Dirk Bernemann
Trisomie so ich Dir

Trisomie so ich Dir

Roman
von
Dirk Bernemann

überwiegend geschrieben
in Wien, Coesfeld und Berlin

Vorfilm

Was bisher geschah: nichts. Gar nichts. Und es gibt Leute, die finden es nicht mal bedrohlich, wenn nichts passiert, die machen einfach weiter mit den Verrichtungen des Alltags, ignorieren ihren Herzschlag, halten das Leben für einen Prozess der Selbstverständlichkeit und lassen alles laufen. Wir sind eine Gesellschaft der Laufenlasser geworden, inkonsequent, inkontinent und vielseitig desinteressiert. Manche glauben an höhere Mächte, überantworten ihre Leben einer spirituellen oder politischen Richtung. Manche hängen ihren unausgeprägten freien Willen an fremde Garderoben und vergessen das dann da. Da hängen dann die freien Willen und niemand holt sie ab und sie fühlen sich verlorener als alle verloren gegangenen Gegenstände in allen Fundbüros dieser Welt. Manche hoffen einfach, dass irgendwas passiert, und in dieser Hoffnung, die mit Milliarden Möglichkeiten angefüllt ist, geraten viele in einen stupiden Stillstand und immer noch passiert: nichts.

Also nur irgendwie nichts, denn irgendwie passiert ja immer und jedem was, aber irgendwo muss man ja mal anfangen, eine Geschichte zu erzählen, also geschah zunächst einmal nichts und dann ganz viel. Die Bedeutung des ganzen Geschehnishaufens für den Einzelnen, ist immer individuell zu betrachten. Vieles geht an Vielen vorbei, weil es nur in der Splittersekunde Wahrnehmung eines Einzelnen stattfindet. Dadurch geht Vielen verloren, was für Wenige wichtig zu sein scheint.

Werfen wir einen Blick in diese Stadt. Die liegt da rum, diese Stadt, hat die Natur platt gemacht, um sich als Stadt zu behaupten, was aber Jahre her ist, und jetzt kennen die Leute nur noch: die Stadt. Da liegt sie also und sieht aus wie alle anderen Städte, fühlt sich auch genauso an. Copy and paste waste. Kopiere Scheißstile und dupliziere sie. Diese Stadt beinhaltet viele leere Körper mit ansonsten schweren Herzen, die alle Geschichten mit sich rumschleppen, die zu schleppen sie ermüden. Und sie taumeln durch unsere Städte und Leben und sitzen in den Cafés und tanzen in den Clubs und denken sich, dass es zu spät ist, jetzt noch eine Richtungsänderung vorzunehmen, denn die leeren Körper mit den schweren Herzen sind so schwer manövrierbar. Wie lächerliche Untote aus drittklassigen Zombiefilmen, so sieht man sie ihr Leben gestalten, immer wieder mit dem festen Willen, dass man den Tod in den Visagen nicht erkennen soll. Und so wird überkosmetikt, was die Realität schreien will, da werden Schreiende einfach erstickt oder als Kunst oder Irrsinn hingestellt, obwohl sie, die Schreienden, es so ernst meinen, dass es weh tut. Ihnen und anderen. Und es tut nur weh, weil es wirklich wahr ist …

Und es gibt immer noch die, die sich an irgendeinen Gott wenden, weil der ja eventuell die Lösung hat, oder aber nach dem biologischen Ableben irgendeine Art Paradies kredenzen könnte. Gottes Krieger und seine sonstigen Angestellten haben ihre eigene Art von Wahrheit. Da ist nicht das, was sichtbar ist, relevant, nicht der spürbare Schmerz, nicht die offene, blutsickernde Wunde, sondern da hat es Hoffnung, Hoffnung, dass der abgehackte Arm schon irgendwie Sinn macht im weiteren Verlauf der Lebendigkeit. Gottes Leute kalkulieren. Sie haben Gut-und-Böse-Listen, die ihnen helfen, das Gesehene und Geschehene einzuordnen.

