Reiterhof
Eulenburg
Mitternachtspicknick
Band 1
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
der im Boje Verlag erschienenen Hardcoverausgabe
Baumhaus Taschenbuch und Boje Verlag in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Buch ist erstmals 1990 unter dem Titel
»DIE GEHEIMNISVOLLE SPIONIN« erschienen
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-0683-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die Sommerferien hatten gerade begonnen, und der Bahnhof war schwarz von Menschen. Lautsprecheransagen schallten durch die Luft, laut quietschten die Bremsen der einfahrenden Züge. Überall wurde gerufen, gelacht, begrüßt, verabschiedet, geschimpft, manchmal auch geweint. Es herrschte ein Riesentrubel, aber das empfanden Angie und Diane Heller, die beiden Schwestern, die gerade den Bahnsteig entlangeilten und einen schönen Platz suchten, als angenehm.
»Da kriegt man überhaupt erst die richtige Urlaubsstimmung«, bemerkte Angie zufrieden. »Schau mal, hier beginnt die zweite Klasse! Du lieber Himmel, das sieht aber alles ziemlich besetzt aus!«
Diane seufzte und wechselte ihre Reisetasche von einer Hand in die andere. »Nicht so schnell, Angie! Unsere Eltern kommen ja nicht mehr mit!«
Tatsächlich waren Hans und Elisabeth Heller, die den Wagen mit den großen Koffern schoben, ein ganzes Stück zurückgeblieben. Das sperrige Gefährt zwang sie immer wieder zu stoppen, wenn sie in einen neuen Pulk von Menschen gerieten.
Angie blieb stehen. »Warten wir eben einen Moment«, sagte sie friedfertig. Und dann leuchteten ihre Augen plötzlich auf. »Diane, du ahnst ja nicht, wie ich mich freue!«
Die Schwestern sahen einander sehr ähnlich, waren beide blond und schlank und hatten klare, offene Gesichter. Diane, mit ihren dreizehn ein Jahr jünger als Angie, wirkte zarter und blasser, schaute schüchterner drein als die robuste ältere Schwester mit dem großen Mund und den lebhaften Augen. Angie neigte dazu, Diane hin und wieder zu bemuttern und dabei gern auch ein wenig zu bevormunden, aber Diane akzeptierte das, weil sie dadurch immer eine starke Schulter zum Anlehnen hatte. Eng verbunden wie sie waren, hatten die Mädchen auch keine Sekunde lang gezögert, ihre Ferien gemeinsam zu verbringen. Sie hatten sich etwas Besonderes ausgedacht: einen Reiterhof am Meer, die Eulenburg, wo es Wasser und Sand, grüne Deiche und Schafe, viele Pferde und viele Jungen und Mädchen gab. Die ganzen sechs Wochen wollten die Mädchen in der Eulenburg verbringen.
Inzwischen waren auch die Eltern herangekommen. Hans Heller schnaufte etwas, denn der Wagen schob sich schwer.
Elisabeth Heller musterte ihre Töchter vorwurfsvoll. »Was, um Gottes willen, habt ihr denn alles eingepackt?«
»Nur die notwendigsten Dinge«, behauptete Angie. »Du musst bedenken, dass die Reitsachen allein schon ein ziemliches Gewicht haben. Und dann Regenmäntel, Gummistiefel, ein paar warme Pullover und …«
»Also, ich hoffe doch, ihr werdet auch ein bisschen schönes Wetter haben und nicht nur Kälte und Regen«, unterbrach ihr Vater. »Seht mal, hier ist ein leeres Abteil! Lauft mal schnell vor und besetzt es, ich komme dann mit dem Gepäck nach!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis alles verstaut war und sich die Eltern wieder hinaus auf den Bahnsteig begeben konnten.
»In Hamburg müsst ihr umsteigen«, erinnerte Heller noch einmal. »Hoffentlich kommt ihr mit den Koffern zurecht!«
»Das klappt schon alles! Tschüs Mutti, tschüs Papi! Werdet ihr uns ein bisschen vermissen?«
Langsam fuhr der Zug an. Die beiden Mädchen lehnten sich weit zum Fenster hinaus und winkten eifrig.
