Wer andern eine
Grube
gräbt
20 spannende Kurzkrimis
In Ulm, um Ulm und um Ulm herum
Books on Demand
Walter G. Pfaus, Jahrgang 1943, ist verheiratet und hat drei Kinder. Schon mit 12 Jahren schrieb er seinen ersten Roman. Er arbeitete als Versicherungsvertreter, war selbstständiger Buchhändler und Wirt einer Künstlerkneipe. Nebenbei schrieb er Kurzkrimis und Kriminalromane. Später auch Theaterstücke, hauptsächlich Komödien. Nicht zuletzt auch sehr erfolgreiche Kriminalkomödien. Mit seinem Roman DER TEUFEL HAT DIE HAND IM SPIEL errang er im Manuskriptwettbewerb um den „Jerry Cotton Preis“ 1980 den dritten Platz. Über 300 seiner Kurzkrimis erschienen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Seine insgesamt 13 Kriminalromane erreichten eine Gesamtauflage von über 200.000 Stück. Zwölf seiner fast 100 Theaterstücke wurden schon vom Fernsehen aufgezeichnet. Er lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Blaubeuren und ist Mitglied im Syndikat.
knallharte Kurzkrimis von eiskalten Mörderinnen und Mördern…
von Frauen mit eisernen Nerven…
von nicht ganz perfekten Killern…
und von Rache nehmenden Männern.
Eine Gala heimtückischer Fälle, die fast alle eines gemeinsam haben: WER ANDERN EINE GRUBE GRÄBT.
Und immer mit einem überraschenden Schluss.
Edeltraut war nicht zu Hause. Das war lange nicht mehr vorgekommen. Seit fünf Jahren nicht mehr, und damals hatte sie diese Affäre mit Rupert gehabt. Aber das konnte es nicht schon wieder sein. Edeltraut hatte ihm versprochen, dass sie Rupert nie mehr wiedersehen würde. Außerdem saß Rupert immer noch im Gefängnis.
Gerold Hagen ging in die Küche und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit der Flasche in der Hand trat er ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
Dann sah er den Zettel auf dem Wohnzimmertisch.
Er las:
Ich bin bei Irma in Ulm. Sie braucht dringend meine Hilfe. Ich ruf dich an.
Edeltraut.
Er kannte Irma. Er hatte sie mit Edeltraut schon mal besucht. Sie wohnte in einem hübschen Haus in Ulm auf dem Eselsberg. Irma war auch schon bei ihnen zu Besuch gewesen. Sie war nett. Er mochte Irma. Aber in der Nähe von Ulm, in Blaustein, hatte auch Rupert gewohnt.
Gerold rief Irma an. Sie hob nach dem ersten Klingeln ab, als hätte sie neben dem Telefon gewartet.
„Oh Gerold“, schluchzte Irma. „Ich bin so froh, dass du anrufst. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“
„Was ist passiert?“ Gerold zwang sich zur Ruhe. „Ist Edeltraut bei dir?“
„Das ist es ja“, sagte Irma. „Sie war hier. Aber jetzt ist sie weg.“
„Weg?“ Gerold hielt den Atem an. „Was heißt, sie ist weg? Wo ist sie hingegangen?“
„Ich weiß es nicht. Sie ging gestern Abend weg und ist bis jetzt nicht zurückgekommen.“
„Mit wem ging sie weg?“
„Das hat sie mir nicht gesagt. Aber… aber Rupert ist wieder draußen. Ich habe schon daran gedacht, die Polizei zu alarmieren…“
„Nein, keine Polizei!“ In Gerolds Brust begann sich ein dumpfer Schmerz auszubreiten. „Warte, bis ich bei dir bin.“
„Aber…“
„Tu’ mir den einen Gefallen und unternimm nichts. Warte, bis ich bei dir bin.“
Er legte auf, rannte zum Auto und fuhr los.
