Katie Kacvinsky arbeitete als Model und Lehrerin, bevor sie sich entschied, ihre Zeit ganz dem Schreiben zu widmen. Sie lebt in Oregon, USA. Die Rebellion der Maddie Freeman, ihr Debüt, erschien erfolgreich bei Boje im Herbst 2011. Auch der zweite Band, Maddie – Der Widerstand geht weiter (wieder Boje 2013), hat viele begeisterte Leserinnen gefunden. Nun liegt endlich der Abschluss der spannenden Trilogie vor.
Aus dem
amerikanischen Englisch
von Ulrike Nolte
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:
»Still Point«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Katie Kacvinsky
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Frauke Heithecker, München
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
Umschlagmotiv: © Marie Killen/Getty Images, © sironpe/iStockphoto
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-1351-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
20. Mai 2061
Als ich Eden verließ, hat Elaine mich gebeten, gut auf mich aufzupassen, da ich so viel von dem Element Wasser in mir trage. Sie hat mich gewarnt, dass diese besondere Gabe schwer zu kontrollieren sei. Wasser lässt sich nicht festhalten. Wasserpersönlichkeiten haben es schwer mit der Liebe, weil es zu ihrer Natur gehört, sich Wege aus allem zu suchen, was sie einengen will. Wasser kann seine Ufer überfluten, und es kann vergessen, wo es eigentlich hingehört. Elaine hat mir geraten, die Kraft des Wassers zu meinem Vorteil zu nutzen, aber gleichzeitig daran zu denken, wie zerstörerisch es werden kann. Ich solle nicht glauben, dass Hindernisse mich immer nur ausbremsten oder blockierten. Manchmal haben sie einfach den Sinn, mich auf einen anderen Weg umzulenken.
Das Element Wasser hat auch Vorteile. Es vergibt und vergisst, wandelt sich ständig, ist unberechenbar und besitzt enorme innere Kraft. Wasser ist stärker als Fels. Es kann den härtesten Stein aushöhlen, fortschwemmen, in Stücke brechen … oder auch allmählich durch die Oberfläche sickern. Wasser fließt um alles herum, was ihm im Weg ist, ob von oben, unten oder mitten hindurch. Es kann sich in endlose Formen verwandeln, einmal so still sein, dass man es kaum bemerkt, dann wieder mit unbezähmbarer Wildheit losschlagen. Wenn Wasser auf Feuer trifft, genügt ein einziger Schwall, um die Flammen zu löschen.
Leider sind die Nachteile ebenso groß. Wasserpersönlichkeiten ertragen keine Dürrezeiten. Sie können innerlich austrocknen. Dann schrumpfen sie so lange in sich zusammen, bis jemand kommt und sie wieder wässert. Deshalb brauchen sie andere Menschen. Sie sind abhängig von Liebe und Unterstützung. Ohne die nötige Pflege verkrusten sie und entwickeln eine harte Schale, die so rissig ist wie abblätternde Haut. Sie werden runzelig und welk, manchmal scheinen sie ganz zu verschwinden, doch warten sie nur in verborgenen Ritzen darauf, neu aufzuleben.
Menschen sind wie unabhängige Ökosysteme oder wie Zwergplaneten voller Inseln, Klimazonen und Wetterprognosen. Manche von uns tragen raue Gebirgszüge mit sich herum, andere Seenlandschaften. Ich muss an die anderen Elemente denken, die ebenfalls in uns versteckt sind. Justin besteht vor allem aus Feuer, so inspirierend, draufgängerisch, entflammbar und kreativ wie er ist. Mein Vater ist aus Erde gemacht – schwer zu durchdringen, hart, zäh und unveränderlich. Meine Mutter und Clare sind hell und leicht wie Luft, sie sehen immer nur das Gute und bringen frischen Wind in jeden Raum, den sie betreten. Sie sind das verbindende Element, das Menschen zusammenführt und alle möglichen Perspektiven und Denkweisen gestattet.
Wenn wir unsere Elemente kennen, dann kennen wir auch unsere Stärken. Aber noch wichtiger sind unsere Schwächen. In unserem Leben gibt es ein ständiges Tauziehen zwischen diesen beiden Seiten. Unsere Stärken prägen uns, doch unsere Schwächen setzen die Grenzen.
