LAURIE PENNY wurde 1986 in London geboren und wuchs im Internet auf. Sie studierte am Wadham College Englische Literatur. Im Jahr 2010 wurde ihr Blog »Penny Red« auf die Shortlist für den Orwell Prize für politische Schriften gesetzt. Sie schreibt als Contributing Editor für den New Statesman und als Editor-at-Large für New Inquiry. Regelmäßig berichtet sie über Protestbewegungen und soziale Initiativen. Ihr Buch Fleischmarkt erschien 2011 bei Edition Nautilus. Außerdem hat sie Kolumnen unter dem Titel Penny Red: Notes from a New Age of Dissent (2011) veröffentlicht sowie Discordia: Six Nights in Crisis Athens mit Illlustrationen von Molly Crabapple (2012). Auf Twitter hat sie derzeit über 100 000 Follower. Wenn sie nicht gerade über dem Laptop brütet, treibt sich Penny gern in Goth Clubs herum oder trinkt Tee mit Gestrauchelten.

LAURIE PENNY

CYBER

SEXISMUS

AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON ANNE EMMERT

 

Der vorliegende Text entspricht dem 4. Kapitel von Laurie Pennys Buch Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution bei Edition Nautilus, Hamburg 2015.

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Inhalt

Cybersexismus

Das Patriarchat beobachtet uns

Patriarchale Überwachung

Frauenhass und Redefreiheit

Und der Geek wird die Erde erben

Das Skript umschreiben

Cybersexismus

»Informationen wollen nichts.

Die Leute wollen frei sein.«

Cory Doctorow

»Im Internet gibt es keine Mädchen.«

4chan

»This is for everyone.« Das Internet ist ein gottloser Ort, aber das ist auch schon alles, was im Sinne eines »Am Anfang war das Wort« zu sagen wäre. Das Zitat stammt von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des World Wide Web, der die Worte während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in London twitterte. Das Prinzip, nach dem das Internet sozial, ökonomisch und politisch frei sein sollte und jede und jeder überall neue interaktive Plattformen aufbauen, die Grenzen des menschlichen Wissens erweitern oder einfach nur ein Partnerportal für niedliche Rotschöpfe betreiben können sollte, ist grundsätzlich vernünftig. Das Internet ist für alle da. Oder zumindest war das so gedacht.

Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit, da glaubten Nerds, Theoretiker und Hacker, die ersten echten Kolonisten des Cyberspace, das Internet würde uns vom Geschlecht befreien. Science-Fiction-Autoren beschrieben eine nahe Zukunft knapp am Rande der Fantasie, in der der Körper eines Menschen zur Nebensache würde, wenn wir jenseits von Raum und Entfernung innerhalb von Bruchteilen von Sekunden in aller Welt Freunde kennenlernten, Beziehungen knüpften und Geschäfte abwickelten. Was spielte es in dieser schönen neuen vernetzten Welt für eine Rolle, was für einen Körper wir haben? Und wenn der Körper keine Rolle spielte, warum sollte es dann eine Rolle spielen, ob wir Mann oder Frau sind, Junge oder Mädchen oder etwas völlig anderes?

1998. Ich bin zwölf Jahre alt und treibe mich seit Neustem in einem Chat-Forum herum. Hier wird einem bereitwillig der vierzig Jahre alte Geschichtslehrer namens George abgenommen, während die andere Hälfte der Internetgemeinde so tut, als wäre sie ein dreizehnjähriges Schulmädchen von der englischen Südküste. Inmitten der wachsenden moralischen Panik um Pädophile und Teenyschlampen, die einander in den trüben, unüberwachten Sümpfen von MySpace auflauern, verspüre ich so etwas wie Freiheit. Hier ist mein Körper mit seinem Gewicht und seinen Ängsten, dem Blut, dem Fett und den peinlichen Pickeln nicht wichtig; nur meine Worte sind wichtig. Ich will nicht einfach nur ein Mädchen sein, denn ich weiß aus Erfahrung, dass Mädchen nicht verstanden werden. Ich will, wie die Webtheoretikerin Donna Haraway es nannte, ein Cyborg sein: »Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion. […] Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt … [Ich wäre] lieber ein Cyborg als eine Göttin.«80

