Inhaltsverzeichnis
Für Sonja und Solo Lovec
I
Ich steige nach oben
Ich habe es geschafft. Damit das von Anfang an klar ist. Damit ihr um mich keine Angst habt.
Ich habe keine Angst.
Ich steige nach oben. Die ganze Welt ist zum Greifen nah: die Wolken und der Himmel. Meine Träume. Die Unendlichkeit. Und endlich auch ich selbst.
In der Tiefe unter mir löst sich langsam meine Stadt auf. Die Stadt, die ich liebe und hasse. Eine Stadt, die gefangen ist von Bergen und von Vergangenheit, umzingelt von Zeit und von Angst. Vergangenheit ist nämlich nichts anderes als Angst. Und die habe ich überwunden. Ich habe mich von Zeit und von Vergangenheit losgerissen. Ich verlasse die Stadt, mit der ich zusammengewachsen war und der ich nie entkommen konnte.
Erst jetzt.
Ich habe es geschafft.
Habe alles unter Kontrolle: Höhe, Windstärke und Windrichtung.
Ich habe es geschafft. Obwohl es keiner geglaubt hat.
Keiner hat an mich geglaubt. Ich auch nicht.
Ich steige nach oben, und die Sonne, die sich über den Horizont ergießt, blendet mich.
Der Horizont verläuft nicht gerade. Er kräuselt sich genauso wie die Wolken. Wie unsere Träume. Und unser Leben.
Eine Nacht ist nie ohne Träume, der Himmel nie ohne Wolken. Sie sind da, auch wenn man sie weder sehen noch spüren kann.
Ich habe es geschafft.
Heute ist mein Geburtstag. Ich habe mir ein Geschenk gemacht. Ein Geschenk, auf das ich mein ganzes Leben gewartet habe.
Ich fliege.
Ich steige nach oben.
Bald werde ich hinter den Horizont sehen.
Es ist früh am Morgen, sechs Uhr dreißig. Die Sicht ist fast klar. Geringfügige hohe Bewölkung. Zirruswolken. Westwind. Sechs Grad Celsius.
Ich habe es geschafft.
Ich steige.
Halte die Richtung.
In meinen Ohren erklingt eine wunderschöne Musik, eine Musik nur für mich. Will man sich einen Traum erfüllen, muss man allein sein, damit der Traum einem nicht geklaut werden kann. Damit man ihn genießen kann. Oder: Man sollte allein sein.
Diese Musik heißt Stille.
II
Fleischer
Ich heiße Fleischman.
Auch früher hieß ich Fleischman. Und auch in der Zukunft werde ich Fleischman heißen, egal was ihr davon haltet, egal wie viele Namen und Titel andere tragen und ob überhaupt eine Zukunft kommt.
Geboren wurde ich am 21. September 1973. Wenn der Matthäus seinen Namenstag hat. Damit ihr nicht im Kalender blättern müsst. Ich weiß, wie alle gerne ihre Kalender nach Namen, Witzen, Bauernregeln und ähnlichem Zeug durchforsten. Deswegen bestehen die heutzutage nur aus weisen Sprüchen berühmter Menschen, Fotos von alten Hütten im Riesengebirge und Kochrezepten. Das stimmt wirklich, Jégr liest sie manchmal nachts und streichelt sich dabei den Bauch. Der Jégr. Nicht ich. Aber Jégr kommt erst später dran.
Damit ihr nichts Falsches denkt: Diese Kalender mag ich sonst sehr gerne. Ich mag Zahlen nämlich gerne. Zahlen lügen nicht. Zahlen, Tabellen und Wolken.
Meinen Geburtstag habe ich noch nie gefeiert. Ich meine, seit ich allein bin. Meinen Namenstag auch nicht. Fleischman steht in keinem Kalender. Und ich heiße Fleischman.
Der Name kommt aus dem Deutschen. Ich denke gern über ihn nach. Fleisch haben sowohl Menschen als auch Tiere und Früchte. Und »Mann« bedeutet nicht nur Mann, sondern auch Gatte. Oder königlicher Vasall. Die erste Bedeutung finde ich am besten. Ein Mann. Ich hätte auch Fruchtfleischmann heißen können. Oder Herr Obstmann. Aber mein Name braucht wohl jemand aus Fleisch und Blut. Einen Mann, der Fleisch liebt. Einen Fleischliebhaber. Vielleicht sollte ich Fleischer sein. Metzger. Ich bin aber nur Fleischman. Ein Name kommt nicht von ungefähr, deswegen erzähl ich das. Namen lügen nicht. Sie sagen viel über uns aus. Zumindest meint das die Frau Doktor.
