Cover

Buch

Maria hat die halbe Welt bereist, nie ein Abenteuer ausgelassen. Dass sie schließlich auf der kleinen Insel Norderney landet, wäre ihr im Traum nicht eingefallen. Doch da ist sie nun – und sie ist glücklich. Maria liebt ihr kleines Strandcafé. Noch mehr liebt sie ihre Familie, die Töchter Morlen und Hannah. Und Simon, Hannahs Vater. Ihr Leben ist randvoll, für Probleme bleibt da keine Zeit. Bis Simon aus dem gemeinsamen Alltag ausbricht und mit Hannah verreist. Plötzlich hat Maria wieder Zeit. Und mit der Zeit kommen die Fragen. Steckt in ihr noch die alte Abenteurerin? Ist sie eine andere geworden? Und wenn ja – wo gehört sie wirklich hin?

Autorin

Meike Werkmeister ist Journalistin und Buchautorin und lebt in Hamburg. Wann immer sie Zeit findet, fährt sie mit ihrer Familie ans Meer – besonders gern nach Norderney, wo sie seit Kindertagen Urlaub macht. Die Nordseeinsel war bereits Schauplatz ihres Romans »Sterne sieht man nur im Dunkeln«, der im Frühjahr 2019 im Goldmann Verlag erschien und monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand.

Meike Werkmeister

Über dem Meer tanzt das Licht

Roman

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Die Songtexte, die Toni im Roman singt, stammen aus den Liedern »Flüssiger Sonnenschein«, »Wieder Engel« und »Bessere Fehler« der Münchener Sängerin und Songschreiberin Julia Kautz und werden mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin abgedruckt.
Alle Infos zu Julia Kautz sowie ihre Musik findet man unter:
www.juliakautz.de

Originalausgabe Juni 2020

Copyright © 2020 by Meike Werkmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Illustration des Anhangs: © Lisa Roskamp, @letterlisi

Illustration der Postkarten: © Renata Wolff, »Haus Nr. 26«

Autorenfoto: © Ulrike Schacht

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

LS · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22570-4
V001

www.goldmann-verlag.de

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Vielleicht ist Regen
nur flüssiger Sonnenschein.

Julia Kautz

1

Der Wind kam an einem der ersten heißen Tage des Sommers. Ich hatte mein Café früher geschlossen und war mit meiner Familie an den Strand gegangen. Den ganzen Nachmittag über hatten wir geplanscht, Burgen gebaut und Muschelherzen in den feuchten Sand gelegt.

Gegen neun Uhr abends saß ich glücklich und erschöpft auf meinem Handtuch, zwischen Sandeimern, Förmchen und ein paar Pizzakartons. Kleine glasige Wellen rollten an den Strand. Kinderlachen lag in der warmen Luft. Die tief über dem Horizont schwebende Abendsonne ließ alles so hell glitzern, dass ich die Augen zusammenkneifen musste, um Simon und Morlen zu erkennen. Sie trugen nur Badesachen und waren seit Stunden da draußen im Meer. Aber frieren würde heute niemand. Sie hatten ihre Surfbretter dabei, und meine Tochter redete gerade mit ausladenden Gesten auf meinen Freund ein. Dann kam die nächste Welle, und Morlen sprang mit kindlicher Leichtigkeit auf ihr Brett. Simon hatte nur wenige Stunden gebraucht, um ihr das Surfen beizubringen. Manchmal amüsierten die beiden sich darüber, dass Morlen es ihrer Ansicht nach bereits besser beherrschte als ich. Sie zogen dabei vielsagende Grimassen und lachten sich kaputt. Und ich lachte mit. Konnte es ein besseres Zeichen für ihre Zuneigung zueinander geben, als dass sie sich gegen mich verbündeten?

Morlen hüpfte vergnügt von ihrem Board ins knietiefe Wasser, das wie Funken in alle Richtungen sprühte. Dann schwang sie sich wieder darauf und paddelte zurück zu Simon. Sie so unbeschwert und fröhlich zu sehen machte mein Herz leicht. Bei Simon angekommen, ließ sie ihre Beine links und rechts vom Brett baumeln. Die beiden saßen nun direkt vor der funkelnden Sonne. Vom Strand sahen sie wie pechschwarze Scherenschnitte aus.

Auf meinem Schoß lag der Kopf meiner jüngeren Tochter Hannah. Sie war eingeschlafen. Irgendwann zwischen der dritten Sandburg und der zwölften Qualle, die sie mit ihrem Kescher aus einem Priel gefischt hatte, war sie auf mich zugekrabbelt und hatte sich halb auf mir, halb im Pudersand zusammengerollt. Was gab es Schöneres, als an einem solchen Tag am Meer einzuschlafen, unter freiem Himmel? Hannahs schwarze Löckchen, die sie von Simon geerbt hatte, kräuselten sich schweißnass an den Schläfen. Ihre kleinen Arme waren mit einer Kruste aus Sand, Salzwasser und Sonnencreme überzogen. Sie schmatzte leise im Traum. Ich versuchte behutsam, mein Bein, das einzuschlafen drohte, unter ihrem warmen Körper auszustrecken. Dabei streifte ich mit dem Fuß einen der Kartons, die Simon vorhin aus dem Laden eines Kumpels im Dorf geholt hatte. Mittlerweile war die Pizza kalt, aber Baden und Surfen und Quallensammeln waren wichtiger gewesen.

