Buch
Vor zwei Jahren kam David, ihre Jugendliebe und ihr Ehemann, bei einem tragischen Unfall ums Leben. Seither hat die 30-jährige Mel die gemeinsame Kölner Wohnung kaum verlassen. Untröstlich über den Verlust deckt sie jeden Morgen den Tisch für zwei und übersteht die Tage nur mit Medikamenten. Erst die Bitte ihrer Mutter, sich um ihre wortkarge Großmutter Lene zu kümmern, die in ihrem alten Bauernhaus gestürzt ist, zwingt Mel, sich der Außenwelt zu stellen. Sie reist in den rauen Westerwald, und zögerlich nähern sich die beiden vom Leben gezeichneten Frauen einander an. Nicht zuletzt durch Lenes Lebensgeschichte, die sie ihrer Enkelin Stück für Stück erzählt. Und auch Lenes attraktiver Hausarzt, Noah Bergkamp, öffnet Mels Herz allmählich wieder für das, was das Leben noch bereithalten mag …
Autorin
Sonja Roos, 1974 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf im Westerwald auf. Sie studierte Germanistik und Anglistik und arbeitete als Redakteurin und Kolumnistin bei der Rhein-Zeitung. Sonja Roos lebt heute mit Mann, drei Töchtern und einem Hund in ihrer alten Heimat, dem Westerwald.
Sonja Roos
Der Windhof
Roman
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Originalausgabe August 2021
Copyright © 2021 by Sonja Roos
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung
der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Covergestaltung: Buxdesign
Covermotiv: Trevillion/Mark Owen
Redaktion: Kristina Lake-Zapp
MR · Herstellung: kw
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-25137-6
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Tom,
der jeden Schritt auf dem Weg
zu diesem Buch mitgegangen ist
Für meine drei Töchter
Be brave, be bold, be beautiful –
ihr seid mein Ein und Alles
Sie werden uns finden, und dann ist es aus. Dieser Gedanke schoss Lene durch den Kopf, als sie das zornige Geräusch der Stiefel hörte, die im Stechschritt näher kamen. Klack, klack, klack. Wie ein Echo ihres Herzschlages. Lene versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. Sie durften keinen Laut von sich geben, nicht einmal das leiseste Wimmern. Diesen Gedanken schickte sie nun wie ein Stoßgebet zu der anderen Frau, die sich im Dunkeln hinter ihr an die klamm-kalte Kellerwand presste und dabei das Bündel in ihren Armen beruhigend hin und her schaukelte. Lene stand vor den beiden, ihren Körper wie einen Schutzschild einsetzend, der die zitternde Gestalt und das Baby nur spärlich zu verbergen vermochte. Ihr Blick wanderte nach oben, dorthin, wo Staub und winzige Strohhalme in dem Licht tanzten, das durch die losen Bretter des eilig verschlossenen Verschlages drang. Zu viel Licht. Sie hätte gründlicher sein müssen, mehr Heu und Stroh über der Öffnung verteilen sollen. So würden sie die Luke im Stallboden schnell ausmachen. Die Schritte waren verstummt, dafür drang nun ein Quietschen unendlich laut durch die Stille in ihrem Versteck. Lene konnte förmlich sehen, wie die Männer sich gerade mit dem Scheunentor abmühten. Sie wandte sich um und legte flehentlich den Zeigefinger auf ihre bebenden Lippen. Die andere Frau starrte sie einen Moment lang aus weit aufgerissenen Augen an, nickte jedoch langsam, während eine stumme Träne über ihre Wange rann. Was nun wie leiser Donner klang, waren die Rollen des Tores, welches die Männer mit vereinten Kräften aufschoben. Wieder der stakkatohafte Klang der Stiefel. Klack, klack, klack. Weiterer Staub rieselte durch die Lücken. Dann hörte sie das Kratzen von Pfoten, den eiligen Atem eines Tieres. Lenes Herz setzte einen Schlag lang aus, nur um im Anschluss umso heftiger in ihrer Brust zu jagen. Sie hatten Hunde dabei. Es wäre nur noch eine Frage von wenigen Augenblicken, bis sie sie in ihrem notdürftigen Versteck finden würden. Sie hörte, wie die Männer Gewehre durchluden, wie der Hund bellend ankündigte, dass er menschliche Gerüche unter dem Stroh am Boden ausgemacht hatte. Seine Pfoten scharrten an der Kante der Luke, noch mehr Streu fiel durch die Öffnungen, und dann nieste das Baby. Lene stieß entsetzt den angehaltenen Atem aus und damit den letzten Rest Zuversicht.