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begannen mir Titten zu wachsen, und das biopolitische Chaos der nahenden Adoleszenz machte mir schwer zu schaffen. Das Internet trat so früh in mein Leben, dass es für mich das Coolste war, was ich kannte, aber auch so spät, dass ich Geocities kannte, ehe es zur heulenden Wüste wurde, in der unablässig Tumbleweed und Pixel durch die Luft wirbeln. Für mich war es damals ein Raum, in dem der ganze Scheiß – Jungs, Kleidervorschriften, Schikane, die Blicke, die mir erwachsene Kerle neuerdings zuwarfen – keine Rolle spielte. Es war ein Raum, in dem ich mein »echtes« Selbst ausleben konnte anstelle des Zerrbildes, das mir die Mädchenwelt aufzwang, mit ihrem gefräßigen Schlund, der drauf und dran war, mich zu verschlingen. Nachdem sich unser Alltag jedoch ins Netz verlagert hatte, stellte es sich heraus, dass es im Internet eben doch eine Rolle spielte, ob man Junge oder Mädchen war. Eine große sogar.

In dem riesigen 4chan-Forum – ein gigantischer, anarchischer anonymer Web-Spielplatz, der vorwiegend, aber nicht ausschließlich von zornigen jungen Männern bevölkert war und aus dem das Aktivistennetzwerk Anonymous ebenso hervorging wie viele der bescheuerten Katzen-Videos, die Kolleginnen am Arbeitsplatz austauschen – erklärten die Nutzer schon früh, im Internet gebe es keine Mädchen. Die Vorstellung klang für viele von uns nach süßer Freiheit – dabei war es eine Drohung.

»In den güldenen Zeiten von 1987 wurde darüber schwadroniert, dass wir die Geschlechter wechseln, wie wir Unterwäsche wechseln«, sagte Clay Shirky, Medientheoretiker und Autor des Buches Here Comes Everybody, doch »man ging dabei davon aus, dass jeder glücklich damit wäre, als jemand durchzugehen, der ist wie ich – weiß, heterosexuell, männlich, gutbürgerlich und zumindest kulturell christlich geprägt.«81 Clay bezeichnet das als »Gender-Kammer«, »wenn Leute wie ich Leuten wie dir sagen: ›Wenn du willst, wirst du behandelt wie jede normale Person und nicht wie eine Frau, solange wir nicht wissen, dass du eine Frau bist.‹«82

Es stellte sich heraus, dass das Internet doch nicht für alle da war. Noch nicht. Es war für Jungs da, und wer keiner war, musste so tun als ob, sonst bekam man eins auf die Mütze. »Ich habe kein Problem mit Leuten, die für sich entscheiden, dass sie sich im Internet nicht als weiblich zu erkennen geben, wie ich auch kein Problem habe mit Leuten, die lieber keinen kurzen Rock tragen, weil ihnen nicht wohl dabei ist, aber das sollte einem niemand vorschreiben, weil man andernfalls eben selbst schuld wäre«, so die Journalistin Helen Lewis, die als eine der ersten in der Mainstream-Presse die Stimme gegen Frauenfeindlichkeit im Netz erhob.83 Das heißt nach Lewis so viel wie: »Duck dich lieber, damit die Arschlöcher jemand anders fertigmachen.«

Ich bin siebzehn und darf nicht ins Internet und komme mir deshalb vor wie geknebelt und gefesselt. In den neun Monaten, die ich auf der Frauenstation für psychische Freaks verbrachte, galt das Internet als schlechter Einfluss, wahrscheinlich der schlechteste Einfluss auf Mädchen, die gesunde, gesittete junge Frauen werden wollten: überall Porno und Schund, und dann noch die gefährlichen Fotos von Magermodels auf den »Pro-Ana«-Websites, auf denen sich die Mädchen gegenseitig anstachelten, sich zum Skelett herunterzuhungern, ehe sie in der Klinik landeten.

Das Internet war schlecht für uns. Es konnte nur schlecht für uns sein. Dasselbe galt für Bücher und Zeitschriften. Fernsehen und Modekataloge waren dagegen erlaubt. Wir mussten »gezügelt« werden. Dieses Wort wurde wirklich verwendet: »gezügelt«. Genau dieser Denke hatte ich über meine Krankheit entkommen wollen. Aber da ich ein Zertifikat brauchte, das mich für gesund erklärte, damit ich die schreckliche Klinik verlassen und mein Leben weiterleben konnte, tat ich, was verzweifelte Mädchen immer tun, um zu überleben, wenn der Körper gezügelt wird: Ich schrieb.

Ich begann, zwanghaft in Notizbücher zu schreiben, weil Computer und Smartphones verboten waren. Ich schrieb bis spät in die Nacht, in einer chaotischen, spinnenhaften Schrift, nur für mich, und ich zeigte es niemandem, weil es ausschließlich mir gehörte. Jahre später sah ich den Film Girl, Interrupted