Inhaltsverzeichnis
Für Eryo Minoura und Ryogi Okochi mit Dank im Dialog
Auf den ersten Blick: Kurzbestimmung von sechs zentralen Namen und Begriffen
Amida Buddha: der Buddha des unermesslichen Lichts und des unermesslichen Lebens
Dharma: Ordnung / Lebensregel / Grundlehre / Wahrheit
Hingeburt: in das Reine Land gehen und dort hineingeboren werden. Hingeburt darf nicht mit Reinkarnation oder Wiedergeburt verwechselt werden. Sie ist das ein für allemal vollzogene Eintreten in den Bereich des „geburt- und todlosen, wahren Landes“(Okochi / Otte 153).
nembutsu: Aussprechen des Namens von Amida Buddha, seine Anrufung mit der Formel „Namu Amida Butsu“im Sinne von „Verehrung dem / Zufluchtnahme zu Amida Buddha“.
Reines Land (im Gegensatz zu Edo, dem Land der Befleckungen und der Vergänglichkeit): das von Amida Buddha errichtete Land, in dem alle Lebewesen das letzte Erwachen, die Buddhaschaft erlangen werden.
Samsara: der ewige Kreislauf von Geburt und Tod, diese Welt
Einführung
Den Buddhismus gibt es so wenig wie das Christentum. Wohl aber gibt es eine fast ungeheure Fülle verschiedener Erscheinungsformen buddhistischer und christlicher Religion, die ihren Ausgangspunkt und ihren Rückbezug im Leben und Wirken des Herrschersohnes Siddharta und des Juden Jesus haben.
Religionen sind nicht statisch, sondern haben bis in die Gegenwart hinein und gerade in ihr eine starke Veränderungsdynamik. Die Globalisierung in allen Bereichen fordert auch die Religionen zu Selbstprofilierungen und zu Fremdbegegnungen heraus, die Abgrenzungs- und Öffnungsprozesse größten Ausmaßes bewirken. So wurde etwa der in die Vereinigten Staaten von Amerika exportierte Zen-Buddhismus in Japan reimportiert und veränderte die Tradition am Herkunftsort. Zum interreligiösen Dialog kommen Projekte und Visionen von einer pluralistischen Theologie der Religionen, von „Transkonfessionalität“und „multipler religiöser Identität“(vgl. Bernhardt / Schmidt-Leukel, Franke / Pye).
„Der“Buddhismus war nie ein monolithischer Block. Von früh an bis heute gibt es Mönchsgemeinschaften und Laienbekenner. Hauslosigkeit, Einsiedelei und Klosterleben stehen nebeneinander und wechseln sich oft jahreszeitlich ab. „Der“Buddhismus konnte und kann Staatsreligion sein und sogar in seiner klösterlichen Verfassung militärische Macht entwickeln und ausüben. Er tritt aber auch gänzlich entpolitisiert und gesellschaftlich neutralisiert in Erscheinung. Immer wieder aber wirkt er als spirituelle Kraft; Rückbezüge zum ursprünglichen Impuls bleiben unübersehbar.
Wo nach der Zukunft der buddhistischen, der christlichen und anderer Religionen gefragt wird, sollten deren Erscheinungsformen für unabsehbar offen gehalten werden. Tradition, wo sie denn geschieht, bewegt sich immer in der Spannung zwischen Treue und Verrat. In der lateinischen Sprache ist der traditor der „Überlieferer“und der „Verräter“- der, der etwas für neue Aufnahme und Verwandlung frei-gibt. Die historische Entwicklung des Buddhismus selbst ist das beste Beispiel für diese Behauptung, die auf den ersten Blick vielleicht reichlich überzogen erscheinen mag.
Zum Buddhismus des Reinen Landes
Am Anfang des Buddhismus stehen – vierhundert oder fünfhundert Jahre vor der christlichen Zeitrechnung – Leben und Lehre des Sohnes eines Regenten oder eines Gouverneurs im Königreich Kosala (im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Nordindien und Nepal): Siddharta aus dem Geschlecht der Sakya, daher auch Sākyamuni genannt. Nach drei wohl behüteten und klar geprägten Lebensjahrzehnten bricht er aus und wendet sich einer asketisch weltabgewandten Existenz zu – ein in jener Gesellschaft keineswegs unüblicher Schritt. Er vertraut sich zunächst zwei verschiedenen Lehrern an, sucht dann aber in radikaler Übungspraxis seinen eigenen Weg. Dem Tod bereits nah findet er zurück zu einem „mittleren Weg“. Sechs Jahre nach seinem Aufbruch macht er eine Erfahrung, die ihn zu einem „Erleuchteten“(Buddha) – oder zu einem „Erwachten“- werden lässt. Er erinnert sich zahlloser vorhergehender Existenzen, versteht die Gesetze der Wiedergeburt; und sein Geist wird frei von Begehren, Daseinsdrang und Unwissenheit. Er hat die Gewissheit, dass er nie neu geboren werden wird.