Ich betrachtete meine Beine, die dort, wo sie nicht von Hannah oder feinem Sand bedeckt waren, leicht gerötet aussahen. Meine helle Haut war nicht gemacht für dieses Wetter. Auf dem Shirt, das ich über den nassen Bikini geworfen hatte, zeichneten sich dunkle Flecken ab. Meine langen Haare waren mittlerweile getrocknet, klebten aber strohig an den nackten Oberarmen. Es würde mehr brauchen als eine kurze Dusche, um uns alle von den Spuren dieses Tages zu befreien.

Ich hörte Morlen rufen und hob den Blick. Sie ließ ihr Board am flachen Ufer treiben, dann kam sie herbeigerannt, wobei sie jede Menge Sand aufwirbelte. Schniefend und triefend beugte sie sich über einen der Pizzakartons zu meinen Füßen und öffnete ihn hastig.

»Gibst du mir auch ein Stück, Maus?«, fragte ich sie.

Sie riss wortlos eines ab und reichte es mir über Hannah hinweg, die kurz zuckte, als ein paar Tropfen aus Morlens Haar auf ihr Gesicht fielen.

Wie groß Morlen geworden ist, dachte ich. Jetzt war sie schon elf, hatte lange Arme und Beine, und ich ahnte, dass sie bald eine richtige Jugendliche sein würde. Zum Glück wurde man nie zu groß für Sommerabende wie diesen.

Sie riss sich ebenfalls ein Stück Pizza ab und stopfte es sich zur Hälfte in den Mund. Dann nahm sie ein weiteres und sagte kaum verständlich: »Für Simon.«

Mit einem Stück zwischen den Zähnen und dem anderen in der Hand rannte sie zurück in die Wellen, wo sie die Pizza auf ihrem Brett zu Simon transportierte. Im Gegenlicht sah ich ihn beherzt hineinbeißen.

Auch ich biss in mein Pizzastück, das bereits sandig war, wie alles, was man hier aß. Erstaunlicherweise hatte bisher keine der Möwen versucht, uns unser Abendessen zu klauen. Sogar sie schienen heute ein bisschen träge zu sein. Faul hockten sie auf einer der Buhnen und dösten. Erst jetzt kam Bewegung in die Schar, weil ein Labrador mit nassem Fell auf den Steindamm stürmte und die Versammlung bellend sprengte.

Ich sah, wie Morlen kauend mit Simon diskutierte und dabei den Kopf schief legte – vermutlich wollte sie nun ihn zum Pizzaholen schicken. Und wie meistens kam er ihrem Wunsch nach. Amüsiert beobachtete ich, wie er in seinen Badeshorts durch den Sand auf mich zulief. Das liebte ich an ihm. Dass er diesen wunderbar drahtigen Männerkörper hatte und sich gleichzeitig so unbeschwert bewegte wie ein Kind. Er blieb so knapp vor uns stehen, dass ich schützend die Arme über Hannah legte. Trotzdem rieselte eine kleine Sanddusche auf uns hernieder.

Behutsam, damit er seine kleine Tochter nicht aufweckte, beugte Simon sich über mich und tropfte mich mit Salzwasser voll. Dabei küsste er mich so stürmisch, dass ich lachen musste.

»So schön heute, oder?«, fragte er dicht vor meinem Gesicht. Er roch nach Sommer und Meer und Pizza Hawaii.

Ich strich ihm über den nassen, kalten Rücken. »Wunderschön.«

Und schon war er wieder unterwegs, mit einem Stück Pizza für sich und einem extragroßen für Morlen. Hannah bekam von alldem nichts mit. Sie hatte alle viere von sich gestreckt und schlief. Ab und zu zuckten ihre kleinen Mundwinkel. Vermutlich träumte sie von ihren Quallenfreunden.

So könnte es immer bleiben, dachte ich. So und nicht anders.

Dann spürte ich den Wind. Ganz sanft strich er mir über die nackten Beine, ließ Hannahs Löckchen wippen, hob einen Pizzakarton leicht an, jagte eine Gänsehaut über meine Oberarme. Nur kurz, und doch wusste ich, was er bedeutete.

Als die Sonne untergegangen war, radelte Simon unter Morlens Protest mit den Mädchen in die Wohnung. Er versprach, zumindest ihre Salz-Sand-Sonnencreme-Krusten abzuduschen, so gut er konnte, obwohl Hannah auch im Fahrradsitz weiterschlief. Vermutlich wäre es ohnehin vergebens, und alle Bettlaken würden wie üblich voller Sand sein.