»So, das hätten wir«, sagte Angie zufrieden, schloss das Fenster und ließ sich in ihren Sitz fallen. »Es werden wundervolle Ferien, ich weiß es!« Ihre blauen Augen blitzten unternehmungslustig. »Hoffentlich sind die anderen alle nett!«
»Das hoffe ich auch«, stimmte Diane etwas zaghaft zu, »und hoffentlich ist der Reitlehrer nicht zu streng.«
»Bestimmt nicht. Du wirst sehen, alles ist ganz einfach. Wir werden reiten, im Meer baden, picknicken und nur tun, was uns Spaß macht.«
Diane wollte gerade etwas darauf erwidern, da wurde polternd die Abteiltür aufgezogen und ein schwarzhaariges Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen blickte herein.
»Hallo«, sagte sie. »Ist hier noch ein Platz frei?«
Sie wartete keine Antwort ab, sondern betrat mitsamt all ihren zahlreichen Gepäckstücken das Abteil. Sie besaß eine Koffergarnitur aus weichem rotem Leder, trug einen eleganten Overall und verströmte ein aufdringliches Parfüm. Leise schimpfend wuchtete sie ihre Habseligkeiten hinauf in das Gepäcknetz. Dann nickte sie den Schwestern kühl zu, setzte sich, schlug die Beine übereinander und vertiefte sich in eine Modezeitschrift.
Diane und Angie warfen einander vielsagende Blicke zu. Was für eine Ziege! Sie tat so, als sei es geradezu eine Beleidigung, dass sie kein Abteil für sich alleine gefunden hatte. Diane und Angie kümmerten sich nicht weiter um sie, sondern blickten zum Fenster hinaus auf die vorübersausende Landschaft. Erst als der Schaffner kam und die Fahrkarten verlangte, drehten sie sich wieder um. Die Fremde griff geziert nach ihrem Handtäschchen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und sie stieß einen erschrockenen Laut aus.
»Meine Fahrkarte! Mein Geld! Mein ganzes Portemonnaie ist weg!« Aufgeregt wühlte sie in der Tasche. Der Schaffner, ein missmutiger, dicker Mann, wurde ärgerlich.
»Wenn du keine Fahrkarte hast, musst du an der nächsten Station raus«, sagte er brummig.
Das Mädchen schrie erneut auf. »Aber was mach' ich dann da ohne Geld? Ich schwöre Ihnen, ich hatte eine Karte!«
Wieder wühlte sie in der Tasche. Aufgelöst und durcheinander wie sie war, wirkte sie sympathischer.
Diane bekam sofort Mitleid. »Ich bezahle für dich«, sagte sie großzügig. »Wir tauschen unsere Adressen, und du kannst mir das Geld dann gleich schicken.«
»Das ist wirklich nett von dir«, sagte das Mädchen dankbar. Der Schaffner brummte noch ein wenig vor sich hin, stellte aber schließlich eine Fahrkarte aus. Kaum hatte er das Abteil verlassen, bekam die Fremde wieder ihren arroganten Gesichtsausdruck.
»Vielen Dank«, sagte sie hochmütig. »Wie heißt du denn?«
»Diane. Und das ist meine Schwester Angie.«
»Ich heiße Kathrin. Ich gebe euch meine Adresse. Allerdings bin ich in den nächsten Wochen nicht zu Hause. Ich mache Ferien in einem Reiterpensionat.«
»In einem … wo denn?«, erkundigte sich Angie besorgt.
Kathrin zog wieder die Augenbrauen hoch. »Eulenburg. Sehr exklusiv.«
Das durfte doch nicht wahr sein! Angie und Diane hielten den Atem an.
»Ach du lieber Gott«, sagte Diane schließlich.