Seine Lehre stellt eine klare Diagnose, nennt die Ursache und empfiehlt eine ebenso deutliche Therapie. Die Diagnose lautet: Leben ist unausweichlich leidvoll, unbeständig und befriedigt nicht. Zu diesem „Leiden“gehören Geburt, Alter, Krankheit und Tod, aber auch Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung. Ursprung des „Leidens“sind die umfassenden Erscheinungen von persönlichem Begehren, von persönlicher Gier und von Unwissenheit. Bisweilen werden auch noch Hass und Verblendung genannt. Ein achtspuriger Weg führt zur Erlösung. Zu ihm gehören klare Erkenntnis und klare Verhaltenseinstellungen und ebensolches Handeln, auch im Beruf: Zentrale Punkte sind Güte und Gewaltlosigkeit. Weitere Bereiche des Weges sind das Reden ohne Lüge, Klatsch, Schmähung und Geschwätz, dann aber auch eher mentale Übungen, zu denen umfassende Achtsamkeit und meditative Versenkung gehören.
Erste Schüler wenden sich dem Buddha zu. Bis ins hohe Alter von achtzig Jahren lebt und lehrt er seinen Weg der Befreiung aus den Verstrickungen der Existenz. Aus diesem Anfang entstehen Mönchs- und (kleinere) Nonnengemeinschaften und Gruppierungen von Laienbekennern, zu denen bald schon auch königliche Herrscher gehören, die die Bewegung entsprechend unterstützen. In Ceylon wird der Buddhismus früh Staatsreligion. Von Jahrhundert zu Jahrhundert breitet sich der Buddhismus in Südostasien aus: über China und Korea nach Japan (6. Jahrhundert), später auch nach Tibet und bis in die Mongolei.
Der Grundimpuls verändert sich markant und fundamental, als Buddha selbst immer mehr Subjekt der Verehrung wird und seine geschichtliche Existenz in weiteste Horizonte hinein ausgedehnt wird. Das führt bis hin zu der Vorstellung, dass er einer unter Millionen transzendenter Buddhas, also erleuchteter Wesen ist, die in Buddhaländern leben. Hier liegt einer der Ursprünge des sog. Mahāyāna-Buddhismus, des Buddhismus des „Großen Fahrzeugs“, mit dem auch solche Wesen, die sich nicht eigenständig und aktiv auf den Weg der Erlösung begeben können, zu retten sind. Bodhisattvas (Erleuchtete) kommen dabei zu Hilfe, die selbst alle Welten endgültig verlassen und also gänzlich frei werden könnten, aber anderen auf dem Weg zur Seite stehen.
Wirkungsgeschichtlich besonders prominent ist hier die Tradition von dem Mönch Dharmākara, der in fernster Vergangenheit das Gelübde abgelegt hat, wenn er die Erleuchtung erreicht hat, so lange nicht die Welten zu verlassen, bis nicht alle in dem von ihm aufgerichteten, westlich gelegenen Reinen Land neu geboren worden sind. Dies ist das Land des Buddha Amitābha bzw. des Buddha Amitāyus, d.h. des Buddhas des unermesslichen Lichtglanzes bzw. des unermesslichen Lebens.
