Hans-Georg Schumann
Der Chamäleonmann
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Die Geburt
2. Entfaltungen
3. Lena
4. Farbspiele
5. Die Entführung
6. Verlieren und finden?
7. Wiederbegegnung
8. Elmar
9. Die Narbe
10. Berührungen
11. Einsichten und Ereignisse
12. Werdegänge
13. Gehen und Kommen
14. Zenabu
15. Farbempfindungen
16. Die Trennung
17. Kolja der Färber
18. Auf Tournee
19. Wandlungen
20. Das Leipniks-Projekt
21. Kolbert der Maler
22. Renovierung
23. Die Häutung
24. Wechselwirkungen
25. Die Familie
26. Glück und Unglück
27. Unterwegs
28. Yuanxing
29. Yin und Yang
30. Wiederbelebung?
31. Ablösung
32. Nadja und Viktor
33. Ausklang?
Impressum neobooks
Als Kolbert Glaser geboren wurde, waren die Eltern schockiert. Wochenlang hatten sich beide auf das Erscheinen ihres Kindes gefreut. Monatelang. Die Mutter hatte ihre Ernährung umgestellt. Ausgerichtet an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hatte zusammen mit dem Vater Kurse besucht. Um sich bestens auf die Geburt vorzubereiten.
Als die Wehen dann einsetzten, der Vater das Taxi rief, beide gemeinsam zur Klinik fuhren, waren sie voll freudiger Erwartung. Alles verlief ohne Komplikationen. Schließlich erschien das rötlich schimmernde Köpfchen. Dann schob sich langsam der ganze übrige Körper nach.
Kaum war das Neugeborene von den ersten Blutresten gesäubert, wurde offensichtlich, was der Vater bereits vermutete, noch immer aber nicht glauben wollte: Der Haut des Babys schien jegliche Farbe zu fehlen. Man konnte das rohe Fleisch darunter deutlich erkennen. Und selbst das war teilweise transparent. Das Gewebe machte bei genauerem Hinsehen sogar die Umrisse der inneren Organe wahrnehmbar. Das Kind sah aus wie ein Klumpen Fleisch.
Der Vater unterdrückte seinen Aufschrei. Weil er die Mutter schonen wollte. Doch die verlangte nach dem Baby. Und so konnte es nicht ausbleiben, dass auch sie erkannte: Ihr Kind besaß offenbar keinerlei Hautfarbe. Schließlich fassten beide Eltern ihren Schock in einem kurzen gequälten Laut zusammen.
Eine Mimik im Gesicht von Kolbert war nicht zu bemerken. Die kräftige rote Farbe des Muskelgewebes verhinderte es, irgendwelche Zeichen von Gefühlsregungen auszumachen. Man musste schon näher hinschauen. Doch das wagten seine Eltern nicht.
Zudem hörten sie plötzlich Schreie. Sie klangen glasig und schrill. Ausgestoßen wie in höchster Not, gerufen wie durch einen metallischen Trichter.
Es waren also weniger die Strapazen der Geburt, die die Mutter mit einem Mal in eine tiefe Ohnmacht fallen ließen. Und auch den Vater ergriff ein Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen und das Blut aus dem Kopf jagte. Er begann nun hemmungslos zu weinen, spürte die Versuche der Hebamme ihn zu trösten kaum. Während der Arzt sich um die bewusstlose Mutter bemühte.
Es dauerte nicht lange, da war die Mutter wieder aus ihrer Ohnmacht erwacht. Der Vater hatte bereits seine Tränen getrocknet. Und nun saß er da, am Bett seiner Frau. Hielt ihre Hand und versuchte zu lächeln. Was ihm jedoch nicht gelingen wollte.
Beide starrten sich mit großen Augen an, in denen tiefes Entsetzen zu lesen war. Beharrlich darauf bedacht, ihre Blicke nicht zu dem Kind wandern zu lassen, das gerade eben geboren war. Und dessen glasig-metallischen Schreie noch immer den Raum erfüllten.
»Es ist gesund«, versuchte die Hebamme schließlich die beängstigende Schweigsamkeit der Eltern zu durchbrechen, »die Apgar-Werte …«
Unschlüssig und hilflos sah sie zum Arzt hinüber: »Was ist mit seiner Haut?«, raunte sie ihm zu. Der Arzt kam näher und befühlte das Baby. Fuhr ihm vorsichtig über die glasig glänzende Haut. Sagte dann ohne aufzuschauen vor sich hin: »Null Punkte.« »Null Punkte«, wiederholte die Hebamme.
»Hören Sie«, wandte sich der Arzt den Eltern zu, »Ihr Kind ist an sich gesund – jedenfalls ...«
»Die Haut!«, stieß die Mutter nun hervor. Dann schrie sie: »Was ist mit seiner Haut?« »Die Haut«, wiederholte der Arzt langsam, »Wir werden Ihr Kind gründlich untersuchen.«
Dann winkte er der Hebamme zu. Die nahm das immer noch schreiende Baby auf und trug es zur Mutter: »Wollen Sie es anlegen?«, fragte sie.
Beide Eltern wandten ihre Blicke voneinander weg zur Hebamme hin. Vermieden noch immer ihr neugeborenes Kind anzuschauen. Nach einigem Zögern drehte sich die Mutter zu dem Baby hin. Und langsam bewegten sich ihre Arme darauf zu.
Die Hebamme legte das schreiende kleine Bündel behutsam in die Arme der Mutter. Die spürte sein geringes Gewicht, seine Wärme. Sie fühlte seine weiche Haut. Und sie begann ihr Kind mehr und mehr anzunehmen.
Wie in Zeitlupe bewegten sich ihre Arme auf ihren Körper zu. Sie schob ihr Nachthemd zur Seite, sodass die linke Brust völlig frei lag. Dann zog sie das Baby an sich, bis es mit seinem Mund die Brustwarze erreichen konnte.
Sobald Kolbert die Arme der Mutter spürte, hörte er ganz plötzlich auf zu schreien. Und nun, wo er an ihrer Brust lag und saugte, bemerkte sie, wie von seinem Körper nicht nur Wärme, sondern auch das Gefühl von Zufriedenheit und Geborgenheit ausging. Sie wurde davon sosehr erfasst, dass sie vermeinte, mit ihrem neugeborenen Kind wieder zu der Einheit zu verschmelzen, die sie vor seiner Geburt auch schon mit ihm gebildet hatte.
Während die Mutter Kolbert stillte, suchten ihre Blicke nach seinem Vater. Dabei fanden sie nicht den direkten Weg, sondern wanderten erst im ganzen Kreißsaal herum, ehe sie schließlich in seinem Gesicht landeten.
Der Vater sah seine Frau an. Er wirkte ermattet, als habe er selbst sein Kind geboren. Sein Kind – noch immer wollte und konnte er es offenbar nicht wahrhaben, dass dies sein Kind war. Ein Mensch, der aussah, als hätte er keine Haut. Und als bestünde er nur aus rohem Fleisch. Als der Mann jedoch bemerkte, wie seine Frau ihr Baby zufrieden in den Armen hielt, dieses sich ebenso zufrieden an ihrer Brust labte, ergriff ein leises Lächeln sein Gesicht. Und langsam wurde es stärker.