Ich schaute kurz in meinem Café vorbei, weil ich vorhin überstürzt aufgebrochen war und nur das Geschlossen-Schild an die Tür des alten Backsteinhäuschens gehängt hatte. Als ich den dunklen Raum betrat, hielt ich einen Moment inne. Wie friedlich und still es hier war. Morgen würden wieder eilige Insulaner auf dem Weg zur Arbeit auf einen Kaffee vorbeischauen, und an den selbst gebauten Tischen aus hellem Holz würden gut gelaunte Urlauber sitzen und mit Blick aufs Meer und die Dünen ausgiebig frühstücken. Ich würde hinter der Theke, die aus dem gleichen Holz gezimmert war, einen Kaffee nach dem anderen zubereiten, Sanddorngelee auf Sauerteigbrote streichen und in Butter geschwenkten Zuckertoast auf Goldrandtellern mit kleinen Blüten und Himbeeren drapieren.

Ich liebte meine Strandmuschel. Vor dreieinhalb Jahren hatte meine Mutter mir das Erbe meiner Großmutter überlassen, damit ich den ehemaligen Strandkiosk pachten und renovieren konnte, wofür ich ihr für immer dankbar sein würde. Was wir aus diesem alten Lagerraum gemacht haben, dachte ich nicht zum ersten Mal und strich lächelnd mit dem Daumen etwas gemahlenen Kaffee von der Arbeitsplatte.

Ich machte nun doch Licht, kontrollierte die Zuckerdosen aus Emaille und die Weckgläser mit den Dünengräsern, schüttelte die erdfarbenen Kissen auf den Sitzbänken auf, stellte Tassen und Latte-Macchiato-Gläser auf die Siebträgermaschine, füllte die Bohnen nach. Alles bestens. Alles bereit für morgen.

Dann hörte ich einen Knall. Etwas war zerscheppert, auf dem Pflaster hinter meinem Café. Ich ging durch den Lagerraum nach draußen und machte das Außenlicht an. Zwischen den aufeinandergestapelten Getränkekisten sah ich Tonscherben. Ein Dachziegel war heruntergefallen und in mehrere Teile zerbrochen. Besorgt legte ich den Kopf in den Nacken und blickte hinauf. Hoffentlich würden es über Nacht nicht noch mehr werden.

Auf dem Heimweg spürte ich ihn wieder, den Wind, der dafür verantwortlich war. Er hatte ordentlich aufgefrischt. Ich konnte sie mittlerweile unterscheiden, die Winde auf meiner Insel, und wusste, was sie bedeuteten. Es gab den eisigen Herbstwind, der die Nasenspitzen kalt werden ließ und mich in den Keller schickte, um die dicken Wachsjacken heraufzuholen. Es gab den Wind, der nach Regen roch und erst dann aufkam, wenn es längst zu spät war, um sich irgendwo unterzustellen, denn der Regen kam hier schneller als anderswo. Es gab den Wind, der die Hitze brachte, der versprach, dass wir bald wieder barfuß durch Priele waten und abends unsere Mückenstiche zählen würden. Und es gab den flattrigen Wind. Der wehte heute. Wenn dieser Wind aufzog, wurden die älteren Insulaner unruhig. Er kam vom Meer her, verfing sich in den Dünengräsern und schickte heftige Böen über die Insel, um Dinge mit sich zu reißen, so unverhofft und plötzlich, dass man nie schnell genug war, um sie festzuhalten. Manchmal waren es nur Papierservietten oder die Föhnfrisur. Manchmal ein ganzer Lebensentwurf.

Ich reckte meine Nase über den Lenker und ließ ihn über mich hinwegflattern, den Wind, weil man ja doch nichts tun konnte. Er kam und nahm sich, was er brauchte – ich hatte gelernt, es zu akzeptieren und mit Fassung zu tragen. Er hatte schon im Winter mehrere Dachziegel von meinem Café gerissen und einen Stehbiertisch durch die Luft wirbeln lassen, als wäre er eine Pusteblume. Er hatte Morlen mit dem Fahrrad den Deich hinuntergeschickt, wobei sie wie durch ein Wunder mit einigen blauen Flecken davongekommen war. Er hatte mir zwei Hüte gestohlen und meinen Lieblingsschal und mich schon oft nachts wach liegen und darüber nachgrübeln lassen, wie Luft so laut sein konnte, dass sie einem den Schlaf raubte.

Während ich die Strandpromenade entlangradelte, musste ich daran denken, wie ich mich hier einst eingesperrt gefühlt hatte. Wie ich gedacht hatte, vom Meer umgeben zu sein würde sich anfühlen, als befände ich mich in einem Gefängnis, das mich daran hinderte zu tun, was ich früher immer getan hatte, wenn es schwierig wurde: lautlos zu fliehen. Wie die Zeiten sich änderten. Heute fühlte ich mich hier freier, als ich mich je zuvor irgendwo gefühlt hatte.

Ein paar dramatisch rote Wolken, die oben auf der Nordsee schwammen, erinnerten daran, was für ein herrlicher Sommertag dies gewesen war. Ich hoffte, es würde noch einige davon geben, wenn der Wind sich wieder gelegt hatte. Der Sommer war die geschäftigste Zeit im Café, aber ich würde jede freie Minute nutzen, um möglichst viel Licht in meinen Alltag zu lassen. Licht und Luft und Salzwasser. Es war bereits nach zehn und noch immer nicht richtig dunkel. Die Sommernächte hier waren lang, und sie waren wie geschaffen dafür zu schwimmen, zu feiern und zu tanzen. Diesen Sommer würde ich all das wieder tun, das nahm ich mir fest vor. All das und noch mehr. Als ich von der Promenade abbog und in Richtung Siedlung fuhr, flatterten am Wegesrand die feinen Stängel des Dünengrases.