Die Ursprünge dieses Buddhismus des „Reinen Landes“reichen weit zurück bis ins erste Jahrhundert. Auch hier geht die Entwicklung über China nach Japan (bereits im 9. Jahrhundert). Aber eine eigene Schulrichtung entsteht erst im 13. Jahrhundert. Wie bei den meisten anderen buddhistischen Gruppierungen geht es dabei nicht um einen radikalen Neuanfang, sondern um eine besondere Profilierung unter Berufung auf bestimmte Quellentexte und Traditionen. So bezieht sich der Jōdo-shū-Buddhismus auf indische, chinesische und japanische „Patriarchen“. Die zwei bedeutendsten Gründer des Buddhismus des Reinen Landes, Hōnen Shōnin (1133-1212) und sein Schüler Shinran Shōnin (1173-1263) waren jahrzehntelang Mönche und Priester der Tendai-Sekte, bevor sie sich aus dem klösterlichen Leben lösten und selbst Anhänger fanden. Bald darauf wurden sie verfolgt und in Verbannung geschickt, dann aber wurde ihre Bewegung zu einer eigenen Schulrichtung. Sie stießen auf ungeheuer starke Resonanz gerade bei den einfachen Leuten, die von ihren Lebensbedingungen her – etwa als Gerber, Metzger und Fischer, die Leben töten – ohnehin den Regeln mönchischen Lebens nicht folgen konnten. Im Jōdo-shū- und im Jōdo-shin-shū-Buddhismus ist alle Frömmigkeitspraxis radikal zusammengefasst im sog. „nembutsu “, d.h. im Aussprechen der sieben Silben: Namu Amida Butsu: verehrende Zuwendung dem Buddha Amitābha. Diese Praxis gibt es als Meditationstechnik, auch in ästhetischen Ausdrucksformen von Gesang und Tanz. Neu ist die alleinige Konzentration auf dieses schlichte nembutsu-Sagen und auf die eindeutige und einseitige Lehraussage: Es gibt keinerlei ernsthafte Möglichkeit der Selbsterlösung. Alles – selbst noch die Äußerung der sieben Silben – geschieht nicht durch die eigene Kraft (jiriki), sondern durch die fremde, andere Kraft (tariki) des Buddha Amida. Mit der eigenen religiösen Praxis lassen sich keine Verdienste für andere oder für sich selbst erwirken, sodass etwa schlechtes Karma getilgt oder Verstorbenen damit geholfen wäre.
Diese Position ist äußerst kritisch gegenüber vielen Spielarten von Religion. Der Reine-Land-Buddhismus ist eine radikale Gnadenreligion und darin dem Urgestein christlicher Lehre (besonders in paulinischer und lutherischer Ausprägung) vergleichbar. Dies hat selbst der klassischste Vertreter der evangelischen Theologie des vergangenen Jahrhunderts, Karl Barth, unumwunden zugestanden und in seiner zwölfbändigen „Kirchlichen Dogmatik“diesem Buddhismus früh schon fünf eng gedruckte Seiten gewidmet (Barth 372-377). Umso erstaunlicher ist es, dass diese Lehrrichtung in Deutschland nur selten überhaupt wahrgenommen wird, obwohl sie in Japan jedenfalls mit mehr als fünfunddreißig Prozent die kompakte Mehrheit in den verschiedenen Schulen und Tempelgruppierungen bildet. Religiös Suchende auch auf Seiten von Kirche und Theologie und west-östlicher Vermittler wie D.T. Suzuki waren viel mehr mit Traditionen des Zen-Buddhismus, seiner Lehre und vor allem seiner Übungspraxis beschäftigt. Und als diese Welle abebbte, faszinierten zunehmend die Farbigkeit, das Exotische, das Rituelle und bisweilen das auf den ersten Blick Esoterisch-Magische des tibetischen Buddhismus mit seinen zugänglichen Glücksversprechungen, in den letzten Jahren besonders im hochkarätigen Format des XIV. Dalai Lama. Der Reine-Land-Buddhismus bleibt demgegenüber trotz beeindruckender Architekturen, Lesungen, Gesänge, Predigten und Zeremonien unspektakulär. Ihm fehlt fast alles, was Zen- und tibetischer Buddhismus im westlichen Europa so attraktiv macht und anhaltende Faszination ausstrahlt.
Zum Text
Die hier übersetzte und kommentierte Textsammlung mit dem Titel „Ichigon Hōdan“(was so viel bedeutet wie: „Kurze wohlriechende Reden“) stammt aus einer radikalen, um nicht zu sagen „krassen“Erscheinungsform des Jōdo-shū-Buddhismus. Basis dieses Buches ist die englische Übersetzung und Kommentierung von Dennis Hirota. Es geht um Aussprüche von über dreißig Meistern aus der Heian- und Kamakura-Zeit (794-1336), mit Schwerpunkt auf die Zeitspanne von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Sammlung selbst lässt sich zwischen 1287 und 1333 datieren. Wer der Sammler und Herausgeber ist, bleibt unklar. Das Manuskript, das Hirotas Übersetzung zugrunde gelegen hat, stammt aus dem Jahr 1463 und ist 1648 zum ersten Mal veröffentlicht worden. Die Zählung der Aussprüche findet sich nicht im Text, darum ist und bleibt sie leicht willkürlich (vgl. Hirota, bes. 88-90).