Sowohl die Mutter als auch der Vater schienen mit einem Mal vergessen zu haben, dass die Haut von Kolbert nicht weiß, rosig, gelblich oder bräunlich war. Sondern ganz offensichtlich überhaupt keine Farbe hatte. Und der Arzt wie auch die Hebamme nahmen verwirrt eine seltsame Harmonie wahr, die Eltern und Kind gemeinsam auszustrahlen schienen.
Plötzlich wurde dem Arzt bewusst, dass seine medizinische Pflicht von ihm verlangte, das Baby nochmals zu untersuchen. Und seine Haut einer genauen Prüfung zu unterziehen. Er nickte der Hebamme zu und wies dann mit dem Kopf zu Kolbert. Die verstand nicht sofort, was er meinte.
»Ich muss es untersuchen!«, betonte der Arzt nunmehr leicht unwirsch. Und die Hebamme reagierte nur unwillig. Vorsichtig löste sie das Baby von der Mutter. Nur wenn man sehr genau hinsah, konnte man erkennen, dass Kolbert mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen war.
Sogleich war die Harmonie zwischen Mutter, Kind und Vater dahin. Doch während Kolbert weiterschlief, als hätte er die abrupte Trennung von seiner Mutter gar nicht bemerkt, wich das eben noch sanfte Lächeln aus den Gesichtern von Mutter und Vater, als hätte man es mit einer kräftigen Bürste weggefegt.
Die Hebamme versuchte den Mangel an Eintracht zu überdecken. Sie zog ihre Mundwinkel übertrieben nach außen und oben. Schnell drehte sie sich dann mit dem Baby herum und verließ mit eiligen Schritten den Raum.
Der Arzt folgte ihr bis zur Tür, blieb dann aber noch einmal stehen. »Sie kommen einen Moment allein zurecht?«, fragte er halb zu den Eltern von Kolbert gewandt. Um dann eilig hinzuzufügen: »Schwester Ilse ist gleich wieder da!«
Schon war er draußen. Und Kolberts Eltern blieben allein zurück. Die Mutter hatte sich halb im Bett aufgerichtet. Schweigend saßen sich beide Eltern nun gegenüber. Mit steinernen Gesichtern. Auf einmal wieder kinderlos.
Vielleicht würde alles noch einmal auf null gesetzt? Und die Geburt ihres Kindes stünde erst bevor: Noch waren sie zu zweit, doch schon bald würde ein gesundes Kind mit rosiger Haut und braunem Haar sie anlächeln.
Doch dann war die Hebamme wieder da. Versuchte mit ihrem erneut aufgesetzten Lächeln die Lage zu entschärfen. Und damit war auch die Wirklichkeit wieder gegenwärtig: Kolbert war nicht normal geboren worden, sondern hatte eine durchsichtige Haut.
Und jetzt wurde er in einem anderen Raum der Klinik untersucht. Womöglich litt er an einer schweren Krankheit. Die vielleicht unheilbar war und gar zum Tode führen konnte.
»Was ist mit unserem Kind?«, rief die Mutter. Die Hebamme versuchte tapfer weiter zu lächeln, als sie sagte: »Es kommt alles in Ordnung! Ihr Sohn wird gerade untersucht!«
»Nichts ist in Ordnung!«, meinte der Vater aufgeregt. »Wir tun was wir können!«, stotterte die Hebamme unsicher.
»Besteht Lebensgefahr?«, fragte der Vater. »Wird unser Sohn überleben?«, rief die Mutter.
»Er wird!«, hörten sie die Stimme des Arztes. Er trat an das Bett, in dem die Mutter immer noch aufgerichtet saß.
»Beruhigen Sie sich!«, sagte er leise, aber bestimmt. Er berührte sie mit beiden Händen an den Schultern und drückte sie sanft zurück, bis sie mit dem Kopf wieder im Kissen lag.
»Beruhigen Sie sich!«, wiederholte er dann und sah der Mutter ins Gesicht. »Ihr Sohn hat einen starken Mangel an Pigmenten in seiner Haut. Aber da ist nichts, weshalb er sterben müsste. Babys haben zwar ohnehin noch weniger Farbstoffe als Kinder und Erwachsene ...«
»Was heißt das jetzt für unser Kind?«, fragte der Vater.
»Vielleicht handelt es sich um Leuzismus oder Albinismus ...«, begann der Arzt zu erklären, doch die Mutter unterbrach ihn: »Ein Albino? Unser Sohn ist ein Albino?«
»Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen«, versuchte der Arzt zu beschwichtigen, »Sie haben ja gerade erst begonnen. Ihr Kind ist doch eben erst geboren ...«
»Albinos?«, warf der Vater nun ein, »Sind das nicht Missgeburten?« Energisch schüttelten Hebamme und Arzt die Köpfe.
»Albinismus bedeutet nur, dass die Haut des Betroffenen sehr wenig oder fast keinen Farbstoff hat«, versuchte der Arzt zu erklären, »Dadurch wirkt die Haut durchsichtig. Dieser Mangel an Pigmenten ...« »Pigmenten?«, fragte die Mutter.
»Pigmente sind Farbstoffe. Je mehr davon eine Haut hat, desto dunkler ist sie. Somit kann man sicher nicht von einer Missgeburt sprechen, nur weil Ihr Kind augenscheinlich nur wenige Pigmente hat!«
Beide Eltern schauten den Arzt schweigend an. »Urteilen Sie nicht zu vorschnell, wo wir alle doch noch gar keine klaren Erkenntnisse haben!«, fuhr der fort.
»Wir werden Ihr Kind gründlich untersuchen, und ziehen auch einige Hautspezialisten hinzu. Wenn eine genaue Diagnose feststeht, werden wir eine wirkungsvolle Behandlung einleiten. Bis dahin sollten Sie erst einmal abwarten. Es macht keinen Sinn, wenn Sie sich aufregen. Und sich dann herausstellt, dass es etwas Harmloses ist. Wir werden Sie bestimmt beizeiten ausführlich informieren.«
Schnell hatte sich das anfängliche Entsetzen der Eltern über Kolberts durchsichtige Haut gelegt. Nachdem ihnen einer der Fachärzte eröffnet hatte, dass ihr Sohn keineswegs an einem Mangel an Hautfarbstoff litt. Dies hatte eine ausführliche Untersuchung in der Klinik ergeben.
Pigmente gab es in Kolberts Haut genügend, sie waren sogar im Übermaß vorhanden. Allerdings machten die untersuchenden Hautärzte diese Entdeckung nicht sogleich. Denn bei der Geburt von Kolbert waren sämtliche Farbzellen auf transparent gesetzt. Daher war es kein Wunder, dass man zunächst vermutete, es gäbe in seiner Haut fast oder gar keine Pigmente.
Erst nach einigen Wochen begann Kolberts Haut allmählich Farbe anzunehmen. Doch wurde daraus nicht ein bei vielen Babys übliches Zartrosa, sondern ein Grau, das sich von Tag zu Tag mehr verdichtete, bis es von einem glasigen Schmutzgrau zu einem geschlossenen Hellgrau geworden war.
Diese Hautfarbe führte die Fachärzte zunächst zu der irrigen Diagnose, man habe es mit einer unbekannten Krankheit zu tun. Eine genauere Untersuchungsreihe jedoch hatte zum Ergebnis, dass Kolberts Haut ebenso gesund war wie die eines normalen Neugeborenen.
