Den Träumen hat Hermann Hesse zeitlebens eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt und ihre »nächtlichen Spiele« von seinem ersten Prosabuch Eine Stunde hinter Mitternacht (1899) bis zu seinen späten Betrachtungen sowohl mit artistischem wie auch psychologischem Interesse verfolgt. Als Dichter fand er im Traum »jene von der Logik entbundene Welt der Assoziationen und Symbole, aus welchen einst Sagen und Märchen entstanden sind«. Nirgendwo sonst als an der verborgenen Quelle des Traumbrunnens schien ihm die Sprache der Seele deutlicher vernehmbar. Deshalb ließ er sich immer wieder auf das Abenteuer ein, sie in das Wachbewußtsein zu übersetzen. Nicht von ungefähr hat Hesse auch Traumtagebücher geführt, deren umfangreichstes und interessantestes hier erstmals veröffentlicht wird. Es stammt aus dem Ersten Weltkrieg, einer folgenreichen Lebenskrise, die ihn dazu nötigte, als erster deutscher Dichter die Psychoanalyse zu erproben. Der vorliegende Band setzt ein mit grundsätzlichen Betrachtungen über das Träumen, gefolgt von authentischen Träumen aus Hesses Notiz- und Tagebüchern sowie einigen fiktionalen Traumdichtungen aus seinen Märchen und Erzählungen. Eine Auswahl von Gedichten schließt diesen Themenband ab, der somit aus den verschiedensten Blickwinkeln zeigt, was der Traum – über seine psychohygienische Funktion hinaus – für einen Künstler an kreativen Impulsen enthalten kann.

»Der Traum ist das Loch, durch das du den Inhalt deiner Seele siehst, und dieser Inhalt ist die Welt, die ganze Welt, von deiner Geburt bis heute, von Homer bis Heinrich Mann, von Japan bis Gibraltar, vom Sirius bis zur Erde, vom Rotkäppchen bis zu Bergson« ... »Ich halte viel von poetischen Träumen und halte den Kosmopolitismus, den Gedanken, Europa als ideale Zukunftseinheit könne eine Vorstufe zu einer geeinigten Menschheit werden, durchaus nicht für den holden Traum einiger schöner Geister wie Goethe, Herder, Schiller, sondern für ein seelisches Erlebnis, also das Realste, was es geben kann.«

Hermann Hesse

Hermann Hesse, am 2. Juli 1877 in Calw/ Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines schwäbischen Indologen geboren, 1946 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Literatur, starb am 9. August 1962 in Montagnola bei Lugano.

Hermann Hesse
Traumgeschenk

Betrachtungen, Tagebücher,
Erzählungen und Gedichte
über das Träumen

Herausgegeben von
Volker Michels

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2462.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-75315-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Betrachtungen

Traumtheater

Traumgeschenk

Des Deutenwollens müde ...

Schreiben und Schriften

Tagebücher

Aus meinem Traumbuch

Singapur-Traum

Der Traum von den Göttern

»Möglichst vorurteilslos nur die Erlebnisse der Seele notieren«

Traum am Feierabend

Ein Stück Tagebuch

Ein Traum

Ein Tagebuchblatt

Traumdichtungen

Der Inseltraum

Der schöne Traum

Der Traum des Missionars

Flötentraum

Der schwere Weg

Eine Traumfolge

Pistorius antwortet Sinclair

Traum von einer Audienz bei Goethe

Mit Mozart im magischen Theater

Gedichte

Eine Stunde hinter Mitternacht

Elisabeth

Mon rêve familier

Traum

Landstreicherherberge

Venezianisches Gondelgespräch

Inspiration

Traum von der Mutter

Mittag im September

Wohl lieb ich die finstre Nacht

Wir leben hin…

Nacht

Traum

Schlaflosigkeit

Vergiß es nicht

Beim Schlafengehen

Adagio

Jeden Abend

Zusammenhang

Frühlingsnacht

Neues Erleben

Die Nacht

Verlorenheit

Erwachen in der Nacht

Die Welt unser Traum

Verzückung

Traum von dir

Paradies-Traum

Doch heimlich dürsten wir…

Ein Traum

Wache Nacht

Träumerei am Abend

Ein Traum

Einst vor tausend Jahren

Volker Michels: Die Stimmen der Seele im Traum. Traumbilder und Traumbewußtsein bei Hermann Hesse

Quellennachweise

Betrachtungen

Traumtheater

Jahrzehnte schon sind vergangen, seit ich eine gewisse Übung in der Kunst besaß, meiner nächtlichen Träume mich zu erinnern, sie nachdenklich zu reproduzieren, zuzeiten sogar aufzuschreiben, und sie nach den damals erlernten Methoden um ihren Sinn zu befragen oder doch ihnen so weit nachzuspüren und zu lauschen, daß etwas wie Mahnung und Instinktschärfung sich daraus ergab, Warnung oder Ermutigung je nachdem, jedenfalls aber eine größere Vertrautheit mit den Traumbezirken, ein besserer Austausch zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, als man durchschnittlich besitzt. Das Kennenlernen einiger psychoanalytischer Bücher und der praktischen Psychoanalyse selbst, das ich erlebt hatte, war mehr als nur eine Sensation gewesen, es war eine Begegnung mit wirklichen Mächten.

Aber wie es auch der intensivsten Bemühung um Wissen, der genialsten und packendsten Belehrung durch Mensch oder durch Bücher ergeht, so erging es mit den Jahren auch dieser Begegnung mit der Welt des Traumes und des Unbewußten: das Leben ging weiter, es stellte neue und immer neue Forderungen und Fragen, das Erschütternde und Sensationelle jener ersten Begegnung verlor an Neuheit und an Anspruch auf Hingabe, das Ganze des analytischen Erlebnisses konnte nicht als Selbstzweck weiter und weiter gepflegt werden, es wurde eingereiht, wurde teilweise vergessen oder doch durch neue Ansprüche des Lebens übertönt, ohne doch seine stille Wirksamkeit und Kraft je ganz zu verlieren, so wie etwa im Leben eines jungen Menschen die erste Lektüre von Hölderlin, Goethe, Nietzsche, das erste Kennenlernen des anderen Geschlechtes, das erste Bewegtwerden durch soziale und politische Mahnungen und Ansprüche einmal Vergangenheit wird und mit anderem Gut an Erlebnis koordiniert werden muß.

Seither bin ich alt geworden, ohne daß die Fähigkeit, mich durch Träume ansprechen und zuweilen sanft belehren oder führen zu lassen, mich je wieder völlig verlassen hätte, aber auch ohne daß das Traumleben je wieder jene aktuelle Dringlichkeit und Wichtigkeit gewann, die es einst eine Weile gehabt hatte. Seither wechseln bei mir Zeiten, in denen ich mich meiner Träume erinnere, mit solchen, in denen ich sie am Morgen spurlos vergessen habe. Immer wieder aber überraschen mich die Träume, und zwar die Träume anderer nicht weniger als meine eigenen, durch die Unermüdlichkeit und Unerschöpflichkeit ihrer schöpferischen Spielphantasie, durch ihre so kindliche wie geistreiche Kombinatorik, durch ihren oft hinreißenden Humor.