Nach Ichiro Hori lässt sich die Bewegung buddhistischer (Wander)mönche, aus der diese Texte stammen, als Teil einer religiösen Reformation von der Mitte der Heian-Periode an verstehen (794-1192; vgl. Hori, bes. 136, kritisch dazu Kleine). Der in dieser Zeit offizielle, staatlich geförderte und kontrollierte Buddhismus war seinerseits ein machtpolitischer Faktor, verweltlicht und bisweilen selbst paramilitärisch organisiert, um seine Interessen durchzusetzen. Die Macht der Hofaristokratie schwankte. Clans kämpften andauernd und gewalttätig um die Vorherrschaft im Land. Dazu kamen eine ungewöhnliche Anhäufung von Brand- und Umweltkatastrophen, Hungersnöten und Epidemien. Dies ist die Ausgangssituation auch für religiös praktische Umbrüche. Die Zeit wird als Endzeit (mappō) verstanden, in der die hohen Standards buddhistischer Lehre und Praxis nicht mehr zu halten sind.
Ich finde die Bewegung buddhistischer (Wander)mönche so interessant, weil ich in ihr ein radikales japanisch mittelalterliches existenziales Verständnis des Jōdo-shū-Buddhismus und seiner nembutsu-Praxis sehe. Wobei möglicherweise auch noch andere volksreligiöse Traditionen eine wesentliche Rolle spielen. Jedenfalls geht es um eine eindrucksvolle und wirksame Elementarisierung der religiösen Überlieferung in all ihren Aspekten von rituellem und meditativem Verhalten, von Existenzvollzug und religiösem Wissen. Dabei ist die liturgische und alltags-verbundene religiöse Praxis radikal auf das nembutsu -Sagen zentriert. Besondere, nicht allen zugängliche Welten, Praktiken magischer oder esoterischer Art sind nicht im Fokus des Interesses. Religiöses Wissen, Theorieentwicklung und Lehrsysteme sind so weit wie möglich ausgeschaltet, oft sogar stark und polemisch abgewertet.
Diese (Wander)mönche sind entweder Laien (ubasoku) oder Mönche bzw. Priester niedrigen Ranges, ordiniert oder auch nicht ordiniert. Viele von ihnen kommen aus der Aristokratie oder aus Regierungskreisen. Sie realisieren ihren Glauben zumeist frei und außerhalb klösterlicher Gemeinschaften, in denen sie zuvor oft für längere Zeit gelebt haben. Nur ganz wenige kehren zurück in neue Positionen innerhalb der Tempelhierarchien. Die (Wander)mönche bewegen sich zugleich auch außerhalb einer säkularen, verweltlichten Gesellschaft und leben in relativ freien bruderschaftlichen Kontakten jenseits klerikaler Rangordnungen, allenfalls in loser Verbindung zu Tempeln. Erst später bauen sie bisweilen eigene kleinere Tempelareale inmitten von Waldgebieten, in denen sie als Eremiten ihre Existenz fristen. Ihre zentrale religiöse Praxis ist das Beten des nembutsu. Manchmal sind damit auch das Singen und das Tanzen verbunden. Auf diese Weise sind sie volksnah. Auch sprechen sie die Sprache des Volkes. Sie ziehen als „heilige Männer“(hijiri) Menschen aus dem ländlichen Bereich an oder gehen selbst zu ihnen. Sie bewegen sich deutlich nicht in dem gesellschaftlichen und religiösen Umfeld, in dem sich die anderen wirkmächtigen Schulen des damaligen Buddhismus befinden. In diesem Zusammenhang sind besonders Tendai und Shingon zu nennen, zwei Sekten, die auch eine viel variationsreichere, auch esoterische Lehre und Praxis entfalten.
Nach allem scheue ich mich nicht, das Profil des hier begegnenden Buddhismus „krass“zu nennen. Bevor das Wort – schon bei Goethe nachweisbar und literaturfähig – in der Studentensprache gebräuchlich wurde, kann man ihm in lateinisch theologischer Begrifflichkeit begegnen. Die Dogmatik sprach von einem chiliasmus crassus da, wo das tausendjährige Friedensreich Christi drastisch, sinnlich und schlaraffenlandmäßig üppig vorgestellt wurde. Im Zusammenhang mit dem Leben der Hijiri meint „krass“: elementar, grell, ungeschönt, ausgesetzt. Das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm dokumentiert alle hier genannten Verwendungen des Wortes.
Die historischen Herkunftslinien, die in dieser Quelle zu Worte kommen, sind umstritten. Nicht nur, dass hier sehr verschiedene Strömungen buddhistischer Lehre und Praxis zusammenfließen; auch vorbuddhistische japanische (shintoistische und schamanische) sowie taoistische Traditionen mischen sich ein. Dies näher zu erforschen und darzulegen, überschreitet meine Kenntnisse und Kompetenzen. Darum lese ich die Texte literarisch wörtlich und nicht historisch-kritisch. Fachsprachlich ausgedrückt heißt das: Ich lese „synchron“und „strukturalistisch“statt „diachron“. Wobei ich mich natürlich historisch und auch religionswissenschaftlich zu orientieren versucht habe und das Notwendigste in mein Konzept einbringe. Ich erkläre ausdrücklich, dass meine Interpretationen wesentlich auf der englischen Übersetzung beruhen, auch wenn durch Fachkontakte Rückfragen zum japanischen Originaltext möglich waren.