Bis zu diesem Moment hatte sie sich noch irgendwie an die irrige Hoffnung geklammert, dass sie davonkommen könnten. Dass die Männer es zu eilig hatten und zu wenig interessiert waren an den beiden Frauen und den Kindern, die sich hier versteckt hielten. Doch nun schabten Krallen über den Boden, ein grimmiges Röcheln verriet Lene, dass einer ihrer Häscher den Hund an der Leine zurückgerissen hatte. Mit ihren Stiefelspitzen schoben die Männer Stroh und Heu beiseite und rissen die Luke auf. Geblendet von dem nun ungehindert einfallenden Sonnenlicht presste Lene die Augen zusammen. Ihr Mund war trocken, und ihre Beine waren so weich, dass sie nach hinten griff, um sich an der Wand abzustützen. Sie hörte die andere Frau schreien, spürte die kleine, feuchte Hand des Jungen, die sich in ihr fadenscheiniges Leinenkleid gekrallt hatte. Ihre Verfolger kamen mit einem finalen Klackern der blank geputzten Stiefel zu ihnen hinunter ins Loch gesprungen, genau wie der Hund, dessen heißer, stinkender Atem ihr nun ins Gesicht blies, weil das Biest sich auf seine Hinterläufe gestellt hatte und die Vorderpfoten gegen ihre Brust presste. Das Gewicht des Tieres drängte Lene gegen die Wand, die unter dem Druck ihres schmalen Körpers nachzugeben schien. All das nahm sie nur wahr, sah es nicht, weil sie sich weigerte, ihrem Schicksal in die Augen zu blicken. Bis sie etwas Kaltes an ihrer Schläfe fühlte. Der Lauf eines Gewehres presste sich nun fast schmerzhaft in die dünne Haut unterhalb ihres Haaransatzes, dort, wo ihr Puls panisch und unregelmäßig pochte wie ein alter Motor, der überdreht und dann abstirbt. Das war der Moment, in dem sie schlussendlich doch die Lider mit einem Flattern öffnete.
»NEIN!«, schrie Lene, obwohl sie gleich spürte, dass sie in ihrem Bett lag. Ihr Herz stotterte tatsächlich schmerzhaft in ihrer Brust, selbst jetzt noch, wo die Erkenntnis ihr schlaftrunkenes Hirn durchdrang, dass sie wieder einmal nur geträumt hatte. Auch wenn all das mehr als ein halbes Jahrhundert zurücklag, wenn sie nun alt war und auf ein ganzes, gelebtes Leben blicken konnte, so würden diese Angst und Hilflosigkeit aus jenen Tagen ihre Begleiter bleiben bis zu ihrem letzten Atemzug. Obwohl Lene stets eine starke Frau gewesen war, hatte sie nicht die Macht, die Dämonen der Vergangenheit im Schlaf im Zaum zu halten, bis heute nicht. Sie stemmte sich schwerfällig hoch. Ihre Knochen schmerzten, ihr alter Körper drohte ihr den Dienst zu versagen. Alles war mühsam, doch Lene weigerte sich, diesen Umstand anzuerkennen. Entschlossen schob sie ihre dürren Beine aus dem warmen Bett und wankte in Richtung Küche. Ihre Kehle war trocken und brannte, genauso wie ihre Augen. Sie brauchte Wasser, vielleicht würde sie auch das Medikament einnehmen, das Noah ihr fürs Herz verschrieben hatte. Mit wackeligen Schritten tastete sie sich vorsichtig an der unebenen Wand entlang. Und dann passierte es. Eigentlich kannte sie das Haus in- und auswendig, hatte sie doch mehr als siebzig Jahre ihres Lebens darin verbracht. Seine eigenwillige Architektur war in ihre Seele eingebrannt. Trotzdem stolperte sie über die kleine Unebenheit zwischen Schlafkammer und Küche. Ihr Bein knickte weg, und sie spürte, wie sie fiel. Ihre Arme begannen zu rudern, ihre Hände griffen noch im Fallen ein Stück Vorhang, der die Schlafkammer vom Rest des Hauses trennte. Der alte, dicke Stoff würde zumindest verhindern, dass sie mit dem Kopf aufschlug. Doch sie spürte, wie etwas in ihrem Bein kaputtging, lange, bevor der Schmerz einsetzte.
»Wie geht es Ihnen dabei, Frau Winter?«
Mein Blick wanderte verständnislos zu der Therapeutin.