Gott indes langweilt sich darüber, dass seine Gefolgschaft auf Erden die uncoolste überhaupt ist. Er kommt sich vor wie ein Independent-Musiker, der nur ein gewisses Maß an Ruhm ertragen kann, das überschüssige Gebete ignoriert er ohnehin. Er ist ein missverstandener Künstler, der missverstandenste überhaupt. Sein Ideenreichtum wurde leider durch seine Popularität arg beschränkt, so dass er seine geilsten Ideen gar nicht zur Anwendung bringen kann. Gott wartet und langweilt sich. Irgendwas muss passieren …

Mein Herz ist Pudding

Beim zufälligen Entlanggehen auf einem Supermarktparkplatz können einem schon mal Mysterien begegnen. Mysterien, die einem das eigene Herz zu einer puddingartigen, unkontrollierbaren Masse werden lassen, die in einem Dinge anstellt, deren Auswirkungen man nicht einschätzen kann. So ergeht es Roy, und sein Puddingherz zuckt und die Kulisse Supermarktparkplatz wird egal und nur noch wenig wird wirklich wichtig.

Rote Turnschuhe, rote Haare, unglaublich, ein unglaubliches Mädchen bohrt sich aus der Ferne wie Sonnenstrahlen durch geschlossene Augen in Roys Herz, das kurz aufhört, zu schlagen, um dann umso schneller seine Schlagfrequenz fortzusetzen. Kleines, grünes Auto und dann Schritte, Schritte, Schritte, die auf den Pflastersteinen wie lässig pumpende Housebeats hallen, obwohl Roy nicht weiß, was Housebeats sind, und Herzbeschleunigung machen. Der Atem geht bewusst rein und raus, irgendwie ist überall zu viel Luft zugegen, und Roy hat ein Sommersprossengesicht gesehen, das er unbedingt berühren mag. Die Hand auf die Wange legen, die Hand dann da lassen und Ewigkeit Ewigkeit sein lassen. Roys Herz will seinen Körper verlassen, schlägt wild und wirr um sich, wie ein durchgeknallter, aggressionstherapieresistenter Boxer, der durch gezielte Schläge in einem Ameisenhaufen Einzelwesen mit Fausthieben töten will, und eine leichte Atemnot blockiert entspanntes Weiterdenken. Da dreht sich was im Kopf, ein buntes Karussell wird angeschoben und eine leicht angeranzte Kirmesmelodie deckt all das zu. Roys Gedanken sind plötzlich Pferde, Feuerwehrautos und Raumschiffe, die hintereinander im Kreis fahren und einen Augenblick lang kann Roy das genießen und im nächsten Augenblick wird ihm schwindelig davon und im übernächsten Augenblick will er das alles anhalten, aus Angst vor Kontrollverlust, und im Augenblick danach ist alles zu spät, und er wirft das eigene Herz wie einen Stein in den See der Sehnsucht. Mit dem Bewusstsein, dass es ohnehin untergeht.

Sie stieg aus ihrem Fiat aus, die Beine geschwungen wie elegante Satzzeichen, und schwebte gen Supermarkt, verfolgt von Roys verzehrenden Blicken. Die Blicke haben Hunger, Roy hat Hunger, Hunger nach winziger Zärtlichkeit. Die ist ihm abhanden gekommen. Irgendwo im dichten Wald des unentspannten Älterwerdens hat sie eine andere Abbiegung als er genommen, und jetzt steht er da und will das rothaarige Mädchen berühren und ihre Wange anfassen, die Grenzen des schönsten Gesichts der Welt mit den Händen erfahrbar machen. Aber das Gesicht ist erst mal weg, und Roy braucht jetzt, was Roy nie hatte, nämlich: Mut.

Kurz nach dem Mutanfall liegt er also da, der Roy. Liegt auf dem Rücken, und über ihm scheint die Sonne ihr krassestes Gelb herab, und er muss blinzeln. Die Sonne kitzelt seine Nase und legt sich wie mütterliche Handflächen auf sein Gesicht. In seiner Jackettasche hat er eine Sonnenbrille, die er sich dann aufsetzt und sich wie jemand Erhabenes und gleichsam Distanziertes fühlt. Roy ist einen Augenblick lang glücklich, bevor wieder eine Stimme in ihn fährt, die sich aus der Angst, vor dem Untier Leben zu versagen und seiner Chancenlosigkeit im Allgemeinen, zusammenstellt. Manchmal, so wie jetzt, in diesem virtuosen Augenblick, ist die Welt ein Stummfilm und Roy auf der Suche nach dem passendsten aller Untertitel. Da muss doch irgendwas sein. Worte unter Bildern. Beschreibungen dessen, was die Welt beschleunigt.