Er schaffte die Strecke von Ehingen nach Ulm in zwanzig Minuten. Vor Irmas Haus stellt er den Motor ab. Erst jetzt fühlte er, wie er am ganzen Körper zitterte. Während der Fahrt waren ihm die schrecklichsten Gedanken durch den Kopf gegangen. Zweimal hatte er nur knapp einen Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug verhindern können. Durch seine Unaufmerksamkeit war er zu weit in die Straßenmitte geraten. Jetzt wartete er ein paar Minuten, bis er sich etwas beruhigt hatte. Dann stieg er aus und klingelte.
Irma öffnete ihm sofort. Ihre Augen waren rot vom Weinen.
„Sie hat sich noch immer nicht gemeldet“, sagte Irma. „Ich habe Angst, dass er…“ Sie brach ab und sah ihn mit tränennassen Augen an.
Es war inzwischen neun Uhr abends.
Äußerlich war Gerold jetzt die Ruhe selbst. Er ließ sich seine Enttäuschung und Wut nicht anmerken.
„Weißt du, wo der Kerl jetzt wohnt?“ fragte er.
Irma schüttelte den Kopf.
„Hat er immer noch einen Schlüssel zu der kleinen, alten Hütte zwischen Hausen und Justingen, bei… bei Muschenwang?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Irma. „Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit…“
Seit damals, als Edeltraut wegen diesem Verbrecher den Kopf verloren hatte, wollte sie sagen. Aber Gerold hätte es doch nicht mehr gehört. Er war schon an der Tür, riss sie auf und brauste mit seinem Wagen davon.
Eine halbe Stunde später hatte er sein Ziel fast erreicht. Am Parkplatz, kurz nach Hausen bog er ab, ließ den kleinen Parkplatz aber links liegen und fuhr noch ein Stück den unbefestigten Weg am Waldrand entlang. Etwa nach fünfzig Metern entdeckte er eine geeignete Stelle, um seinen Wagen zwischen den Bäumen abzustellen. Hier würde das Auto um diese Zeit niemand sehen. Dann machte er sich mit einer kleinen Taschenlampe auf den Weg zur Hütte. Er kannte den Weg. Trotzdem verlief er sich in der Dunkelheit einmal. Das schwache Mondlicht und die winzige Taschenlampe halfen ihm nur wenig.
Endlich erreichte er die kleine Lichtung. Selbst im matten Mondlicht konnte man sehen, dass die Hütte dem Zerfall nahe war. Er schlich sich von hinten an. Neben der Hütte, im weichen Waldboden, entdeckte Gerold Fußspuren. Also war er hier.
Eine Weile verharrte er auf der Stelle. Er horchte an der Außenwand. Es war nichts zu hören. Er sah sich nach einer Waffe um, wählte einen kurzen, dicken Ast aus und schlich zur die Tür. Sein Herz schlug ihm bis im Hals.
Schon beim ersten kräftigen Fußtritt gab die Tür nach, und er war mit einem Satz im Raum.
Die Hütte war leer. Aber Edeltraut war hier gewesen. Er roch noch ihr Parfüm.
Hagen zündete die Petroleumlampe an und hängte die Tür ein. Langsam sah er sich in dem Raum um.
Sein Blick blieb an dem primitiven Bett hängen. Die Bettdecke war zerwühlt. Auf dem schmutzigen Kopfkissen lag ein hellblauer Seidenschal. Er gehörte Edeltraut, das wusste er genau. Er hatte ihn ihr erst vor einigen Wochen geschenkt.
Und dann sah er das Blut auf dem Boden neben dem kleinen Tisch. Wie gelähmt starrte er auf die dunkle Flüssigkeit. Das Blut war noch nicht ganz geronnen.
Es ist Edeltrauts Blut, dachte er. Er hat sie umgebracht. Der Dreckskerl hat sie umgebracht!
Lange Zeit war er nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Hass umnebelte sein Gehirn.
Aber dann riss er sich endlich zusammen. Er suchte weiter. Er fand ein paar Kleidungsstücke, einen Koffer, eine Reisetasche und etwas zu essen.
Rupert würde zurückkommen. Er würde die Hütte säubern und seine Kleider mitnehmen. Er brauchte also nur auf ihn zu warten.