Während im Laufe der Jahre Wolken über unsere Stadt zogen, ging in meinem Namen ein »n« verloren. Dabei ist ein »n« eigentlich das Kleinste, was in meiner Familie verloren gehen konnte – und auch verloren gegangen ist. Das aber nur am Rande.
Vielleicht möchtet ihr auch wissen, wie mein Name weitergeht. Ich meine, was vor Fleischman steht. Die meisten Menschen haben zwei Namen. Einen Vor- und einen Nachnamen. Bei mir gibt es aber nur einen einzigen Namen. Den davor habe ich vergessen. Das ging nicht anders.
Ich heiße Fleischman. Bin einhundertneunundsiebzig Zentimeter groß und dreiundsiebzig Kilo schwer. Falls euch Zahlen genauso interessieren wie mich.
Mein Name ist Fleischman. Ich bin ein Fleischer, der kein Fleisch isst, weil er kein Blut mag. Ein Fleischer, der sich aus Wolken und Wetter auf dem Teller kleine Häppchen zurechtschneidet. Was Besseres gibt es auf der ganzen Welt nicht. Manchmal lande auch ich auf meinem Teller. Dazu aber später. Es kommt alles dran.
Also schön der Reihe nach. Wie wenn man ein Flugzeugmodell baut. Oder in einer Suppe nach Buchstaben fischt und sie zu Wörtern verbindet, die man runterschluckt. Eine Wolke zum Beispiel erscheint am Himmel auch nicht von ungefähr. Zunächst braucht sie etwas Schmutz. Und Staub. Der zieht Feuchtigkeit an. Daraus entstehen kleine Tropfen, die immer größer werden, bis am Ende die Wolke da ist.
Also zunächst schüttele ich euch etwas Staub auf den Teller. Eine Prise des Fleischmanschen Lebenschaos. Und wie ich mir das gerade alles im Kopf zurechtrücke, werde ich doch lieber hin- und herspringen und nicht geradeaus erzählen.
Die Frau Doktor sagt nämlich, dass das Leben einem Mosaik gleicht. Dass wir es gar nicht als Ganzes wahrnehmen. Dass wir beim Rückblick nur lauter Momentaufnahmen sehen. Streiflichter. Und Blitze.
Der Seelenzustand
Der Anfang war nicht gerade gemütlich.
Am 21. September 1973 war das Wetter klar und warm. Leichter Wind. Altweibersommer, wie unser deutscher Stammgast Franz sagt. Indianersommer, für den ein Hochdruckgebiet über Russland sorgte.
Ich sehe das noch wie heute.
Als ich aus Mamas Bauch kam, stand im Krankenhaus das Fenster offen. Und ich konnte alles spüren, sehen und hören. Ich war einfach dabei.
»So, das hätten wir«, sagte der Arzt.
»Wurde ja auch Zeit«, sagte die Krankenschwester.
»Was ist es? Ein Mädchen?«, fragte Mama.
»Ein Junge«, sagte der Arzt.
»Ihr Kaffee ist kalt«, sagte die Schwester.
»Machen Sie einen neuen.«
Ich schwebte hinauf zur Decke und sah mir alles von oben an: den weißen Kreißsaal, meine Mama und mich an ihrer Brust, die Schwester, die etwas aufs Papier kritzelte, und den Arzt, wie er seine Handschuhe auszog.
Wäre gerne noch höher geflogen, stieß aber mit dem Kopf gegen die Decke. Auf einmal bekam ich keine Luft und purzelte zu Boden. Ich sah Mama schreien, dass ich erstickte und dass ich nicht mehr atmete, ich sah den Arzt zu meinem Körper rennen und dabei die Kaffeetasse umschmeißen, der Kaffee floss über den Tisch. Der braune Fleck sah fast wie Australien aus.
Ich fiel zu Boden. Einen Moment lang war alles vollkommen still. Dann fing ich doch an zu weinen.
Später hätte der Arzt zu Mama gesagt, dass ich damals fast gestorben wäre. Woraus sich aber keine späteren Folgen ergeben sollten, alles andere war tipptopp. Ein echter Kerl, kerngesund.
»An so was kann man sich unmöglich erinnern«, sagte Jégr.