Zum akademischen Kontext
Durch Verbindungen zwischen der Philipps-Universität Marburg und der Otani University in Kyoto / Japan bin ich seit mehr als zehn Jahren persönlich und fachlich Priestern und Lehrern des gegenwärtigen Jōdo-shin-shū-Buddhismus begegnet. Otani Daigaku ist die zentrale Forschungs- und Ausbildungsstätte einer der größten buddhistischen Denominationen in Japan: Shinshu Otani-ha mit dem Haupttempel Higashi Honganji in Kyoto. Zentrale Lehrautorität ist Shinran Shōnin. Zu diesen Begegnungen gehörten mehrere Symposien und Fachkonferenzen in Marburg sowie Seminare und öffentliche Vorträge in Kyoto. Zuletzt war ich im Zeitraum von 2006 bis 2008 zu einer Gastprofessur an dieser Universität eingeladen. Aus dieser Zusammenarbeit heraus sind in Japan drei, in Marburg zwei Dokumentationsbände zustande gekommen. (vgl. Barth / Minoura / Pye und Barth / Kadowaki / Minoura / Pye) Meine Vorlesungen und Seminarberichte der letzten Jahre werden in Auswahl an verschiedenen Orten in japanischer, englischer und deutscher Sprache erscheinen.
Dieses Buch aber hat einen anderen Charakter als die anderen Veröffentlichungen. In bestimmter Weise ist es die Ernte, eine Weiterbearbeitung und vielleicht sogar eine Verwandlung meiner bisherigen Begegnungen und Fachdiskussionen – eine Übersetzung auf eine direktere, damit auch riskantere nachwissenschaftliche Ebene. Es soll „spirituelle Gebrauchsliteratur“sein – aber mit dem Anspruch, auch akademisch nicht „haltlos“zu sein, sondern wahrgenommen zu werden und Diskussionen anzuregen.
Ein Perspektivwechsel besteht auch darin, dass ich keine Texte von Shinran kommentiere, weil sie in „Ichigon Hōdan“nicht zu finden sind. Meinen Interpretationen liegt vielmehr eine weniger bestimmte, möglicherweise manchmal fremdartig erscheinende Textsammlung aus dem Jōdo-shū-Buddhismus zugrunde. Aber auch damit und gerade so verlasse ich nicht die Grundabsicht dieser Schulgründung: die grundlegende und in jeder Hinsicht zunächst einmal spröde Tradition des nembutsu-Sagens und den Glauben an die unermessliche Barmherzigkeit des Buddha Amida.
Wie Quelle und Kommentar gelesen werden können
Dieses Buch steht den Leserinnen und Lesern in allen Teilen zur freien Lektüre offen. Dabei könnte Verlangsamung angebracht sein. Sich pro Tag nur mit einer oder zwei Aussagen zu beschäftigen, könnte ein guter Lektürerhythmus sein. Olympische Komparative – schneller / weiter / höher – schaden spirituellem Tiefgang. Auch muss keiner und keine der Reihenfolge der Texte und meiner Kommentare folgen, so sehr in ihnen eine interne Ordnung stecken mag. Auch habe ich so zu schreiben versucht, dass alles auch dann mit- und nachvollziehbar bleibt, wenn man keinem der weiteren Hinweise im laufenden Text bzw. im Literaturverzeichnis folgt. Wer aber nähere Auskunft oder Belege für das oft nur in Kürze Gesagte will, soll wissen, wo er fündig werden könnte.
Mir erscheint es wichtig, verschiedene Lektüreformen zu unterscheiden.
• Eines steht fest: Der Versuch, die Quelle 1:1 zu übersetzen, muss scheitern. Dazu ist sie zu fremd und zu fern – in Fernost genauso wie im Westen. Man kann ein Amida-buddhistisches Asketenleben des Mittelalters nicht bruchlos in eine neukapitalistisch konsumistische Lebenswelt überführen.
• Eine Reaktion auf diese ernüchternde Einsicht könnte sein, die Texte rein exotisch und mit der Lust am Skurrilen zu lesen. Das liefe aber bestenfalls auf eine ästhetisierende Distanznahme hinaus. Man hätte ausschließlich mit einer Kuriosität zu tun.
• Eine anderer Weg, der bleibt, könnte die reine historisch religionsgeschichtlich kritische Rekonstruktion oder aber eine durchgehend religionspsychologische Interpretation sein. Dabei ist die Gefahr subjektiver Eintragungen in die Quelle sehr groß, könnte aber kritisch bearbeitet werden.