Ein gewisses Vertrautsein mit der Traumwelt und vieles Nachdenken über die künstlerische Seite der Traumkunst (die bisher von der Psychoanalyse, wie die Kunst überhaupt, noch nicht annähernd verstanden oder auch nur bemerkt worden ist) hat mich auch als Künstler beeinflußt. Ich habe das Spielerische in der Kunst immer gern gehabt und habe schon als Knabe und Jüngling häufig und mit großem Vergnügen, meistens nur für mich allein, eine Art von surrealistischer Dichtung betrieben, tue das auch heute noch, zum Beispiel in schlaflosen Morgenstunden, freilich ohne diese seifenblasenartigen Gebilde aufzuschreiben. Und bei diesen Spielen, und beim Nachdenken über die naiven Kunstgriffe des Traumes und die unnaiven der surrealistischen Kunst, deren Genuß und deren Ausübung so viel Vergnügen macht und so wenig Anstrengung fordert, ist mir auch klar geworden, warum ich als Dichter auf die Ausübung dieser Art von Kunst verzichten müsse. Ich erlaube sie mir mit gutem Gewissen in der privaten Sphäre, ich habe Tausende von surrealistischen Versen und Sprüchen in meinem Leben gemacht und tue das noch immer, aber die Art von künstlerischer Moral und Verantwortlichkeit, zu der ich mit den Jahren gekommen bin, würde mir heute nicht mehr erlauben, diese Produktionsweise aus dem Privaten und Unverantwortlichen auf meine ernstgemeinte Produktion anzuwenden.

Nun, diese Raisonnements können hier nicht ausgesponnen werden. Wenn ich mich heut einmal wieder mit der Traumwelt befasse, so geschieht es nicht mit Absichten und gedanklichen Zielen, sondern wurde einfach dadurch angeregt, daß mir innerhalb ganz weniger Tage mehrere eigentümliche Träume begegnet sind.

Den ersten Traum hatte ich nachts nach einem schlechten Tag mit Schmerzen und großer Müdigkeit. Mit stark bedrücktem und entwertetem Lebensgefühl und von Gliederschmerzen im Liegen behindert, lag ich und schlief, und in diesem schlechten, unfrohen Schlaf träumte ich genau das, was ich in der Wirklichkeit tat, ich träumte, daß ich im Bett liege und schwer und schlecht schlafe, nur war es an einem unbekannten Ort in einem fremden Zimmer und Bett. Ich träumte weiter, daß ich in dem fremden Zimmer aus meinem Schlaf erwache, langsam, widerwillig und müde erwache, und daß ich lange brauche, um durch die Schleier der Müdigkeit und des Schwindelgefühls hindurch mir der Situation bewußt zu werden. Langsam rang und wälzte sich mein Bewußtsein empor, langsam und ungern gab ich zu, daß ich nun wach sei, leider, nach einem unechten, mühsamen, wertlosen Schlaf, der mich mehr angestrengt als gestärkt habe.

Nun also war ich (im Traum) wachgeworden, öffnete langsam die Augen, stützte mich langsam auf meinem eingeschlafenen und gefühllos gewordenen Arm ein wenig in die Höhe, sah durch das fremde Fenster graues Tageslicht fallen, und plötzlich gab es mir einen Ruck, es durchfuhr mich ein Unbehagen und etwas wie Angst oder schlechtes Gewissen, und ich griff hastig nach der Taschenuhr, um nach der Zeit zu sehen. Richtig, hole es der Teufel, es war zehn Uhr vorbei, schon beinah halb elf, und ich war ja doch seit Monaten Schüler oder Gast in einem Gymnasium, wo ich fleißig und heldenhaft ein altes Versäumnis gutmachen und die letzten Klassen nachholen wollte. Mein Gott, und nun war es halb elf, und seit acht Uhr hätte ich in der Schule sitzen sollen, und wenn ich auch dem Rektor, wie schon neulich einmal, mein Versagen mit den zunehmenden Altersbehinderungen erklären konnte, ja seines Verstehens im voraus gewiß war, so hatte ich eben doch diesen Vormittag versäumt und war nicht einmal sicher, ob ich nachmittags wohl genug sein werde, in die Schule zu gehen, und inzwischen ging dort der Unterricht weiter, und mein Mitkommen in der Klasse wurde zweifelhafter und zweifelhafter, und jetzt würde sich ja wohl auch plötzlich einmal irgendeine erschreckende Erklärung für die Tatsache einstellen, daß ich zu meiner Beunruhigung in diesen paar Monaten seit meinem Wiedereintritt ins Gymnasium noch keine einzige griechische Lektion gehabt und in meiner schweren Schulmappe, die oft so mühsam zu tragen war, noch nie eine griechische Grammatik hatte finden können. Ach, vielleicht war es nichts mit meinem edlen Entschluß, meine versäumten Pflichten gegen die Welt und die Schule nachzuholen und doch noch etwas Rechtes zu werden, und vielleicht war der Rektor, der mich dort immer so verständnisvoll behandelte, längst und schon von Anfang an von der Verstiegenheit meines Unternehmens überzeugt, auch kannte er mich ja einigermaßen aus einigen meiner Bücher. Sollte ich am Ende lieber die Uhr wieder hinlegen, die Augen wieder zumachen und den Vormittag vollends im Bett bleiben, und vielleicht auch gleich den Nachmittag, und damit zugeben, daß ich mich auf etwas Unmögliches eingelassen hatte? Auf jeden Fall: für den Vormittag hatte es keinen Sinn mehr, sich aufzuraffen; er war vertan. Und kaum hatte ich in der fremden Stube im fremden Bett diese Gedanken gedacht, so erwachte ich wirklich, sah einen dünnen Strahl Licht vom Fenster kommen, und fand mich im eigenen Zimmer und eigenen Bett, wußte unten das Frühstück und die viele Briefpost warten, und erhob mich unlustig, von diesem Schlaf und diesem Traum in keiner Weise gestärkt, aber doch erstaunt und ein klein wenig zum Mitlachen geneigt über diesen Künstler von Traum, der mich so vor den Spiegel gestellt und dabei von den Tricks der Surrealistik so sparsamen Gebrauch gemacht hatte.