Natürlich braucht man im Leben alle Elemente. Man kann sich nicht von der Erde oder der Luft trennen, bloß weil ihre Eigenschaften den eigenen widersprechen. Damit lässt sich auf Dauer keine gesunde Balance schaffen. Alle vier haben ihren Zweck … nur muss ich erst noch herausfinden, wie sie sich kombinieren lassen. Um in meinem Leben glücklich zu sein, brauche ich jedenfalls auch Erde und Luft. Sonst wird mir immer etwas fehlen.
Deshalb habe ich meine Wahl getroffen.
Leider gibt es nur ein Problem. Ich hatte keine Chance, mit Justin zu reden und ihm alles zu erklären. Meine Entscheidung bedeutet nicht, dass ich meine Familie über ihn stelle.
Ich habe ein klares Ziel vor Augen, doch zur Abwechslung will ich selbst bestimmen, wie der Weg verläuft, statt mir die Route vorschreiben zu lassen. Ich hoffe, das kann er verstehen.
»Willkommen im trauten digitalen Heim«, murmelte ich, als Scotts Wagen die Ausfahrt nach Corvallis nahm. Dunkelgraue Wolken sammelten sich über uns und versuchten, die blauen Flecken zu verdrängen, wo die Sonne hindurchschien. Ich schaute in den Himmel und hatte das Gefühl, dass meine Zukunft so unvorhersehbar war wie die Wolken. Ständig änderten sie ihre Form und ließen sich einfach nicht festnageln. Wann immer ich in meinem Leben glaubte, ein Muster oder eine Richtung erkennen zu können, drehte sich der Wind und ich konnte nur nach oben starren und mich fragen, was das alles bedeuten sollte.
»Du wolltest ja unbedingt hierher zurück«, erwiderte Scott scharf. »Ehrlich, war ein halbes Jahr im Umerziehungscenter nicht Tortur genug?«
Ich schaute aus dem Fenster und konzentrierte mich auf das bisschen blauen Himmel, auch wenn bereits dicke Regentropfen gegen die Windschutzscheibe prasselten. Wir mussten kurz anhalten, um eine Stadtbahn vorbeizulassen. Sie war auf den menschenleeren Straßen weit und breit das Einzige, was sich bewegte. Scott und ich waren schon seit Stunden unterwegs, fast ohne ein Wort zu sagen, und ich hatte es satt, die wachsende Anspannung zwischen uns zu ignorieren.
»Okay«, sagte ich, »was hältst du von einem Spiel namens ›brutal ehrlicher Smalltalk‹? Das wäre mir lieber, als dass du mich weiter anschweigst.« Ich grinste in seine Richtung, doch er verzog keine Miene. »Du kannst anfangen«, gab ich ihm einen zusätzlichen Schubs.
Seine Hände umklammerten krampfhaft das Steuer, als er den Wagen um eine Ecke lenkte. Wir durchquerten eine Wohngegend, in der es so ruhig war, dass selbst die Bäume im Tiefschlaf zu sein schienen. Ihre grünen Blätter waren reglos wie auf einem Foto.
»Sorry, wenn ich ein bisschen irritiert darüber bin, dass dein Vater dir wichtiger ist als wir«, sagte er. »Immerhin waren wir die letzten sechs Monate für dich da und haben dir geholfen. Und jetzt lässt du uns im Stich. Ich meine, du hast in Eden keinem Menschen gesagt, was du vorhast. Für mich sieht das aus, als ob du einfach wegläufst.«
Ich knabberte an einem Fingernagel herum, dann atmete ich tief durch und versuchte, unberührt zu klingen. »Ich wollte nicht, dass jemand versucht, mich aufzuhalten«, sagte ich schlicht. Scott drückte aufs Gas, und ich genoss mit geschlossenen Augen das Gefühl, wie die Geschwindigkeit die Reifen gegen den Asphalt presste. Um vorwärtszukommen, brauchte man eine Reibungsfläche. Das galt auch für meine Familie. Ich kehrte nach Hause zurück, um für die nötige Reibung zu sorgen.
»Mir ist schon klar, was du dir dabei denkst. Du siehst dich als Geheimagentin in feindlichem Gebiet. Sehr lobenswert. Aber du musst niemandem mehr etwas beweisen.«
»Das ist nicht der Grund«, sagte ich.
»Was denn sonst?«, wollte er wissen, während er in die Straße einbog, wo unser Haus stand. Sofort fühlte ich den Druck auf meinen Schultern und meine Knie rückten instinktiv von der Tür ab, als sei der Wagen ein schützender Panzer, in den ich mich verkriechen konnte.