»Wobei?«, wollte ich wissen, weil sie mich mit ihrer Frage aus meinen Gedanken gerissen hatte.
»Damit, dass sich Davids Todestag bald jährt.«
Ich starrte die Frau ungläubig an. Was sollte ich auf diese bescheuerte Frage antworten? Ich hatte die Liebe meines Lebens vor einem Jahr, elf Monaten, sechzehn Tagen, vierzehn Stunden und ein paar Minuten verloren. Meinen Ehemann, meinen Traummann, meinen Seelenverwandten. Wie sollte es mir also gehen? Ich war eine neunundzwanzigjährige Witwe, was sich so falsch anhörte, wie es war. In diesem Alter ist man alles Mögliche – Single, verheiratet, vielleicht Mutter, aber Witwe ist man doch eher selten. Zumal es aus so heiterem Himmel dazu kam, dass ich den Umstand bis zum heutigen Tag nicht akzeptieren konnte. Seit der Beerdigung hatte ich nicht einmal die Kraft gefunden, Davids Grab zu besuchen, denn damit hätte ich anerkannt, dass er niemals mehr zu mir zurückkehren würde, und dazu war ich nicht bereit.
Frau Kunze rückte ihre Brille zurecht, etwas, was sie häufig tat, wenn sie die Geduld mit mir verlor, es aber nicht zeigen wollte. Sie blätterte durch ihre Notizen und sah mich dann wieder durchdringend an. »Ich sehe, Sie feiern in der kommenden Woche Ihren dreißigsten Geburtstag. Ist das ein Problem für Sie?«
Noch so eine bescheuerte Frage. Ich schüttelte innerlich den Kopf und fragte mich nicht zum ersten Mal, weshalb ich überhaupt noch herkam. Weder Frau Kunze noch die vier anderen Therapeuten hatten mir in irgendeiner Weise weiterhelfen können. Im Gegenteil – meistens fühlte ich mich noch schlechter, wenn ich die Praxis nach einer Therapiesitzung wieder verließ. Bloßgelegt und verletzt, so als hätten diese unsinnigen Fragen den Schorf von meiner Seele gekratzt, die nun erneut blutete. Trotzdem kam ich nicht umhin, über ihre Frage nachzudenken. Würde David noch leben, hätte er sich sicherlich etwas unglaublich Schönes für meinen Geburtstag einfallen lassen. Vielleicht wären wir verreist an einen exotischen, romantischen Ort, oder er hätte eine Überraschungsparty für mich geplant. Womöglich hätten wir aber auch ein Kind und würden – statt zu feiern – ein gemütliches Essen zu Hause zubereiten und uns danach leise lieben, damit wir das Baby nicht aufweckten. Wer weiß? Ich würde es nie erfahren, weil sich meine Zeitrechnung seit fast zwei Jahren in »vor dem Unfall« und »danach« aufteilte. Und alles, was »vor dem Unfall« möglich gewesen war, alle Träume und Chancen und Hoffnungen, waren im »Danach« der Erkenntnis gewichen, dass es nun für mich kein Morgen mehr gab. Ich hatte nur noch ein Gestern, weil alles Gute, Helle und Schöne in der Vergangenheit lag und mit David gestorben war.
»Frau Winter, möchten Sie unsere Sitzungen überhaupt fortführen? Sie kommen seit über zwei Monaten jede Woche her und schweigen mich eine Stunde lang an. Es bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen, wie Sie die Zeit hier nutzen, aber ich sehe nicht, dass wir eine gemeinsame Gesprächsebene entwickeln.«
Wieder starrte Frau Kunze mich aus Augen an, die hinter ihrer riesigen Brille wie die einer Eule wirkten. Sie hatte recht, das alles brachte gar nichts.
Ohne ein weiteres Wort stand ich auf, nahm meine Jacke und ging. Frau Kunze rief mir noch etwas nach, doch ich verstand es nicht, weil meine Gedanken schon wieder in die falsche Richtung zu wandern drohten, nämlich zu der einen entscheidenden Frage: Wozu das alles noch? Ich zwang mich, gedanklich kehrtzumachen, und rannte die lange Treppe hinunter, um nur schnell fortzukommen von dieser schicken, sterilen Altbaupraxis und von Frau Kunze, die ich von Anfang an nicht gemocht hatte. Nur mir selbst und meiner Trauer konnte ich nicht entfliehen.