Kaum hatte ich, einen Tag später, diesen so realistischen und so wenig dichterischen, so wenig märchenhaften Traum wieder untersinken lassen und beinah vergessen, da sprach schon wieder ein Traum mich an, diesmal ein poetischer und lustiger, und nicht ich selbst hatte ihn geträumt, sondern eine unbekannte Frau, eine Leserin meiner Bücher irgendwo in einem norddeutschen Städtchen, teilte ihn mir mit. Schon vor etwa zwölf Jahren habe sie diesen Traum gehabt, ihn aber nie vergessen, und jetzt erst sei ihr der Einfall gekommen, mir ihn mitzuteilen. Ich zitiere nun den Brief selbst wörtlich:

»Ich fand mich in Däumlingsgröße auf einem großen Gartenhut, den Sie trugen. Sie pflanzten Sträucher, und ich wußte, daß Sie Erde mit Wasser rührten und kneteten. Sehen konnte ich es nicht, die breite Hutkrempe verhinderte das. Vor meinen Augen lag eine wunderbare Terrassenlandschaft. Ich lief ein wenig ängstlich wie auf einer schwankenden Kettenbrücke nach hinten, um nicht abzurutschen, wenn Sie sich bückten. Auch mußte ich von Zeit zu Zeit mich unter der seitlichen Bandschlaufe bergen, wenn eine Ihrer Hände bedrohlich zugriff, um den Hut auf dem Kopf festzupressen. Es machte mir großen Spaß, daß Sie von meiner Gegenwart nichts ahnten. Die Freude erhöhte sich, als herrlicher Vogelsang ertönte. Ich sah den Feuervogel im dunklen Laub eines Baumes aufglühen und sagte leise zu mir: ›Wenn H. Hesse wüßte, daß der Feuervogel es ist, der singt! Er denkt, es sei der Papageno.‹ Irgendwie tröstete mich das Ganze: die Landschaft, mein Zwergendasein auf dem großen Hut, der Vogelgesang, Ihre Gartenarbeit und auch Ihr Irrtum über den Feuervogel.« Das war nun wirklich ein hübscher, ein schöner und auch spaßiger Traum. Und da es ein fremder war, spürte ich keinen Trieb, ihn zu verstehen und zu deuten. Ich hatte nur mein Vergnügen an ihm, dachte aber immerhin: Weiß Gott, ob es nicht doch der Papageno war!

Als hätte dieser Traum einer Unbekannten, der, von mir aus gesehen, so viel hübscher und harmloser war als meine eigenen, mein Traumvermögen angeregt oder ehrgeizig gemacht, brachte ich gleich darauf selbst wieder einen Traum zustande, diesmal einen zwar nicht eigentlich schönen oder witzigen, aber einen recht phantastischen.

Ich befand mich mit anderen Leuten in einem der oberen Stockwerke eines großen Hauses und wußte, daß es ein Theater sei und daß darin der »Steppenwolf« aufgeführt werde, aus dem irgend jemand ein Theaterstück oder eine Oper gemacht habe. Offenbar war es die Erstaufführung, und ich war dazu eingeladen; auch waren die Vorgänge auf der Bühne mir teilweise bekannt, sehen und hören aber konnte ich nichts von ihnen, ich saß in einer Art Nische, ähnlich etwa, als säße ich auf der Empore einer Kirche hinter der Orgel verborgen. Es waren noch manche solche Nischen da, der eigentliche Theatersaal schien von ihnen wie von einer Laube umgeben, und hie und da stand ich auf und ging auf die Suche nach einem Platz, von dem aus man das Theater sehen könnte, aber ein solcher Ort war nicht zu finden, wir saßen so herum etwa wie Leute, die zu einer Aufführung zu spät gekommen sind und nur wissen, daß hinter der Wand das Theater stattfindet. Ich wußte aber, daß jetzt jene Szenen des Stückes kamen, aus denen die Bearbeiter und Regisseure mit großem Aufwand von Musik sowohl wie von Dekoration und Beleuchtung etwas gemacht hatten, was ich mit Ekel »großes Theater« nannte und gern verhindert hätte. Ich fing an unruhig zu werden. Da kam Dr. Korrodi lächelnd auf mich zu und sagte: »Sie können ruhig sein, da braucht man keine leeren Häuser zu fürchten.« Ich sagte: »Schon recht, aber dieses große Theatergetue versaut mir den ganzen dritten Akt.«

Weiter wurde nichts gesprochen. Ich hatte allmählich entdeckt, daß die unübersichtliche und rätselhafte Architektur, die mich vom eigentlichen Theater trennte, eine Orgel war, und setzte mich wieder in Bewegung, um sie zu umgehen und vielleicht doch noch einen Zugang zum Zuschauerraum zu entdecken. Das gelang nun nicht, aber auf der andern Seite des Orgelbaues, der aber auch sehr an eine Bibliothek erinnerte, kam ich zu einem Gerüste, einer Maschine, einem Apparat, der einigermaßen einem Fahrrad glich, wenigstens hatte er zwei gleich große Räder und über ihnen etwas wie einen Sattel, und sofort war die Sache mir klar: Wenn man da oben auf dem Sattel saß und die Räder in Schwung brachte, dann konnte man durch eine Art von Röhre die Vorgänge auf der Bühne sowohl sehen wie hören.

Das war eine Lösung, und es wurde mir wohler. Mehr an Lösung und Befriedigung aber brachte der Traum nicht zustande, es genügte ihm, diese geniale Maschine erfunden zu haben, und es machte ihm Spaß, mich vor ihr stehen zu lassen. Denn diesen ziemlich hochgelegenen Sattel, über die Räder hinweg, zu erreichen, schien gar nicht einfach, höchstens für junge Leute, die ohnehin Radfahrer waren. Auch war der Sattel niemals leer, es saß immer, wenn ich mich zum Ersteigen anschicken wollte, schon irgendein anderer droben. Und so stand ich, starrte auf den Sattel und auf die wunderbare Röhre, durch deren engen Schacht man sowohl sehen wie hören konnte, was im Theater vor sichging,wo die Fachleute inzwischen den dritten Akt versauten. Ich war nicht aufgeregt und auch nicht eigentlich traurig, aber ich kam mir doch gefoppt und um irgend etwas betrogen vor, und hätte, obgleich die Dramatisierung des Steppenwolfes durchaus gegen meinen Geschmack war, etwas darum gegeben, ins Theater selbst zu gelangen oder doch wenigstens auf den Sattel über der wundertätigen Röhre. Es ist jedoch nicht dazu gekommen.

(1948)

Traumgeschenk

In einer Zeit und Zivilisation, welche zwar für jede medizinische, psychologische oder soziologische Sondererscheinung eine spezielle Wissenschaft, Sprache und Literatur ausgebildet hat, eine Anthropologie aber, eine Kunde vom Menschen, überhaupt nicht mehr besitzt, können einem gelegentlich alle menschlichen Erlebnisse und Fähigkeiten zu unlösbaren Problemen und erstaunlichen Merkwürdigkeiten werden, manchmal zu faszinierenden, entzückenden, begeisternden, manchmal zu erschreckenden, bedrohenden und düsteren. Das zersplitterte, nicht mehr ganze und heile, sondern in tausend Spezialitäten und willkürlich gewonnene Ausschnitte zerlegte Menschenwesen kann uns dann, wie mikrotomische Präparate im Mikroskop, in eine Welt von Bildern zerfallen, deren viele an Menschliches, Tierisches, Pflanzliches, Mineralogisches erinnern, deren Formen- und Farbensprache scheinbar unbegrenzt über alle Elemente und Möglichkeiten verfügt, welchen ein gemeinsamer, zusammenhaltender Sinn fehlt, deren einzelne Bildsplitterchen aber absichtslose, zauberhafte, urweltlich schöpferische Schönheit haben können. Es ist ja auch diese Schönheit, dieser Zauber des Zerstückelten und aus dem Ganzen und Wirklichen Erlösten, welche die Maler seit einigen Jahrzehnten so heftig anzieht und vielen ihrer des Sinnes entbehrenden Bildern eine so reizvolle Traurigkeit des Nichtseienden, eine so flüchtige und seelenbetörende Schönheit verleihen kann, daß man zuweilen in ihnen wieder ein Ganzes und Echtes dargestellt zu finden meint: nicht mehr die Einheit und Beständigkeit der Welt nämlich, sondern die Einheit und Ewigkeit des Todes, des Hinwelkens, der Vergänglichkeit.