Gerold Hagen löschte die Lampe, fasste den Ast fester und stellte sich neben die Tür. Während er wartete, dachte er an die schreckliche Zeit vor fünf Jahren zurück, als Edeltraut mit diesem Kerl eine Affäre hatte. Er nannte es eine Affäre. Mehr war es nicht, denn als Rupert dann nach einem Banküberfall angeschossen und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, war Edeltraut zu ihm zurückgekommen. Er hatte sie wieder bei sich aufgenommen, weil sie ihm geschworen hatte, nie wieder etwas mit Rupert zu tun haben zu wollen.
Sie hatte ihren Schwur nicht gebrochen, davon war Gerold überzeugt. Rupert musste sie bei Irma abgepasst und entführt haben.
Ich werde es herausfinden, dachte Gerold. Ich werde es aus ihm herausprügeln. Und wenn sie tot ist, wird auch er sterben.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Rupert Mack kam erst gegen vier Uhr zurück. Es dämmerte schon, als er durch die Tür trat.
Gerold Hagen schlug sofort zu. Er traf nicht richtig, aber Rupert Mack taumelte. Gerold setzte nach, und Mack konnte gerade noch ausweichen.
„Du Bastard!“ schrie Gerold. „Du hast sie umgebracht! Du elender Hund hast sie umgebracht!“
„Ich habe sie nicht umgebracht!“ schrie Rupert zurück. „Es war ein Unfall. Sie ist mit dem Kopf gegen die Tischkante…“
„Du hast sie entführt und als sie fliehen wollte, hast du sie gestoßen…“
„Nein, so war es nicht…“
Schritt für Schritt ging Gerold auf Rupert zu. „Wo hast du sie hingebracht?“ fragte er hart.
„Das sage ich dir, wenn du mich ungehindert gehen lässt.“
„Das würde dir so passen.“ Gerold Hagens Stimme klang gepresst. Er konnte seinen Hass auf diesen Mann kaum noch zügeln. „Wenn du mir nicht augenblicklich sagst, wo du sie verscharrt hast, dann bringe ich dich um.“
„Das tust du auch, wenn ich es dir sage.“ Rupert Mack schlotterte vor Angst. „Ich habe nur eine Chance, solange ich es dir nicht gesagt habe.“
Mack wich zum Bett zurück. Hagen folgte ihm.
Der Schlag mit der Keule kam so schnell, dass Mack nicht einmal mehr reagieren konnte. Er war tot, bevor er flach auf dem Boden lag.
Gerold Hagen hatte einen Spaten gefunden und die Leiche hundert Meter von der Hütte entfernt vergraben. Ruperts Kleider hatte er zu einem Bündel zusammengeschnürt und zu ihm ins Grab gelegt. Dann reinigte er den Spaten, säuberte die Hütte notdürftig und machte sich auf den Weg. Den Spaten nahm er mit.
Dass er einen kaltblütigen Mord begangen hatte, machte ihm kein schlechtes Gewissen. Er fühlte sich im Recht. Mack hatte Edeltraut umgebracht, er hatte Mack umgebracht. Der Dreckskerl hatte es nicht anders verdient. Schon in der Bibel steht geschrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Die Straße draußen war frei. Ohne gesehen worden zu sein, fuhr er wieder nach Ulm zurück.
Irma hatte wieder die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie sah übernächtigt und müde aus, und sie machte sich heftige Vorwürfe.
Gerold tat nichts, um sie zu beruhigen. Er erzählte ihr, er hätte Edeltraut nicht gefunden. Er blieb bis zum Mittag bei ihr. Irma hatte ihm was zu essen gemacht. Fast die ganze Zeit hatte sie geheult.
„Ich werde jetzt nach Hause fahren und bei der Polizei eine Vermisstenmeldung aufgeben“, sagte Gerold dann und verabschiedete sich.