Wenige Minuten später schloss ich die Wohnung auf und hielt in der Tür einen Moment inne. Alles ruhig, die anderen schliefen offenbar schon. Auf Zehenspitzen schlich ich durch den schmalen Flur in die Küche, stolperte dabei fast über einen Muscheleimer und entdeckte dann eine Schüssel auf dem Tisch, die mit einem Teller abgedeckt war. Darauf lag ein handgeschriebener Zettel: Für die schönste Frau der Insel.

Ich schmunzelte in mich hinein. Simon kannte mich gut: Sonnentage machten mich hungrig, und von der Pizza hatte ich nicht viel abbekommen. Ich hob den Teller von der Schüssel und sah hinein: mundgerecht geschnittene Melone mit Minze und Feta. Es hatte wirklich große Vorteile, einen Partner zu haben, der aus allem etwas Leckeres zaubern konnte. Ich schob einen Stapel Bilderbücher beiseite, setzte mich auf die Eckbank, legte die Füße auf einen Stuhl und machte mich über mein spätes Abendessen her. Es schmeckte herrlich fruchtig.

Während ich so dasaß und den Blick durch die schwach beleuchtete Küche schweifen ließ, spürte ich, wie müde ich war. Noch zwei große Gabeln, dann legte ich den Teller wieder auf die Schüssel und stellte sie in den gut gefüllten Kühlschrank, zwischen halb volle Joghurtbecher und Milchtüten mit klebrigen Fingerabdrücken. Auf der Arbeitsplatte lagen noch das Schneidebrettchen und zwei Messer, die wohl zur Herstellung meines Abendessens verwendet worden waren. Spült irgendwer morgen, dachte ich, faltete Simons süßen Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche meiner Strickjacke.

Neben dem Schneidebrettchen entdeckte ich einen Stapel ungeöffneter Post, daneben ein Buch. Campingführer Atlantikküste stand in Computer-Schreibschrift darauf. Das war neu, musste Simon besorgt haben. Er und seine Reiseträume. Ständig schmiedete er Pläne, die wir wegen meines Cafés, seiner Arbeit in der Gin-Brennerei und der Kinder sowieso nicht umsetzen konnten.

Nach dem Duschen kämmte ich mir die Knoten aus den ausgeblichenen Haarspitzen und betrachtete im Badezimmerspiegel mein müdes Gesicht mit der geröteten Nase. Mein Nachthemd spannte leicht an den Hüften, und ich wusste: Das waren keine Schwangerschaftspfunde mehr. Das waren ungesündere Mahlzeiten als die gerade eben, zu viel, zu hastig, zu den falschen Uhrzeiten. Aber was machte das schon? Ich war es gewohnt, von mir hatte es immer schon irgendwie zu viel gegeben. Zu viel Haar, zu viel Busen, zu viel Po, zu viel Stimme. Mich gab es nicht in elfenhaft. Ganz im Gegensatz zu Morlen, in deren Zimmer ich nun schlich.

Sie lag auf der Seite, die gebräunten Arme und Beine halb aus dem niedrigen Bett hängend, im herausgewachsenen Pony noch eine einsame Glitzer-Haarspange. Behutsam klickte ich sie auf, darauf bedacht, dass keines der feinen dunkelblonden Haare daran hängen blieb. Morlen schnurrte. Wie wunderschön sie war. Am allerschönsten fand ich meine Tochter, wenn sie schlief, so friedlich, so entspannt, wie sie tagsüber im Moment selten war. Wenn sie nicht gerade mit Simon surfte.

In unserem Himmelbett im Nachbarraum lag Simon wie immer mitten auf der Matratze, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Vorsichtig kroch ich neben ihn. Das Licht der Straßenlaterne schien durch das geöffnete Fenster, und ich entdeckte Hannah, die sich in seine Armbeuge kuschelte – das Schmusetuch fest in der Hand, einen Stoffzipfel im kleinen Schmollmund. Ich betrachtete sie lächelnd. Sie war so ungeplant zu uns gekommen, zu einer Zeit, in der ich wahrlich andere Sorgen gehabt hatte. Und sie hatte sich als Geschenk im genau richtigen Moment erwiesen. Als sie geboren wurde, hatten wir kein Gitterbett, keinen Kinderwagen, keinen großen Plan. Bei Morlen hatte ich Mamas Hilfe gehabt. Bei Hannah war Simon abends mit dem Rad zu einer Bekannten gefahren und hatte Windeln geliehen. Und trotzdem hatte sich alles gefügt. Sie war vom ersten Tag an bester Laune gewesen. Als wüsste sie, dass das die Rolle war, die es bei uns in dieser Phase zu besetzen galt. Das frohe Gemüt hatte sie von ihrem Vater geerbt, wie so vieles. Die dichten dunklen Löckchen, die sich um ihre winzigen Ohren kräuselten, waren im Nacken schon wieder verschwitzt, weil Simon so eine Hitze ausstrahlte. Ich konnte mich nur schwer zurückhalten, mit den Fingern hindurchzufahren, aber ich wollte die Kleine auf keinen Fall wecken.