Ich musterte Scott von der Seite. Seine schwarze Brille war ein Stück die Nase heruntergerutscht und das dunkle, gegelte Haar zu einer Stachelfrisur betoniert. »Ich will meine Familie nicht als feindliches Gebiet betrachten. Dazu bin ich einfach nicht bereit. Also muss ich herausfinden, was mit meinem Vater los ist, und er wird mir die Wahrheit sicher nicht via Bildschirm sagen. Wenn er Spielchen spielen will, muss ich mich eben darauf einlassen.«
»Dein Vater ist erstklassig im Manipulieren von Leuten. Er könnte dich zwingen, für seine Seite zu kämpfen.«
Ich schaute auf den tätowierten Vogel, der die Innenseite meines Handgelenks schmückte. »Nachdem mich das DCLA nicht brechen konnte, glaube ich kaum, dass wir uns um meinen Vater sorgen müssen«, stellte ich fest. Darauf fiel Scott keine Antwort ein.
Stattdessen fragte er: »Wie willst du denn mit Justin in Kontakt bleiben?«
Gute Frage. Ich trommelte mit der Fußspitze auf den Boden. »Justin wird mich schon erreichen«, sagte ich. »Er findet immer eine Lösung.«
»Nicht, wenn es so aussieht, als wolltest du uns verraten. Hast du wenigstens mit ihm über deine Pläne gesprochen?«
»Ich brauche doch keine Erlaubnis von ihm! Außerdem würde er mich auf jeden Fall unterstützen. Das machen Freunde nämlich so«, deutete ich an.
»Außer sie halten deine Entscheidung für einen idiotischen Fehler.«
Ab und zu hatte ich einen kleinen Rückfall in meine techniksüchtigen Zeiten und wünschte mir Programmfunktionen aus meinem digitalen Leben zurück. Zum Beispiel, dass ich Leute auf stumm schalten, wegklicken oder gleich ganz löschen konnte. Ich musste mich damals eigentlich nie über etwas ärgern, besonders nicht über Menschen. Geduld war eine unnötige Tugend. Wann immer jemand eine Bemerkung machte, die mir nicht gefiel, konnte ich die Person einfach ausradieren. So unwichtig waren mir Menschen damals. Freunde waren nicht mehr als eine witzige App oder ein cooles Profilbild zum Austausch von Updates.
In der echten Welt funktioniert das nicht. Hier muss man geduldiger und nachsichtiger sein, um Menschen trotz ihrer Schwächen mögen zu können. Wenn man sich nur fehlerlose Freunde aussuchen will, kann man lange warten. Andererseits wird man dadurch verständnisvoller und weniger egoistisch. Schließlich ist es ziemlich langweilig, sich nur mit Leuten abzugeben, die genauso sind wie man selbst. Da fehlt einfach die Herausforderung. Meine Mutter hat früher immer gesagt, man solle gerade die Menschen lieben, die dafür am wenigsten geschaffen scheinen. Ich glaube, sie sprach über meinen Vater, aber trotzdem gilt es auch ganz allgemein.
Ich konnte Scotts Bemerkungen mit einem Achselzucken ignorieren, weil ich wusste, dass er das Leben immer nur schwarz-weiß sah. Entweder man war für ihn oder gegen ihn. Kompromisse verstand er nicht.
Er parkte und zeigte die Straße hinunter. »Meine Wohnung ist nur zwei Meilen von hier. Du kannst bei mir und Molly bleiben, wenn du willst. Dann kannst du dich mit deinem Vater treffen und hast trotzdem noch den nötigen Abstand.«
Ich dachte über sein Angebot nach. Jeder in meinem Leben schien das Bedürfnis zu haben, mich unter Aufsicht zu halten.
Mit einem Kopfschütteln tastete ich nach dem Türgriff. »Ich will keinen Abstand«, sagte ich. »Abstand ist genau das Problem.« Ich öffnete die Tür und nahm die Reisetasche vom Boden zwischen den Sitzen. »Bis demnächst.«
»Wohl kaum.«
Scott trat das Gaspedal durch, bevor ich die Tür ganz zugeworfen hatte. Stirnrunzelnd sah ich dem davonrasenden Auto hinterher. Wann immer ich mich entschied, einer Person zu helfen, enttäuschte ich damit automatisch eine andere. Das schien eine Art Karma zu sein. Mir blieb nichts weiter übrig, als mir selbst zu vertrauen, als ersten Schritt. Und zumindest damit würde Justin wohl kein Problem haben.