Bei der Polizei verbrachte er gut zwei Stunden. Gegen Abend kam er todmüde in seine Wohnung zurück. Er hatte ein eigenes kleines Haus mit einem hübschen Garten am Schlaufenbühl in Ehingen. Jetzt würde er allein drin wohnen müssen. Bei dem Gedanken daran, dass er Edeltraut nie wieder sehen würde, packte ihn erneut die Wut, und er hätte Mack am liebsten noch einmal umgebracht.
An der Haustür sprach ihn die Nachbarin an.
„Herr Hagen, die von der Stadtverwaltung haben jetzt das undichte Wasserrohr geortet. Morgen wollen sie vorbeikommen und das Rohr endlich auswechseln.“
Hagen nickte nur und ging ins Haus. Seit Monaten wartete er darauf, dass nach der undichten Stelle gesucht wird. Sein Wasserverbrauch hatte sich im vergangenen Jahr vervierfacht. Im Moment war es ihm egal. Er wollte jetzt nur noch schlafen.
Am Morgen wurde er durch den Lärm eines Baggers geweckt. Er versuchte den Krach zu ignorieren, aber es gelang ihm nicht. Als der Baggerlärm nach einer halben Stunde verstummte, schreckte er durch plötzlich heftiges Klingeln an der Haustür hoch.
Schlaftrunken kroch er aus dem Bett und wankte zur Tür. Vor der Tür stand Polizeikommissar Friese, bei dem er die Vermisstenanzeige aufgegeben hatte.
„Wir haben Ihre Frau gefunden“, sagte Friese ohne Einleitung. „Können Sie mir erklären, warum wir sie in Ihrem Garten gefunden haben?“
„In meinem Garten?“ Hagens blasses Gesicht wurde noch um einen Schein blasser.
„Der Baggerführer hat sie bei der Suche nach dem defekten Wasserrohr gefunden. Können Sie mir sagen, wie sie da hin gekommen ist?“
„Oh dieser verdammte Kerl“, flüsterte Hagen. „Er hat sie in meinem Garten vergraben.“
„Sie meinen diesen Mack.“ Polizeikommissar Friese sah Hagen nachdenklich an.
„Ja.“ Hagen hatte dem Beamten die ganze Geschichte erzählt. Er hatte nur verschwiegen, dass er Mack gefunden und umgebracht hatte.
Friese sagte: „Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder Mack hat Ihre Frau umgebracht und hier vergraben, oder Sie haben Ihre Frau in seinen Armen gefunden, sie vor Wut umgebracht und hier vergraben. Ich glaube, Sie sitzen ganz schön in der Patsche. Ihnen kann nur noch eines helfen: Beten Sie, dass wir Rupert Mack bald finden.“
Ein Beamter kam auf Friese zu. Er hielt einen Spaten in den Händen.
„Den habe ich in seinem Kofferraum gefunden. Damit hat er offensichtlich das Loch gegraben“, hörte Hagen ihn sagen. „Der Spaten ist zwar gereinigt worden, aber ich wette, es sind seine Fingerabdrücke drauf.“
Langsam ging Hagen auf die beiden Beamten zu. Er wusste: beten half da nichts mehr.
Maria Palmer hatte es satt. Die immer schlechter werdende Laune ihres Mannes war kaum noch zu ertragen. Und seit er vor einem Jahr das Trinken angefangen hatte, war es noch schlimmer geworden.
Dabei hätte er allen Grund gehabt, guter Laune zu sein. Benjamin Palmer war ein erfolgreicher Schriftsteller. Er schrieb Heftromane für eine sehr erfolgreiche Krimiserie. Dazu kamen noch Bergromane, die er als Ausgleich brauchte. Beide Serien kamen beim Leserpublikum so gut an, dass inzwischen die vierte Auflage erschien. Und da er über eine lange Zeit fast wöchentlich einen Roman abgeliefert hatte, hatte er daran ein kleines Vermögen verdient.