Simons nackter Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Seine Wimpern wirkten bei geschlossenen Augen noch länger als sonst. Ihm strich ich sanft durchs krause Haar, das sich immer so anfühlte, als hätte er das Salzwasser nicht richtig herausgespült, egal, wie lange er duschte. Dann kuschelte ich mich an die beiden. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages so viel Glück haben würde, fragte ich mich, während draußen der Wind um die Häuser jaulte.

2

»Hast du dein Pausenbrot?«

Nur in Jeans stand Simon in der Küche, als ich aus dem Bad kam. Morlen hatte sich ein Haargummi zwischen die Zähne geklemmt und flocht sich gerade einen Zopf. Simon balancierte Hannah auf der Hüfte, in der freien Hand hielt er eine Müslischale.

Ich drückte ihm und Hannah je einen festen Kuss auf, von Morlen erwischte ich nur noch Luft. »Guten Morgen, ihr Süßen!«

Morlen antwortete nicht. Stattdessen knutschte sie Hannahs Gesicht ab, was diese vor Freude zum Quietschen brachte. Ihre kleine Schwester war der einzige Mensch, zu dem meine Größere jederzeit gnädig war.

»Morlen, hast du dein Pausenbrot?«, wiederholte Simon, genauso freundlich wie beim ersten Mal.

»Glaub nich«, nuschelte sie. Sie schlenderte zur Tür, das Haargummi noch immer zwischen den Zähnen, den Rucksack über der Schulter. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass sie in ein paar Jahren mit der Fähre ans Festland fahren müsste, um die Oberstufe zu besuchen. Für eine Familie von Langschläfern war das ein Albtraum, der jeden Tag noch vor sechs Uhr morgens von Neuem starten würde.

»Halt, deine Brotdose!« Simon reichte mir im Vorbeigehen Hannah und sein Müsli und rannte hinter Morlen her, die schon im Hausflur war. Ich hörte ihn im Treppenhaus einen Reißverschluss öffnen und schließen und formte mit den Lippen ein lautloses »Danke, Simon«, das er von meiner Tochter leider nicht zu hören bekam.

Hannah hingegen strahlte mich an, wobei sich in ihren prallen Wangen Grübchen bildeten. Mit ihren speckigen Fingern griff sie in mein Haar und zog freudig daran. Ich wand mich unter ihrem Griff, denn ich hatte keine Hand frei, um sie davon abzuhalten.

Simon sprintete zurück in die Küche und nahm mir das Müsli wieder ab. »Ich hab um zehn eine Surfstunde und um fünf noch mal. Kann ich dir Hannah dann bringen?«

Behutsam befreite ich mein Haar aus Hannahs Griff. »Klar, kein Ding, ich hab heute Hilfe.«

Simon löffelte im Stehen sein Müsli und grinste mich zwischendurch an. Er gehörte nicht zu der Sorte Männer, die durch den Familienalltag behäbig wurden. Allerdings war er einige Jahre jünger als ich, und manchmal sagte ich im Scherz, dass ich mich auf das Bäuchlein freute, dass er jenseits der vierzig bekommen würde. Noch jedenfalls war er der drahtige Surfer, in den ich mich verliebt hatte. Nur die Augenringe hatte er früher nicht gehabt. Aber er beschwerte sich nie. Man musste ihm schon mit mehr kommen als mit vollen Windeln und aufzuwärmenden Milchfläschchen in der Nacht, um ihm die Laune zu verderben.

Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, hielt er in der Bewegung inne. »Oh, ganz vergessen, deins steht hier, mit Beeren.« Er griff hinter sich und hielt mir eine Schale Müsli hin, wie immer randvoll.

Ich setzte mich mit Hannah auf dem Schoß an den Tisch und begann zu essen. Sie öffnete wie ein kleiner Vogel den Mund, und ehe ich es tun konnte, fütterte Simon sie mit seinem Löffel.

Ich widmete mich meinem Müsli und musste schmunzeln, weil Hannah auf meinem Schoß laut schmatzte. Simon kniete sich vor uns hin und strahlte sie an. Irgendwann sagte er: »Ich will mit ihr wegfahren.«

»Wohin?«

Hannah nahm eine Himbeere aus ihrem Mund und betrachtete sie fasziniert.

Simon griff mit der löffellosen Hand hinter sich und streckte mir den Campingführer entgegen, den ich gestern schon entdeckt hatte. »Atlantikküste, mit dem Bus von Thomas, eine kleine Tour.«

»In Morlens Herbstferien?«

Der Moment der Stille, der folgte, ließ mich aufhorchen. Simon rührte in seinem Müsli. »Nee, am liebsten sofort.«

Noch ehe ich einwenden konnte, dass ich Morlen für die Sommerferien zu einer Reitfreizeit angemeldet hatte und mein Café mitten in der Hauptsaison sowieso nicht allein lassen konnte, fügte er hinzu: »Ich meinte nicht wir alle.«

Erstaunt blickte ich auf.