Vor der Tür erwartete mich ein trüber, regnerischer Tag, der Köln in all seiner einbetonierten Tristesse noch unschöner erscheinen ließ. Ich blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit für meine Medikamente war. Vor dem Unfall war das Stärkste, das ich je zu mir genommen hatte, eine Aspirin-Tablette gewesen, und das auch nur dann, wenn ich extreme Kopfschmerzen hatte. Nach dem Unfall jedoch kam ich ohne Chemie kaum durch den Tag. Antidepressiva, Angstlöser, Schlafmittel – egal was, Hauptsache, es half, mich zumindest zeitweise zu betäuben. Zudem klammerte ich mich an eine gewisse Routine – einer der wenigen Ratschläge meiner Therapeutin, die ich zu beherzigen versuchte. Ich stand brav jeden Morgen um Punkt sieben Uhr auf, kochte Kaffee und deckte den Tisch für zwei, weil es mich davor bewahrte, schon am frühen Morgen Dinge zu akzeptieren, für die ich zuerst ein gewisses Maß an Koffein, Tabletten und Alltagsgefühl brauchte. Nach dem Frühstück ging ich duschen. Das war wichtig, denn eine Zeit lang hatte mir selbst dazu die Kraft gefehlt, was einen echten Tiefpunkt in meinem Leben nach dem Unfall markierte. Das wollte ich nicht noch einmal durchmachen, also duschte ich – Morgen für Morgen. Anschließend setzte ich mich an den Schreibtisch und übersetzte schlechte Liebesromane ins Deutsche, was meilenweit von meinen ursprünglichen Karriereplänen entfernt war, die »vor dem Unfall« mal vorgesehen hatten, dass ich bei einer renommierten Zeitung anfangen oder sogar ein eigenes Buch schreiben würde. Stattdessen suchte ich nach Synonymen für bebende Busen und pulsierende Glieder. Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ich den ganzen Tag mit Schnulzen zubrachte, hatte ich doch im wahren Leben der Liebe gezwungenermaßen abgeschworen. Immerhin erlaubte mir der Job eine freie Zeiteinteilung sowie ein verschwindend geringes Maß an zwischenmenschlicher Interaktion, was mir sehr entgegenkam.
Ich arbeitete genau drei Stunden, dann aß ich einen Snack und ging einkaufen, was mir die Illusion erlaubte, so wie alle anderen zu sein. Niemand sah mir an, dass ich später allein an meinem Küchentisch sitzen, Zwiesprache mit einem Foto halten und zu viel Wein trinken würde. Ich ging gerne vormittags einkaufen, wenn weniger Familien unterwegs waren, denn »vor dem Unfall« hatten wir gerade beschlossen, auf Verhütung zu verzichten. Ein Baby wäre die Krönung unserer Liebe gewesen – eine perfekte kleine Mischung aus ihm und mir, die es nun niemals geben würde. Anschließend sah mein strikter Tagesplan vor, dass ich meine Einkäufe in den dritten Stock in meine viel zu große, viel zu teure Wohnung schleppte und verstaute und im Anschluss meine Mutter anrief, damit sie sich keine Sorgen machte. Um Punkt fünfzehn Uhr ging ich spazieren, weil alle sagten, dass frische Luft guttat. Ich war genau zwei Stunden unterwegs und kehrte um siebzehn Uhr nach Hause zurück, um mein einsames Abendessen vorzubereiten. Ich deckte nur für mich. Abends war das einfacher, denn David war zuletzt beruflich oft eingespannt gewesen und spät heimgekommen, sodass er sich nur noch Reste aus dem Kühlschrank in der Mikrowelle warm machte und nach dem Essen auf dem Sofa neben mir einschlief. Ich aß, dann räumte ich das einzelne Gedeck in die Spülmaschine, die nur alle drei bis vier Tage lief, weil ich so wenig Geschirr brauchte, dass es sich kaum lohnte, sie anzustellen. Wenn ich damit fertig war, konnte ich mich belohnen. Endlich. Ich konnte in meine alte Jogginghose steigen, meine Haare nach hinten zu einem unordentlichen Dutt auftürmen und mir ein großes Glas Wein einschenken. Auf dem Sofa erzählte ich David dann, wie langweilig mein Tag gewesen war, was meine Mutter am Telefon über Papa und seinen bevorstehenden Ruhestand berichtet hatte, und dann lachte ich mit ihm über den albernen Roman, den ich zurzeit übersetzen musste und der von Annabell und Lord Rupert handelte, die eine Zweckehe eingegangen waren, aber gerade ihre Leidenschaft füreinander entdeckten. Sein Foto lehnte dabei an der Rotweinflasche. Es war ein Bild von unserem letzten Urlaub in der Bretagne. David trug die scheußliche Radlerhose mit passendem Hemd, die Haare waren plattgedrückt vom Helm. Sein Rennrad stand im Hintergrund. Als Kulisse für den Schnappschuss hatten wir einen alten Leuchtturm gewählt, dessen Farbe abblätterte vom Wind und der salzigen Luft. Das Meer war dunkel und aufgepeitscht, und der Himmel schien am Horizont nahtlos ins Wasser überzugehen, was aussah, als wären einem Maler die Farben verlaufen.