Zu ihrem Erstaunen entdeckten die Ärzte in Kolberts Haut jedoch statt der sonst beim Menschen üblichen Farbzellen sogenannte Chromatophoren, wie man sie bisher nur von verschiedenen Tieren oder Pflanzen her kannte.
Die Pigmentzellen der menschlichen Haut lieferten gewöhnlich gelbbraune bis schwarze Farbstoffe und sorgten so für eine hellere oder dunklere Tönung. Zusammen mit dem unter der Haut liegenden Muskelgewebe ergab sich so ein Farbton zwischen Zartrosa und Braun.
In Kolberts Haut gab es drei verschiedene Arten von Pigmentzellen, für jede der drei Grundfarben eine. Und daraus ließen sich wie bei einem Farbdrucker sämtliche Nuancen von Transparent bis Schwarz erzeugen.
Außergewöhnlich war, dass hier neben den für den gelblichen Farbstoff zuständigen Zellen zwei weitere äußerst seltene Zellarten auftauchten. Sie sorgten dafür, dass der Haut auch die Farben Türkisblau und Purpurrot zur Verfügung standen.
Im Augenblick schien Kolbert nur in der Lage zu sein, sämtliche Farbzellen gleichzeitig zu steuern. Was auch die einheitliche Graufärbung seines ganzen Körpers erklärte. Die Hautärzte, die ihn untersuchten, kamen jedoch zu dem Schluss, dass Kolbert mit der Zeit und entsprechender Übung alle Pigmentzellen so kontrollieren könnte, dass zumindest theoretisch ein beliebiger Farbwechsel der Haut möglich war.
Und tatsächlich änderte sich seine Hautfarbe nach einigen Wochen vom hellen Grau zuerst zu einem hellen reinen Gelb, um dann allmählich wieder zum Grau zurückzukehren und dabei zu bleiben. Etwa einen Monat später wiederholte sich der Wandlungsprozess mit einer anderen Grundfarbe. Nun nahm seine Haut eine hellblaue Tönung an, die leicht grünlich schimmerte. Dann verfärbte sie sich wieder ins alte Grau. In einem dritten Durchgang wurde seine Hautfarbe zu einem zarten Lila, um schließlich wieder ins Graue zurückzuwandern.
Einige Male entstanden auf Kolberts Haut noch andere Verfärbungen, wobei die komplette Haut jedoch immer durchgängig dieselbe Farbe annahm. Wie die Hautärzte vermuteten, war Kolbert bemüht, zu einer Tönung zu gelangen, die der Hautfarbe der Menschen, die er um sich hatte, möglichst nahekam.
Alles in allem – befanden die untersuchenden Ärzte schließlich – ein durchaus gesundes, wenn auch besonderes Kind. »Ausgestattet mit Eigenheiten, die eben nicht jeder Mensch hat«, wie es einer der Dermatologen formulierte.
»Darauf können Sie stolz sein!«, meinte der Arzt, der schon bei Kolberts Geburt zugegen war, zur Mutter, als die zusammen mit ihrem Mann zum Nachuntersuchungstermin erschien. Die aber blieb ebenso wie Kolberts Vater skeptisch.
»Die Diagnosen sind noch nicht abgeschlossen«, fuhr der Arzt fort. Und forderte die Eltern auf, Kolbert im Abstand von jeweils 14 Tagen immer wieder für mindestens einen Tag in die Klinik zu bringen.
Zuerst stimmten beide Eltern zu. Aber nach nicht einmal einem Vierteljahr empfand die Mutter diesen Zustand als so unerträglich, dass sie sich weigerte, weitere Untersuchungen an Kolbert zu erlauben. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Kind den Ärzten nur als interessantes Objekt für ihre Forschungen diente. Und dazu in verschiedenen Abteilungen herumgereicht wurde.
Niemand konnte sie umstimmen, und auch der Vater ergriff Partei für seine Frau. So mussten beide ein Papier unterschreiben, in dem sie die volle Verantwortung für alle möglichen Folgen übernahmen. Von nun an blieb Kolbert der Klinik für längere Zeit fern.
Die üblichen Nachuntersuchungen ließen die Eltern von einem Kinderarzt vornehmen, der in der Nähe ihres Hauses praktizierte. Er wusste von Kolberts besonderen Hauteigenschaften, beschränkte sich jedoch darauf, nur die sonst üblichen Untersuchungen durchzuführen.
Kolberts Hautfarbe hatte sich mit der Zeit zu einem bei Kindern üblichen Rosa verändert. Die Farbe der Augen war bei einem hellen und die seiner allmählich gewachsenen Haare bei einem dunklen Grau angelangt. Inzwischen war er ein Jahr alt, konnte schon eine ganze Reihe von Wörtern lallen, und stand kurz davor, das Laufen zu erlernen.
Gleich nach seiner Geburt hatte Kolbert vier verschiedene Häute gespürt: Zuerst die der Hebamme, die ihn aus dem Körper der Mutter zog. Dann die des Arztes, der ihn untersuchte. Und erst anschließend die Haut der Mutter, als sie ihn anlegte. Dies war für Kolbert die bisher angenehmste Begegnung mit einer anderen Haut. Dass ihn später auch die Haut des Vaters ertastete, nahm er daher nur am Rande wahr.
Die Entstehung seiner eigenen Haut hatte Kolbert als Embryo miterlebt, wie sie sich innerhalb von Tagen ebenso wie Nervensystem, Gehirn und Rückenmark aus seiner äußeren Zellschicht, dem Ektoderm, bildete. So konnte er schon im Mutterleib spüren, wenn sein Körper an die Uteruswand stieß. Das war die erste Hautfläche, mit der seine eigene Haut in Berührung kam.
Zugleich war dieser Kontakt für Kolbert eine Möglichkeit, etwas über die Beschaffenheit seiner eigenen noch hauchdünnen Haut zu erfahren, die zuerst durchlässig für das Fruchtwasser war, in dem er schwamm. Mit der Zeit vernahm er, wie diese Flüssigkeit immer weniger unter seine Haut dringen konnte, weil sich eine neue Schutzschicht gebildet hatte, die sogenannte »Käseschmiere«.
Aber Kolbert spürte nicht nur, wenn seine eigene Haut die ihn umgebende Behausung berührte, auch die Empfindungen der Haut seiner Mutter wurden zu ihm übertragen, als sei die Haut der Mutter auch die eigene.
Als er ihren Leib verließ, war diese Haut für Kolbert eine umhüllende und schützende Decke geworden, die er mit der Mutter gemeinsam zu haben glaubte. Deshalb suchte er zunächst verzweifelt nach ebendieser Haut, die sich weder bei der Hebamme noch bei dem Arzt aufspüren ließ. Erst als die Mutter ihn mit ihren Armen aufnahm und an sich zog, hatte Kolbert seine zweite Haut wiedergefunden.
Die Geburt war für ihn sein erstes großes Abenteuer. Ohne sich wehren zu können und zu wollen wurde er aus dem Uterus hinausgetrieben, in dem es sich trotz der wachsenden Enge so wohlig leben ließ. Doch Kolbert ahnte, dass dies nicht von Dauer sein konnte, und hatte seinen Körper bereits in Startposition gebracht.