Kathrin musterte sie fragend. »Stört dich etwas daran?«
Angie grinste. »Uns nicht. Die Frage ist, ob dich vielleicht etwas stört. Wir fahren nämlich auch dorthin.«
Nun blieb Kathrin der Mund offen stehen. Die beiden Mädchen also auch? In ihren verwaschenen Jeans und einfachen Pullovern sahen sie gar nicht so vornehm aus, wie sich Kathrin das von ihren Gefährten in der Eulenburg erhofft hatte. Ihre Mutter hatte doch immer wieder beteuert, dass sich nur die feinsten Leute dort anmeldeten. Nun, dieser Urlaub würde womöglich noch eine schöne Pleite werden.
Das gleiche dachten Angie und Diane auch.
»Das kann ja heiter werden«, flüsterte Angie ihrer Schwester zu. Die nickte. Das war wirklich kein guter Anfang.
Als sie endlich ankamen, waren alle drei Mädchen sehr erschöpft. Das Umsteigen in Hamburg hatte viel Mühe gemacht, und die letzten Kilometer waren ihnen unendlich lang erschienen. Nun taumelten sie aus dem Zug und fühlten das Räderrollen noch in allen Knochen. Kathrin baute ihre eindrucksvolle Koffergarnitur um sich herum auf.
»So, hier bleibe ich stehen«, verkündete sie. »Es wird ja wohl irgendjemand kommen und meine Koffer tragen.«
»Sieht nicht so aus«, meinte Angie kühl. »Aber wenn du die Nacht hier verbringen möchtest – bitte! Wir gehen jedenfalls hinaus und sehen uns mal um.«
Natürlich mochte Kathrin nicht allein zurückbleiben. Stöhnend und ächzend schleppte sie ihr Gepäck hinter den beiden anderen her. Auf der Straße vor dem Bahnhofsgebäude stand eine Kutsche, vor die zwei große, schwere Pferde gespannt waren. Auf dem Kutschbock saß ein Junge, der etwa vierzehn Jahre alt sein mochte. Er hatte dichte dunkle Haare und blaue Augen. Als er die drei Mädchen erblickte, lächelte er und sprang vom Wagen.
»Hallo!«, sagte er. »Wollt ihr zur Eulenburg?«
»Ja«, antwortete Diane. »Wir sind Diane und Angie Heller, und dies ist Kathrin.«
Der Junge schüttelte ihnen die Hände. »Ich bin Tom Andresen. Herzlich willkommen!«
Tom wirkte lässig und freundlich, sodass Diane und Angie insgeheim aufatmeten. Auch Kathrin schien beeindruckt. Sie schwenkte ihre schwarzen Locken und kicherte albern.
»Sind das deine Pferde?«, fragte sie mit weit geöffneten Augen.
»Die meiner Eltern«, erklärte Tom. »So, und jetzt gebt mir mal eure Koffer, damit ich sie aufladen kann.«
Bald war alles verstaut, und auch die drei Mädchen saßen im Wagen. Tom ergriff die Zügel und schon trotteten die Pferde los. Der Weg führte durch ein paar schmale Straßen an strohgedeckten Häusern vorbei aus dem Städtchen hinaus. Rechts und links taten sich weite flache Sommerwiesen auf, am Horizont glänzten die Wälder rötlich in der Abendsonne.
Als sie an eine Wegbiegung kamen, sagte Tom: »Passt auf, gleich habt ihr den ersten Blick aufs Meer!«
Seine Stimme klang so, als sei das ein Erlebnis und habe auch für ihn noch nichts von seinem Zauber verloren. Die Mädchen richteten sich gespannt auf. Schon bog der Wagen um die Kurve. Hier standen keine Bäume mehr, und sie konnten über die Wiesen sehen bis hin zu dem tiefblauen Streifen in der Ferne, auf dem golden die Sonne glitzerte. Ein paar Möwen kamen kreischend vom Meer ins Land hinein.
»Ist es nicht schön?«, fragte Angie strahlend. »Oh, Tom, meinst du, wir können auch am Meer entlangreiten?«
»Klar. Aber das bestimmt Simone. Sie ist unsere neue Reitlehrerin.«
»Darf man auch alleine ausreiten?«, erkundigte sich Kathrin.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Wenigstens zu zweit. Das ist sicherer.«
Kathrin schob die Unterlippe vor.