»Ich weiß es eben, ich weiß das einfach. Hab das alles gesehen. Und im Radio lief Countrymusik.«
»Klar. Und an deiner Wiege sang Karel Gott Kantilenen.«
»Das war The House of the Rising Sun, gesungen von Matuška.«
»Erzähl doch keine Märchen«, sagte Jégr und knallte mir eine. »Willst du etwa sagen, du hättest gesehen, wie du im Kreißsaal nach Luft geschnappt hast und wie man dir das Leben gerettet hat? Und wie war der Kaffee von dem Doktor, mit Kaffeesatz? Oder war das etwa Nescafé?«
»Das weiß ich nicht. Aber draußen war Altweibersommer. Wie eben jetzt. Einfach so.«
»Einfach so, einfach so … kannst du auch was anderes? Einfach so, einfach so. Du bist ein echter Idiot. Einfach so. Finde dich endlich damit ab!«
»Der Doktor hat gesagt, dass alles tipptopp war.«
»Wenn alles tipptopp war, warum ziehst du dann ständig den Rotz hoch? Und hast keine Frau? Und bist kein Fan von Slovan Liberec?«
»Das hat damit nichts zu tun.«
»Das hat schon was damit zu tun! Wer Fußball nicht liebt, der vögelt nicht. Ich hab ständig Weiber und Sommer.«
»Aber keine Frau.«
»Aber die hatte ich, Freundchen, die hatte ich. Und nicht nur eine! Also hab ich was zum Erinnern.«
»Wie viele?«
»Ne ganze Menge. Die ganze Welt lag mir zu Füßen. Und sie würde immer noch dort liegen. Wenn ich es gewollt hätte.«
»Trotzdem ist bei mir alles tipptopp.«
»Wenn bei dir alles tipptopp ist, dann bin ich der heilige Josef, du Einhandflötist.«
Einhandflötist: Das bin ich. Zumindest für Jégr. Einhandflötist ist ein Seelenzustand. Der Zustand meiner Seele.
Die Luftwaschmaschine
Am 21. September 1973 ging in der Beringstraße bei einem Sturm ein sowjetisches U-Boot unter. In Indien rasten im Nebel zwei Personenzüge ineinander. Der FC Turin schlug überraschenderweise Manchester United 4:0. Gustáv Husák brach zu den verordneten Flitterwochen nach Moskau auf. In Hamburg streikten bereits seit einem Monat die Dockarbeiter. Der Hurrikan Ivan fegte über Florida hinweg und tötete zehn Menschen. Das habe ich alles im Fernsehen gesehen.
Ein Hurrikan ist eine tropische Zyklone. Ein kolossales Tiefdruckloch. Ein verheerender Wirbelsturm. In Japan nennt man ihn Taifun. In Australien Willy-Willy. In der Karibik Orkan. Damit er entstehen kann, braucht es dreierlei: warmes Wasser, feuchte Luft und Äquatorwinde, die aufeinandergeraten. Möglicherweise reicht aber auch der Flügelschlag einer Fliege. Oder eines Schmetterlings. Oder einer Mücke. Oder wenn jemand auf der Straße einem anderen zuwinkt. Vielleicht winke ich deswegen nie jemand zu.
Ein Hurrikan funktioniert wie eine riesige Luftwaschmaschine. Oder wie ein großer Staubsauger, dem wir alle von Zeit zu Zeit begegnen sollten. Ein Hurrikan ist möglicherweise aber auch ein Seelenzustand, der Zustand der Wetterseele. Ich weiß nicht, ob man das richtig versteht. Frau Doktor sagt, ich schweife manchmal zu stark ab. Aber ihr würde das nichts ausmachen, sagt sie, sie wüsste ja ohnehin, was mich quält und was mich ärgert. Gut, dass es wenigstens einer weiß.
Der Adept der Zukunft
Am 21. September 1973 kamen in unserer Stadt ich und noch weitere zehn Adepten der Zukunft zur Welt. Am gleichen Tag brachen elf frisch gebackene Väter auf, um das große Glück zu begießen, von dem sie dachten, es würde eine ganze Ewigkeit halten. Sie kamen erst spätnachts zurück, in zerknitterten Anzügen aus Synthetikwolle und mit verschmiertem Lippenstift auf der Wange.
Am gleichen Tag, haargenau um zehn Uhr morgens, wurde auf dem Berg über unserer Stadt ein Hotel in Betrieb genommen, in dem ich heute lebe und arbeite. Es wurde übrigens nur wegen eines unglücklichen Zufalls gebaut, den mein Großvater verschuldet hatte. Ein Hotel, in dem mich Jégr anschreit, denn der arbeitet auch hier, und in dem manchmal auch ich Jégr anschreie, weil er unerträglich ist. Aber er sagt, in erster Linie bin ich unerträglich. Ich denke, das könnte gut an der Meereshöhe liegen, die bringt vieles durcheinander.
