA: Klar … aber wir sind noch … sagen wir … im Prozess …
Außerdem geht im Leben auch immer mal wieder etwas schief und wir können nicht einfach alle Schwierigkeiten und unangenehmen Erfahrungen von den Kindern abwenden. Daher haben wir uns gefragt, was Familiensysteme stark genug macht, dass sie auch nach schwierigen Phasen immer wieder zurückfedern auf ein gesundes Zusammensein. Im Kapitel »Familienresilienz« findet ihr das Ergebnis dazu inklusive praktischer Tipps für den Alltag.
Ja, manchmal fühlte es sich wirklich zum Fürchten an. Dann haben wir geschaut, wo die Furcht herkommt und ob sie vielleicht manchmal sogar sinnvoll ist. Wir haben gelernt zu unterscheiden, wann wir sie ernst nehmen müssen und wann wir sie lächelnd ansehen und sagen können: »Vielen Dank, Angst, dein Einwand ist registriert. Ich gehe jetzt dennoch weiter.«
Denn wir wollen ja die weite, wilde Welt! Unsere Kinder wollen in die weite, wilde Welt hinaus, wollen sie entdecken, erforschen, erobern. Aber wir wollen auch alle nicht gefressen werden. Manchmal fühlt es sich an, als wäre das nicht zu schaffen. Wenn die Sechsjährige aus der Mädchengruppe ausgeschlossen wird, der Zehnjährige auf dem Schulhof Pornos gezeigt bekommt, der Sechzehnjährige bei der Feuerwehrübung das Niedersachsenlied singen soll und außerdem noch alle immer morgens um 6.15 Uhr aus dem Bett müssen, dann haben auch wir manchmal gedacht: Ach, Leute, macht das ohne uns, wir ziehen auf eine Insel. Oder in den Dschungel.
Wir sind aber geblieben. Und wir haben Möglichkeiten gefunden, die wilde Welt für uns und unsere Kinder zu erobern beziehungsweise unseren Kindern nicht im Weg herumzustehen, wenn sie ihre Sachen packen, um selbst hinauszugehen. Und wir haben festgestellt: Es geht tatsächlich, ohne gefressen zu werden. Versprochen!
JULIA: Die Geschichte, die wir in der Einleitung erzählt haben, ist mir beinahe eins zu eins so passiert. Inklusive der Anrufe bei Polizei und Krankenhaus. Und genau wie dort klingelte es bei uns dann fast zwei Stunden zu spät an der Tür.
Ich stürze hin. Das Kind steht davor, frohgemut.
»Warum weinst du denn?«, fragt das Kind.
Ich schniefe. »Weil ich mich so freue, dass du wieder da bist.« Und weil ich eine Scheißangst gehabt habe. »Du hast ja lange gebraucht heute.«
Freudestrahlend erzählt mein Sohn, wie er auf dem Heimweg auf der großen Reifenschaukel auf dem Spielplatz neben der Schule gespielt hat. Zwei Kilometer vor zu Hause ist ihm dann die Kette rausgesprungen, also musste er schieben.
»Ja, hat er denn kein Handy?«, fragte meine Freundin mich später.
Im Rückblick bin ich mir sicher, dass er nur deswegen so fröhlich und guter Dinge war, weil er diesen Heimweg mitsamt dem kaputten Fahrrad allein bewältigt hat.
Wenn Eltern sich besorgt fragen – und sagt nicht, ihr hättet euch das nie gefragt –: »Ist mein Kind stark genug für die Welt da draußen?«, dann ist unsere Antwort: Ja!
Selbstverständlich sind die Kinder stark genug. Warum denn auch nicht? Wozu soll das Ganze denn sonst gut gewesen sein, all die vielen Stunden, die wir gekuschelt, getragen, gespielt haben? Die tausend Gedanken, die wir uns gemacht haben, die kleinen Händchen, die wir gehalten haben – das war doch nicht für nichts! Jedes Vorlesen am Abend, jedes verständnisvolle Zuhören, jedes In-den-Arm-Nehmen hat die Bindung zwischen Eltern und Kind gestärkt und dazu beigetragen, dass die Kinder stark und sicher werden.
Vielleicht wird es Momente geben, in denen das nicht so ist. Aber dann sind ja wir als Eltern da und können liebevoll unterstützen, wenn unsere Unterstützung gewünscht ist. Viele Kinder sind sehr entschieden darin, die tatsächliche Herausforderung allein zu bewältigen und dann lieber emotional aufgefangen zu werden.
Und dann gibt es wieder die Zeiten, in denen alles ganz von allein läuft und die Eltern sich fragen, warum sie sich je Sorgen gemacht haben – bis zum nächsten Selbstständigkeitsschub. Dieses ganze Großwerden und Loslassen ist ja kein Hebel, der von heute auf morgen umgelegt wird. Es ist nicht mal ein linearer Prozess, bei dem man irgendwann sagen könnte: »Super, wir sind bei 80 Prozent, gleich geschafft.« Sondern es ist ein verschlängelter, gewundener Weg, der vielleicht auch mal rückwärts oder bergauf läuft, sich selbst kreuzt und ab und zu ins Nichts zu führen scheint. Aber am Ende, und das ist das Gute, führen die allermeisten dieser individuellen, verschlängelten Wege gut und sicher zum Ziel.