Es liegt auch eine leichte Frivolität neben Roy, er ist sich dieser auch bewusst, schämt sich ihrer aber nicht, sondern denkt einfach an den Skandalen, die er selbst darstellt, vorbei in eine Richtung, wo eine sehr persönliche Sonne scheint. Roy ist gut ausgerüstet. Roy hat eine Sonnenbrille. Und sein Ausdruck grenzt an Fröhlichkeit. Subtil lächelt er an dem Ausdruck, der tatsächlich als Fröhlichkeit identifiziert werden kann, vorbei. Er fühlt sich ein wenig schlüpfrig, wie ein pubertierender Junge, obwohl er schon 28 Jahre alt ist, aber Alter ist für Roy nicht von Bedeutung, da gibt es nur Fühlen und Nichtfühlen, und jetzt ist Fühlen und Roy guckt und wartet auf sein Glück.

Roy weiß, dass das Glück sehr oft mit anderen Dingen beschäftigt zu sein scheint, als mit ihm und anstatt sich um ihn zu kümmern, bringt es manchmal lieber ukrainischen Bärenfamilien in Zoos unerwarteten Nachwuchs oder einem blöden Ruhrgebiet-Fußballverein gute Stürmer. Das Glück ist nicht Roys bester Freund, was auch daran liegen mag, das Roy es stets provozieren möchte. Das ist auch ein Grund, warum er jetzt mit einer Sonnenbrille im Gesicht auf einem Supermarktparkplatz liegt. Das Glück hingegen weiß nie so recht, wie es dem Roy begegnen soll, meistens versteckt es sich hinter grauen Wänden oder unter Gullideckeln, um dann lieber den Ratten in der Kanalisation der Stadt Genüge zu tun. Scheiß Glück, denkt Roy manchmal, und das Glück schert sich nicht drum und spart sich die Präsenz in seinem Leben. Aneinandervorbeileben.

Heute provoziert er es wieder, das blöde Glück, und liegt auf dem Supermarktparkplatz vor einem kleinen, grünen Fiat Punto. Er liegt vor dem Auto des Mädchens, der wundervollen Rothaarigen, dort, wo sie es geparkt hat, dort, wo er sie zum ersten Mal flüchtig flüchtend sah, wie sie gazellenartig gen Supermarkteingang hüpfte, und er liegt da, wie ein angefahrenes Tier und bewegt sich nicht. Er wartet auf ihre Rückkehr. In seiner Vorstellung ist es so, dass sie nun ihre Mädcheneinkäufe erledigt, wie Haargummis, Schokoladentäfelchen mit Orangengeschmack, zuckerfreie Kaugummis und Handcreme, dann von einem roten Turnschuh auf den anderen tretend und sich mit einem Zeigefinger ihrer Wahl kleine Locken in ihre roten Haare drehend an der Registrierkasse wartet, und wenn sie an der Reihe ist, wird sie lächeln, passend bezahlen, weil sie, genau wie Roy, das Geräusch, das Kleingeld zwischen ihren dünnen Fingern macht, so sehr mag und deswegen immer viele Münzen in ihrer Geldbörse hat. Und dann geht sie auf dünnen Beinen zaghaft federnd wieder hinaus auf den Parkplatz, und ihr rotes Haar duftet nach Sommer und dem Gefühl, das Kinder haben, die zum allerersten Mal den Ozean riechen.

Sein einziges Ziel ist es, dass das Mädchen mit den roten Schuhen und ebensolchen Haaren nicht einfach so verschwindet, sie soll ihn bemerken, spüren, dass er da ist. Roy will sich fühlbar, erfahrbar machen, einfach nur durch sein bloßes Dasein, er will mittels seines simplen Erscheinungsbildes den Eindruck von Standfestigkeit und von festem Willen vermitteln. Dass das Liegen vor einem fremden Fahrzeug aber eine Handlung ist, die kaum etwas ausstrahlt als naive Lächerlichkeit, entgeht Roy aber in seiner Schockverliebtheit. Da sind kaum klare Bilder in seinem Kopf, kaum Reflexion bezüglich seiner Handlung, und so liegt er vor diesem grünen Fiat Punto und erwartet irgendeine Veränderung.