Die genannten Reaktionen entziehen sich der Aufgabe, einen von seinem Wesen her existenziellen Text existenzial in die Gegenwart hinein zu übersetzen. Verfahren, die nur auf Distanz gehen, sind den Textsorten der Quelle gegenüber, will man sie wirklich gegenwärtig lesen, unangemessen, wiewohl natürlich möglich.
Angemessener scheinen mir folgende Zugänge zu sein:
• Die Quelle kann als ein Dokument eines radikalen Buddhismus entdeckt werden, der auch in der Gegenwart und in der westlichen Welt spirituell von Bedeutung ist. In ihr zeigt sich in wünschenswerter Klarheit, Kargheit und Deutlichkeit vieles, was „den“Buddhismus gegenwärtig so attraktiv macht: ein nüchterner klarer Blick in die Welt und auf sich selbst – ohne Verbitterung, vielmehr mit der Gewissheit der grenzenlosen Barmherzigkeit des Buddha / eine überschaubare Meditationspraxis / eine Kritik vieler religiös sakramentaler Riten / intellektuelle Redlichkeit und Selbstkritik / Techniken, mit lebenswerten und zerstörerischen Impulsen bei sich und anderen kritisch umzugehen / eine Zivilisationskritik, die sich jedenfalls gegen jeden blinden Konsumismus richtet, bisweilen sogar antikapitalistisch markant ist. All diese Aspekte tauchen in dieser Quelle stark unter der Rahmenthematik „Kunst des Sterben“und „Lebenskunst“auf, haben aber auch ihre eigene Gewichtung. Darum erschiene es mir einseitig, alle existenziellen Aussagen nur auf den Übergangsmoment von diesem Leben hin zu der Welt-danach zu beziehen.
• Auf der Basis, die Quelle aktuell buddhistisch zu lesen und in die Gegenwart zu übersetzen, ist dann auch ein interreligiöser Dialog möglich. Dabei ginge es natürlich nicht um eine reine Bestätigung in Richtung Verallgemeinerung oder gar Überbietung. Dann würde ich nur im Fremden entdecken, was auch in meiner eigenen Tradition zu finden ist, oder ich fände einige positive, vor allem aber kritische Anknüpfungspunkte, um meinem Gegenüber nahezulegen, mit seiner Herkunft zu meiner Position überzuwechseln. Ich meine einen Dialog, in dem es wechselseitige Irritationen, Verfremdungen des Eigenen, Provokationen und auf diesem Wege auch Vertiefungen gibt. Für mich als Dialogpartner kommt es darauf an, in meinem Eigenen Fremdes und Befremdliches, nicht klar und radikal genug Entfaltetes zu entdecken. Auf diese Weise kann meine eigene Tradition neu lebendig, darin auch vertieft und verändert werden. Dass und wie mein Gegenüber mit dem, was er in den Dialog einbringt, ähnliches erfährt, steht nicht in meiner Macht und kann im Dialog nicht mein von vornherein erklärtes Ziel sein.
• Ich praktizierte bisweilen noch einen anderen Lektüreweg, den ich ausdrücklich machen möchte, weil er nicht nur unterläuft, sondern sehr gezielt eingesetzt ist und zu eigenen Aktivitäten anregen könnte. Es geht um freie Assoziationen, die zunächst einmal den Eindruck machen könnten, lediglich in unmittelbarer Zusammenhanglosigkeit zu stehen, die aber, schaut man genauer hin, mit dem Textgewebe sehr wohl etwas zu tun haben: Ich bringe Einfälle aus anderen kulturellen und religiösen oder auch biografisch persönlichen Diskursen ein.
• Kurz erwähnen möchte ich schließlich die Möglichkeit, den Text noch einmal nach innen, auf sich selbst bezogen, weiterzulesen und ihn in dem Sinne wörtlicher zu nehmen, als er sich selber nimmt. Ich folge der Textlogik in sich selbst hinein. Zum Beispiel: Manchmal lassen sich aus shin-buddhistischen Krassheiten zen-buddhistische Pointen entwikkeln (vgl. z. B. # 12). Solcher Umgang mit dem Ausgangsmaterial ist wohl gemerkt keineswegs mit dem Anspruch verbunden, den Text dadurch besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Vielmehr besteht die Gefahr, ihn schlechter, dafür aber auch risikoreicher, kritischer und subversiver zu lesen. Bei einem derartigen Vorgehen lässt sich im Textraum eine Bewegung entdecken, die noch nicht ausgeführt, aber möglich ist.