Ich betrachtete den Rasen neben dem Bürgersteig, der so perfekt aussah, dass bestimmt nie eine Fußsohle die grünen Halmspitzen gestreift hatte. Eine wogende Fläche aus Plastikgras glänzte in der Sonne, noch feucht von dem kurzen Regenschauer. Mein Blick richtete sich zögernd auf die vier Stufen, die zu der pechschwarzen Eingangstür meines Elternhauses führten. Türen sollten doch eigentlich etwas Einladendes haben. Die elegante silberne Klinke glänzte im Sonnenschein wie frisch poliert. Trotzdem stellte sich nicht das Gefühl ein, hier willkommen zu sein. Die Tür kam mir eher vor wie das schwarze Zentrum einer Zielscheibe, das ich immer wieder anvisierte, aber nie richtig traf.
Orte haben eine Energie, die man spüren kann. Sie fühlen sich leicht oder schwer an, bedrückend oder erhebend. Sie strahlen eine Stimmung aus, die einladend oder abweisend sein kann. Hier empfing mich Traurigkeit, ein Gefühl von Isolation und sogar ein Hauch von Bedauern. Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass ich nur lange genug stehen bleiben und lauschen müsste, um ein geisterhaftes Wimmern aus den Fenstern zu hören.
Ich ließ die Stille dieser Wohngegend auf mich wirken und versuchte, mich wieder in mein altes Leben einzufügen wie ein Stöpsel in einen Abfluss. Der Wind säuselte durch die Plastikblätter und ließ sie mit alt bekanntem Klappern gegeneinanderrascheln. Züge rauschten in der Ferne vorbei, so regelmäßig wie die Atemzüge einer eisernen Lunge. Irgendwo am Himmel dröhnte ein Flugzeug. Es gab kein einziges natürliches Geräusch, alles war künstlich. Ich wartete auf einen dramatischen Paukenschlag – ein plötzliches Sirenengeheul, ein Unfallkrachen oder einen Schrei. Vielleicht wartete ich darauf, dass jemand mich aufhielt. Ich hätte gerne einen Grund gehabt, umzudrehen und wieder zu gehen. Aber ich entschied mich nun einmal nie für den einfachen Weg. Das schien mein Lebensmotto zu sein.
Ich hatte siebzehn Jahre lang in diesem Haus gelebt, warum also fühlte ich mich hier total fremd? Es war ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, feststellen zu müssen, dass ich an den Ort meiner Geburt nicht wirklich gehörte.
Mir war klar, dass meine Zweifel nur wachsen würden, je länger ich hier stand. Ich wusste aus Erfahrung, dass man eine Entscheidung durchziehen musste, wenn man sie einmal getroffen hatte. Sonst hörte man auf, sich selbst zu vertrauen, und ließ andere Leute die Entscheidungen treffen. Diese Lektion hatte ich gelernt.
Ich warf die Reisetasche über meine Schulter und ging langsam auf die Eingangstreppe zu. Meine grauen Turnschuhe schlurften über die glatten Steinplatten. Dabei suchte ich in meinem Herzen etwas, das mich mit diesem Ort verband. Mein Elternhaus sollte doch wenigstens ein paar Erinnerungen enthalten, die mich hineinzogen und nicht mehr losließen. Ich wartete darauf, dass mich ein Heimatgefühl durchwogte wie ein stetiger Pulsschlag. Aber ich spürte überhaupt nichts, höchstens eine Welle von Ernüchterung. Auf der Veranda begrüßten mich zwei Schaukelstühle aus Rattan und ein schmiedeeiserner Ziertisch. Darauf stand ein Blumenkübel mit gelben Plastikgeranien, leblos, starr und von eingefrorener Perfektion. Zweifel krochen in mir empor und ließen kalte Finger mein Rückgrat auf- und abwandern. Ich schaute die Straße hinunter und stellte mir Scotts Wagen vor. Noch konnte ich meine Meinung ändern.