Und als ihn die Wehen der Mutter langsam aus ihrem Leib schoben, setzte er sich selbst in Bewegung und unterstützte den Geburtsvorgang durch Drehungen und Krümmungen seines Körpers, ohne zu wissen wohin die Reise gehen sollte. Auf diesem Wege spürte er den Druck der für ihn engen aber glatten Vaginalwand auf seiner Haut, trotzdem glitt er fast reibungslos hindurch.
Was ihn am Ausgang des Geburtskanals dann erwartete und sich nach seinem vollständigen Verlassen noch steigerte, verängstigte ihn derart, dass sich sein Entsetzen in schrillen Schreien entlud.
Gehört hatte Kolbert schon eine Menge Geräusche, als er noch im Uterus seiner Mutter lebte. Aber dieser Hall und seine eigenen Schreie, die er zuerst gar nicht als zu ihm gehörig erkannte, dazu das grelle Licht, die Bewegungen von trockener Luft, eine andere Art vom Wärme: All das war für ihn ganz anders als an seinem früheren Wohnort, den er soeben – freiwillig und gezwungenermaßen zugleich – aufgegeben hatte.
Gleichzeitig war ihm, als würde sich sein Körper ausdehnen, seine Arme und Beine begannen sich zu strecken und einen Halt zu suchen. Er spürte die Schwerkraft seines Körpers, und er nahm seine Haut als schützende Trennwand zwischen seinem Inneren und seiner neuen Umgebung wahr.
Obwohl er noch immer schrie, war Kolbert bereits entschlossen, sein Leben in dieser fremden Welt fortzusetzen. Und daher dauerte es nicht lange, da war er schon mitten in seinen Bemühungen, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen – besonders was seine Haut betraf.
Beim Umgang mit seinen Sinnesorganen wies Kolbert dem Sehen und Hören nur eine untergeordnete Rolle zu. So entwickelten sich diese Sinne langsamer als bei Kindern üblich. Stattdessen konzentrierte er sich vorwiegend auf die Verfeinerung seines Tastsinns. Für ihn war es offenbar wichtig, seine Umwelt weitgehend »abzutasten«. Und weniger bedeutend, wie sie aussah oder sich anhörte.
Sicherlich fiel ihm dies deshalb leichter, weil es beim Säugling und Kleinkind gerade die Haut war, über die der aller erste Kontakt mit der Außenwelt stattfand. Und so suchte Kolbert häufig nicht nur die Nähe seiner Mutter, sondern auch möglichst viel Hautkontakt zu ihr, was schließlich der Mutter ganz offensichtlich zu viel wurde.
Kolbert hatte ohnehin schon in den ersten Monaten einsehen müssen, dass die eigene Haut und die der Mutter nicht eine Einheit, sondern zwei voneinander unabhängige Häute waren. Von denen die andere eben ausschließlich der Mutter gehörte. Und er nur insoweit daran teilhaben konnte, wie die Mutter es zuließ. Dazu jedoch war sie im Laufe der Zeit immer weniger bereit.
Kolbert erinnerte sich daran, dass ihm sowohl die Mutter als auch der Vater schon bei seiner Geburt das für ihn unverständliche Gefühl gaben, als sei mit ihm etwas nicht in Ordnung.
Während seine transparente Haut für Kolbert durchaus normal war, empfand seine Mutter sie zunächst als abstoßend. Und er bekam zu spüren, wie sie ständig zwischen Zuneigung und Abneigung schwankte. Die Mutter fühlte sich nicht selten im einen Augenblick von der Zartheit und Wärme seines Körpers und seiner Haut angezogen, war jedoch im nächsten Moment von der Sichtbarkeit seines Fleisches mitsamt Adern und Sehnen oder gar Knochen angewidert.
So begann die Mutter schon nach wenigen Monaten sehr zu Kolberts Missfallen mit dem Abstillen. Was für ihn nicht nur den Verlust der wohlschmeckend warmen und labenden Muttermilch bedeutete, sondern auch den des so überaus wohltuenden engen und langen Hautkontaktes. Es schien ihm sogar, als würde die Mutter von nun an die Berührung seiner Haut häufig bewusst meiden, der näheren Begegnung ihres Körpers mit dem seinen aus dem Wege gehen.
Sobald die Transparenz seiner Haut nachzulassen begann, stieg die Häufigkeit der Körperkontakte mit der Mutter wieder an. Allerdings sehr zögerlich, denn das sichtbare Grau seiner Haut wich doch zu sehr von dem ab, was die Mutter für eine normale Hautfarbe hielt.
Mit der Zeit begann Kolbert offenbar zu verstehen, was die Mutter an allzu intensiver Berührung hinderte. Als er schließlich im Versuch, diese Normalfarbe endlich zu erreichen, mehrfach zu den Grundfarben wechselte, um dann immer wieder bei jenem doch so unerwünschten Grau zu landen, sank der Hautkontakt mit der Mutter auf einen neuen Tiefstand.
Endlich gelang es Kolbert, die Chromatophoren in seiner Haut so zu steuern, dass diese in einem zarten Orangerosa erschien. Wie von ihm erwartet, nahmen nun die Berührungen durch die Mutter wieder zu, allerdings nicht in dem Maße wie von ihm erwünscht.
Schließlich war Kolbert ein Jahr alt geworden und zeigte für andere Menschen, die ihn sahen, keine großen Auffälligkeiten. Seine Haare waren recht kurz und ihre dunkelgraue Farbe fiel nur auf, wenn man ganz genau hinsah.
Damit, dass seine Mutter weiterhin zu intensive Hautberührungen mit ihm vermied, hatte sich Kolbert inzwischen abgefunden, auch wenn er es sehr bedauerte. Dass sein Vater ihn umso öfter herzte und liebkoste, seit seine der Hautfarbe anderer Kinder ähnelte, war für Kolbert beileibe kein Ersatz für den Kontakt mit der Mutter. Zumal die Haut seiner Mutter zart und weich, die seines Vaters eher rau und an manchen Stellen sogar stachlig war.
Und so nahm er auf seinen täglichen Erkundungsreisen auf allen Vieren oder auch mal auf zwei Beinen reichlich die Gelegenheit wahr, die »Haut« anderer Gegenstände zu erspüren. Niemals jedoch fand er darin nur annähernd dieselbe Befriedigung wie bei einer Berührung der mütterlichen Haut, die früher einmal seine eigene, zweite Haut gewesen war.
Mittlerweile beherrschte Kolbert weitgehend das Spiel mit den Farbzellen in seiner Haut. Aktivierte er nur eine Sorte seiner Chromatophoren, nahm seine Haut ein helles bis dunkles Purpurrot, Schwefelgelb oder Türkisblau an. Und kombinierte er jeweils zwei Arten von Farbzellen mit gleicher Stärke, so ergaben sich daraus feuerrote, froschgrüne oder stahlblaue Hautverfärbungen.
Mit allen Pigmentzellen zusammen variierte er seine Hautfarbe vom hellen fast glasigen Grau bis zum rußigen Anthrazit. (Jedoch gelang ihm weder eine reine Transparenz wie bei seiner Geburt noch eine vollständige Schwärzung seiner Haut.)