Guckt Roy nach links, so sieht er den Supermarkteingang und harrt der roten Turnschuhe, von denen er sich wünscht, dass sie erneut in sein Blickfeld treten, und rollt Roy seinen Kopf nach rechts, sieht er die Straße, auf der einige Autos im Schritttempo entlangfahren. Auf dem Parkplatz herrscht ein reges Treiben, aber niemand scheint Roy Beachtung zu schenken, wie er da liegt mit seiner Sonnenbrille und seine Herz schlagen hört, dass sich anfühlt wie ein durchgeknallter Flummi.

Schließt Roy die Augen, so sieht er das rothaarige Mädchen. Erst aus der Ferne, und dann kommt es auf ihn zu, zuerst langsam, und dann rennt es, rennt so schnell, dass ihr rotes langes Haar wie ein Schleier wirkt, der hinter ihr herfliegt, und sie wirft sich in Roys Arme, einfach nur so, weil da Platz ist in seinen Armen, und dann gehen die beiden Hand in Hand zum Haus von Roys Eltern und setzen sich auf die kleine Holzbank, die Roys Vater selbst gebaut hat und auf die er so stolz ist, und Roys Mutter kommt mit einem Tablett aus der Haustür und bietet dem Mädchen und Roy Apfelschorle und gute Schokokekse an, und die beiden nehmen, und die Mutter verschwindet wieder im Haus, und es ist still, und Vöglein singen, und Roy ist glücklich und das Mädchen auch. Eine heimatfilmartige Idylle schwebt über dem Haus und irgendwas aus Harmonie und der Gewissheit, dass die Möglichkeit besteht, Träume in Wahrheit umzuwandeln, tanzt in Roys Kopf.

Der Moment der geschlossenen Augen gehört ganz ihm, und er merkt erst, dass er ein Opfer seiner Phantasie geworden ist, als er die Augen öffnet und eine alte Frau ihn anstarrt. »Hallo?« Ihre Stimme klingt nach gutmütiger Altersmilde, und Roy, der sich vorgenommen hat, nie zu sprechen, weil er doch weiß, dass Worte nur die Taten umschließen und die Gefühle beschreiben, die aber niemals gelebt werden, Roy also starrt in ihr Gesicht und die alte Frau dreht sich um und ruft über den Parkplatz: »Hier liegt ein behinderter Junge, kann mal jemand helfen?« Dann sieht Roy eine Menge verschiedenbeschuhter Füße, die sich nähern und sich um seinen Kopf positionieren. »Was ist denn mit ihm?«, fragt eine Frau mittleren Alters, die ein kleines Mädchen an der Hand hat. »Ich weiß es nicht, der lag hier, der Junge, vielleicht ist der irgendwo abgehauen, aus einem Wohnheim oder so?« Die alte Frau, die Roy zuerst gefunden hat, blickt besorgt auf ihn herunter. »Vielleicht hat er sich auch einfach nur verlaufen?« Roy starrt in nunmehr fünf Augenpaare, die ihn fixieren, und Münder öffnen sich und geben Mutmaßungen preis, und eigentlich will er, dass endlich die roten Schuhe wiederkommen und dann alles in einer Harmonie aufgeht, die er sich zurecht phantasiert hat. Er hat immer noch seine Sonnenbrille auf und findet das gut, weil die macht ein wenig Distanz zur Welt um ihn, diese Welt, die aus den Leuten besteht, die sich komische Gedanken machen und sich Sachen vorstellen, die ihr eigenes Leben gegenüber anderen Leben aufwerten. Langsam nimmt Roy seine Brille ab. Die Leute gucken auf ihn runter mit einer ekelhaften Mischung aus Mitleid, Empathie und Zuvielcourage.