So wie diese Maler arbeiten, die das Ganze zerstückeln, das Feste auflösen, die Formelemente durcheinander schütteln und zu neuen, verantwortungslosen, aber oft wunderbar reizvollen Kombinationen umbauen, so arbeitet unsre Seele im Traum, und es ist kein Zufall, daß zu den neuen Menschentypen unserer Zeit, die es vordem nicht gab, auch der Typus des Menschen hinzugekommen ist, der nicht mehr lebt, nicht mehr tut, nicht mehr verantwortet, handelt und verfügt, sondern träumt. Er träumt des Nachts, und oft auch bei Tage, und hat sich angewöhnt, seine Träume aufzuschreiben, und da das Aufschreiben eines Traumes das Vielfache an Zeit erfordert als das Träumen selbst, sind diese Traumliteraten nun ihr ganzes Leben lang überbeschäftigt; niemals kommen sie zu Rande, niemals können sie auch nur halb soviel aufschreiben, wie sie träumen, und wie sie zwischen Träumen und Aufschreiben doch immer einmal wieder dazu kommen, eine Mahlzeit einzunehmen oder sich einen Knopf anzunähen, ist beinah ein Wunder. Diese Traumliteraten oder Berufsträumer haben einen Teil, einen in gesunden Zeiten kleinen Teil des Lebens, eine Nebenfunktion des Schlafens, zur Hauptsache, zum Mittelpunkt und Beruf ihres Lebens gemacht. Wir wollen sie darin weder stören noch verlachen, obwohl wir gelegentlich lächeln oder die Achseln zucken, wir finden zwar das Tun dieser Menschen unfruchtbar, aber wir finden es auch harmlos und unschuldig, egoistisch zwar, aber auf eine kindliche Art, ein klein wenig verrückt zwar, so wie auch jene wirklichkeitslosen Maler, so wie auch wir selber und die gesamte heutige Welt ein wenig verrückt sind, aber nicht auf böse und gefährliche Art. Der Mann, der einmal entdeckt hat, wie gut ein Glas Wein schmeckt, kann unter Umständen zum Trinker werden, indem er das Glas Wein zum Sinn und Mittelpunkt seines Lebens macht, oder der Mann, der einmal entdeckt hat, wie gesund und erfrischend rohe Gemüse schmecken können, kann unter Umständen darüber zum Berufs-Rohkostler und Gesundheitsfanatiker werden; auch dies sind verhältnismäßig harmlose Spezialitäten der Verrücktheit, und sie beweisen nichts gegen die Güte des Weines und gegen die Bekömmlichkeit der Salate. Das Richtige, so scheint uns, wäre, sowohl dem Glase Wein wie dem rohen Gemüse je und je seine Anerkennung darzubringen, sie aber nicht zur Achse werden zu lassen, um die sich unser Leben dreht.

So ist es auch mit dem Träumen und Traumbetrachten. Wir glauben nicht, daß es sich nach Gottes Willen wirklich zum Beruf und zur beherrschenden Hauptsache im Menschenleben eigne, aber wir konnten des öfteren entdecken, daß ein Zuwenig an Träumen und an Aufmerksamkeit für unsre Träume auch nicht das richtige sei. Nein, je und je müssen und wollen wir uns über diesen holden Abgrund beugen und ein wenig in seine Geheimnisse staunen, in seinen zerstückten Bilderfolgen Hinweise auf das Ganze und Wirkliche entdecken und uns beschenken lassen von den oft unsäglichen Schönheiten seiner Phantome.

Dieser Tage war ich im Traum im Tessin, in einem etwas fremden, überhöhten, übersteigerten Tessin, und ich ging mit einem Begleiter durch eine unbekannte Vorstadt, wo zwischen Mauern, Zäunen und Neubauten die Berge hereinsahen. Unter den Gebäuden war eines, das »Neue Mühle« hieß, es war sehr viele Stockwerke hoch und hellrot bemalt, und hatte trotz dem Unproportionierten und allzu Kolossalischen einen eigentümlichen Reiz, ich mußte es immer wieder ansehen. Doch waren wir nicht müßig, sondern gingen recht eifrig, ich glaube, wir mußten auf einen Zug, trugen Gepäck und waren, des Weges unkundig, in einer gewissen Hast und Unruhe. Wer mein Begleiter war, ist ungewiß, aber auf jeden Fall war es ein sehr naher Freund und Vertrauter, einer der zu mir und meinem Leben gehörte. Wir kamen an ein Mäuerchen, hinter dem in kleinem Abstande alte verwahrloste Häuser standen, und ich verließ die Straße, stieg über das ganze niedrige Mäuerchen mit einem großen Schritt hinweg und ging dort weiter, obwohl ich genau zu wissen glaubte, daß hier kein Weg sei, daß wir hier sehr bald in Höfen, Gärtchen und andern privaten Räumen steckenbleiben und als Eindringlinge Verdruß haben würden. Es kam indessen nichts dergleichen, wir kamen ungehemmt vorwärts, immer in dieser etwas gehetzten Unruhe, neben und hinter uns gingen auch andre Leute, und von ferne sah ich auf dieser Straße, die keine war, unter andern Gestalten auch einen alten Freund von mir kommen, er war ganz unverändert und in den vielen Jahren, die wir uns nicht mehr gesehen hatten, scheinbar um nichts älter geworden. Es war mir aber, weil wir Eile hatten und auch aus anderen, unklaren Gründen, nicht lieb, ihn zu begrüßen, ich blickte beiseite und tat fremd, und siehe, er ging an uns vorbei, oder vielmehr er verschwand schon, ehe er uns erreicht hatte, als errate er meinen Wunsch und komme ihm entgegen.