Natürlich konnte Kolbert inzwischen den Wirkungsgrad jedes Farbzelltyps getrennt regeln. Sonst wäre er nicht imstande gewesen, eine Hautfarbe anzunehmen, die unter den Menschen um ihn herum verbreitet war. Für ein zartes Orangerosa musste er nur sanft die Purpurzellen aktivieren. Aus dem entstandenen Hauch von Pink ließ sich dann über die Intensität der Gelbzellen der erforderliche Orangeton mischen.
Für Kolbert gestaltete sich jede Veränderung seiner Hautfarbe allerdings noch recht mühsam. Zumal er derzeit nicht in der Lage war, einzelne Farbzellen eines Typs zu beeinflussen, sondern immer nur alle zusammen. So war er eigentlich froh, die Farbintensität seiner Chromatophoren nicht allzu oft steuern zu müssen. Hatte er erst einmal einen Farbton erreicht, brauchte er sich um seine Erhaltung nicht zu kümmern. Anstrengung kostete ihn nur die Veränderung.
Johanna Glaser war Kolberts Fähigkeit, seine Hautfarbe zu verändern, nie ganz geheuer. Sie liebte ihren Sohn und fühlte sich angezogen, denn sie bewunderte seine Eigenschaft. Und sie fürchtete ihn und fühlte sich abgestoßen, denn seine Eigenschaft machte ihn fremd.
Ihr Mann Moritz sah das Ganze gelassener: »Seine Standardfarbe ist nun mal grau, so wie andere Kinder auch mal fast weiß oder dunkelbraun sein können. Und draußen gibt er sich doch Mühe, dass seine Haut so gefärbt ist wie die Haut der meisten anderen Kindern auch.«
»Aber«, meinte seine Frau, »wenn das nur immer so bliebe!«. Denn Kolbert neigte nicht selten zu (absichtlichen oder versehentlichen) Hautverfärbungen. In seinem Bemühen sich anzupassen orientierte er sich an dem, was er an Haut zu sehen bekam. So nahm seine eigene Haut auch mal eine dunklere oder hellere Tönung an. Oder sie ging mehr ins Rötliche oder ins Gelbliche. Das fiel aber entweder nicht auf oder niemand wunderte sich darüber.
Da Kolberts Haut im Farbbereich zwischen Rosa und Orange keine besondere Aufmerksamkeit mehr auf sich zog, war er zunehmend bestrebt, seine Hautfarbe möglichst wenig zu ändern. Er hatte begriffen, dass es in seinem noch jungen Alter besser war, sich an seine Umgebung anzupassen und den Wunschvorstellungen der Eltern zu entsprechen.
Farbliche »Ausrutscher« unterliefen Kolbert meistens unter Stress, bei Gefühlsausbrüchen oder Angstzuständen. War er im Ungleichgewicht und hatte sich seine Hautfarbe vom »Normalton« entfernt, kostete es ihn einige Anstrengung, die alten Zustände wiederherzustellen. Und wenn er sich in solchen Situationen elend oder schwach fühlte, gelang ihm das eben nicht immer.
So ergab sich manche peinliche Situation, die vor allem Kolberts Mutter zu schaffen machte. Und auch seinem Vater gingen allmählich die Schlagfertigkeiten aus, wenn Kolbert einmal eine völlig abweichende Hautfarbe bekam.
Es ließ sich nicht vermeiden, dass eines Tages auch ein Journalist von Kolberts Eigenschaften erfuhr. Nachdem seine penetranten Versuche mehr herauszufinden bei Kolberts Eltern auf Granit gestoßen waren, hatte er offenbar fürs erste aufgegeben. Was jedoch nicht hieß, dass er von seinem Vorhaben Abstand nehmen würde, mehr über Kolberts Hauteigenschaften zu erfahren.
Mit der Zeit verließen beide Eltern immer seltener am Tag mit Kolbert das Haus. Lediglich abends nach Einbruch der Dämmerung gingen die Eltern mit Kolbert spazieren. Und das immer nur zu zweit.
Johanna hatte zuerst ihren Mutterschaftsurlaub verlängert, nun sehnte sie das Ende herbei. Um sich endlich wieder verstärkt ihrem Beruf als Sekretärin widmen zu können. Immerhin hatte ihr Chef die Stelle ein Jahr lang für sie freigehalten.
Ihr Mann Moritz war Softwareentwickler bei SAP. Er hatte sich vor Kolberts Geburt einige Wochen Urlaub genommen. War täglich in die Klinik gefahren und blieb auch später noch mehrere Tage zu Hause, um sich zusammen mit seiner Frau dem gemeinsamen Baby zu widmen.
Als dieser Urlaub vorbei war, verschwand sein Vater auf einmal, und Kolbert bekam ihn oft nur abends kurz zu sehen. Dann wirkte er müde und abgespannt und war nach einer kurzen Begrüßung bald ins Bett gefallen und dort eingeschlafen.
»Er muss halt viele Überstunden machen«, hörte Kolbert seine Mutter seufzen, ohne diese Worte zu verstehen. Aber den Wortlaut kannte er genau: »Über-Stunden«.
Manchmal tauchte der Vater tagelang nicht auf. Kolberts Mutter sprach dann von »Geschäfts-Reise«. Auch dieses Wort verstand Kolbert erst später, aber er kannte jetzt schon den Zusammenhang zwischen diesem Begriff und dem langen Fernbleiben seines Vaters.
Bevor Johanna Glaser ihren früheren Beruf wieder aufnahm, kam mehrere Tage vorher eine junge Frau vorbei. Die lächelte Kolbert immer nur zu und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. Kolbert war das unangenehm, aber er fügte sich und nahm es auch hin, als die Frau eines Tages mit ihm allein blieb, während seine Mutter verschwand.
Immerhin sorgte diese Frau dafür, dass er zu essen und zu trinken bekam. Und sie verpasste ihm auch ab und zu eine frische Windel. Ansonsten saß sie meistens im Wohnzimmer des elterlichen Hauses, schaute in diesen Kasten mit den bunten beweglichen Bildern oder sprach in ein Gerät, das Kolberts Mutter schon mehrfach »Tele-Fon« genannt hatte.
Er selbst unternahm derweil einige Wanderungen durch die anderen Räume, wenn eine Tür offenstand. Meist geschah dies mehr krabbelnd als laufend. Doch mit der Zeit fiel es Kolbert immer leichter, sich hochzuziehen und an den Wänden oder Möbeln entlangzugehen.
Kam es dabei einmal zu einem Sturz (und das war beileibe nicht selten), so rannte die Frau sogleich herbei, kaum hatte Kolbert begonnen zu schreien. Sie sprach dann so schnell vor sich hin, dass er in diesem Schwall keinen Wortfetzen wiedererkennen konnte.
Dann packte sie Kolbert, zog ihn hinter sich her ins Wohnzimmer und setzte ihn in den Laufstall, wo er noch mehr schrie. Aber das schien die Frau nicht zu stören. Sie ging in die Küche, schloss die Tür zum Wohnzimmer und ließ Kolbert allein.
Das ging gerade mal eine Woche so weiter, dann war die Frau plötzlich verschwunden. Und seine Mutter blieb wieder öfter und länger zu Hause. Schließlich nahm sie Kolbert mit in das Büro, in dem sie arbeitete. Dort durfte er manchmal so lange herumkrabbeln, bis seine Mutter ihm das Wort »Nein!« zurief. Dann musste er kehrt machen und weiter an eine andere Stelle krabbeln. Meist jedoch verbrachte er seine Zeit im Laufstall, mit dem er sich inzwischen abgefunden hatte.