Unser Grandhotel liegt 1012 Meter über dem Meeresspiegel. Manchmal kommt es mir vor, als ob es kein Hotel wäre, sondern eine riesige Wolkenfabrik. Man braucht nur um sich zu gucken. In dieser Höhe fügen sich die Wolken direkt vor euren Augen in eine Wetterfront. Das kann einen ganz benommen machen.
Das Hotel wurde mit jenem großen Trara eröffnet, das immer gemacht wird, wenn man eine Zukunft willkommen heißen will, mit der man für ewige Zeiten verbunden zu bleiben meint. Das klappt aber nie, hat Franz gesagt. Eine solche Zukunft ist meistens ganz schnell vorbei. Daran wollte aber damals keiner denken, was ich gut verstehen kann.
Aus der Hauptstadt kam das Fernsehen und drehte einen zehnminütigen Bericht. Die örtliche Blaskapelle trat auf und spielte acht Polkas, sechs Walzer und auch einen Blues, zu dem aber keiner tanzen wollte. Pioniere überreichten den Bauarbeitern vierzig rote Nelken.
Es wurden dreihundertdreiundfünfzig Schinkenschnittchen verdrückt, zweihundertdreiundfünfzig Biere weggetrunken und zehn Flaschen echter sowjetischer Wodka geleert. Dreißig Gäste waren am nächsten Morgen verkatert. Zwei mussten sich noch am folgenden Abend übergeben.
Auch vom Präsidenten des Landes, einem kranken General, der im Pass von Dukla die Nazis besiegt hatte, kam eine Grußbotschaft. Sie ging aber bei der Post verloren. Natürlich habe ich das alles nicht aus meinem Kopf. Das hat mir Jégr erzählt. Der weiß einfach alles. Er war nämlich Leiter von einem Selbstbedienungsladen. Und nicht nur das. Dazu aber später.
Hier also lebe ich und arbeite
Hier also lebe ich und arbeite. Im Grandhotel Ješted. Der Berg hieß früher Jeschken. Noch davor Jeschkenberg. Noch früher Jeschenberge. Davor Jesstied. Und ganz am Anfang Jesstiedr. Der Name soll entweder was mit einem Igel zu tun haben oder mit einer Höhle. Igel gibt es hier viele. Höhlen auch. Oder etwas Ähnliches: Löcher in der Erde.
Hier also lebe ich und arbeite. In einer kreisförmigen, 90 Meter hohen Rakete, die nach oben spitz zuläuft. Sie wurde aus Aluminium gebaut, aus dem man Besteck für Pionierlager macht, und aus Laminat, aus dem man Kanus und Boote für Pfadfinderlager herstellt. Pfadfinder bin ich nie gewesen, und bei den Pionieren wurde ich rausgeschmissen. Dazu aber später.
Ich arbeite in einem Hotel, in dem es keine Ecken gibt, wo man sich aber auch so den Kopf stoßen und den Verstand verlieren kann. In einem Hotel, in dem alles rund ist und wo man sich genauso leicht verläuft wie im Nebel, in einer Großstadt oder in sich selbst. Das kann von Zeit zu Zeit nicht nur mir, sondern jedem passieren, man sollte also darauf gefasst sein. Sagt zumindest meine Frau Doktor.
In einem Hotel, über dem sich die Unendlichkeit ausbreitet, in einem Hotel, das manchmal wochen-, monate- oder sogar jahrelang in den Wolken hängen bleibt – manchmal auch über den Wolken, dann fällt sein Verschwinden keinem auf. In einem Hotel, in dem der Wind Fangen spielt, mühelos rüttelt er an der Turmspitze, als ob das Hotel ein verloren gegangenes Schiff im Indischen Ozean wäre. Dann purzeln Becher und Teller von den Regalen runter, und blassgesichtige Damen flüchten erschrocken aus ihren Zimmern zu Jégr, der ihnen abgelaufene Pillen gegen Seekrankheit in die Hand drückt, damit nicht wieder alles vollgespuckt wird und ich es nicht wegwischen muss.
In einem Hotel, das wie ein Steuerruder mein Leben lenkt und den Himmel durchbohrt wie eine scharfe Nadel. Manchmal scheint direkt über uns der Himmel zu bluten. Aber vielleicht kommt das vom Sonnenuntergang.