Nun tat sich zwischen den Häusern zu unsrer Rechten ein Ausblick auf, und seinetwegen habe ich diesen Traum nicht vergessen und Lust bekommen, eine Erinnerung an ihn aufzuzeichnen. Es eröffnete sich ein Ausblick auf eine weite, von uns weg sachte bis zu großer Höhe ansteigende Landschaft. »Siehst du’s denn nicht?« rief ich meinem Kameraden zu, ohne aber stehenzubleiben, »so sieh doch, sieh, das ist ja unerhört schön!« Der Freund blickte hinüber, blieb aber gelassen und gab keine Antwort. Mir jedoch sprach diese Landschaft zu allen Sinnen und zur ganzen Seele, sie drang in mich ein, ich trank sie und nahm sie mit mir wie ein großes Geschenk, eine seltsame Wunscherfüllung. Und zwar war es das Eigentümliche dieser schönen Landschaft, daß sie zugleich Wirklichkeit und Kunst, zugleich Landschaft und gemaltes Bild war. Sie stieg bergan, in ihrer Mitte auf einem Vorberg stand eine Kirche, Dörfer hier und dort, hinten rosig leuchtende Berggrate, am Hang unterhalb der Kirche zwei kleine Kornfelder, und diese Kornfelder vor allem waren es, an denen ich das Ganze als nicht nur schön, sondern auch als gemalt und gewollt empfand und erkannte, sie waren teils mit Neapelgelb, teils mit einer Mischung von Englischrot und viel Weiß gemalt. Es fehlten alle kalten und kühlen Farben, alles blieb innerhalb der Skala von Rot und Gelb.

Neben uns auf der Straße ging ein junger Mann, ein Franzose oder Welschschweizer, mit seiner Frau. Als ich meinen Begleiter so entzückt und eifrig auf den Durchblick aufmerksam machte, lächelte der Welsche mir freundlich-listig zu und sagte: »Ja, nicht wahr, nichts Kühles, lauter warme Farben; so etwa würde Cézanne sagen.« Ich nickte ihm glücklich zu, und es lag mir schon auf der Zunge, ihm die Farben des Bildes wie einem Kollegen aufzuzählen: Ocker, Neapelgelb, Englischrot, Weiß, ganz heller Krapplack und so weiter, doch schien mir das dann doch allzu intim oder kollegial, und ich unterließ es, aber ich lachte ihn an und freute mich, daß da noch einer war, der genau das gleiche sehe und das gleiche dabei empfinde und denke wie ich.

Aus dem Traume, der noch weiterging und völlig neue Szenen brachte, habe ich das Bild dieser warmen Zauberlandschaft aufbewahrt und trage es als Geschenk des Traumgottes in mir. Ihre Farben waren die Lieblingsfarben meiner Palette gewesen, als ich noch zuweilen mich als Maler-Dilettanten betätigte, sie hatten auch auf der Palette meines Freundes, des Malers Louis, eine Zeitlang dominiert. Und nun ist es wunderlich und ein wenig schade: wenn ich die im Traum gesehene ideale Landschaft, die so erregend schön, so wunderbar beglückend strahlte, mir nun im Wachen wieder aufbaue, ihre neapelgelben Kornfeldchen, die rötlich ragende Bergkirche, das ganze Spiel von warmen, gelben und rötlichen Tönen, die ganze märchenhafte und festliche Musik ihrer Palette: dann ist diese Landschaft zwar noch immer leuchtend, warm und schön, aber ein klein wenig allzu schön, ein klein wenig allzu rosig, ein klein wenig allzu harmonisch, ein klein wenig allzu nah am Süßen, ja am Kitschigen.

Und nun habe ich Mühe, mir das Geschenk unverdorben zu bewahren, es vor Skepsis und Kritik zu schützen, mich seiner Schönheit, die mich eine Traumsekunde lang so innig beglückte, auch weiterhin in der Erinnerung rein zu freuen. Sie ist mir nach dem Erwachen und beim Versuch, sie mir wieder genau vorzustellen, ein wenig zu schön, ein bißchen zu hübsch, ein bißchen zu ideal erschienen, und diese heimliche Kritik will sich nicht wieder zum Schweigen bringen lassen, oder doch nur für Augenblicke. Und war nicht in dem so sehr verständnisvollen Lächeln des welschen Kollegen, in seinem Wort über die Landschaft, das er unnötigerweise dem alten Cézanne in den Mund legte – war nicht in diesem sympathischen und kollegialen Lächeln des Künstlers oder Kenners, des Eingeweihten, auch etwas Listiges und Augurenhaftes gewesen?

(1946)

Des Deutenwollens müde...

... Du weißt, daß ich auch das Träumen unter Umständen zu den Dingen zähle, die ich Erlebnisse nenne. Ohne daß ich mit Freud und Jung gebrochen hätte, bin ich doch – Ausnahmen zugegeben – des Verstehen- und Deutenwollens müde geworden und zu der naiven und kindlichen Weise zurückgekehrt, mit der die Künstler die Welt und also auch die Traumwelt betrachten, als Erscheinung, als Bild, als Augen- und Sinnenerlebnis oder dann als groteskes Gedankenspiel. Ob ein Traum mich auf Trübungen meines Verhältnisses zu Freunden, auf Störungen in meinem seelischen Haushalt, auf baldigen Tod oder andre drohende Gefahren aufmerksam machen wolle, lasse ich gern ununtersucht; er muß schon stark anklopfen, wenn ich mich darauf einlassen soll. Aber wenn er mich zum Staunen über die Buntheit und Pracht seiner Kulissen und Kostüme, zum Entzücken über ideale Landschaften und Phantasiegärten, zur frohen Rührung über die Wiederkehr geliebter, lang verstorbener Menschen, zum Lachen über ein ausgelassenes Spielen mit gedanklichen, sprachlichen oder visuellen Kombinationen und Verrenkungen bringt, dann gehört ihm meine Aufmerksamkeit, meine Hingabe und Dankbarkeit.

Zwei kleine aparte Traumbruchstücke aus den letzten Tagen (nein, Nächten) will ich Dir ihrer Kuriosität wegen mitteilen.

Ich bin etwa zwanzigjährig und Buchhändler in Tübingen. Es ist, glaube ich, das erstemal, daß ich im Traum mit meinem damaligen Prinzipal, dem Herrn Sonnewald, zu tun habe. Er war ein noch junger, etwas lungenkranker, ein wenig ängstlich oder schüchtern wirkender Mann mit hellblondem Vollbart, verheiratet mit einer Engländerin, die während der dreieinhalb Jahre meiner dortigen Tätigkeit nicht ein einziges Mal unsre Räume im Erdgeschoß, den Buchladen, das Kontor und das Antiquariat, betreten hat, sondern unsichtbar mit drei hübschen kleinen Kindern eine Treppe höher in Räumen wohnte, die uns Unteren ebenso unbekannt und unbetretbar blieben wie ihr das Kontor. Im Traum nun war ich wieder der junge Untergebene und er der nicht gerade gefürchtete, aber doch in hohem Respekt stehende Herr Prinzipal, Herr sowohl unten im Laden wie oben in der Wohnung. Im Traum aber hatte er überdies ein privates Büro für sich allein, vor dessen Tür ich stand und anklopfte. Ich trat ein und sah ihn in einem erstaunlich großen, höchst komfortabel ausgestatteten Raume sitzen. Er hieß mich näher treten, er saß hinter einem riesigen Tisch, der voll großer Blätter lag, neben sich hatte er eine Staffelei stehen und auf ihr eines dieser Blätter aufgestellt, es war ein Aquarell, ein wenig an die meinen erinnernd, aber weit größern Formats, auch gekonnter und mit tief glühenden Farben. Ich stand und staunte bald das große Aquarell, bald den auf so ungewöhnliche Art beschäftigten Herrn Sonnewald an. Er schien zu merken, wie erstaunt und neugierig ich war, wußte auch sehr wohl, daß es mir nicht zustand, dieser Neugierde mit einer Frage Ausdruck zu geben, und verharrte eine gute Weile schweigend. Dann erbarmte er sich meiner, wies mit großer Gebärde erst auf den papierbedeckten Tisch, dann auf das schöne leuchtende Staffeleiblatt und sagte mit einiger Feierlichkeit: »Ich muß da ein Inselbändchen zusammenstellen.« Ob es hier um eine Auswahl meiner eigenen, durch Zauber verschönerten Malereien, ob um Werke eines mir unbekannten Malers ging oder gar er selbst der Urheber dieser Werke war und wie er dazu kam, im Auftrag des Inselverlags tätig zu sein, diese Fragen blieben offen.