Die Stille wurde von vertrautem Hundegebell durchbrochen. Also gab es wenigstens einen, der mich zu Hause willkommen heißen würde. Ich hörte Schritte von drinnen und dann öffnete meine Mutter die Tür und starrte mich schockiert durch das Fliegengitter an. Ihr Mund stand offen und war zu einem lautlosen ›Oh‹ geformt. Sie trug elegante schwarze Leggings und einen grauen Pullover in Tunika-Länge. Ihre braunen Haare waren mit Strähnchen in Karamell durchsetzt. Es hatte mich schon immer beeindruckt, dass meine Mutter zwar kaum das Haus verließ, sich aber trotzdem täglich die Mühe machte, sich zu stylen, das Haar zu frisieren und sogar kleine Extras wie Ohrringe und Armbänder hinzuzufügen. Ich war froh zu sehen, dass sie damit nicht aufgehört hatte. Vielleicht gab es immer noch eine Chance, sie in meine Welt hineinzuziehen.
»Maddie«, sagte sie mit solcher Erleichterung, dass es fast wie ein Lachen klang.
Baley, unsere schokoladenbraune Labradorhündin, kratzte am Fliegengitter der Tür. Meine Mutter öffnete es schnell, bevor das Tier einfach hindurchstürmen und ein Loch hineinreißen konnte. Baley sauste um sie herum und warf mich fast zu Boden, als ihre Riesenpfoten gegen meinen Bauch prallten. Ich kniete mich hin und schlang die Arme um sie, weil ich einfach jemanden knuddeln musste. Als ich wieder aufstand, überraschte mich meine Mutter, indem sie mich ebenfalls umarmte. Sie umklammerte mich geradezu ungestüm, als sei sie ganz ausgehungert nach Körperkontakt. Ich lehnte mich gegen sie und ließ mich von ihrem Lachen anstecken, das sich jedoch bald in ein ersticktes Schluchzen verwandelte. Ihr Rücken bebte, und ich hielt sie fest, während sie sich an meiner Schulter ausweinte. In diesem Augenblick fühlte ich mich furchtbar, weil ich so lange fortgeblieben war. Es tat schrecklich weh, dass ich sie fast ein ganzes Jahr lang nicht gesehen hatte. Ich konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen, aber all meine Zweifel verflogen. Jetzt wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass es richtig gewesen war, nach Hause zu kommen. Und auf diese Sicherheit konnten wir uns beide stützen, wenn es schwierig wurde.
»Ich bin echt erleichtert, dass du dich freust, mich zu sehen«, sagte ich. Sie schob mich ein kleines Stück von sich weg, und trotz der Tränenspuren strahlten ihre Augen mich an.
»Was tust du denn hier?«, fragte sie.
»Ich habe mich entschieden, Dads Angebot anzunehmen.«
Sie öffnete die Tür vollständig und wir gingen zusammen hinein. Baley blieb so dicht an meiner Seite, dass ich fast über sie stolperte.
»Du bist wirklich bereit, mit ihm zusammenzuarbeiten?« Meine Mutter musterte mich. »Oder willst du ihn ausspionieren?« Sie kannte mich viel zu gut. Weiter hinten im Flur wurde lautstark eine Tür geöffnet.
»Die Antwort darauf würde ich auch gerne hören.« Die Stimme meines Vaters strömte mir entgegen wie eine Kaltfront, die in ein Warmluftgebiet eindringt. Seine teuren Schuhe dröhnten auf dem Laminatboden und dann stand er auch schon in der Eingangshalle. Er betrachtete mich eher skeptisch als erfreut oder erleichtert, aber immerhin lächelte er.
»Du hast mich gar nicht informiert, dass du nach Hause kommen willst«, sagte er.
Nette Begrüßung, dachte ich. »Sorry«, antwortete ich laut. »Ich dachte nicht, dass deine Einladung ein Verfallsdatum hat. Hätte ich erst einen schriftlichen Antrag stellen sollen?« Innerlich gab ich mir selber einen Tritt. Es war verführerisch einfach, mit meinem Vater in Wortgefechte zu geraten, aber Wut würde uns nicht weiterbringen. Wir brauchten einen Neuanfang und dazu musste ich einen klaren Kopf bewahren.
Er dirigierte uns in die Küche, wo meine Mutter ein paar Kaffeebecher aus dem kleinen Wandschrank holte. Dad setzte sich neben mich an den Tisch. So nah war ich ihm seit einem Jahr nicht mehr gewesen und unwillkürlich richteten sich sämtliche Härchen auf meinen Armen auf wie kleine Abwehrstacheln. Ich studierte sein Gesicht – mein Vater schien nie zu altern. Hohe Wangenknochen saßen wie gemeißelt über einem kräftigen Mund. Weil ich so beschäftigt damit war, ihn zu mustern, fiel mir zuerst gar nicht auf, dass er mich genauso sorgfältig betrachtete. Sein Blick war immer ein bisschen zu durchdringend gewesen, als würde er mit einem Vergrößerungsglas nach jeder winzigen Schwäche oder Unvollkommenheit an mir suchen, die er ausbessern konnte.