Hier also lebe ich und arbeite. Verloren am schönsten Ort der Welt, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt. Ich schleppe Koffer, leere Aschenbecher und fülle Kondomautomaten auf, wische Staub, schrubbe Fußböden, repariere tropfende Wasserhähne und tausche angeschlagene Bodenfliesen aus. Ein Fleischman für alles. Ich trinke gelbe Brause, esse Butterkekse, jeden Tag drei Flaschen Brause und drei Kekse. Ich begegne Menschen, die es nicht mehr gibt, und denen, die bei uns wohnen, spioniere ich nach: besonders jungen Frauen. Anderen Frauen versuche ich wiederum das Leben zu retten: die kommen, um sich hier umzubringen. Die schönsten Orte der Welt entwickeln nämlich eine solch magische suizidale Anziehungskraft. Wie der Eiffelturm auch. Oder das Riesenrad in Wien.
Hier also lebe ich und arbeite. Vor allem aber messe ich dreimal am Tag die Wetterdaten, schreibe mein Tagebuch und beobachte die Wolken. Ich sehe mir an, was sie an Neuem bringen und ob sie das Alte auch wieder mitnehmen. Denn das Wetter und die Wolken sind seit Anbeginn aller Dinge, aller Gespräche und aller Geschichten da gewesen, und sie werden noch da sein, wenn alles längst zu Ende ist. Auch am Ende meiner Geschichte.
Das alles sage ich ganz offen. Ich möchte keine Geheimnisse mehr haben.
Noch ist der Himmel blau
Wetterfrosch. Barometer. Eiszapfen. Thermometer. Wolkenpest. So nannte man mich in der Grundschule. Auch Eierkopf, Rotznase oder Wollhose.
Nein, von meinen Mitschülern wurde ich nicht gerade geliebt. Die ersten fünf Spitznamen waren allerdings ganz gut, finde ich. Zumindest passten sie besser. Mein erstes Wort war nämlich Wolke.
So richtig vorwerfen kann ich es meinen Mitschülern aber nicht. Seit dem Unfall sieht mein Kopf echt wie ein Ei aus. Und seit damals habe ich permanent Schnupfen und ziehe ständig den Rotz hoch. Und jedes Jahr zu Weihnachten bekam ich von Papa eine Synthetikwollhose. Eine braune, schwarze oder graue. Mehr Farben gab es damals wohl nicht. Ich schaffte es nicht, ihm klar zu machen, wie doll sie im Schritt kratzte, weil ich vor ihm das Wort Schritt nicht über die Lippen brachte. Meine Frau Doktor findet das ganz normal, jeder Mensch hätte ein Wort, sagt sie, für das er sich schämt.
Aber damals habe ich mich sowieso viel geschämt.
Auch damals, an meinem ersten Schultag. An dem Morgen schien die Sonne, es wehte ein leichter Wind und über uns wölbte sich ein blauer Himmel. Ist euch aufgefallen, dass in den meisten Geschichten und Filmen der Himmel am Anfang blau ist? Die Wolken kommen erst später dazu. Ich weiß, woher sie kommen. Hab einen Riecher für Wolken.
»Was wolltest du mir versprechen?«, fragte Mama vor dem Eingang.
»Brav zu sein.«
»Richtig«, sagte Mama, streichelte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann drehte sie sich um und ging. Ich sah ihr nach, es gefiel mir, wie ihr Rock hin- und herschwang. Ich hörte ihre Absätze klappern. Sie blieb vor dem Zebrastreifen stehen, sah langsam auf die eine und dann auf die andere Seite. Ein Auto kam. Mit einer Hand fuhr sie sich durch die Haare, und dann erst ging sie über die Straße.
Und ganz genauso sehe ich sie auch in diesen Staubkörnchen, die meine Frau Doktor Erinnerungen nennt: Sie steht am Straßenrand, wendet langsam den Kopf nach rechts und nach links, wartet, bis das Auto vorbei ist, und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Sieht sich die Haare an, die zwischen ihren Fingern liegen, und lässt sie frei in den Wind. Einfach so. Elegant. Sauber, falls ihr versteht, was ich meine. Mir kommt es vor, als ob in diesem Augenblick die Zeit stehen geblieben wäre. Dann ist das Auto weg, Mama betritt den Zebrastreifen, wechselt die Straßenseite, und der Himmel bleibt noch eine Weile blau.
Buckel
Vielleicht glaubt ihr, dass ich um Mitleid heischen, euch meine Traumata auftischen will. Dass ich den ganzen Dreck, den ich im Kopf trage, ausmisten will, wie das die Frau Doktor nennt, wenn ich ihr blöd komme und sie ausrastet. Das passiert aber selten. Nur wenn ich ihre Handtasche inspiziere und sie eine Sekunde früher vom Klo zurückkommt. Dann sagt sie, sie würde von dem ganzen Dreck in meinem Kopf nichts mehr wissen wollen, und ich solle mich zum Teufel scheren. Aber sobald ich in der Tür stehe, bekommt sie Angst, dass ich mich vielleicht wirklich zum Teufel scheren könnte, aus einem hoch gelegenen Fenster womöglich, und dass sie mich dann auf dem Gewissen hätte. Vielleicht würde auch das Fernsehen kommen, und sie müsste über mich reden.