David aber leuchtete. Seine Augen, sein Mund, alles an ihm sprühte vor Lebensfreude und Optimismus. Er hatte eine Hand gehoben wie zum Gruß, und ich konnte unseren Ehering sehen, der einen der wenigen Lichtstrahlen an diesem Tag reflektierte. Kurz nachdem das Foto entstanden war, hatte ein Blitz den dunklen Himmel zerrissen, und nach einem ohrenbetäubenden Donner hatte es angefangen zu schütten.
»Siehst du, ich habe doch gleich gesagt, wir sollten in der Pension bleiben!«, brüllte ich ihm über den prasselnden Regen hinweg zu, doch David lachte nur und schüttelte sich die Tropfen aus den Haaren, während er mich hinter sich herzog. So waren wir. David ging voran, und ich folgte ihm. Er war immer gut gelaunt, sein Glas stets halb voll, wohingegen ich meist ängstlich und vorsichtig und bedacht war. Vielleicht hatten wir genau deshalb so gut zusammengepasst, waren perfekt als Paar, wie zwei Hälften, die man zusammenfügt und ein Ganzes erhält.
Ich trank einen großen Schluck Wein und starrte auf sein Bild. Die Erinnerung an diesen gemeinsamen Urlaubstag war so schön und zugleich so schmerzhaft. Wir hatten uns am Strand in eine kleine Felsenhöhle gerettet, wo er mich an sich zog und meine wütende Tirade mit einem zärtlichen Kuss erstickte. Zunächst schmollte ich noch, doch ich konnte ihm nie lange böse sein, und so wurden meine Lippen weich unter seinen, und wir küssten uns dort in unserem felsigen Unterschlupf, nur begleitet vom Rauschen des Regens und dem Schlagen unserer Herzen. Wir blieben noch eine ganze Weile dort ineinander verschlungen stehen, doch langsam begann ich zu frieren in meinem durchnässten dünnen Sommerkleid.
»Umso schöner wird es, wenn wir uns gleich gemeinsam unter der heißen Dusche aufwärmen«, flüsterte er mir ins Ohr, und die Gänsehaut, die ich nun bekam, rührte nicht von der Kälte.
»Herr Winter, Sie denken aber auch immer nur an das eine«, rügte ich ihn mit gespielter Empörung, und er lachte so laut und herzlich, wie nur David lachen konnte.
»Es tut mir leid, Frau Winter, doch derzeit denke ich tatsächlich sehr viel an das eine, und Sie wissen auch, warum.«
Ja, das wusste ich, und ich kam nicht umhin, nun darüber nachzugrübeln. Ich hatte vor einigen Monaten die Pille abgesetzt, doch jedes Mal am Monatsende kam meine Periode pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk.
David kannte mich, er ahnte, welche Wendung meine Gedanken gerade nahmen. Bevor ich wusste, was er tat, ging er dort auf dem felsigen Boden vor mir auf die Knie, wobei er mich mit sich herunterzog, und sah mir eindringlich in die Augen. »Es sind doch erst ein paar Monate, Mel. Wir werden ein Baby kriegen. Ich weiß es, ich fühle es, ganz tief hier drin.« Er hatte während der kleinen Ansprache meine Hand genommen und auf sein Herz gelegt, das fest und rhythmisch unter seinem klammen Shirt gegen meine zittrigen Finger pochte. »Mel. Ich liebe dich, und du weißt, wie sehr ich mir ein Kind mit dir wünsche, aber es hat doch keine Eile. Setz dich bitte nicht so unter Druck, es wird schon klappen.« Mein zaghaftes »Aber« stahl er mir mit einem erneuten Kuss von den Lippen, um mich danach auf die Füße, aus der Höhle und zum Meer hinunter zu ziehen.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft schmeckte salzig und roch nach Gewitter. Das Wasser umspülte unsere nackten Füße, während wir Arm in Arm dort standen und einem berauschenden Sonnenuntergang zusahen, dessen Farben so warm, satt und optimistisch waren, dass ich seinen leisen Worten nur zu gerne Glauben schenkte. »Wir haben alle Zeit der Welt, Mel.« Wie sehr er sich doch getäuscht hatte.