Keine Woche später tauchte eine neue Person auf. Diesmal ein Mädchen, deutlich jünger als die nun wohl für immer verschwundene Frau. Deren Namen hatte Kolbert wohl gehört, aber wieder verworfen. Nun jedoch vernahm und merkte er sich den Namen seiner neuen Aufpasserin: Lena. Schon nach kurzer Zeit nämlich hatte ihn ein Gefühl der Sympathie für dieses Mädchen ergriffen, während er für ihre namenlose Vorgängerin nur Apathie empfand.
Lena hatte ein ovales Gesicht wie Kolberts Mutter. Doch ihr Kopf war etwas kleiner. Lena hatte langes braunes Haar wie Kolberts Mutter. Hatte blaue Augen, die Augen von Kolberts Mutter waren graugrün.
Als er zum ersten Mal Lenas Haut fühlte, empfand Kolbert sie als weicher, aber die Haut seiner Mutter war ihm vertrauter. Sie war weniger weich als die von Lena, aber sie war zarter, Lenas Haut war etwas rauer. Doch diese Haut gefiel ihm, während die Haut der anderen Frau, deren Namen er vergessen hatte, sich kälter und spröder anfühlte.
Auch das neue Kindermädchen kümmerte sich um Kolberts leibliches Wohl, gab ihm zu essen und zu trinken, wechselte seine Windeln. Doch sie beschränkte sich nicht darauf, sondern widmete ihm auch sonst ihre Aufmerksamkeit.
So folgte sie Kolbert auf seinen Erkundungsgängen in einigem Abstand. Wechselte er vom Aufrechtgehen an der Wand zum Krabbeln, ging das Mädchen in die Knie und verharrte auf allen Vieren in seiner Nähe. Es sah aus, als ob eine Tiermutter auf ihr Junges aufpasste.
Kolbert achtete darauf, dass er sie nicht aus den Augen verlor, wenn er sich weiter entfernte. Ab und zu kroch er dann doch um eine Ecke, um zu kontrollieren, was sie nun unternehmen würde. Und schon nach kurzer Zeit bemerkte er, dass Lena ihm kriechend nachkam. So durchkrabbelte er die ganze elterliche Wohnung, während das Mädchen ihm ihn einiger Entfernung folgte. Immer wenn er innehielt, verharrte auch sie eine Weile.
Dann beschleunigte Kolbert sein Krabbeln. Schließlich wurde er so schnell, dass er glaubte, seine Beine würden durcheinandergeraten und unter ihm wegrutschen. Lena folgte ihm, holte ihn ein und hielt ihn vorsichtig fest. Kolbert gefiel das und er ließ ein glucksendes Lachen hören.
Aber bald ließ Lena ihn wieder los, und die Verfolgungsjagd begann aufs Neue. Diesmal aber blieb Lena in einiger Entfernung vor ihm stehen, als sie ihn fast eingeholt hatte. Sie kam nicht näher und hielt ihn nicht fest. Einen Moment schauten sich beide an. Kolbert wusste offenbar mit dieser für ihn jetzt neuen Situation nichts anzufangen. Er zögerte.
Plötzlich machte Lena einen Satz nach vorn und Kolbert erstarrte vor Schreck. Dann wendete er und krabbelte so schnell er konnte, um seiner Verfolgerin zu entkommen. Sobald Lena ihn erreicht hatte und festhielt, reagierte Kolbert mit seinem glucksenden Lachen.
Das Ganze wiederholte sich zahlreiche Male, bis Lena sagte »Schluss jetzt!« Und Kolbert verstand recht bald, dass diese kurzen Worte das vorläufige Ende ihrer Jagd bedeuteten. Aber er wusste auch, dass es ein nächstes Mal geben würde. Und darauf freute er sich.
Das Jagen war nicht das einzige Spiel, das Kolbert gern mit Lena spielte. Ein anderes war der »Turmbau zu Babel« wie Lena es nannte – für Kolbert hieß es nur kurz »Turm-Babel«:
Zuerst wurde die Kiste mit den Bauklötzen ausgeschüttet. Dann durfte Kolbert einen Stein vorlegen. Und Lena legte einen anderen Stein darauf. Nun kam wieder Kolbert an die Reihe. Wie Lena ihm anfangs gezeigt hatte, legte er seinen Klotz nun auf den ihren.
So ging es weiter, bis schließlich der mittlerweile gewachsene Turm einstürzte. Und nun kam für Kolbert das Beste: Er durfte gegen alle Steine des Turms schlagen, aus denen er noch bestand, sodass sie sich wild im Zimmer verteilten. Anschließend krabbelten beide herum, um die Klötze wieder einzusammeln.
Und dann ging der Turmbau von vorne los. Doch auch dieses Spiel beendete Lena irgendwann mit einem knappen »Schluss jetzt!« Und Kolbert half ihr beim Einräumen der Steine in die Kiste.
Stürze und kleinere Verletzungen blieben beim täglichen Spielen, Krabbeln und Laufen nicht aus. Aber Lena war ja da, setzte sich direkt neben Kolbert oder hielt ihn stumm in den Armen. Und obwohl sie ihn dabei niemals tröstete, hatte er das Gefühl, von ihr in seinem akuten Schmerz angenommen zu werden. Sie war einfach da und nah – und das genügte Kolbert. Mit dem Schmerz kam er allein zurecht.
Irgendwann nach vielen Stunden Bewegung war Kolbert müde, bekam seine Nachtwindel und seine letzte Flasche, bei der er oft einschlief. Lena legte ihn dann behutsam in sein Bettchen und warf noch einen letzten Blick auf das schlummernde Baby.
Wenn man ihr so zusah, wie sie sich während der Abwesenheit von Kolberts Eltern um ihn kümmerte, könnte man meinen, sie selbst sei seine Mutter – sosehr widmete sie sich diesem Kind. Nun aber, nachdem Kolbert im Bett lag und schlief, trennte sich Lena von dieser Rolle, holte sich aus der Küche etwas zu trinken und zu essen, und machte es sich im Wohnzimmer bequem.
Ungefähr eine Stunde später kamen Kolberts Eltern zurück. Selten zusammen, meist erschien Moritz Glaser zuerst. Während der ohnehin den ganzen Tag unterwegs war, begann Johanna erst am frühen Nachmittag mit ihrer Arbeit. So kamen beide erst gegen Abend zurück.
Nachdem einer von Kolberts Eltern wieder da war, konnte Lena selbst ihren Weg nach Hause antreten. Dort fand sie ihren Vater in der Regel betrunken vor, auf dem Sofa eingeschlafen, manchmal auch auf dem Teppichboden. Dort lag er dann auf dem Rücken oder mit dem Gesicht nach unten, nur selten auf der Seite.
Lena war bemüht ihn nicht zu wecken. Sie hatte keine Angst davor, denn ihr Vater war – ob nüchtern oder betrunken – fast immer sanft wie ein Lamm. Doch aus Erfahrung wusste sie, dass er am liebsten dort liegen blieb und weiterschlief, wo er gerade eingeschlummert war. War das am Boden, so legte Lena ihm bloß ein Kissen unter den Kopf.