»Das passt ihr gar nicht«, flüsterte Angie Diane zu. »Sieh nur, wie sie guckt!«
Diane musste lachen. Kathrin sah gar zu gequält aus. Tom wandte sich zu ihnen um. »Seht ihr das Bauernhaus dort hinten?« Er wies auf ein lang gestrecktes flaches Haus, das sich zwischen den Wiesen in eine Talmulde schmiegte. Es sah düster und ein wenig abweisend aus.
»Das ist der Krähenhof. Dort solltet ihr besser nicht hingehen. Die Besitzer sind etwas seltsam. Sie mögen keine Fremden auf ihrem Land.«
»Warum nicht?«, fragte Angie.
Tom zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie sind eben unfreundlich.«
Der Weg führte dicht am Krähenhof vorbei. Die Mädchen konnten die dunklen Fenster und den abgebröckelten Putz an der Hauswand erkennen. Eine Krähe hob sich von einem Holzstapel vor der Scheune und stieß einen schrillen Schrei aus. Alle zuckten zusammen.
»Wie unheimlich«, sagte Diane schaudernd. »Warum ist …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn aus der Scheune war das gequälte Aufjaulen eines Hundes zu hören. Hell und verzweifelt durchschnitt es die Stille des Abends.
»Was war denn das?«, fragte Angie.
Tom presste die Lippen aufeinander. Er sah sehr zornig aus. »Die gehen mit ihrem Hund so schlecht um. Man kann ihn oft weinen hören. Der alte Mommsen ist mit sich und der Welt verfeindet. Er behandelt jeden wie den letzten Dreck.«
Die Kutsche rollte weiter. Diane drehte sich noch einmal um und blickte zurück. Deutlich konnte sie an einem der oberen Fenster eine Gestalt erkennen – das Gesicht eines Mannes, der zu ihnen hinunterstarrte, mit einem merkwürdig verzerrten Mund. Sie seufzte erschrocken.
»Da oben ist jemand«, sagte sie hastig, doch als die anderen sich umdrehten, war der Mann bereits verschwunden.
Tom nickte, als Diane das Gesicht des Mannes beschrieb. »Das muss der alte Mommsen gewesen sein. Er sieht zum Fürchten aus. Aber jetzt«, seine Stimme klang wieder hell, »vergesst den Krähenhof. Denn vor euch liegt die Eulenburg!«
Wieder bogen sie um eine Kurve, und vor ihnen breiteten sich sanft abfallende Wiesenflächen aus. Sie konnten das Meer sehen, und auf einer breiten Landzunge, die, von Deichen eingesäumt, ins Wasser hinausragte, stand ein großes altes Haus, beinahe wirklich wie eine Burg anzusehen mit seinen vielen Türmen und Erkern. Es war aus dunkelrotem Stein gebaut und umrankt von blühenden Rosen. In den Fenstern spiegelte sich die Abendsonne.
»Oh, ist das schön!«, rief Diane, und Angie stimmte begeistert zu.
»Es ist zauberhaft. Wo sind denn die Ställe?«
»Hinter dem Haus. Wir können sie von hier noch nicht sehen«, erklärte Tom.
Auf dem Hof herrschte großes Durcheinander. Ein paar Kinder waren gerade von einem Ausritt zurückgekehrt und putzten ihre Pferde. Andere waren damit beschäftigt, Sattel und Zaumzeug zu reinigen. Ein paar saßen auch nur herum und unterhielten sich, und einige schienen ebenfalls erst heute angekommen zu sein, denn sie standen etwas hilflos in der Gegend. Tom sprang vom Kutschbock.
»Wir sind da«, sagte er. »Alles aussteigen!«
Kathrin blieb sitzen und sah sich um. Dies alles gefiel ihr gar nicht. Sie hatte viel mehr Eleganz erwartet – irgendetwas Mondänes. Nicht dieses Bauernhaus und so viele sportliche Jungen und Mädchen. Sie seufzte. »Ich glaube, diese Ferien werden fürchterlich langweilig«, murmelte sie.