Er schob aufgeweichte Flocken von links nach rechts. Aus Hannahs Hand tropfte zermatschte Himbeere auf die Tischplatte und den Buchdeckel. »Ich meine Hannah und mich. Ich möchte so etwas wie Elternzeit machen. Hab ich mit den Kollegen schon besprochen, vier Wochen sind kein Thema.«

Jetzt musste ich lachen. »Ist das dein Ernst?« Ich riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle, die auf dem Tisch lag, und säuberte Hannahs tropfende Finger und das Buch, auf dem ein blassrosa Fleck zurückblieb.

Simon atmete tief ein und sah mich ernst an. »Ja, ist es. Ich glaube, es wäre cool für uns alle. Morlen ist sowieso ständig mit ihren Freundinnen unterwegs, und du hast in den Ferien so viel im Café zu tun. Du könntest zwischendurch gut ein bisschen Zeit für dich gebrauchen. Außerdem will ich die Kleine mal für mich haben.«

»Du hast sie doch jeden Tag.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte nur eine weitere von Simons fixen Ideen sein. Wie die Türschaukel, die er hatte bauen wollen und deren Utensilien noch immer unter unserem Bett lagen, weil die entscheidende Schraube fehlte. Oder die Außendusche für unsere Neoprenanzüge, die auf dem Badezimmerschrank darauf wartete, dass Simon unseren Vermieter überredete, sie installieren zu dürfen. Ich würde diesen Campingführer hier liegen lassen wie die anderen Dinge, und er würde eins werden mit dem Rest unserer gemütlichen Höhle, bis er mir gar nicht mehr auffiel. Grinsend schob ich mir einen weiteren Löffel Müsli in den Mund.

»Was?«, fragte er.

Ich zwinkerte ihm zu. »Ach, nichts. Ich liebe dich und deine verrückten Ideen.«

Er ließ von seinem Müsli ab, umarmte Hannah und mich gleichzeitig und küsste uns abwechselnd, was seine Tochter, seinen größten Fan auf Erden, zum Glucksen brachte.

Ein paar Tage später fuhr ich mit dem Fahrrad durch die Straßen unserer kleinen Stadt zu einer Versammlung der einheimischen Wirte. Der Wind hatte das schöne Wetter wie erwartet davongeweht, dicker Nebel hing über den Dächern. Ich spürte, wie mir kalt wurde, und bereute es, nicht mehr als ein Sommerkleid angezogen zu haben.

In der Bar im Vorraum des Kurtheaters saßen die anderen schon auf den alten Samtsofas und tranken Bier oder hausgemachte Limo. Der lange Lars, dem der Laden gehörte und der gleichzeitig ein Kollege von Simon in der Surfschule war, begrüßte mich mit seinem üblichen schlappen Handschlag. Seine ausgeblichene Surfermähne fiel ihm ins Gesicht, das von der Sonne der vergangenen Tage gerötet war.

Wir Wirte auf der Insel unterstützten uns gegenseitig, denn es kamen so viele Urlauber, dass für alle ein Stück vom Kuchen übrig blieb. Heute ging es um die hohen Mietpreise, die es den Einheimischen immer schwerer machten, auf der Insel zu wohnen, aber ich folgte der Diskussion nur am Rande. Im Kopf ging ich die Ankunftszeiten meiner diesjährigen Saisonkräfte durch. Eine hatte kurzfristig abgesagt. So etwas passierte immer wieder und setzte mich unter Druck, denn im Sommer ging es nicht ohne Hilfe. Praktischerweise hatte Simon in der Gin-Brennerei ziemlich flexible Arbeitszeiten und übernahm einen Großteil der Betreuung von Hannah. Aber auch er gab in der Hauptsaison nebenbei mehr Surfstunden als üblich, und ich sah uns schon die digitalen Terminkalender abgleichen.

»Maria, was ist mit deinem Dach? Wann reparierst du das endlich? Es sieht vom Deich aus nicht gut aus.« Wiebke, die burschikose Besitzerin einer Fischbude am Nordstrand, riss mich aus meinen Gedanken.

Ich hob die Schultern. »Ist das wirklich so schlimm? Die paar Ziegel …«

»Es geht auch um die Bausubstanz«, mischte sich ein anderer ein. »Noch ein, zwei Stürme, und dir steht das Wasser im Laden, du solltest dich unbedingt darum kümmern.«

Dieses Thema verfolgte mich schon länger und wanderte immer wieder von einer To-do-Liste auf die nächste. »Macht euch keine Sorgen, ich bin da dran«, beschwichtigte ich meine Kollegen mit einer Notlüge.

Zu meiner Erleichterung setzte daraufhin einer der Kneipenwirte zu einem Monolog darüber an, wie unzuverlässig die Handwerker auf der Insel geworden seien. »Weil die wissen, dass wir auf sie angewiesen sind. Ich sag euch, beim nächsten Mal hol ich einen aus Aurich …«

Ich hörte nicht mehr richtig zu, sondern ließ mich in die knarzenden Samtsofafedern zurücksinken. Hauptsache, der Fokus lag nicht mehr auf mir.

Gerade als einer der älteren Wirte, dem ein schickes Fischlokal gehörte, etwas von »Investoren, die unsere Insel kaputtmachen« erzählte, entdeckte ich Simon draußen vor dem Fenster. Er schirmte seine Augen ab, um etwas sehen zu können, und klopfte gegen die Scheibe. So unauffällig wie möglich stand ich auf.