»Bist du hingefallen, Junge?« Die Frau mittleren Alters mit dem Kind an der Hand beugt sich ein stückweit zu Roy herunter. Das Kind an ihrer Hand guckt ihm verstört ins Gesicht und verschwindet zur Hälfte hinter den Beinen der Frau. »Was ist mit seinem Gesicht?«, fragt das kleine Mädchenkind, und die Frau versucht eine diplomatische Erklärung aus den Zutaten Direktheit und Sendung-mitder-Maus-Einfühlungsvermögen. »Der junge Mann ist behindert, verstehst du, Pauline? Er sieht im Gesicht ein bisschen anders aus, weil er einfach so geboren ist. Aber eigentlich ist er ganz normal, sieht nur etwas anders aus.« Roy bemerkt das Unwohlsein der Frau, sich mit Behinderungen auseinandersetzen zu müssen und diese sogar noch zu erklären. Das Mädchen guckt hinter den Beinen der Frau, die etwas zu alt wirkt, um die Mutter zu sein, und etwas zu jung wirkt, um die Oma zu sein, hervor und fixiert Roys Gesicht, der einfach da liegt und zurück guckt. Die kleine Pauline versucht das, was in Roys Gesicht stattfindet, zu begreifen, versucht die dicke, leicht heraushängende Zunge, die sie an einen durstigen Hund erinnert, die schmalen Augen, die kleine Stirn und die kleinen Hände irgendwie einzuordnen und kommt zu dem Entschluss, dass es sich um ein großes Baby handelt, dass von seiner Mutter nicht gewollt wird, weil es so hässlich ist. Deswegen hat die Mutter es aus dem fahrenden Auto geworfen, nach dem Einkaufen. Pauline empfindet so was wie Mitleid und lächelt Roy an, der verstört zurück blinzelt.

»Kannst du laufen?«, fragt jetzt ein Typ, der neben der Frau mit dem Kind steht, und er reicht Roy die Hand, und Roy findet es schön, wenn ihm eine Hand gereicht wird, aber eigentlich ist er doch hier, um ein Herz zu erobern. Trotzdem ergreift er die Hand des Mannes, und eine herbe Kraft zieht ihn nach oben, und dann steht Roy in der Mitte der Gaffer und findet das maximal peinlich, dass sich diese sorgenreiche Gruppe um ihn postiert hat, um ihn, der doch nur seine Romantik ausschütten wollte. Das war ja auch der Grund, warum er sich hingelegt hatte. Die Gruppe drängt Roy ein wenig weg. Weg vom grünen Fiat. Seine Sonnenbrille fällt auf den Boden, nimmt aber keinen Schaden.

»Vorsicht, da fährt jemand weg«, sagt die Alte und stößt Roy etwas unsanft in die Seite, sodass er drei Ausfallschritte machen muss, um sein Gleichgewicht zu halten. Er sieht aus dem Augenwinkel, wie ein kleiner Kopf mit roten Haaren in einem grünen Kleinwagen verschwindet, und in ihm schreit alles, was imstande ist, lautlos zu schreien. Dann wird er weiter abgedrängt von den Zufallsleuten, die ihn umgeben, und das Geräusch, das die Autotür des rothaarigen Mädchens beim Schließen macht, kommt Roy vor wie das Geräusch bei einer Enthauptung mit einer stumpfen Axt. Irgendein Knochen knackt, die Stabilität eines Lebens wackelt und Roy bemerkt, dass er wackelt, haltlos wackelt, und er fühlt sich wie ein Ertrinkender auf irgendeinem Ozean, weit weg von irgendeinem Festland und um ihn herum toben sich meterhohe Wellen aus, die ihn umschließen und anschließend begraben. Mit letztmöglicher Gelassenheit hebt Roy seine Sonnenbrille auf, und die kleine Pauline zupft an seinem Jacketärmel. »Kannst du nicht sprechen? Hat deine Mama dir nicht gezeigt, wie man spricht?« Roy denkt kurz daran, dem Mädchen seine Faust auf den Kinderkopf zu schlagen, so mit der ganzen Wut, die da in ihm stattfindet, ein Schlag wäre das, der die ganze Ablehnung, die ganze Problematik seiner Behinderung und die wildeste aller wilden Entschlossenheiten beinhalten würde, und er würde das Gehirn des Mädchens auf ewig schädigen mit diesem einen Schlag.