»Du hast ein bisschen zugenommen«, stellte er fest. Normalerweise will man so etwas nicht gerade hören, besonders als Mädchen, aber in meinem Fall war es ein Kompliment. Endlich sah ich mir selbst wieder ähnlich. Ich war gesund.
»Elaine hat mich gut versorgt«, sagte ich. »Wusstest du, dass man in Bayview die Mahlzeiten selbst kocht und sich dazu drei Mal täglich gemeinsam an einen Tisch setzt?«
»Was du nicht sagst.«
»Habt ihr in letzter Zeit mal etwas Selbstgekochtes gegessen?«, fragte ich. »Man kann tatsächlich schmecken, woraus es besteht. Hier in Corvallis gibt es auch ein paar Lebensmittelläden, aber davon wissen die meisten Einwohner nichts, weil Kleinhändler gegen die Online-Werbung nicht konkurrieren können.«
»Maddie –«
Meine Mutter warf mir einen warnenden Blick zu, aus dem ich ablesen konnte, dass ich bereits die Grenzen des töchterlichen Gehorsams überschritten hatte. Ich presste die Lippen aufeinander, aber Dad sah aus, als hätte mein kleiner Vortrag ihn amüsiert.
»Danke für den Tipp«, sagte er ironisch und nippte an seinem Kaffee. Ich drückte meine Handflächen fest gegen die Tischplatte.
»Dad, du hast gesagt, dass wir reden würden, wenn ich nach Hause komme. Nennst du das etwa reden?«
Er schaute mich an. »Du möchtest mit mir über Kochen und Shoppen diskutieren?«
»Du hast versprochen, dich auf eine Zusammenarbeit einzulassen.« Ich betrachtete forschend sein Gesicht, um zu sehen, ob er einen Rückzieher plante. »Wenn dieses Angebot nicht mehr gilt, musst du es mir jetzt gleich sagen. Sonst ist alles nur Zeitverschwendung. Bist du wirklich bereit, mit uns zu kooperieren?«
Meine Mutter stand an den Küchentresen gelehnt und musterte Dad auf eine Art, die mich überraschte. Sie schien ähnliche Zweifel zu haben wie ich.
Er stieß einen langen Seufzer aus und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Ich ließ mich zurück gegen die Stuhllehne sinken. Okay, vielleicht sollte ich meinem Vater fünf Minuten geben, um meine Rückkehr zu verdauen, bevor ich ihn mit einem Ultimatum konfrontierte.
»Ich bin nach Hause gekommen, weil ihr meine Familie seid«, ließ ich die beiden wissen. »Ich will keine Mauer zwischen uns hochziehen. Genauso wenig will ich mich entscheiden müssen, ob ich in der einen oder anderen Welt leben will. Das kommt für mich nicht infrage und ist auch keine Antwort auf unsere Probleme.« An meinen Vater gewandt fügte ich hinzu: »Du hast dein ganzes Leben lang Mauern gebaut.«
»Und dein besonderes Talent scheint darin zu bestehen, sie zu überklettern«, sagte er mit einem kaum sichtbaren Lächeln.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Hast du den Kontakt zu deinen Freunden abgebrochen?«, fragte er und ich nickte. »Sie werden also nicht versuchen, sich mit dir in Verbindung zu setzen?«
»Ich glaube, im Moment sind sie ziemlich sauer auf mich.«
»Und die Sache mit Justin – die hast du auch beendet?«
Ich schluckte und nickte. Na ja, nicht gerade ›beendet‹, dachte ich. Wenn Justin sich entschied herzukommen, konnte ich schließlich wenig dagegen tun.
Clare wohnte immer noch in der Nähe, genau wie Scott und Molly. Gabe war gerade dabei, in die Gegend zu ziehen. Mein Vater konnte mich zwar online überwachen, aber nicht offline, und so klammerte ich mich an die Hoffnung, dass meine Freunde sich irgendwann blicken lassen würden. Das Ganze war ein kalkuliertes Risiko.
»Ich bin durchaus zur Zusammenarbeit bereit, Maddie, aber zuerst muss ich sehen, ob du es auch ernst meinst. Deshalb bekommst du eine Woche Probezeit.«
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch mein Vater schüttelte bereits den Kopf.