Der ältere Wirt hatte sich so in Rage geredet, dass offenbar niemand bemerkte, wie ich den Raum verließ.

Ich trat ins Freie. Simon schlenderte auf mich zu, die Hände in den Taschen seines Kapuzenpullis. Ich blickte ihn erwartungsvoll an. »Alles okay? Wo sind die Kinder?«

»Komm mal mit.« Er grinste nur breit und zog mich zu unserem Lastenfahrrad, mit dem er offenbar hergeradelt war. Vorne drauf hatte er zwei Surfbretter geschnallt, darüber die Neoprenanzüge geworfen. Alles sah nach einem impulsiven Aufbruch aus.

»Wie jetzt?« Ich sah ihn ratlos an.

»Nimm dein Rad, wir fahren zum Strand.«

Ich zeigte hinter mich in Richtung Versammlung. »Ich muss da wieder rein.«

»Glaubst du, du verpasst was?«

»Glaubst du nicht?« Ich verschränkte die Arme.

»Im Wasser schon, ja, da verpasst du gerade wirklich was.« Er kam näher und drückte mir einen Kuss auf die Lippen.

»Was ist mit den Kindern?«

»Morlen schaut noch etwas fern, und Hannah schläft längst. Frau Fisser hat das Babyphone und guckt zwischendurch nach den beiden. Nun komm schon.«

So war das mit Simon. Und es war immer schon eine gute Idee gewesen, ihm in solchen Momenten zu folgen. Ich blickte noch einmal in den erleuchteten Raum. Niemand nahm Notiz von uns, bestimmt würde es nicht auffallen, wenn ich den Rest schwänzte.

Eine Viertelstunde später saßen Simon und ich nebeneinander auf unseren Surfbrettern im Wasser. Ich hatte das Gefühl, im Nirgendwo zu treiben, so dicht war der Nebel hier draußen. Die tief hängenden Wolken verschluckten die Geräusche, nur die sanft heranrollenden Wellen waren zu hören. Wir hatten bereits ein paar davon gesurft, als Simon nah an mich heranpaddelte.

»Hab ich dir zu viel versprochen?«

Ich grinste. »Nein. Es ist zauberhaft. Sollten wir viel öfter machen.«

»Von mir aus gern.« Aus Simons Locken tropfte Meerwasser. »Wenn Hannah schläft, können die zwei doch mal eine Stunde allein bleiben. Meinst du, das schafft Morli?«

»Glaub schon, das sollte jetzt wirklich gehen.« Ich beugte mich vor und küsste seine weichen, salzigen Lippen, wobei ich beinahe von meinem Brett rutschte.

Er strich mit seinem Daumen ein paar Tropfen von meiner Wange und sah mich genauso an, wie ich immer schon hatte angesehen werden wollen, seit ich ein kleines Mädchen war. Als sei ich für ihn die einzige Frau auf dieser Welt. Ich löste den Blick von ihm und schaute in den Nebel, in dem von irgendwoher eine Möwe schrie.

Als ich mich wieder zu Simon drehte, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. »Du weißt, was heute für ein Tag ist, oder?«, fragte er.

Ich senkte die Augenlider. Das wusste ich genau. Heute vor einem Jahr hatten wir meine Mutter Iris beerdigt. Meine unverwüstliche Mama, die so stark gewesen war und am Ende den Kampf gegen den Krebs verloren hatte. Nach der offiziellen Trauerfeier waren wir mit Surfbrettern aufs Meer gepaddelt, ich mit großem Babybauch, und hatten Blumen ins Wasser geworfen.

»Ich weiß«, sagte ich leise, und Simon griff nach meiner Hand. Damals hatte ich gedacht, das Leben müsse aufhören ohne Mama. Aber es ging weiter. Ich trauerte – und das würde ich wohl noch eine ganze Weile tun –, aber ich war nicht daran zerbrochen. Ich hatte meine wundervolle Familie, und wir kamen so viel besser klar, als ich selbst und die meisten anderen gedacht hatten.

»Ich finde, wir sollten uns um das Haus kümmern.« Simon streichelte mit seinen nassen Fingern über meine. »Ich weiß, du scheust dich davor, aber irgendwann müssen wir eine Lösung finden.«

Ich nickte.

Nach einigen Minuten der Stille sagte er: »Ich dachte, wenn ich mit Hannah unterwegs bin, gebe ich dir den Raum dafür. Dann hast du mal ein paar Wochen, um darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. So generell. Ich glaube, das wäre gut für uns alle. Auch für dich und Morlen. Ihr braucht mal etwas Zeit zu zweit.«

Ich knibbelte am Wachs auf meinem Surfbrett. Das Meer unter mir wirkte zugleich klar und dunkel. »Ich weiß nicht. Morlen würde Hannah und dich schrecklich vermissen.«

»Stimmt.« Simon runzelte die Stirn. »Aber ich frage mich, warum es zwischen euch beiden gerade so oft knirscht. Vielleicht hat es doch etwas mit Hannah zu tun. Weil Morlen dich jetzt teilen muss.«