Ich kippte den Rest Rotwein in einem Zug hinunter und merkte erst jetzt, dass mir einmal mehr die Tränen über die Wangen liefen. Das »Danach« war voller Tränen. Ich machte mir nicht die Mühe, sie fortzuwischen. Wozu auch? Sie wären sofort wiedergekommen. Nachdem ich mein Glas in die halb leere Spülmaschine geräumt hatte, stellte ich die Flasche zum Altglas und ging mit David schlafen. Das heißt, ich nahm sein Bild und sein altes T-Shirt, dessen zerschlissener Stoff schon lange nicht mehr nach ihm roch, auch wenn ich mir das unbedingt einbilden wollte. Damit bewaffnet machte ich mich daran, den schlimmsten Stunden des Tages entgegenzusehen. Die Nächte waren endlos und dunkel. Manchmal half der Wein, manchmal ein Schlafmittel. Doch meistens verschaffte beides meinem Körper nur winzige Auszeiten von dem Schmerz, der jetzt mein Leben bestimmte.
Am meisten fürchtete ich die Momente zwischen Schlafen und Aufwachen, den kurzen Augenblick, in dem ich tatsächlich glaubte, alles sei in Ordnung. In dem ich mich, benommen vom Schlaf, zu seiner Seite drehte und mit der Hand ins Nichts griff. Keine Restwärme, keine zerwühlten Laken, kein David. Müsste ich das Gefühl beschreiben, das mich dann überkam – es wäre am ehesten mit einem kräftigen Schlag in die Magengrube vergleichbar, und zwar mit allen entsprechenden Folgen: der Panik, der Übelkeit, der Machtlosigkeit. Aus Angst vor genau diesem Augenblick blieb ich nach einer unruhigen ersten Schlafphase meist den Rest der Nacht über wach. Starrte in unser Schlafzimmer, in dem langsam und träge ein neuer Morgen durch die Lamellen des Rollos kroch, und fragte mich, warum ich eigentlich noch hier war.
Ich weiß nicht, ob es am Wein lag oder an meiner generellen Erschöpfung, doch mich weckte an diesem Morgen der Wecker. Ich konnte mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal eine ganze Nacht lang Schlaf gefunden hatte, geschweige denn, wann mir der Augenblick erspart geblieben war, in dem ich David noch am Leben wähnte. Der Wecker hatte mich jedoch so abrupt aus meinem traumlosen Dämmern gerissen, dass ich gleich zu hundert Prozent da war.
»Guten Morgen«, sagte ich zu seinem Foto, das in der Nacht auf dem kleinen Tisch neben meinem Bett Wache über mich gehalten hatte. Ich presste das kalte Glas des Bilderrahmens an meine Lippen, um seinem zweidimensionalen Ich einen Kuss aufzudrücken, dann stand ich auf und machte mir Frühstück. Zwei Gedecke, zwei Tassen Kaffee, zwei Toasts, ein Antidepressivum. Die anschließende Dusche war angenehm, denn mein Schädel schien zu explodieren. Mir taten sogar die Haare auf dem Kopf weh.
Einmal die Woche stieg ich auf die Waage, meistens montags, stets in der Hoffnung, dass ich am Wochenende ein klein wenig zugenommen hatte. 48,2 Kilogramm bei einer Größe von 1,68 Meter. Ich wusste, dass das zu wenig war, doch essen hatte mit Lust zu tun, mit Freude, mit Gemeinschaft. Ich aß nur, um irgendwie weiterzuexistieren, was mir jedoch von Tag zu Tag weniger erstrebenswert erschien. Vielleicht sollte ich einfach aufhören zu essen und irgendwann verschwinden, wie ein Bleistiftstrich, der allmählich verblasst. Aber ich hatte meinen Eltern versprochen, auf mich zu achten, und dazu gehörte auch, meinem Körper Nahrung zuzuführen.
Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild: halblanges honigblondes Haar, prominente Wangenknochen, die grünen Augen etwas zu groß in dem schmal gewordenen Gesicht, Sommersprossen, die Nase einen Hauch schief von einem Fahrradunfall mit acht Jahren. Der Bruch war schlecht verheilt, und wenn man genau hinsah, konnte man die feine weiße Linie ausmachen, an der die Haut damals aufgeplatzt war, als ich bei dem Sturz mit dem Gesicht voran auf eine Baumwurzel aufschlug. Meine Schultern waren knochig, genau wie meine Hüften, die unschön hervorstanden. Selbst meine Brüste waren kleiner geworden, fast eine ganze Körbchengröße. David hatte meinen Körper geliebt, er wäre sicher entsetzt, wenn er mich so sehen würde. Oder auch nicht, denn David sah immer in allem das Gute und Schöne. Durch seine Augen betrachtet wäre vielleicht sogar ich in der Lage, mehr als nur eine verbitterte, verhärmte und lebensmüde Neunundzwanzigjährige zu sehen, die zu wenig aß und zu viel trank.
Ich zog mich an, ohne wirklich darauf zu achten, was ich da aus dem Schrank fischte. Meist waren es Jeans und übergroße Sweatshirts, die meine knochige Silhouette verbargen und mich so vor neugierigen Blicken schützten. Dann setzte ich mich an den Rechner, um zu sehen, wie es mit Annabell und Lord Rupert weiterging. Ich las die letzten Absätze, um wieder hineinzufinden, dann überlegte ich viel zu lange, ob die Autorin den Vater des Helden, den sie als »obnoxious« bezeichnete, für widerlich, abscheulich, unausstehlich oder vielleicht doch eher anstößig befand. Solche Entscheidungen hatte ich früher aus dem Bauch heraus gefällt. In letzter Zeit kostete es mich meist Stunden, mich auf eine Bedeutung festzulegen. Wenn ich so weitermachte, würde ich den Abgabetermin sprengen und am Ende keine weiteren Aufträge von dem kleinen Übersetzungsbüro bekommen, für das ich diese dämliche Arbeit verrichtete. Ich ließ erst einmal eine Lücke und kehrte zu Annabell zurück, die Rupert gerade gestand, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Lord Rupert Ravenport aber konnte sich seine Gefühle noch nicht eingestehen und verließ Annabell. Ich hatte schon genügend dieser kleinen Dramen übersetzt, um zu wissen, dass er bald zu ihr zurückkehren würde. Vermutlich erkrankte Annabell, wurde von Lord Ruperts Vater entführt oder verletzte sich auf der Suche nach ihm. In jedem Fall sah Schema F vor, dass der Held erst erkennen musste, was er hatte, indem er es fast verlor – vorher war ihm kein Happy End vergönnt.
Da konnte ich nicht mitreden, ich hatte stets gewusst, was ich an David hatte. In einem englischen Liebesroman wären wir als »Highschool-Sweethearts« bezeichnet worden. Wir waren schon zusammen zur Schule gegangen, und mit vierzehn hatte ich von David meinen ersten Liebesbrief bekommen. Es war nicht das übliche präpubertäre »Willst du mit mir gehen? Kreuze an.« Nein, David hatte mich gezeichnet, und zwar gut. Seine Bleistiftstriche hatten mich im Unterricht eingefangen, während ich gelangweilt auf einem Stift kaute und aus dem Fenster starrte. »Ich wüsste so gerne, woran du da gerade gedacht hast«, hatte er daruntergeschrieben. Ich wusste es nicht mehr, wusste nur, dass es seither er gewesen war, um den meine Gedanken kreisten, dass es ab diesem Moment kein Ich mehr gegeben hatte, sondern nur noch ein Wir.
Der erste Kuss war noch unbeholfen, wir stießen mit den Vorderzähnen zusammen. Der zweite war schon besser, und irgendwann bekamen wir gar nicht mehr genug vom Küssen.
Wir schliefen das erste Mal miteinander an einem Wochenende gut zwei Jahre später. Meine Eltern waren zu Freunden ins Sauerland gefahren, und wir hatten das kleine Haus im Herzen des Westerwaldes für uns allein. Vielleicht war es rückblickend beim ersten Versuch nicht das erfüllendste Erlebnis, aber es fühlte sich so unglaublich richtig an. So gut. Ich betrachtete sein konzentriertes Gesicht, als er in mich eindrang und wir verschmolzen, und ich wusste, dass er derjenige war, mit dem ich gemeinsam durchs Leben gehen wollte. Und daran hatte sich seither nichts geändert.