In vielerlei Hinsicht ist Wild World eine Fortsetzung unseres Erfolgstitels Slow Family. Darin ging es viel um die kleinen Schritte, die jeder tun kann, um das Familienleben entspannt zu gestalten, um Stress abzubauen, um insgesamt ein wenig »artgerechter« zu leben, um etwas Gutes für den Planeten zu tun. Auch in Wild World schauen wir wieder darauf, was unserer menschlichen Natur entspricht, und ziehen dabei Wissenschaft und Erfahrungen zurate. In Slow Family schrieben wir: »Wir beide haben zusammen 24 Jahre Selbstversuch hinter uns, in denen wir ›artgerechtes Menschenleben‹ in der modernen Welt ausprobiert haben.« Mittlerweile sind es 28 Jahre. Nachdem wir uns um eine bindungsorientierte Baby- und Kleinkindzeit gekümmert, allerhand Initiativen und Projekte gegründet oder unterstützt, Bücher geschrieben, genetzwerkt und gefacebookt haben, nachdem wir verschiedenste Wohn- und Betreuungsmodelle ausprobiert und die Erfahrungen anderer Eltern dazu gehört haben, ist bei uns beiden mittlerweile eine Kompetenz dazugekommen, die uns dazu gebracht hat, Wild World zu schreiben: Wir werden immer besser im Loslassen.
Wir haben in all den Jahren natürlich auch erfahren, wie das ist, wenn man als Eltern Angst hat. Aber letzten Endes hilft sie nicht. Angst lähmt nur und hält uns in Untätigkeit gefangen – sei es die Angst vor Kleinigkeiten wie einem unangenehmen Anruf bei der Erzieherin oder später vor Gruseligkeiten wie den Drogen und Gewaltvideos auf dem Schulhof. Dieses Buch ist sozusagen ein Teil des Ausbruchsplans aus dem Gefängnis, in dem uns die Angst halten will.
Wenn wir – um im Bild zu bleiben – das Angstgefängnis verlassen wollen, müssen wir aufpassen, dass wir dabei nicht zu viel Lärm machen. Wir dürfen keine Wächter auf den Plan rufen, wir dürfen uns nicht auf dem Weg nach draußen noch schnappen lassen. Oder, anders gesagt: Wir dürfen unser eigenes System nicht damit überfordern, dass wir zu viel von ihm verlangen. Ängste sind nicht ohne Grund da, sie helfen uns zu überleben.
Der wichtigste Schritt, den wir tun können, ist: Vertrauen. Unseren Kindern. Uns selbst. Das möchten wir allen mit diesem Buch gerne mitgeben: In einer Welt der Unsicherheit zählt vor allem unsere Zuversicht. Denn nur mit Zuversicht können wir genau hinsehen und echte von eingebildeten oder eingeredeten Gefahren unterscheiden, klar denken und kluge Wege einschlagen.
Und wie bei allen anderen Themen haben wir dabei festgestellt: Auch das geht besser entspannt, ohne Druck und sanft mit sich selbst: Schritt für Schritt. Manchmal vielleicht auch zwei Schritte zurück, das Leben kennt da keine Regeln, jede Familie ist anders. Was einer Familie leicht von der Hand geht, kann einer anderen Familie so schwerfallen, dass es fast nicht zu schaffen ist. Damit für alle etwas dabei ist, haben wir euch wieder eine möglichst bunte Mischung an Ideen und Tipps zusammengestellt.
Hätte ich die Kraft, nichts zu tun,
täte ich nichts.Unbekannt (hängt an Nicolas Fensterscheibe im Büro)
Wenn Naomi Klein in Gegen Trump schreibt, dass wir uns in einem »Schockzustand« befinden, dann kann man ihr wohl beipflichten. Täglich starrt die Welt fasziniert auf die unflätigen Tweets eines in seiner politischen Kommunikation narzisstischen US-Präsidenten.1 Dabei übersehen wir manchmal, dass ganz andere gefährliche Dinge gerade um uns herum passieren: Wir haben das Zwei-Grad-Klimaziel mit großer Wahrscheinlichkeit verfehlt, wir verlieren jedes Jahr 58 000 Tierarten, und wir müssen gar nicht bis in die Kalahari schauen, um zu sehen, wie die Erde sich verändert: In Florida gibt es das größte Fischsterben seit Menschengedenken, weil Abwässer eine aggressive Rotalge füttern, und in Nordrhein-Westfalen kann man mittlerweile auf der Terrasse ungestört seinen Sonntagskuchen essen, denn das Bundesland hat nachweislich 80 Prozent seiner Insekten verloren.2
Klar ist es einfacher, sich mit seinen Kindern über die leckerste Schokoladensorte zu unterhalten, als darüber, dass andere Kinder den Kakao dafür geerntet haben oder Kälbchen die Milch dafür weggenommen wurde. Wir wissen das. Und wer uns kennt, weiß, dass wir die Letzten sind, die Genuss vermiesen wollen. Aber: Wir müssen reden. Denn es reicht nicht mehr, mit den Kindern in Geborgenheit Kastanienmännchen zu basteln und Jahreszeitentische zu decken. Wir finden es, wenn sie älter werden, auch sinnvoll, ihnen zum Beispiel bewussten Konsum nahezubringen. Und ja, auch wir haben manchmal den Gedanken: Am liebsten würden wir uns eingraben und das alles ignorieren. Wenn wir die Kraft hätten, täten wir nichts. Aber das ist auch keine Alternative. Also schauen wir jetzt mal auf die Welt und unsere Kinder, die sich darin bewegen sollen.