Da wird sie wieder nett und hübsch und sagt: »Komm nächste Woche wieder, ja?«
Und ich nicke. Wie immer.
Und dann bekomme ich meistens noch eine Aufgabe. Zum Beispiel ein Bild zu malen. Was für eins? Ein Bild halt. Egal wovon. Von einem Baum. Von einem Hotel. Von einer Wolke. Sie liest sowieso immer was ganz anderes daraus. Meistens hängt das dann mit Sex zusammen. Oder mit meinen Eltern oder mit meinen Sehnsüchten.
Vielleicht stimmt es auch. Vielleicht will ich im Moment wirklich den ganzen Dreck ausmisten. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wollte ich nur erzählen, dass ich nicht der Ärmste der ganzen Schule war. Da war nämlich noch Buckel, der mit der krumm gewachsenen Wirbelsäule und einem blinden Auge. Buckel musste nicht zum Sport und durfte von jedem getreten werden. Auch von mir. Was ich auch gemacht habe. Und nicht nur einmal.
Ich meine, dass es guttut, ab und zu jemand einen Tritt zu verpassen und zu wissen, dass es Leute gibt, die noch schlimmer dran sind als man selbst. Das ist fast wie ein Sport. Man reagiert sich ab. Aber ähnlich wie manchmal die Fußballtabellen einen reinlegen, kann man auch hier reingelegt werden. Von Zeit zu Zeit haut mir Jégr eine runter und meint, besser dran zu sein als ich. Dabei ist aber er schlechter dran, das weiß ich. Genauso wie Patka. Oder Franz. Oder Ilja. Aber zu denen später.
Zwischen Island, den Orkney Inseln und Irland
Ein paar Monate sind vergangen, ein paar Jahre. Zwischendurch habe ich einiges erlebt. Zum Beispiel den echten roten Saft, der aus meiner Nase floss.
Mama brachte mich nicht mehr zur Schule, und das war ein Grund weniger, mich zu veräppeln. Aber auch so lachten mich meine Mitschüler mächtig aus. Mir war das egal.
Vater meldete mich zum Eishockey an, im gesunden Körper, sagte er, wohnt ein gesunder Geist (wenn nicht mehr). Als junger Spund hätte er auch Eishockey gespielt. Außerdem Schach und Geige. Und bei der Chemie-Olympiade hätte er immer den ersten Preis abgesahnt.
Auf der Eisfläche habe ich keine schlechte Figur gemacht, das kann man wirklich nicht sagen. Aber besonders gut war ich auch nicht. Die Stürmer wollten mich nicht, also steckte man mich ins Tor. Aber wie gesagt: Ich beschwere mich nicht. Buckel hat nie mitgespielt. Und wird das wohl nie mehr machen. Er ist schon ein paar Jahre tot. Die Wirbelsäule hat ihn so krumm gemacht, dass er irgendwann einfach vergessen hatte zu atmen.
»Wo glotzt du hin, Wolkenpest?«, schrien mich die Jungs an, wenn ich ein Tor kassiert hatte.
Danach schrie mich Vater an. Er wollte, dass ich genauso werde wie er. Dass ich Eishockey und Geige spielte und mich anständig anzog.
Und so war ich immer anständig angezogen. Keine T-Shirts mit Sandokan. Keine Jeans. Nur eine Hose, die im Schritt kratzte.
»Wollhose hat voll die Hose«, riefen mir vor der Schule die Jungs zu, und ich rannte die elendig lange Straße bis zu unserem Haus hinauf. Aber ich war nicht schnell genug. Sie kriegten mich und fesselten mich an einen Baum. Sie warteten, wann ich endlich anfinge zu heulen.
»Blinzel mit den Augen«, sagte der eine.
»Sing uns was«, sagte der andere.
»Sag ein Gedicht auf«, sagte der Dritte.