Die andere Traumszene spielte in einem völlig veränderten Montagnola. Überraschend war hoher Besuch erschienen: André Gide stand da, wollte mich noch einmal sehen, war aber wortkarg und schlechter Laune und zog sich bald ins Gastzimmer zurück. Als er sich wieder zeigte, trat er mit mir vor die Haustür, vermutlich zu einem Spaziergang entschlossen, blieb aber dicht vor dem Haus stehen, zögerte wie im Nachdenken versunken und vollführte dann eine tiefe Kniebeuge. Aus dieser ohnehin schon mühsamen Stellung streckte er ein Bein nach vorn in die Luft, etwa wie slawische Tänze es verlangen, nur viel langsamer und feierlicher, es war ein unverkennbar religiöser, sakraler Akt, dessen Bedeutung ich nicht erraten konnte. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, gab er mir eine Erklärung mit den Worten. »Alles ist. Alles ist nicht. Es ist indisch.« »Ah«, sagte ich, »also die coincidentia oppositorum.« Er starrte mich verloren an, offensichtlich überlegend, ob er mir zustimmen solle oder nicht, sagte aber nichts. Und plötzlich stand noch ein dritter Mann bei uns, ein sehr französisch aussehender Herr, brünett mit Schnurrbart, und alsbald war ich für Gide nicht mehr vorhanden, er begann mit seinem Landsmann zu plaudern und ging in lebhaftem Gespräch mit ihm fort. So ließ er mich stehen, ohne Erklärung, ohne Abschied, dem Pariser zuliebe. Es war nicht hübsch.

(1962)

Schreiben und Schriften

Mir träumte: ich saß auf einer stark tätowierten Schulbank, und ein mir unbekannter Lehrer diktierte mir das Thema zu einem Aufsatz, den ich schreiben sollte. Es lautete:

Schreiben und Schriften

Ich saß und dachte nach, ich besann mich auf einige der Regeln, nach denen ein Schüler sich beim Abfassen solcher Kunstwerkchen zu richten angewiesen war: Exposition, Aufbau, Gliederung, und habe dann, glaube ich, recht lange Zeit mit einem hölzernen Federhalter in ein Schulheft geschrieben, doch war mir beim Erwachen die Erinnerung an das Geschriebene unfaßbar gewesen und ließ sich auch seither nicht wieder erwecken. Übrig geblieben war von meinem Traume nur die Schulbank mit ihren Runen und ihrem splittrigen Rand, das linierte Heft und der Befehl des Lehrers, und ihm zu gehorchen spürte ich auch jetzt im Wachsein noch Lust. Ich schrieb also:

Schreiben und Schriften

Da der Traumlehrer nicht mehr da und seine Kritik nicht mehr zu fürchten ist, lege ich meiner Fleißarbeit keinen Plan zu Grunde, teile sie nicht in gleichmäßige Abschnitte und überlasse es dem Zufall, welche Form sie annehmen wird. Ich warte einfach auf die Bilder, Gedanken und Vorstellungen, lasse sie kommen, wie sie mögen, und unterhalte damit, Homo Ludens, mich und ein paar Freunde, so gut es gehen will.

Bei dem Wort »schreiben« denke ich zunächst nur an eine menschliche und mehr oder weniger geistige Tätigkeit, an das Malen oder Zeichnen oder Kritzeln von Buchstaben oder Hieroglyphen, an Literatur, an Briefe, Tagebücher, Rechnungen, an indogermanisch rationale oder ostasiatisch bildhafte Sprachen; der junge Josef Knecht hat einst ein Gedicht darüber gemacht. Anders ist es bei dem Wort »Schriften«. Das erinnert mich nicht nur an Feder, Stift, Tinte, Papier, Pergament, an Briefe oder Bücher, sondern ebensosehr an Spuren und Zeichen anderer Art, an »Schriften« der Natur vor allem, an Bilder und Formen also, die fern vom Menschlichen, ohne Geist, ohne Willen entstehen, die aber unsrem Geist Kunde geben vom Dasein großer und kleiner Mächte, die wir »lesen« können und die immer neu zum Gegenstand sowohl der Wissenschaft wie der Künste werden. Wenn ein kleiner Knabe in der Schule Buchstaben und Wörter schreibt, tut er es nicht freiwillig, will auch mit seinem Schreiben niemandem etwas sagen, und ist überdies bestrebt, seine Gebilde einem unerreichbaren aber mächtigen Ideal anzunähern: den schönen, makellosen, korrekten, vorbildlichen Buchstaben, die der Lehrer mit unbegreiflicher, schrecklicher und doch tief bewunderter Vollkommenheit an die Wandtafel gezaubert hat. »Vorschrift« nennt sich das, und gehört zu den vielen anderen Vorschriften moralischer, ästhetischer, denkerischer, politischer Art, zwischen deren Befolgung und Mißachtung unser Leben und Gewissen spielt und kämpft, deren Mißachtung uns oft sehr froh machen und Erfolg bedeuten kann, deren Befolgung aber, man plage sich, wie man wolle, immer nur eine mühsame und schüchterne Annäherung an das ideale Vorbild auf der Wandtafel sein kann. Die Schrift des Knaben wird ihn selbst enttäuschen und den Lehrer auch im besten Fall nie ganz befriedigen.