»Nee, ich glaub eher, das ist das Alter.« Ich überlegte einen Moment. Der Nebel um uns herum war jetzt so dicht, dass ich meinte, danach greifen zu können. »Und selbst wenn, deswegen musst du mit Hannah doch nicht gleich so weit weg.«

Simon streckte tatsächlich die Hand nach den tief hängenden Wolken aus. Dann lächelte er sanft. »Nein. Aber ich will meiner Tochter etwas von meiner Welt zeigen.«

Ich lächelte ebenfalls. »Sie ist nicht mal ein Jahr alt.«

»Genau, das ist eine prägende Zeit.« Er zog trotzig die Füße aufs Brett. Die Haut an seinen Zehen war tiefbraun und etwas schrumpelig vom Wasser. Er blickte in Richtung der Wellen, die langsam und stetig auf uns zurollten, wie Geister aus der Nebelwand, und ich ahnte: Dieses Gespräch würde gleich vorbei sein. Simon drehte sich bereits auf den Bauch und begann zu paddeln, als er sagte: »Ich bin selbstständig, ich habe die Chance dazu, und ich will später nicht sagen müssen: Schade, die schönste Zeit mit meiner Tochter hab ich verpasst. Das müsstest doch gerade du verstehen, oder?«

Die nächste Welle nahm ihn mit. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, aber ich hörte ihn juchzen.

Mein Surfbrett wankte unter mir, und mit ihm schwankten meine Gefühle, als hätten sie ihren sicheren Halt verloren. »Ja, das verstehe ich«, sagte ich leise zu mir selbst.

Keine Woche später stand ich am Fähranleger. Ich hatte bis zum Ende versucht, Simon davon abzubringen, so lange und so weit mit Hannah wegzufahren. Warum konnte er nicht zu Hause Zeit mit seiner Tochter verbringen? Warum konnten er und sie nicht hier eine Auszeit nehmen und weiter an ihrer in meinen Augen ohnehin unerschütterlichen Bindung arbeiten? Aber Simon hatte es mir immer wieder erklärt. Er wollte ihr einen Teil von sich zeigen, der auf Norderney nicht zu haben war. Und so stand er nun mit dem vollgepackten VW-Bus seines Kumpels in der Autoschlange, auf dem Beifahrersitz die Babyschale. Darin saß meine kleine Tochter und ahnte nicht, dass sie gerade in das bisher größte Abenteuer ihres jungen Daseins aufbrach. Auf das Dach des Busses waren Surfbretter in verschiedenen Größen geschnallt, wobei ich mich fragte, wann Simon gedachte, sich in die Wellen zu werfen. Aber Sorgen machte ich mir keine. Daran, dass mein Freund sich hinreißend um unser Kind kümmern würde, bestand kein Zweifel.

Er lehnte in Shorts am Auto und sah mich mit seinen schönen dunklen Augen an.

Ich schob die Unterlippe vor. »Ich werde euch schlimm vermissen.«

Er zog mich fest an sich. »Wir dich auch.« Meine Wange lag an seiner warmen Brust, und ich spürte, wie sie sich bei jedem Atemzug hob und senkte. »Ich hoffe, die Zeit ohne uns tut dir gut«, hörte ich ihn sagen. »Sei nett zu dir. Der Rest wird sich fügen.«

»Hey, das klingt jetzt, als bräuchte ich eine Pause von euch.« Ich lehnte mich zurück und zog die Nase kraus.

Simon nahm mein Gesicht in beide Hände. »Ich hatte immer diesen Plan. Wenn ich ein Kind habe, zeige ich ihm die Welt. Dies ist erst der Anfang. Und beim nächsten Mal kommst du vielleicht mit.«

»Vielleicht?« Ich blickte hinter ihn. Hannah war in ihrer Babyschale eingeschlafen. Einfach so. Sie verpennte unseren Abschied.

Ich löste behutsam Simons Hände, trat an die Autotür, beugte mich über sie und küsste ihre zarte Stirn. Morlen hatte sie heute Morgen an sich gedrückt, als sähen sie sich nie wieder. Vielleicht hat Simon unrecht, dachte ich, vielleicht ist es gerade genau das Falsche, ihr ihre kleine Schwester wegzunehmen. Sie war sauer auf Simon wegen der Reise, was mir zeigte, wie stark sie auch an ihm hing. Aber es hatte keinen Sinn, darüber zu diskutieren, der Trip war beschlossene Sache.

Ich wandte mich wieder Simon zu. »Schick Bilder, ja? Und passt gut auf euch auf!«

Er küsste mich zärtlich, auf diese Weise, bei der ich mich plötzlich so leicht fühlte, als könnte der Wind mich mit sich reißen. Dann stupste er mit seiner Nasenspitze gegen meine. »Vertrau mir.«

Ich lächelte zärtlich. »Sowieso.«

Ein letztes Mal drückte er mich fest an sich, dann stieg er ein.

Ich blieb stehen, bis er den VW-Bus auf die Fähre gesteuert hatte, ausgestiegen war und Kusshände werfend an der Reling stand. Als das Schiff bereits winzig klein war und ich seine winkenden Umrisse nur noch erahnen konnte, dachte ich noch immer: Gleich kommt er zurück.