»Wenn du die Probe bestehst, können wir reden.«
Ich verengte die Augen zu Schlitzen und schenkte ihm ein künstliches Lächeln. »Ich wüsste doch gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich keine Bewährungsauflagen hätte«, sagte ich. Dieses Mal war mein Vater nicht amüsiert. Meine Worte enthielten zu viel Wahrheit, um als Scherz durchzugehen.
»Ich meine es ernst, Maddie. Du wirst dich keinen Schritt aus dem Haus bewegen, außer wenn ich oder deine Mutter als Begleitung dabei sind. Keine Versuche, dich heimlich wegzuschleichen.«
Ganz instinktiv huschte mein Blick zum Küchenfenster, und ich ging in Gedanken die übrigen Fenster durch, aus denen ich vielleicht klettern konnte. Vor meinem Schlafzimmer stand ein Baum. Ich stellte mir die Äste vor und versuchte, mich zu erinnern, ob sie eine Art Leiter bildeten. Dann wurde mir klar, dass ich noch nie geklettert war. Wie schmerzhaft würde es wohl sein, aus dem zweiten Stock zu fallen? War Plastikrasen gut gepolstert?
Mein Vater schien meine Gedanken zu lesen. »Unsere Fenster sind alle an das Sicherheitssystem angeschlossen, also versuch nicht, dich mitten in der Nacht abzuseilen.«
Ich begann an den Fingernägeln zu knabbern. Die Sensoren abzustellen dürfte nicht allzu schwer sein.
Er lächelte breiter. »Und glaub nicht, dass du dich in das System hacken kannst. Ich habe es gerade neu installieren lassen und bei jeder Störung wird direkt die Polizei alarmiert. Also würde ich an deiner Stelle nicht damit herumspielen.«
»Interessant. Normalerweise sollen Alarmanlagen ja Leute draußenhalten und nicht die Hausbewohner einsperren.«
Der Wandbildschirm meldete summend einen Anruf und mein Vater warf einen Blick auf die Nummer. »Das Gespräch führe ich lieber in meinem Büro«, sagte er.
Ich schaute ihm nach, als er aufstand und den Raum verließ. Die Entfernung zwischen uns fühlte sich größer an als jemals zuvor.
»Es gibt aber auch eine gute Nachricht«, unterbrach Mom meine Grübelei. Bei ihrem strahlenden Lächeln hob ich die Augenbrauen und schöpfte wieder etwas Hoffnung. Vielleicht würden sie mir erlauben, einmal pro Woche das Haus zu verlassen?
»Du bist gerade rechtzeitig zurückgekommen, um dir ein schickes Kleid auszusuchen.«
Meine Vorfreude fiel in sich zusammen. »Ein Kleid?«
»Am Freitag ist der Wohltätigkeitsempfang für das Amerikanische Schulwesen.«
Ich riss entsetzt die Augen auf. Das Event meiner Albträume. Die Thompsons. Damon Thompson, der mich mit Begeisterung dem Center zum Fraß vorgeworfen hatte, und sein Sohn Paul, der nicht nur ein arroganter Macho war, sondern mich am liebsten für immer hinter Schloss und Riegel sehen würde. Ich schüttelte energisch den Kopf.
»Keine Chance«, sagte ich.
»Madeline –« Sie benutzte ihren mütterlichen Tonfall, doch ich ließ sie nicht ausreden.
»Mom, erwartest du ernsthaft von mir, dass ich bei einem Empfang sitze und mir Lobeshymnen auf das DS-System anhöre … nach allem, was ich gerade durchgemacht habe?«
Sie schaute zu Boden und hatte ein sichtlich schlechtes Gewissen. »Dein Vater würde sich bestimmt freuen, wenn du uns begleitest. Ob du es glaubst oder nicht, er ist stolz auf dich.«
Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Bist du sicher?«, wollte ich wissen. »Schließlich bin ich nicht gerade das perfekte Aushängeschild für sein Programm.«
»Nun, auf jeden Fall hätte ich dich gerne dabei. Mir würde es eine Menge bedeuten.«
Ich dachte darüber nach. Dann kam mir der Gedanke, wer sich vielleicht noch bei dem Empfang blicken lassen würde. Die Hoffnung, Justin dort zu sehen, reichte als Motivation vollkommen.
»Na gut, aber dann darf ich entscheiden, was ich anziehe«, warnte ich sie.