Doch mit den Jahren war er immer unzufriedener geworden. Der Erfolg war nicht der, den er erhofft hatte. Als junger Mann hatte er von dem großen Roman geträumt, der ihn über Nacht weltberühmt machen würde. Drei hatte er geschrieben. Aber nur einer war gedruckt worden. Die Verkaufszahlen waren nicht der Rede wert. Seine Leser wollten nicht den großen Roman von ihm, sondern ihre geliebten Krimis und Bergromane. Er war als Groschenromanschreiber abgestempelt. Also schrieb er weiter seine Heftromane und wurde mit jedem Jahr gemeiner und verbitterter, und sein Geiz nahm geradezu krankhafte Formen an.
So waren die Jahre vergangen, und Maria hasste ihren Mann nur noch. Sie hasste ihn so sehr, dass sie ihm den Tod wünschte.
Natürlich hätte sie sich scheiden lassen können. Aber dummerweise hatte sie bei der Heirat vor achtundzwanzig Jahren einen Ehevertrag unterschrieben. Nach diesem Vertrag würde sie nach einer Scheidung keinen Cent bekommen. Damals hatte sie einen gutdotierten Arbeitsplatz gehabt und hatte viel mehrverdient, als Benjamin. Nie hätte sie gedacht, dass er mit dem Schreiben von Groschenromanen einmal soviel Geld verdienen würde.
Jetzt war sie seit gut drei Jahren arbeitslos. Nachdem das Arbeitslosengeld ausgelaufen war, hatte sie nicht einmal Harzt IV bekommen, weil ihr Mann zuviel verdiente. Nur hatte sie nichts davon. Das Haushaltsgeld, das Benjamin ihr zuteilte, war sehr knapp bemessen. Als Taschengeld für ihre persönlichen Bedürfnisse, blieben ihr manchmal dreißig oder bei sparsamstem haushalten auch mal fünfzig Euro im Monat übrig. Jetzt rächte es sich, dass sie damals, als sie noch selber Geld verdiente, darauf bestanden hatte, dass jeder sein eigenes Konto hatte. Und Benjamin verweigerte ihr jetzt hartnäckig die Vollmacht auf sein Konto.
Sie hatte also keine Wahl. Sie musste bei ihm bleiben. Voller Hass ertrug sie seine Launen und wartete auf den richtigen Augenblick.
Die große Chance kam dann so unerwartet, dass es ihr den Atem verschlug. Sie hatte ihm den Kaffee ins Studio gebracht. Aber statt ihn an der Schreibmaschine zu finden, hatte sie ihn auf dem Sofa entdeckt. Er war stockbetrunken. Neben dem Sofa auf dem Boden lag eine leere Whiskyflasche.
Maria stellte das Tablett mit dem Kaffee auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa ab. Voller Abscheu sah sie auf ihren schnarchenden Mann hinunter. Dann fiel ihr Blick auf das oberste Blatt neben der Schreibmaschine. Es war nur mit wenigen Zeilen beschrieben. Zum Ärger seines Verlages schrieb er seine Romane immer noch auf der Schreibmaschine. Er hasste Computer. Sie rauben einem die Kreativität, sagte er immer.
Sie las den Text durch und las ihn noch mal. Sie konnte es kaum fassen. Es war eine absolut perfekte Selbstmordnotiz. Sie brauchte das Blatt nur wieder in die Maschine einzuspannen und niemand würde daran zweifeln, dass er sie selbst geschrieben hatte.
Das war die Chance, auf die sie gewartet hatte.
Maria ging in die Küche, streifte die dünnen Plastikhandschuhe über, die sie immer zum Spülen benutzte, und ging wieder ins Studio zurück. Sie las das Geschriebene noch einmal.
Davon kann ich nicht noch mehr ertragen. Ich habe geglaubt, das Leben habe mir mehr zu bieten. Doch es ist zu einem Zerrbild geworden, leer und bedeutungslos. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich damit weitermachen soll. Ich will nicht mehr… Ich habe alles so satt.
Absolut perfekt!
Maria las die Blätter darunter und entdeckte, dass die Heldin über ihre Sorgen jammerte. Sie fragte sich, warum Benjamin das letzte Blatt nur mit sechs Zeilen beschrieben aus der Maschine genommen hatte.