Alle vier genannten Interpretationsbahnen laufen auf verschiedenen, aber wohl parallelen Gleisen und können darum von Aussage zu Aussage gewechselt werden.
Dank
Die Liste der Menschen, denen ich zu danken habe, ist internationaler und länger als bei irgendeinem meiner bisherigen Buchprojekte. Sie muss unkommentiert bleiben und folgt nur der alphabetischen Ordnung:
Toshikazu Arai / Shin Fujieda / Hans-Jürgen Greschat / Dennis Hirota / Takami Inoue / Stephan Jäger / Willigis Jäger / Ken Kadowaki / Martin Kraatz / Eryo Minoura / Ryogi Okochi / Michael Pye / Martin Repp / Martin Scherer / Katja Triplett / Wolfgang Teichert / Shizuteru Ueda / Kolleginnen und Kollegen der Tenri University, Tenri / „meine“Studentinnen und Studenten von Otani Daigaku.
Marburg, im Advent 2009
Gerhard Marcel Martin
1 Religionspraktische Weichenstellung
Es wird erzählt: Hauptpriester Eshin pilgerte zum Großen Schrein von Ise, um sieben Tage in Abgeschiedenheit zu beten. Während der letzten Nacht öffneten sich im Traum plötzlich die Tore des Heiligen Schreins und eine vornehme Frau trat in einer Aura von Heiligkeit hervor. Sie verkündigte: „Die Göttin dieses Großen Schreins ist in das Zentrum, ins ursprüngliche Erwachen (hongaku) zurückgekehrt. Ich bin Verwalterin in ihrer Abwesenheit. Folgende Anweisungen wurden hinterlassen: Falls empfindende Wesen des letzten Zeitalters den wesentlichen Weg zur Befreiung suchen, halte sie dazu an, den Namen von Amida Buddha auszusprechen. “
Tore öffnen sich – in der kurzen Erzählung selber, damit aber auch für die Textsammlung als Ganzes und für die Lesenden. Protagonisten, Autoritäten, Hauptakteure höchsten Grades treten auf:
• der Hauptpriester Eshin (= Genshin 942-1017), der erste Vertreter des Reinen-Land-Buddhismus in Japan, nach einer Tempel- und Lehrerkarriere ein Waldmönch mit großer Ausstrahlung,
• die Verwalterin der japanisch-shintoistisch höchsten Göttin, der Sonnengöttin Amaterasu, und mit ihr diese Göttin selbst,
• Amida Buddha.
Hier werden religionsgeschichtlich und religions-praktisch Weichen gestellt. Dabei ist nichts selbstverständlich, jedenfalls nicht für Lesende, die von außen kommen:
Ein renommierter Vertreter des Buddhismus, Eshin, pilgert zu einem Shintoschrein und betet dort sieben Tage. In der letzten Nacht hat er eine Erscheinung und erfährt, dass die Göttin, in deren Haupttempel er gebetet hat, gar nicht präsent, sondern in die letzte und tiefste Wirklichkeit aller Buddhas zurückgekehrt ist. Religionsgeschichtlich heißt das: Selbst die höchste shintoistische Göttin ist „nur“eine Manifestation der letzten Wirklichkeit, wie sie buddhistisch verstanden wird. Als solche muss sie nun aber gerade nicht diffamiert, entmachtet, abgeschafft werden. Ihre Tempel werden nicht zerstört, ihre Anhänger nicht verfolgt – auch nicht, nachdem Eshin die Nachricht vernommen hat. Trotzdem scheint die Zu- und Unterordnung keineswegs unwesentlich. Religions-praktisch aber lebten Shinto und Buddhismus die längste Zeit der japanischen Geschichte über nebeneinander, miteinander und sogar ineinander. Lokale kami (vergöttlichte Wesen) hatten ihre Schreinareale in buddhistischen Tempelbezirken – und auch anders herum.
Noch heute nennen fast alle Japaner, wenn sie nach ihrer Religionszugehörigkeit gefragt werden, beide Religionen. Ob das vorbildlich und ob das überhaupt auf westliche Verhältnisse übertragbar ist, bleibt fraglich. In den jahrzehntelangen Begegnungen von Zen und Katholizismus, von Jōdo-shin-shū und Protestantismus und auch in unbestimmteren interreligiösen Begegnungen taucht aber die dringende Frage nach multipler religiöser Identität auf und wird schüchtern und anfänglich beantwortet.
2 Hören als Passion
Der ehrwürdige Shunjō war in der abschließenden Nacht einer wochenlangen Klausur, die er zu vollziehen gelobt hatte, im inneren Heiligtum des Berges Kōya. Als die Tiefe der Nacht hereingebrochen und alles still geworden war, trat ein einziges klar intoniertes nembutsu hervor, das vom Inneren der Kapelle aus dem Samādhi des Stifters kam. Als er das hörte, war er übermannt sowohl von Trauer wie von Freude; und seine Ärmel waren nass vor Tränen.