Wenn derselbe Schüler, solang er sich nicht beobachtet weiß, mit seinem kleinen, schlecht geschliffenen Taschenmesser seinen Namen in das alte spröde Holz der Schulbank zu schnitzen oder kratzen sucht – eine langwierige aber schöne Arbeit, mit der er schon seit Wochen in günstigen Augenblicken beschäftigt ist –, dann ist das ein ganz anderes Tun. Es ist freiwillig, es ist lustvoll, ist heimlich und verboten, hat keine Regeln einzuhalten und keine Kritik von oben zu befürchten, es hat auch etwas zu sagen, etwas Wahres und Wichtiges zu sagen, nämlich die Existenz und den Willen des Knaben kundzugeben und für immer festzuhalten. Überdies ist es ein Kampf und, wenn es gelingt, ein Sieg und Triumph, das Holz ist hart und hat noch härtere Fasern, es setzt dem Messer lauter Widerstände und Schwierigkeiten entgegen, und das Messer ist kein ideales Werkzeug, die Klinge schon etwas wacklig, die Spitze splittrig, die Schneide nicht mehr scharf. Eine große Erschwerung liegt auch darin, daß dies so geduldige wie kühne Arbeiten nicht nur vor den Augen des Lehrers verborgen, daß die Geräusche des Schneidens, Stechens und Kratzens auch seinen Ohren verheimlicht werden müssen. Das schließliche Ergebnis dieses zähen Kampfes wird etwas völlig anderes sein als die mit unlustigen Buchstaben bedeckten Zeilen im papiernen Heft. Es wird hundertmal wieder betrachtet, wird Quelle der Freude, der Genugtuung, des Stolzes sein. Es wird dauern und kommenden Geschlechtern von Friedrich und Emil künden, ihnen Anlaß zum Raten und Nachdenken geben und ihnen Lust machen, Ähnliches zu unternehmen.

Viele Handschriften habe ich mit den Jahren kennengelernt. Ich bin kein Schriftkundiger, doch hat mir das graphische Bild von Briefen und Manuskripten meistens etwas gesagt und bedeutet. Es gibt da Typen und Kategorien, die man nach einiger Erfahrung sofort erkennt, oft sogar schon an der Adresse auf dem Briefumschlag. Ähnlich wie die Handschriften von Schulkindern haben zum Beispiel die von Bettelbriefen eine unverkennbare Verwandtschaft und Gleichförmigkeit. Die Leute, die nur einmal und in dringender Not etwas erbitten, schreiben ganz anders als jene, denen das Schreiben von Bettelbriefen eine ständige Gewohnheit, ja ein Beruf geworden ist. Nur selten habe ich mich da getäuscht. Ach, und die wackligen Zeilen der schwer Behinderten, der Halbblinden, der Gelähmten, der im Spitalbett Liegenden mit bedenklicher Fieberkurve überm Kopfkissen! In ihren Briefen spricht das Zittern oder Schaukeln oder Hintaumeln der Wörter und Zeilen manchmal stärker, deutlicher und herzbeklemmender als der berichtende Inhalt. Und umgekehrt: wie beruhigend und freundlich sprechen Briefe mich an, in denen ganz alte Menschen noch einer heilen, festen, kräftigen und frohen Handschrift fähig sind! Sie kommen sehr selten, die Briefe dieser Art, aber es gibt sie, auch noch von Neunzigjährigen.

Von den vielen Schriften, die mir wichtig oder lieb wurden, war die merkwürdigste, keiner andern auf Erden ähnliche die von Alfred Kubin. Sie war ebenso unleserlich wie schön. Solch ein Briefblatt war bedeckt mit einem dichten, anregenden, graphisch höchst interessanten Netz von Strichen, dem vielversprechenden Gekritzel eines genialen Zeichners. Ich glaube nicht, daß ich jemals in einem Kubin-Brief jede Zeile habe entziffern können, auch meiner Frau ist das nie gelungen. Wir waren zufrieden, wenn uns zwei Drittel oder gar drei Viertel des Inhalts lesbar wurden. Und jedesmal mußte ich beim Anblick solcher Blätter an Stellen in Streichquartetten denken, wo durch manche Takte alle viere kräftig und wie berauscht drauflos und durcheinander kratzen, bis wieder die Linie, der rote Faden deutlich wird.

Viele schöne und wohltuende Handschriften sind mir vertraut und teuer geworden, ich notiere nur die goethisch-klassische von Carossa, die kleine, flüssige und kluge von Thomas Mann, die schöne, sorgfältige, schlanke von Freund Suhrkamp, die nicht ganz leicht lesbare, aber charaktervolle von Richard Benz. Wichtiger freilich und teurer wurden mir die Schriften meiner Eltern. So vogelfluggleich, so mühelos, so völlig gelöst und flüssig dahineilend und dabei so gleichmäßig und deutlich habe ich niemanden schreiben sehen wie meine Mutter, es fiel ihr leicht, die Feder lief von selber, es machte ihr und machte jedem Leser Vergnügen. Der Vater bediente sich nicht der deutschen Schrift wie die Mutter, er schrieb römisch, war auch ein Latein-Liebhaber, seine Schrift war ernst, sie flog und hüpfte nicht, floß nicht wie ein Bach oder Brunnen, die Worte waren genau von einander getrennt, man spürte die Pausen des Nachdenkens und der Wortwahl. Die Art, wie er seinen Namen schrieb, nahm ich mir schon in früher Jugend zum Vorbild.

Die Graphologen haben eine wunderbare Technik der Schriftdeutung erfunden und beinah bis zur Exaktheit vervollkommnet. Ich habe diese Technik nicht studiert oder gar erlernt, sah sie aber in vielen, oft schwierigen Fällen sich bewähren, und entdeckte nebenbei, daß zuweilen die Charaktere von Graphologen nicht auf der Höhe ihrer Verdienste um die Einsicht in menschliche Seelen standen. Es gibt übrigens auch gedruckte, auf Holz, Pappe oder Metall schablonierte oder in Emailschildern zur Dauer verurteilte Buchstaben und Zahlzeichen, die zu deuten wenig Mühe macht. Auf amtlichen Kundgebungen, auf Verbottafeln, auf Email-Nummernschildern in Eisenbahnwagen habe ich zuweilen Buchstaben und Zahlen bestaunt so blutlos, so schlecht, so ohne Liebe, ohne Leben, ohne Spiel, ohne Phantasie und Verantwortung erfunden und erquält, daß sie noch in der Vervielfältigung, im Blech oder Porzellan schamlos die Psychologie ihrer Erfinder verrieten.

Ich nannte sie blutlos, denn beim Anblick solcher Miß-Schriften fiel mir immer der Spruch aus einem berühmten Buche ein, den ich in meiner Jugend gelesen und der mich damals sehr gepackt und bezaubert hatte. Des Wortlauts bin ich nicht mehr ganz sicher, meine aber, es sei dieser gewesen: »Von allem Geschriebenen liebe ich am meisten, was einer mit seinem Blute schreibt.« Jenen amtlichen Buchstabengespenstern gegenüber war ich dann immer ein wenig geneigt, dem schönen Spruch eines Einsamen und Leidenden wieder zuzustimmen. Doch tat ich das nur für Augenblicke. Der Spruch, und ebenso meine jugendliche Bewunderung für ihn, stammte aus einer unblutigen und unheroischen Zeit, über deren Schönheit und Adel die in ihr Lebenden weit weniger im klaren waren als einige Jahrzehnte später. Wir haben dann lernen müssen, daß die Preisung des Blutes auch eine Schmähung des Geistes sein kann und daß die Leute mit der rhetorischen Begeisterung für das Blut meistens nicht ihr eigenes, sondern das Blut anderer Leute meinen.