Vielleicht hat ihm nicht gefallen, was er da geschrieben hatte, dachte sie. Vielleicht wollte er das Blatt zerknüllen und wegwerfen, und da überkam ihn das Bedürfnis nach einem Drink, und bei dem einen Drink ist es dann nicht geblieben, wie so oft.
Egal, wie immer es auch war. Es war ihre Chance. Sie spannte das Blatt vorsichtig wieder in die Maschine und vernichtete die letzten Seiten des Manuskripts.
Natürlich konnte man vermuten, sie hätte die wenigen Sätze selbst getippt. Aber auf Tasten und Maschine würden nur seine Fingerabdrücke zu finden sein. Sie hatte die Maschine nie angefasst. Außerdem war sie sicher, dass man die verschiedenen Arten des Tippens feststellen konnte. Benjamin hatte einen sehr harten Anschlag, und die Polizei würde das sicher feststellen.
Maria holte die Pistole aus der Schublade und trat neben ihren schnarchenden Mann. Die Waffe lag schon seit vielen Jahren dort. Benjamin hatte sie einmal gekauft, als man vor fünf Jahren bei ihnen eingebrochen hatte. Aber er hatte sie nie benutzt. Er hatte sie immer nur gereinigt und geölt und wieder in die Schublade zurückgelegt.
Jetzt konnte sie sagen, dass er die Pistole nur deshalb so gepflegt hatte, weil er vermutlich schon immer vorhatte, sich eines Tages zu erschießen. Bei Schriftstellern soll das schon vorgekommen sein.
Maria überwand ihre letzten Skrupel, hielt die Pistole an seine rechte Schläfe und drückte nach einigem Zögern ab.
Dann schob sie hastig die Waffe in die schlaffe, rechte Hand des Toten, hob die Hand hoch, so dass der Lauf auf Benjamins Schläfe zeigte, und ließ dann den Arm nach vorne fallen. Die Pistole polterte zu Boden, und Maria richtete sich auf.
Sie wartete noch ein paar Minuten. Dann ging sie zum Telefon, und rief die Polizei an.
Einige Stunden später waren alle wieder fort. Alle, bis auf Hauptkommissar Hempel von der Ulmer Mordkommission. Hempel stand am Schreibtisch und schüttelte immer wieder den Kopf. Er hatte das Blatt, auf dem nur die paar Zeilen standen, in eine Plastikhülle gesteckt und las es nun schon zum zehnten Mal durch.
„Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass ein Mann so einen Abschiedsbrief hinterlässt“, sagte er. „Für mich ist das einfach zu blumig. So schreibt kein Mann, der sich das Leben nehmen will. Das ist eher der Stil einer Frau.“
„Aber mein Mann schrieb so“, erklärte Maria mit fester Stimme. „Für seine Bergromane musste er so schreiben. Sein Publikum wollte ihn so haben. Bei den Krimis bevorzugte er einen anderen Stil.“ Sie deutete auf das halbfertige Manuskript. „Aber das hier ist eindeutig ein Bergroman.“
„Hm…“ Der Kommissar nahm ein paar Manuskriptblätter und begann zu lesen.
„Sicher“, sagte er nach einer Weile. „Das klingt wie sein Stil. Aber das könnte man natürlich nach beiden Richtungen hin sagen. Es könnte ja sein, dass dies zu einem Roman gehört, an dem er gerade gearbeitet hat.“
Das wirst du mir nie beweisen können, dachte Maria. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr der kalte Schweiß ausbrach.
Der Kommissar sah sie nicht an. Er beugte sich interessiert über die Schreibmaschine.
Plötzlich erstarrte er. Er griff nach einem Blatt Papier und zog es in die Maschine ein. Er tippte mit einem Finger vier Buchstaben auf das Blatt und zog es dann wieder heraus.
Mit bedächtigen Bewegungen nahm er das Manuskriptblatt aus der Plastikhülle und reichte Maria kommentarlos beide Blätter.
Auf dem einen Blatt stand: Mord!
„Ich… ich verstehe nicht, was Sie…“