Aber Roy schlägt nicht zu, sondern guckt die Leute an, die ihn angucken, und dann will er nur noch rennen und er weiß, wie scheiße es aussieht, wenn er rennt, aber scheiße aussehen ist jetzt mal egal, und er löst sich aus der Mitte der Leute und sein behäbiger Körper beginnt, Distanz zu schaffen. Roy weiß, wie scheiße es aussieht, wie er auszusehen und dabei zu rennen und so unglaublich traurig zu sein, dass die ungeweinten Tränen zusätzlichen Ballast ausmachen, aber Roy rennt. Er fühlt sich wie eine Ganzkörperblamage. Die Leute rufen noch was, manches hört sich an wie schallendes Lachen, und das Schlimme daran ist, dass sich Roy seiner Lächerlichkeit bewusst ist. Roy fühlt sich wie ein Einrichtungsgegenstand in einer fremden Wohnung, zufällig von geschmacklosen Menschen an einen Ort gestellt und dort belassen und gleichzeitig vergessen.

Und Roy rennt, rennt die Straße hinunter, ziellos, in seinen Augen sammeln sich sehnsuchtsvolle Tränen, rollen sein dickliches Gesicht herunter. Tränen, die ihm ein wenig die Sicht nehmen, und er sieht verschwommene Leute gucken, sieht andere, unklare Menschen lachen, sieht sich selbst beim Passieren zu und empfindet etwas zu viel Grausamkeit in diesem Ding, das sich sein Leben schimpft.

Das ist irgendwie symbolisch für Roys Leben. Dieses zufällig irgendwo sein und vor allem, dieses zufällig irgendwie sein und sein zu müssen. Er ist sich seiner Trisomie 21-Ausstrahlung durchaus bewusst, aber dieses Wissen ist ein Ballast, fühlt sich an wie ein angewachsener Rucksack, der mit Steinen gefüllt ist und zieht an seinem Körper, wie auch an seinem Bewusstsein. Und er fühlt sich, als fiele er ständig, vom Punkt seiner Geburt in die Zielsicherheit eines Todes. Den ganzen Weg nur gefallen. Gefallen am Fallen wird Roy nie finden. Was er sucht, ist aufrichtige Liebe, konkrete Herzensangelegenheiten, die die Leute treffen, die sie etwas angehen. Und die kommen dann an und antworten mit Stigmatisierung.

Als Inhaber von 47 Chromosomen wird einem der Weg in die Verständniswelt von Inhabern mit lediglich 46 Chromosomen stark verbaut. Helfersyndromsgeschädigte Mitmenschen kommen nur allzu oft daher und schätzen die behinderte Gefühlswelt ein, um ihre eigene Gefühlswelt vor seltsamen Schamgefühlen zu beschützen. Und dann steht man da, denkt Roy, steht da rum mit seinen 47 Chromosomen und der entsprechenden Optik und kann seiner Rolle nicht entkommen. Als die Rollen für dieses Stück besetzt wurden und Gott sich fragte, wer denn nun den Behinderten spielen soll, kam ihm Roy ins Blickfeld. Gleichzeitig mit dem Zuvielchromosom steckte er ihn randvoll mit Leidenschaft und machte ihn so zur melancholischen Elite. Dieser Gotttyp hat wirklich einen seltsamen Humor.

Roy lebt irgendwo zwischen dem ekelhaften Süßgefundenwerden unbekannter Menschen, von denen er eigentlich ernst genommen werden mag, und dem Nichtzutrauen anderer Leute, die ihm ewig Sachen erklären, die Roy weiß. Ein Blick in sein Gesicht ist für viele ein Blick auf die Fassade der Dummheit, die eigentlich in ihnen selbst drin ist, und dann steigt Mitleid auf wie der Geruch vergifteter Kotze, und Roy will das nicht kommentieren, nein, er weiß, dass Worte die Zustände nicht verbessern, weil sie nur umschließen können, was da ist, Worte, so weiß Roy, können niemals den Kern der Menschlichkeit anrühren. Deswegen hat er sich vorgenommen, nie zu sprechen. Niemals.