Ich ließ mich nicht provozieren. Auch nicht, als sie meine Hose aufmachten und meinen Schniedel rausholten. Das war allerdings schon hart an der Grenze, aber auch das habe ich gemeistert, wie man so sagt. Ich sah die Wolken, die im Tiefgang über der Straße rollten. Wolken, die den Regen von der Nordsee mitschleppten. Und in dem Moment wurde mir alles klar. Ich meine, alles über die Wolken und mich. Das gab mir die innere Ruhe. Ich wusste, es würde bald anfangen zu regnen, und meine Peiniger würden gehen müssen. Mit bald meinte ich sofort. Der Regen kam, und die Jungs rannten weg, bloß mich zu befreien haben sie vergessen. Vorher hat mir aber jeder noch eine geknallt. Dafür habe ich sie vorher auch bespuckt. Ich kannte sie alle. Einer davon war Patka. Nur hieß er damals noch Ludek Beránek. Und die bescheuerte Frisur, die er später mal im Fernsehen gesehen haben muss, die kannte er damals noch nicht. Falls euch das interessiert. Zu Patka aber später.
Und so stand ich da, mit blutender Nase an den Baum gefesselt, und durch die Straße rauschte Regenwasser, das von den Wolken irgendwo zwischen Island, den Orkney Inseln und Irland aufgesogen wurde, in jener Gegend, wo die schönsten Tiefdruckgebiete der Welt entstehen, die schönsten Tiefdruckgebiete meines Lebens. Das war es, woran ich dachte. Die Vorstellung, von einem solchen Wasser durchnässt zu werden, beruhigte mich: vom Wasser, das als Wolke mehrere Tausend Kilometer zurückgelegt und London, Brüssel oder Hamburg gesehen und trotzdem beschlossen hatte, in Liberec niederzuschlagen. Später wird es gemeinsam mit der Neiße in die Ostsee und durch die Meerenge zwischen dem Kattegat und Skagerrak in die Nordsee und den Nordatlantik zurückfließen: zurück zu seinem Anfang, zurück zu seinem Ende, dahin, wo die Wellen hoch wie Häuser sind, und wenn sie sich wälzen, würde das Meer stöhnen, so hat es zumindest Franz mal erzählt. Und der muss es ja wissen, weil er über der Nordsee mit einem Jagdflugzeug zweimal eine Bruchlandung erlitten hat und wegen dieser Wellen einmal fast nicht gefunden worden wäre.
Aber zu Franz und dem Fliegen später. Alles kommt dran. Vor allem ich selbst. Auch mein innerstes Ich. Ehrenwort.
Ströme von Wasser
Der Regen fiel, und ich stand an den Baum gefesselt in einer von Bergen umgrenzten Stadt, sah die grauen Wolken, hörte den Wind und wünschte keinem was Böses.
Ich war ruhig. Die Wolken hatten mich besänftigt. Von den Wolken habe ich gelernt zu verzeihen. Von Wolken, die lange vor mir da gewesen sind, lange vor euch, lange vor dem spitz zulaufenden Hotel auf unserem Berg, lange vor den Kommunisten und vor den Nazis, lange vor allen Fußball- und Eishockeyspielern, ganz lange vor allen Eisenbahnern, Ärzten und Bestattungsunternehmern, vor Popstars, Schauspielern und IT-Experten, lange vor dem Beginn unserer Geschichte. Von Wolken, die auch dann noch existieren werden, wenn die Geschichte der Menschheit längst zu Ende gegangen ist. Und sie wird zu Ende gehen. Das habe ich im Fernsehen gesehen.
Ich sah in den Himmel, aus dem Wasser in Strömen hinabrauschte. Es herrschte Stille. Auf einmal brüllte jemand.
»Was machst du da!?!«
Mein Vater. In dem Augenblick wurde mir klar, dass es mich fröstelte und ich am nächsten Tag krank würde.
»Wer war das?«
»Weiß ich nicht.«
»Hast du Hilfe gerufen?«
»Ich glaube nicht.«
»Warum?«
»Weiß ich nicht. Einfach so.«
Bis heute weiß ich nicht warum.
Der Wolkenbetrachter
Vater band mich los. Wir gingen nach Hause, an menschenleeren Selbstbedienungsläden vorbei, die Merkur und Dukla hießen, wir gingen in unseren riesigen Plattenbau, auf den Vater stolz war, weil nirgendwo im ganzen Land so viele Menschen unter einem Dach lebten wie in unserem Plattenbau, der wie ein riesiger zerschrammter Eishockeyschläger aussah und im Volksmund übrigens auch genauso hieß; in diesen Plattenbau, in dem ich auf dem Flur immer Angst hatte. Wir gingen langsam, und mich fröstelte es, obwohl mir Vater sein braunes Jackett um die Schultern geworfen hatte.