Frau Andresen begrüßte ihre neuen Gäste mit offener Herzlichkeit. »Wie schön, dass ihr da seid! Und wie nett, dass ihr drei einander schon kennengelernt habt. Ihr werdet euch ein Zimmer teilen.«
Diane und Angie, die bereits wussten, dass man auf der Eulenburg zu dritt in einem Zimmer wohnte, hatten so etwas schon befürchtet.
»Wenigstens bleiben wir beide zusammen«, sagte Diane leise. »Aber es ist schon ein Pech!«
Das Zimmer war sehr schön. Aus dem Fenster konnten sie, über den Deich hinweg, das Meer sehen.
»Ihr könnt nachher auspacken«, sagte Frau Andresen. »Kommt jetzt erst hinunter in den Speisesaal. Es gibt gleich Abendessen.«
»Darf ich oben bleiben?« fragte Kathrin. »Ich bin sehr müde und habe keinen Hunger.«
»Keinen Hunger? Nach der langen Fahrt?« Frau Andresen war überrascht. »Nun gut. Du kannst die anderen ja morgen kennenlernen.«
Als Angie und Diane den Speisesaal betraten, blickten die anderen auf. Insgesamt waren es etwa fünfzig Jungen und Mädchen, die auf der Eulenburg Ferien machten.
»Das sind Angie und Diane Heller«, stellte Frau Andresen vor. »Sie sind eben angekommen. Angie, Diane, ihr setzt euch dorthin neben Tina.«
Tina war ein lustig aussehendes Mädchen mit vielen Sommersprossen.
»Hallo!«, begrüßte sie die Schwestern lachend. »Noch zwei mehr. Wir dürften vollbesetzt sein!«
Angie sah sich auf dem Tisch um. »Gibt es hier immer ein so köstliches Abendessen?«, fragte sie überwältigt.
Tina nickte. »Das Essen hier ist super!«
In der Tat, es fehlte nichts. Es gab große Schüsseln mit Quark, Platten mit Obst, kräftiges dunkles Brot, große Stücke von gelbem, sahnigem Käse, duftende Bratwürstchen und zum Nachtisch einen Schokoladenpudding mit Mandeln. Angie und Diane machten sich hastig darüber her. Unterdessen stellte ihnen Tina einige wichtige Leute im Raum vor. »Dort drüben, das ist Simone, die Reitlehrerin. Sie ist sehr streng, und alle bewundern sie.«
Simone unterhielt sich gerade mit Frau Andresen. Sie trug ein schwarzes, enges Wollkleid, über dem ihre Haare golden glänzten. Ihren leicht gebräunten Teint betonte sie durch einen blassrosafarbenen Lippenstift. An ihren Handgelenken klimperte eine ganze Anzahl schmaler Silberreifen.
»Drei Plätze weiter sitzt Frau Jung«, fuhr Tina fort, »die Magere mit den kurzen grauen Haaren und der spitzen Nase. Sie kann genauso streng sein wie sie aussieht, ist oft furchtbar spöttisch und manchmal sehr kurz angebunden. Mit ihr muss man sich gut stellen. Es heißt übrigens, sie sei sehr einsam, es kommt nie Post für sie oder ein Anruf.«
»Wer ist der Mann dort drüben?«, erkundigte sich Diane. »Der große schmale mit den dunklen Haaren?«
»Das ist Herr Andresen. Ihm gehört das alles hier. Die Eulenburg war früher ein Bauernhof, den schon seine Urgroßeltern bewirtschafteten. Er hat ihn dann vor etwa zehn Jahren geerbt und dann die Idee mit Feriengästen und Pferden gehabt. Im Wesentlichen kümmert er sich um die Verwaltung. Er ist immer sehr höflich, aber auch sehr zurückhaltend, und alle fürchten sich ein bisschen vor ihm.«
Ein rothaariger kleiner Junge, dessen Gesicht übersät war mit Sommersprossen, sauste in den Saal und warf sich auf den letzten freien Stuhl neben Tina.