Bis hierher ist Roy gerannt und sein kleines, fettes Herz scheint mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt seinen ganzen Körper ausfüllen zu wollen. Irgendwann geht Roy wieder langsamer und er erkennt, dass die Stadt grauer als grau ist, und genauer als genau erkennt er, dass das Schicksal ihn mit einem viel zu dicken Pimmel in eine dafür nicht vorgesehene Körperöffnung fickt. Und er sucht in sich, was ihn antreibt, und er findet diese kleine Verzweiflung, die ihm wie Mahlzeiten verabreicht wird.

Was ihn treibt, ist die Schönheit der Augenblicke, ist die Sehnsucht nach irgendeiner ehrlich gemeinten Nähe, nach der Nähe eines anderen Menschen, der sich in seine greifbare Nähe begeben mag. Ohne Vorurteil, ohne Scham, ohne Schande und Mitleid. Das rothaarige Mädchen hat etwas in ihm aufgewühlt, so als sei sie eine Bäuerin und Roy selbst ein unbestellter Acker, und das Mädchen schaufelt ihm die Oberfläche vom Leib und unter der dicken, weißen Mongohaut tauchen dann allerlei Gefühle auf, die einfach da sind und Funken sprühend ihre Existenz beweisen.

Die Sonne ist immer noch gelb brüllend und gibt dem Tag eine Farbe, die sich van Gogh ausgesucht haben muss. Roy trottet vertrottelt umher, die Stadt mit diesen Autos, Häusern und Menschen umgibt ihn wie ein Hochsicherheitstrakt. Genauso ist es mit seinem Körper, der wirkt für Roy ebenfalls wie ein Knast. Er fühlt sich in seiner körperlichen Behäbigkeit wie ein Kind, das auf ewig in einer geschlossenen Hüpfburg eingeschlossen ist. Das ist ja für Momente manchmal ganz schön, aber wenn einem dann das Spiegelbild die Endgültigkeit von allem täglich in die Fresse schleudert, das ist ein Grund für tiefe Traurigkeit, findet Roy. Aber er gibt nicht auf, Sehnsucht und Romantik sind für ihn nicht nur Wörter, die in Schlagertexten eine imaginäre Größe vorgaukeln, sondern Roy kann diese Wörter füllen. Mit Leben. Und er wird ruhiger, und da vorn ist ja der Park und Roy entscheidet sich, den kleinen See zu umrunden, der sich ungefähr in der Mitte des Naherholungsgebietes aufhält. Wogende, fast tänzelnde Bäume machen den Park zu einer idyllischen Filmkulisse, in die Roy jetzt eintaucht.

Roy schließt kurz die Augen und da ist sie dann wieder da, die Rothaarige, und läuft neben ihm und duftet wie sonnengeduschte Erdbeeren duften, und Roy steckt ihr Erdbeeren ins Gesicht und die Rothaarige lächelt und öffnet ihren schönen, vollen, ganz glanzlippigen Mund und Roy schiebt Frucht um Frucht in sie hinein, und sie kaut und lacht und Erdbeersaft fließt aus ihr raus. Roys Gedanken machen einen Sprung und das Mädchen und er liegen nackt auf einer Wiese und füttern einander mit Würstchenketten und Cola. Drumherum surren Insekten. Vöglein singen, Blumen blühen. Die Wiese ist so weich und Roy sieht die Brüste des Mädchens, die ihn anlachen und ihn bitten, sie anzurühren, und Roy tut, wie ihm von den Brüsten aufgetragen, und das Mädchen jubiliert und isst meterweise Wurst von der Kette und schüttet Cola nach. Roy legt schließlich seinen Kopf auf den Bauch des Mädchens und das Mädchen schläft bereits und dann macht Roy die Augen wieder auf, sitzt mit heruntergelassener Hose unentspannt auf dem öffentlichen Klo und fühlt, wie sein Sperma ins Freie tritt. Dann weint Roy, die Tränen laufen ihm das Gesicht herunter, ein Tränencocktail aus Wut- und Trauersaft, und er verlässt die Toilettenzelle erst, als Sperma und Tränen getrocknet sind.

Gott guckt auf Roy und er freut sich an ihm. Das, was der Roy nämlich an Liebe ausstrahlt, das ist genau das, was sein Glaube, seine Kunst eigentlich vermitteln mag. Die Unmittelbarkeit der Liebe, mit einer gewissen Wahllosigkeit geschmückt, das sollen die Leute verteilen, dann wird der scheiß Planet endlich ein Planet Gottes. Leider machen da die wenigsten mit.