Es wurde eine Lungenentzündung. Ich lag im Bett, von dem Fieber wurde mein Kopf schwindelig, gegen meine Brust drückte ein schwerer Steinbrocken, den ich nicht hochheben konnte, und das machte Mama große Sorgen. Einige Tage schlief ich durch, und jedes Mal fuhr ich zusammen, wenn um halb sechs Uhr morgens in allen fünfhundertvierundneunzig Wohnungen von unserem Eishockeyschläger die Klospülung gleichzeitig betätigt wurde und ich plötzlich gar nichts mehr hörte, nicht einmal meinen Atem. Man hörte nur noch das Wasser rauschen.
Als ich wieder zu mir kam, beobachtete ich die Wolken, die an den Fenstern vorbeizogen. Ich sah zu, wie der Wind sie wegtrieb, und spürte, wie mit den dahinschwindenden Wolken auch meine Krankheit dahinschwand. Die Wolken haben mich gesund gemacht. Ich musste ständig an sie denken. Immerfort. Ununterbrochen. Und als ich in die Schule zurückkehrte, gab die Frau Lehrerin jedem von uns ein weißes Blatt Papier, auf das wir schreiben sollten, was wir werden wollten.
Die Ergebnisse sahen ungefähr so aus:
Fünf Jungs wollten Formel 1 fahren und auf der Strecke in Monza aus der Kurve fliegen. Darunter auch Patka.
Drei wollten wie Jurij Gagarin ins All fliegen.
Zwei wollten Lokführer bei der Transsibirischen Eisenbahn werden.
Zwei andere wollten für den FC Turin oder wenigstens für Slovan Liberec kicken.
Einer wollte Müllmann werden.
Ein anderer Lenin.
Den hat allerdings noch einer übertrumpft, der Stalin werden wollte. Buckel.
Einer wollte Karel Gott werden.
Vier Mädchen wollten Schauspielerin werden wie die Frau hinter dem Ladentisch.
Drei singen wie Helena Vondrácková.
Zwei andere wollten Balletttänzerin werden.
Und wieder zwei andere Lehrerin werden: Naturkunde und Tschechisch.
Eine wollte gleich in die Rente.
Und ich?
»Wolkenbetrachter? So etwas gibt es nicht«, sagte Frau Lehrerin, als sie meinen Wunsch gelesen hatte.
»Den gibt es. Das habe ich im Fernsehen gesehen. Der wohnt auf dem Berg und guckt den ganzen Tag in den Himmel.«
»Fleischman, willst du schon wieder widersprechen?«
»Nein. Ich sage nur, dass es eine Arbeit ist wie jede andere. Man hat ein Heft und notiert sich die verschiedenen Wolkenarten. Einfach so.«
»Und ich notiere mir Meteorologe«, sagte die Lehrerin, und die ganze Klasse lachte. Ich weiß nicht, was an dem Wort so lustig war. Aber etwas muss es gewesen sein. Vielleicht fanden sie aber mich lustig. In dem Moment war es nämlich passiert. Aus mir wurde Wetterfrosch. Barometer. Eiszapfen. Thermometer. Und Wolkenpest. Wie gesagt: Alles besser als Wollhose.
Die Autobahn Prag-Brünn-Himmel
Was ist wohl mit meinen Mitschülern passiert? Was ist aus ihnen wirklich geworden? Der, der Gott werden wollte, arbeitet in einem Krematorium.
Einmal hat er auf der Baustelle von unserer Schulturnhalle gemeinsam mit anderen einen Traktor angezündet. Er machte am Benzintank Klick mit dem Feuerzeug. Vorher hatte er noch eine Zündschnur reingesteckt. Die Flammen loderten ordentlich auf. Die Feuerwehr war in sechseinhalb Minuten da. Damals nahm ich es auf mich. Es blieb mir auch nichts anderes übrig. Die anderen waren nämlich weggerannt. Ich wurde bei den Pionieren rausgeschmissen, aber das war mir egal. Meinem Vater allerdings nicht.
Wenn ich mal was bräuchte, sagte Gott, sollte ich Bescheid sagen, er würde alles auf der Welt tun für mich, aus alter Freundschaft. Ich sagte danke, vielleicht mach ich das mal. Später habe ich es auch tatsächlich gemacht. Aber das kommt noch.
Und sonst? Vondrácková ackert in der Krankenhauskantine. Aus Patka wurde kein Fittipaldi, sondern Kellner in unserem Grandhotel. Lenin wurde vor einem Jahr auf der Autobahn Prag-Brünn-Himmel von einem Lastwagen platt gefahren. Man hat das im Fernsehen gezeigt. Es war kein schöner Anblick. Der Laster transportierte zwei Tonnen Plastikpuppen mit blonden Haaren, die durch den Aufprall auf die Straße geschleudert wurden. Dazwischen lag der entstellte Lenin mit dem Kopf nach oben. Schnee rieselte auf ihn runter.