Manchmal brummte er dabei etwas vor sich hin, worauf Lena nicht reagierte. Sie ging ohne ein Wort in ihr Zimmer, um sich auszukleiden und selbst schlafen zu gehen.
Ihr Vater Lukas Wagner war bereits mehr als ein Jahr arbeitslos. Zuvor hatte er einen Job bei einem Technologieunternehmen. Lena wusste selbst nicht, was genau diese Firma machte, nur dass es eben etwas mit »Technologien« zu tun hatte. Und dem Betrieb eigentlich eine große wachstumsreiche Zukunft bevorstand, an der ihr Vater mit Sicherheit teilhaben würde. So jedenfalls hatte er es seiner Frau und seiner Tochter nicht nur einmal erzählt.
Dann aber kam alles plötzlich ganz anders. Der Firmeninhaber war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Und hatte zeitig dafür gesorgt, dass der Inhalt der Betriebskasse auf sein Konto geflossen war.
Die Angestellten der Firma mussten allesamt entlassen werden, denn der Laden steckte tief in den Schulden (auch weil sich ihr ehemaliger Chef so fürstlich bedient hatte). Einige fanden eine neue Stelle, nicht so Lukas Wagner. Nach Zahlung eines Übergangsbetrages bekam er Arbeitslosengeld.
Seitdem saß er zu Hause, konnte lange Zeit das Ganze nicht fassen. Zumal er sich doch so gut mit seinem Chef verstanden hatte und sogar per Du mit ihm war. Irgendwann war seine Frau – Lenas Mutter – verschwunden, hatte einen Zettel hinterlassen, auf dem eine Menge Text geschrieben stand. Sie wolle woanders neu anfangen und mit ihm sei das nun mal nicht mehr möglich. Sie hinterließ keine Adresse, aber sie verließ auch Lena.
Lukas Wagner nahm es hin, ihre eheliche Beziehung war auch zuvor schon auf einem Tiefpunkt. Zuerst war Lenas Vater in seinem Job für die neue Firma so aufgegangen, dass sein Familienleben weit in den Hintergrund rückte, ja eigentlich für ihn nicht mehr stattfand.
Und als Arbeitsloser beschloss Lukas, eine Opferrolle zu übernehmen: Einen neuen Job würde er sowieso niemals mehr kriegen, einen wie diesen schon gar nicht. Sein alltägliches Wehklagen verdross nicht nur Lenas Mutter, sondern auch sie selbst.
Dann verließ ihn seine Frau, seine damals 14-jährige Tochter blieb. Lena tat ihr Vater leid. Obgleich sie kein Verständnis für sein Gejammer hatte, wollte sie ihn doch nicht so allein lassen. Als seine Tochter sei sie ihm das schuldig, meinte Lena.
Außerdem wäre ihr Vater ohne sie hilflos. Früher war ihr das nie aufgefallen, aber seit ihre Mutter sich von ihm getrennt hatte, erlebte sie täglich, wie er nicht einmal mit den einfachsten Dingen im Haushalt zurechtkam.
In diesem zehnten Schuljahr wollte Lena unbedingt ihren Realschulabschluss schaffen. Sie konzentrierte sich darauf bis zum Schuljahresende so sehr, dass sie den Weggang ihrer Mutter zuerst nur am Rande wahrnahm. Daher schien ihr das Fehlen der Mutter zur Verwunderung des Vaters auch nichts auszumachen. Zunächst.
Die Schmerzen brachen erst durch – und dann mit Wucht –, als sie eines Tages mit ihrem Abschlusszeugnis hach Hause kam. Das hatte sie in der Schule zum Erstaunen ihrer Mitschüler gleichgültig in Empfang genommen. Immerhin hatte sie ausgezeichnete Zensuren und sogar eine Zugangsberechtigung zur elften Gymnasialklasse.
In ihrem Zimmer legte sie den Schutzumschlag mit dem Zeugnis auf ihren Schreibtisch, warf sich aufs Bett und begann hemmungslos und laut zu schluchzen. Ihren Vater, der hereinkam, weil er ihr Weinen gehört hatte, bemerkte sie nicht. Leise stahl Lukas sich wieder hinaus und schloss die Tür zu ihrem Zimmer.
Monate später hatte Lena sich mit ihrer Lage abgefunden, ohne Mutter und mit einem Vater, der immer häufiger betrunken war. Anfangs versuchte sie ihm zuzureden. Aber dann wurde ihr klar, dass ihr Vater weder fähig noch willens war, seine Lage zu ändern. Also versuchte er seine Empfindungen darüber mit Alkohol zuzuschütten.
Weil er dabei niemals aggressiv, wütend oder gewalttätig wurde, ließ Lena ihn gewähren. Allerdings war sie es, die einige klare Regeln für ihr weiteres Zusammenleben aufgestellt hatte. Er musste lernen, Teile des Haushalts zu übernehmen. Und ihr Vater hielt sich an diese Regeln, so gut er konnte. Während Lena gern das Essen zubereitete, kümmerte sich Lukas ums Aufräumen, Putzen und Wäschewaschen.
Lena hatte es zur Bedingung gemacht, dass ihr Vater lernte, wie man mit Waschmaschine und Spülmaschine umging. Wie man Böden und Fenster putzte, wie man den Teppich saugte. »Sonst ziehe ich ebenso aus wie Mama!«, hatte sie gedroht, »Notfalls gehe ich in ein Heim!«
Natürlich hatte Lena das niemals vor, aber die Drohung beeindruckte ihren Vater, sodass der sich schnell bereit erklärte, die von ihr gewünschten Aufgaben zu erlernen und zu übernehmen.
Eine ganze Reihe von Dingen, deren Erledigung Lena ihrem Vater nicht zutrauen wollte, nahm sie selbst in die Hand. Dazu gehörte zuallererst das Kochen und Backen – zumal Lena dies leidenschaftlich gern tat. Außerdem bügelte sie die Wäsche lieber selbst und verstaute sie dann ordentlich in den Schränken. Beim Reinigen von Bad, Toiletten und Waschbecken hatte sie ein größeres Sauberkeitsgefühl, wenn sie diese Aufgaben selbst übernahm.
Es blieb immer noch genug Arbeit übrig, die ihr Vater erledigen konnte, während sie sich um eine Lehrstelle bemühte. Lena hatte vor, in einem sozialen Beruf zu arbeiten. Weiter zur Schule zu gehen und das Abitur zu erreichen, reizte sie nicht.
Viele Monate vergingen, und mit ihnen nahm die Resignation bei Lukas Wagner zu. Und Lena hatte den Eindruck, dass ihr Vater gar nicht wieder berufstätig werden wollte. Schon zweimal hatte er eine Stelle nicht bekommen, die ihm vom Arbeitsamt angeboten wurde. Weil er alkoholisiert zum Vorstellungsgespräch erschienen war.
Erst eine angedrohte und dann auch durchgeführte Kürzung seines Arbeitslosengeldes brachte ihn dazu, eine Stelle als Lagerarbeiter anzunehmen. Aber schon einen Monat später wurde er entlassen. Er war betrunken zwischen den Kisten eingeschlafen, die er verladen sollte.