Eine zweite Eingangsgeschichte, vergleichbar gewichtig wie die erste. Hier liegt ein weiteres Protokoll religiöser Meditationspraxis eines berühmten Mannes an einem bedeutenden Ort und zu einem markanten Zeitpunkt vor. Es ist die letzte Nacht der religiösen Übung, die große Stille und dann...
Der Berg Kōya ist Zentrum des Shingon-Buddhismus und neben dem Berg Hiean (östlich von Kyoto) ein wichtiges Zentrum der Wandermönche mit der spirituellen Praxis, ausschließlich das nembutsu zu beten, bisweilen auch zu singen und zu tanzen: „verehrende Zuwendung dem Buddha Amida“. Der Überlieferung nach ist Kūkai (744-835), der den Tempelkomplex auf diesem Berg gegründet hat, nicht wirklich gestorben, sondern existiert in einem Zustand tiefer meditativer Versenkung (Samādhi). Aus dieser Versenkung heraus hilft er empfindenden Wesen dabei, auf dem Erlösungsweg voranzukommen.
Die Geschichte erzählt, dass Shunjō, ein sozial und innerlich-religiös äußerst aktiver Wandermönch (1121-1206), aus dem Innersten des Tempels ein einziges nembutsu vernimmt. Damit ist die zentrale Praxis des Reinen-Land-Buddhismus thematisiert und zwar sofort mit der wesentlichen Pointe: Bevor Buddhisten das Namu Amida Butsu sprechen, hören sie es. Es ist in der Welt vor jeder Gebetsäußerung. Ein Ich stimmt ein. Es stimmt das nembutsu nicht an. Es wird erreicht von einem Ur- und Grundklang, der kosmisch / transkosmische Bedeutung hat, besser: der letzte Wirklichkeit ist.
In unserer Textsammlung ist das nembutsu ein durchgängiges spirituelles Stichwort. Es wird unter verschiedenen Aspekten öfter in den Blick kommen. Die elementarste Frage am Anfang könnte heißen: Was hören Menschen, wenn sie in die Stille hören? Angemessener wohl noch: Wer oder was bringt sich aus der Stille heraus zu Gehör? Mit dieser Formulierung ist sichergestellt, dass wirklich etwas von außen kommt und dass es beim Hören zunächst einmal nicht um eine Aktivität geht. Hören ist Passion. Eine Schwingung von außen bringt etwas in mir in Schwingungen, versetzt mich in Resonanz.
Diese Spur kann noch einmal in den Text zurückführen: Warum verspürt Shunjō so starke Emotionen, die körperlich ganzheitlich im Weinen zum Ausdruck kommen? Tränen der Trauer! Freudentränen! In unserem Textkörper sind das eher ungewöhnliche Mitteilungen. Er ist sehr karg in Bezug auf Aussagen zu Körperbefindlichkeiten und Emotionen. Tiefere buddhistische Versenkungsstufen sind „leidenschaftslos“, führen in einen „leid- und freudefreien Zustand“(Schumacher 104). Hier aber hat die religiöse Wirklichkeitserfahrung noch Anschluss an das alltägliche Gefühls- und Körper(er)leben. In der Trauer wie im Glück gilt: Tränen fließen, wenn alles im Fluss ist, wenn nichts aktiv zu tun übrig bleibt oder getan werden kann. Das geschieht bei einer glücklichen Ent-spannung genauso wie angesichts der Macht des Todes. Tränen fließen oft im Unwetter widerstreitender Gefühle wie Ohnmacht und Freiheit, Trauer und Glück. Nach Helmuth Plessner treten sowohl Weinen wie auch Lachen „als unbeherrschte und ungeformte Eruptionen des gleichsam verselbständigten Körpers in Erscheinung. Der Mensch verfällt ihnen, er fällt – ins Lachen, er lässt sich fallen – im Weinen.... Er antwortet – mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können“(Plessner 234 f.).
Findet Shunjō kurz vor dem Weg zurück in die Alltagswelt in Trauer, Freude und Weinen zurück in seinen Körper und dessen Sprache?
3 Herr Fischer, Herr Fischer …
Ren-amidabutsu hatte einen Traum, in dem die Gottheit des Hachiman-Schreins verkündigte: „Das Hineingeborenwerden in das Reine Land hängt nicht davon ab, dass das nembutsu wenigstens einmal ausgesprochen wird; es hängt auch nicht davon ab, dass es mehrfach gesagt wird. Es hängt vom Herzen ab.“