Es schreibt aber nicht nur der Mensch. Es kann auch ohne Hände, ohne Feder, Pinsel, Papier und Pergament geschrieben werden. Es schreibt der Wind, das Meer, der Fluß und Bach, es schreiben die Tiere, es schreibt die Erde, wenn sie irgendwo die Stirn runzelt und damit einem Strom den Weg sperrt, ein Stück Gebirge oder eine Stadt wegfegt. Doch ist es freilich nur der Menschengeist, der alles von scheinbar blinden Kräften Gewirkte als Schrift, als objektivierten Geist also, anzusehen geneigt und fähig ist. Vom zierlichen Vogeltritt Mörikes bis zum Lauf des Nils oder Amazonas und des starren, unendlich langsam seine Formen verändernden Gletschers mag jeder Vorgang in der Natur von uns als Geschriebenes, als Ausdruck, als Gedicht, Epos, Drama empfunden werden. Es ist dies die Art der Frommen, der Kinder und Dichter, auch der echten Gelehrten, aller Diener des »sanften Gesetzes«, wie Stifter es genannt hat. Sie suchen nicht wie die Gewalt- und Herrenmenschen die Natur auszubeuten und zu vergewaltigen, sie beten auch nicht angstvoll deren Riesenkräfte an, sie möchten schauen, erkennen, staunen, verstehen, lieben. Ob ein Dichter dem Ozean oder den Alpen in Hymnen huldigt, ob ein Insektenforscher im Mikroskop das Netz kristallener Linien auf dem Flügel des winzigsten Glasflüglers beobachtet, es ist stets der gleiche Trieb und der gleiche Versuch, Natur und Geist als Brüder zusammenzubringen. Dahinter steht immer, ob bewußt oder nicht, etwas wie ein Glaube, etwas wie eine Gottesvorstellung, nämlich die Annahme, es werde das Ganze der Welt von einem Geist, einem Gott, einem Gehirn, dem unsern ähnlich, getragen und gesteuert. Die Diener des sanften Gesetzes machen sich die Erscheinungswelt dadurch verwandt und lieb, daß sie sie als Schrift, als Kundgebung des Geistes betrachten, einerlei, ob sie sich diesen Weltgeist als nach ihrem Bilde geschaffen denken oder umgekehrt.

Seid gepriesen, wunderbare Schriften der Natur, unbeschreiblich schön in der Unschuld eurer Kinderspiele, unbeschreiblich und unbegreiflich schön und groß auch in der Unschuld des Vernichtens und Tötens! Kein Pinsel keines Malers hat je so spielerisch, so liebevoll, so gefühlig und zärtlich die Leinwand gestreichelt wie der Sommerwind, wenn er das hohe wallende Gras oder das Haberfeld zu liebkosen, zu kämmen und zu zausen gelaunt ist oder mit taubenfederfarbenen Wölkchen spielt, daß sie wie in Reigen schweben und das Licht ihre zu Hauch verdünnten Ränder in winzigen Regenbögen von Sekundendauer entzündet. Wie spricht Vergänglichkeit und Flüchtigkeit allen Glückes, aller Schönheit in diesen Zeichen uns mit ihrem Zauber, ihrer sanften Trauer an, Schleier der Maya, wesenlos und zugleich Bestätigung allen Wesens!

Und wie der Graphologe die Schrift eines Humanisten, eines Geizkragens, eines Verschwenders, eines Draufgängers, eines Behinderten liest und deutet, so liest und versteht der Hirt und Jäger die Spuren des Fuchses, des Marders, des Hasen, erkennt seine Art und Familie, stellt fest, ob er sich wohl befinde und alle vier Pfoten unbehindert spielen, ob Wunden oder Alter ihm den Lauf erschweren, ob er müßig schlendert oder es eilig hatte.

Auf Grabsteinen, Denkmälern und Ehrentafeln schrieb Menschenhand mit sorgfältigem Meißel Namen, Preisungen und Zahlen der Jahrhunderte und Jahre. Ihre Botschaft reicht zu Kindern, Enkeln und Urenkeln, zuweilen noch viel weiter. Langsam wäscht am harten Stein der Regen, langsam ziehen die Spuren und Hinterlassenschaften von Vögeln, von Schnecken, von weither gewehtem Staub ihre Schicht als stumpfe Trübung über die Flächen, haften in den vertieften Runen, mildern ihre glatten klaren Formen und rüsten den Übergang des Menschenwerks in Werke der Natur, bis Algen und Moose sie überziehen und der schönen Unsterblichkeit den sanften langsamen Tod bereiten. In Japan, das einst ein vorbildlich frommes Land war, modern in tausend Wäldern und Schluchten unzählige Bildwerke, von Künstlern geschaffen, schöne heiterstille Buddhas, schöne gütige Kwannons, schöne ehrfürchtige Zen-Mönche in allen Zuständen des Verwitterns, des Hinüberschlummerns ins Gestaltlose, tausendjährige Steingesichter mit hundertjährigen Bärten und Locken aus Moos, aus Gras, aus Blumen und struppigem Gesträuch. Ein fromm gesinnter Nachkomme derer, die hier einst gebetet und Blumenopfer dargebracht haben, hat in unsern Tagen viele von ihnen in einem wunderbaren Bilderbuch gesammelt; nie habe ich aus seinem Lande, mit dem ich vielen Austausch pflege, ein schöneres Geschenk bekommen.

Alles Geschriebene erlischt in kurzer oder langer Zeit, in Jahrtausenden oder Minuten. Alle Schriften und aller Schriften Erlöschen liest der Weltgeist und lacht. Für uns ist es gut, einige von ihnen gelesen zu haben und ihren Sinn zu ahnen. Der Sinn, der sich aller Schrift entzieht und ihr dennoch innewohnt, ist immer einer und derselbe. Ich habe in meiner Aufzeichnung mit ihm gespielt, ich habe ihn um ein weniges verdeutlicht oder auch verschleiert, ich habe nichts Neues gesagt, wollte auch nichts Neues sagen. Viele Ahnende und Dichter haben es schon viele Male gesagt, jedesmal ein wenig anders, jedesmal ein wenig heiterer oder klagender, ein wenig bitterer oder süßer. Man kann die Vokabeln anders wählen und die Satzgefüge anders anlegen und verschränken, die Farben auf der Palette anders ordnen und verwenden, den harten Stift nehmen oder den weichen – zu sagen gibt es immer nur eines, das Alte, das Oftgesagte, Oftversuchte, das Ewige. Interessant ist jede Neuerung, spannend jede Revolution in Sprachen und Künsten, entzückend alle die Spiele der Artisten. Was sie damit sagen wollen, was sagenswert doch nie ganz sagbar ist, bleibt ewig eins.

(1961)

Tagebücher

Aus meinem Traumbuch

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