Weil auch Lena keinen Erfolg mit ihren zahllosen Bewerbungen hatte, blieb es bei der Rollenverteilung im Haushalt. Beide lebten vom Arbeitslosengeld des Vaters und vom Kindergeld, das Lena ab und zu durch einige Gelegenheitsjobs aufbesserte. Die aber alle nur jeweils ein paar Wochen oder Monate dauerten.
Durchbrochen wurde die Eintönigkeit durch das Zeitungsinserat von Kolberts Eltern. Sie suchten längerfristig ein Kindermädchen für nachmittags, erst einmal stundenweise – allerdings fünf Tage die Woche. Lena kam das gerade recht. Denn so war sie öfter außer Haus und hatte nicht das ständige Lamentieren ihres Vaters zu ertragen. Außerdem verlieh ihr das selbstverdiente Geld ein größeres Gefühl von Selbständigkeit. Und sie konnte Material zum Lesen und Lernen mitnehmen.
Bei Lenas erstem Versuch war die Stelle schon vergeben. Aber gut zwei Wochen später meldete sich Kolberts Mutter telefonisch mit der Frage: »Sind Sie noch an dem Job als Kindermädchen interessiert?«
Natürlich hatte Lena Interesse. Und so war sie jetzt seit über einer Woche Kolberts Aufpasserin und Spielgefährtin. Wie es schien, sollte das ihr erster richtiger und längerer Job werden.
Und weil sie spürte, dass es ihr Spaß machte, und weil diese Stelle auch nicht schlecht bezahlt wurde, hatte Lena spätestens zu diesem Zeitpunkt keinen Grund mehr, den Pessimismus ihres Vaters zu teilen. Und zum ersten Mal ertappte sie sich bei dem Gedanken, ihren Vater verlassen zu können.
Es konnte nicht ausbleiben, dass Lena eines Tages die ungewöhnliche Eigenschaft Kolberts bemerkte. Gerade hatte sie ihn gesäubert und war dabei, ihm eine neue Windel anzulegen, als sich sein ganzer Körper silbergrau färbte.
Nicht oft, aber von Zeit zu Zeit wechselte Kolberts Haut ohne sein Zutun zu einer Art Neutralgrau. Als müssten sich die Pigmentzellen neu justieren.
Und genau das erlebte Lena nun zum ersten Mal mit. Obwohl sie schon eine Weile als Kindermädchen bei der Familie Glaser war, hatte sich ein solcher Farbwechsel vor ihren Augen bislang nicht ergeben.
Es war zwar schon vorgekommen, dass sich Kolberts Standard-Hautton zu einem Blassrosa aufhellte oder fast bis zum Blutorange verdunkelte. Doch wenn Lena dies aufgefallen war, hatte sie es nicht als außergewöhnlich registriert.
Aber jetzt war es anders. Das erste Mal, dass Lena Kolbert in einer wirklich auffällig anderen Hautfarbe sah. Anfangs stieß sie einen kurzen Schrei aus, lachte zweimal schrill. Und stand dann wie versteinert vor ihm. Kolbert erstarrte ebenfalls, denn er hatte ihr Verhalten richtig interpretiert und auf seine Hautfarbe bezogen. Und nun bekam er plötzlich Angst, Lenas Zuneigung zu verlieren.
Da spürte er ihre Hände, die sie auf seinen nackten Bauch gelegt hatte. Zärtlich fuhr Lena auf seiner Haut auf und ab. Kolbert sah sie an und bemerkte ein zuerst kaum erkennbares, dann immer mehr ausgeprägtes Lächeln. Das schließlich Lenas ganzes Gesicht erfasste.
Sie verteilte ihr Streicheln mit beiden Händen auf Kolberts Kopf, dann über die Schultern auf seine Arme, und über die Hüften auf seine Beine. Damit wollte sie ihm zeigen, dass sie ihn auch mit anderer Hautfarbe akzeptierte.
Und Kolbert verstand dies wohl. Wenn sie diese Farbe zulassen konnte, gefiel ihr vielleicht auch eine andere? Und er dämpfte die Wirkung seiner Gelbzellen, um seine Hautfarbe vom hellen Grau in ein sanftes Himmelblau übergehen zu lassen.
Überrascht nahm Lena ihre Hände hoch, und Kolbert befürchtete nun es übertrieben zu haben. Doch dann lachte sie und senkte ihre Hände wieder, um mit dem Streicheln fortzufahren. Das veranlasste Kolbert, seine Haut ein weiteres Mal umzufärben. Nun verstärkte er die Wirkung der Gelbzellen wieder, und diesmal schwächte er die der Purpurzellen ab: Seine Haut glänzte leicht in einem zarten Grasgrün.
Erneut hoben sich Lenas Hände, und Kolbert hörte ihr Lachen. Dann berührte sie wieder behutsam seine Haut. Die Verfärbungen hatten Kolbert angestrengt, mit einem letzten Kraftaufwand ließ er seinen Hautton wieder in das übliche Orangerosa wechseln. Diesmal blieben Lenas Hände auf seinem Körper und fuhren mit dem Streicheln unvermindert fort.
»Grau, blau, grün«, hörte Kolbert sie sagen, »Hast du noch mehr Farben zu bieten?«
Doch Kolbert war müde geworden, seine Augen konnte er kaum noch offenhalten. Lena bemerkte das, gab ihm eilig seine Windel und zog ihn wieder an. Dann hob sie ihn vorsichtig auf und trug ihn zu seinem Bettchen. Kolbert spürte noch, wie sein Körper sanft auf der Matratze landete. Dann war er eingeschlafen.
Lena setzte sich auf einen Stuhl, der neben seinem Bett stand. Sie war ganz offensichtlich verwirrt. Dieser kleine Kerl, den sie in wenigen Wochen liebgewonnen hatte, besaß eine außergewöhnliche Fähigkeit. Eine Eigenschaft, von der sie nie zuvor etwas gehört oder gelesen hatte.
Sie wusste, dass es Tiere gab, die in der Lage waren, ihre Hautfarbe zu verändern. Das Chamäleon fiel ihr als erstes ein. Lena musste lächeln: Aber ein Chamäleon war Kolbert ganz gewiss nicht. Seine Haut war im Gegensatz zu der eines solchen Reptils sehr zart und fühlte sich wunderbar weich an. »Und das mit jeder Farbe«, sagte Lena vor sich hin.
Sie kam überhaupt nicht auf die Idee, Kolbert wegen seiner Hautverfärbungen als abstoßend zu empfinden. Sie war bereit, ihn anzunehmen wie er war – gleich welche Hautfarbe er hatte oder haben würde. Im Gegenteil: Sie bewunderte seine Fähigkeit.
Aber sie empfand diese Eigenschaft durchaus auch als Furcht einflößend. Möglicherweise konnte dieser kleine Kerl seiner Haut alle denkbaren Farben geben. Und einige davon wären für sie dann unangenehm oder gar abscheulich.
Lena begann sich auszumalen, welche Farben da in Betracht kommen würden: Rot wie geronnenes Blut? Braun wie übelriechender Kot? Gelb wie ekelerregender Eiter?
Sie hielt inne. Merkte, dass sie dabei war, aus ihrer anfänglichen Bewunderung für Kolberts neue Hautfarben eine mögliche Abneigung entstehen zu lassen. »Ich mag ihn«, betonte sie deshalb mit gedämpfter Stimme, »Und das mit jeder Farbe!«