Früher hat Gott das irdische Leben noch beeinflusst. Wenn er beispielsweise zornig war, hat er gezielt Naturkatastrophen ausgesendet oder Kriege angezettelt. Irgendwann wurde das langweilig, denn irgendwann erkannte er, dass er die Leute dadurch keine Spur veränderte. Die, die überlebten, machten einfach weiter mit dem ganzen Mist, häuften weiterhin Scheiße auf Scheiße und weigerten sich, das Leben als beständige Folge von lieblichen Ereignissen zu gestalten. Vielleicht ist seine Idee zu hippielastig, aber wenn Gott Roy so sieht, hat er eine Resthoffnung.

Nach Leben graben

Illusionen, so denkt Solveig, sind ja kleine süße Tiere, die auf dem Fußboden leben. Oder im Handschuhfach eines Kleinwagens. Als Solveig rauchen mag und ein Feuerzeug sucht und eins im Handschuhfach ihres kleinen grünen Fiat Punto wähnt, guckt sie dabei auch nach, ob da irgendwelche Illusionen versteckt sind. Sind aber keine da, nicht mal ein Feuerzeug, und sie fährt weiter. Scheiße. Illusionslose Leben riechen nach Sterben, denkt Solveig.

Verdammte Illusionen, denkt Solveig noch. Illusionen haben ja im Allgemeinen die Eigenschaft, etwas Vorhandenes als etwas komplett anderes zu vermitteln. Es geht dabei um wirkliche Wahrnehmung, die verfälscht dargestellt wird. Solveig illusioniert ihr Leben in ihrer leichten und fettarmen Mädchennaivität als einen Haufen gut gemeinter, aufeinander folgender Ereignisse, die ihr die Zeit des Existierens irgendwie interessant erscheinen lassen sollen, doch wenn man dann die Augen auch nur ein wenig für den Realismus öffnet, dann ist dieses Leben irgendetwas zwischen Geburt und Tod, was dazu da ist, es voller Ereignisse zu stellen und vollzubauen mit Werten und Erwartungen, an denen man sich orientieren mag, um dann am Ende zu erkennen, dass das Leben eine Baustelle ist, die niemals fertig gestellt werden wird. Immer fehlt irgendwas, manchmal ist irgendwas zuviel, aber auf jeden Fall besteht nie die Möglichkeit, die ganze Kiste als fertig oder beendet zu betrachten. Nie, nicht, zu keinem verfickten Zeitpunkt.

Solveig erinnert sich an eine Zeit, als alles noch in einer gewissen Ordnung um sie herum aufgestellt war. Da war eine schöne Kindheit, gefolgt von einer typischen Jugend, in der sie sich immer noch wähnt. Da wurden aus Bonbons Zigaretten und aus Orangenlimonade Wodka, und der Tausch dieser Güter wurde ohne jedes aktive Zutun ihrerseits einfach so vollzogen. Es passierte einfach so. Plötzlich war alles da, und es gab neue Regeln, neue Unzufriedenheiten und kleine Ziele, nach denen zu streben sich wie das Buddeln nach Nahrung in der Weite irgendeiner Endloswüste anfühlte. Alles zu weit weg.

Sie erinnert sich an ihre Mutter, die ihr immer diesen beschissenen Helm beim Fahrradfahren auf den Kopf gezwungen hat, der sie vor hirnschädigendem Unheil bewahren sollte. Das war auch die Zeit, als das schlimmste, was ein Mädchen von einem Jungen bekommen konnte, Schläge waren. Als Papas Schultern der höchste Aussichtspunkt und Mama die größte Heldin und Bekämpferin allen Unrechts war. Die einzigen Feinde waren damals nur Mitschüler und Geschwister, ein begrenzter und einschätzbarer Haufen übler Menschen. Die einzig bekannte Droge war damals Hustensaft, und der schlimmste Schmerz, den man fühlen konnte, war der, wenn man mit dem Fahrrad auf dem Schotterweg auf die Fresse fiel und sich die Knie