Ich saß in meinem Zimmer und packte meine Reisetasche aus, aber nichts darin passte zu meinem neuen Leben. Turnschuhe für Laufrunden, Flipflops für den Strand, eine Sonnenbrille, eine Regenjacke und ärmellose Tops, in denen ich die Sonne auf meiner Haut spüren konnte. Ein Tagebuch aus Papier, Bleistifte und Füller. Nichts davon würde ich in der digitalen Welt brauchen. Ich schaute auf meine leere Tischplatte und sah Elaines Schreibtisch in Eden vor mir, auf dem sich becherweise Stifte und körbeweise Briefe, Papiere, bunte Marker, Lesestoff und Spiralhefter drängten. Als ich das in Leder gebundene Tagebuch auf den Tisch legte, wirkte es dort fehl am Platz. Der verblichene rote Einband bildete einen seltsamen Kontrast zu der harten Glasplatte, die auch als digitale Tastatur dienen konnte.
Ich fühlte mich jetzt schon einsam. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sich das Gefühl erst nach mehreren Wochen einstellen würde, aber es hatte bloß Minuten gedauert. Der Drang, von hier zu fliehen, zerrte an meinen Armen, Beinen und meinem Herzen.
Mein zukünftiges Leben bestand aus diesem einen Raum. Ich war schlagartig von allem anderen abgeschnitten. Der Kontrast war so extrem, als würde man erst über ein weites, offenes Feld laufen und dann plötzlich auf einem handbreiten Schwebebalken das Gleichgewicht halten müssen. Balance-Kunststücke waren noch nie meine Stärke gewesen. Aber wenigstens schüchterte mich der Schwebebalken nicht mehr ein. Selbst hier setzte ich meine Schritte so sicher wie vorher, als würde ich Stiefel mit Metallkappen tragen. So fühlt sich also Selbstbewusstsein an, dachte ich. Man hört auf, sich um jeden Schritt Sorgen zu machen.
21. Mai 2061
Diese Woche kreisen meine Gedanken nur um mich. Ich bade in Selbstmitleid. Ziehe mich runter.
Ich sollte damit aufhören. Immer nur an sich selbst zu denken, führt doch zu nichts. Na ja, höchstens in eine Sackgasse, wo man alleine feststeckt und nicht wieder herauskommt. Wenn ich mich als das Zentrum des Universums betrachte, wirken meine Probleme natürlich zu groß, um mit ihnen fertig zu werden.
Anstatt auf meiner einsamen Insel herumzusitzen, sollte ich mich wieder darauf konzentrieren, was außerhalb passiert. Ich muss mein Interesse auf andere ausdehnen, und schon schrumpft meine eigene Wichtigkeit, bis ich nur noch eine kleine Nebensache bin. Dann kann mich die Enge hier nicht länger ersticken.
Vor ein paar Jahren hat Mom mir einmal ein Buch geschenkt, das den Titel ›Alles über mich‹ trug. Auf zweihundert Seiten konnte man Fragen über sich selbst beantworten. Aber im Nachhinein frage ich mich, was das nützen soll. Wieso muss sich alles um das eigene Ego drehen? Da sollte man doch lieber jeden beliebigen anderen Menschen interviewen. Wieso kreisen wir so fanatisch um unser eigenes Ich? Wenn man sich immer nur im Kreis dreht, kommt man doch nirgendwo hin.
Die glücklichsten Menschen auf der Welt sind bestimmt nicht die mit dem größten Erfolg, den meisten Fans oder dem besten Talent. Um glücklich zu sein, muss man sich einfach für die Menschen interessieren, die einen umgeben.
Gerade vermisse ich ihn wieder schrecklich.
Mir ist klar, dass ich auch ohne Justin vollständig bin. Ich habe meinen Ort im Leben gefunden. Ich brauche Justin nicht, um meine innere Leere auszufüllen oder mir Selbstvertrauen zu geben. Denn auch das habe ich in mir selbst gefunden. Inzwischen brauche ich ihn so, wie das Meer ein Ufer braucht, zu dem es immer wieder zurückkehren kann. Auch Zugvögel müssen irgendwann landen, aufwirbelnder Staub kommt zur Ruhe, alles in der Natur braucht einen Ort, um sich niederzulassen. Leben zieht sich gegenseitig an, ganz instinktiv. Genau so brauche ich Justin. Ohne ihn wäre ich immer noch wie ein Meer bei Ebbe, ein heimatloser Vogel am Himmel, ein Leben ohne Ziel.