Ich starrte wütend auf den Bildschirm, wo Annabell tatsächlich gerade mit einem Fieber kämpfte, während Lord Rupert sich nun bebend über ihre zusammengesunkene Gestalt beugte und ihr seine Liebe gestand. Die beiden hatten das Leben noch vor sich, ich hatte es hinter mir. Obwohl es erst halb zwölf war, klappte ich meinen Laptop eine Spur zu vehement zu und drehte mich zum Regal um, das einem Schrein für David glich. Jedes Fach war voller Bilder, dahinter standen gerahmte Liebesbriefe – kleine Zettel, auf denen er mit seiner ordentlichen Handschrift manchmal nur einen kleinen Guten-Morgen-Gruß geschrieben hatte, wenn er früher als ich das Haus verlassen musste. Da waren auch die allererste Zeichnung, die er damals in der Schule von mir gemacht hatte, und natürlich seine Pokale. David war sehr sportlich gewesen, er hatte Handball bis zur Zweiten Bundesliga gespielt und galt als exzellenter Schwimmer. Außerdem war er ein ganz ordentlicher Fußballspieler gewesen, und er liebte das Rennradfahren. Auf den Fotos von unseren unzähligen Urlauben und Kurztrips – Holland, Norwegen, Mallorca, die Bretagne – war überall irgendwo im Bild sein Fahrrad zu sehen. Das Rad, auf dem er später sterben sollte.
Wir hatten Geld zur Seite gelegt, weil wir mit dem Wohnmobil und seinem Rad durch Australien reisen wollten. »Lass es uns jetzt tun, Mel, wer weiß, wann das mit dem Baby klappt, und dann können wir erst einmal nicht weg«, hatte er gefleht und mich dabei mit seinem umwerfenden Lächeln um den Finger gewickelt. Ich hatte schließlich lachend nachgegeben, wie ich das immer irgendwann tat. Einfach, weil er wusste, was das Richtige für uns war, und weil ich wusste, dass sich meine Ängste und Sorgen am Ende meist als unbegründet erwiesen. Was machte es schon, dass bislang nur er eine gute Stelle gefunden hatte und ich nach dem Studium noch Bewerbungen schrieb und Absagen sammelte und mich mit Aushilfsjobs durchschlug? Irgendwann würde es schon klappen. Es hatte doch immer geklappt. Wir waren David und Mel, die zwei Musketiere, die Unzertrennlichen. So hatte es schon damals in der Abizeitung über uns gestanden. Und es war wahr gewesen bis zu dem Moment, in dem ein mit Baumstämmen beladener Lkw seine schlecht gesicherte Ladung verlor. David hatte mit seinem Rennrad nicht den Hauch einer Chance gehabt.
Snack, erinnerte ich mich. Ich sollte meinen Snack essen, meine Einkäufe erledigen und meine Mutter anrufen. Ich ignorierte das Zittern, das mich erfasst hatte, ignorierte die Übelkeit und die Tränen, die wie immer tonlos und schier unermüdlich flossen. Wie auf Autopilot ging ich in die Küche, wo ich mich dazu zwang, einen Apfel und einen halben Joghurt zu essen, was ich im Anschluss beides auf der Toilette erbrach. Nachdem die Übelkeit und der Schwindel abgeebbt waren, schlüpfte ich in meine Jacke, um einkaufen zu gehen, denn diese alberne Routine war derzeit alles, was mich noch auf den Beinen hielt. Ich steuerte den nächsten Supermarkt an, der keine zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt lag. Es war ein Biomarkt, und er zog leider viel zu viele Familien an, doch heute waren meine Beine so schwer und meine Schritte so unsicher, dass ich mir den weiteren Weg zum Discounter einige Straßenzüge entfernt nicht zutraute. Schon beim Betreten des Marktes hielt ich den Blick gesenkt, um ja nicht zu viel von meiner Umgebung wahrzunehmen. Der Bastkorb schlug mir rhythmisch gegen die Knie, während ich gehetzt durch die Regalreihen lief und nur Dinge in den Korb warf, die David mochte. Ich hasste Chiasamen, und mir wurde übel von Rosenkohl, doch irgendwie war mein Körper wie ferngesteuert und mein Kopf wie leergefegt, weshalb ich einfach weiterhin lauter unsinniges Zeug zusammensuchte, das ich später vermutlich in der Biotonne entsorgen würde.
Ich war so versunken, dass ich gar nicht bemerkte, wie ich in jemanden hineinlief. »Hoppla«, sagte eine sympathische Stimme, und ich starrte in Augen, die mich frappierend an Davids erinnerten. Der Mann war etwas größer und vermutlich gute zehn Jahre älter, als David es am Tag seines Todes gewesen war. Das sah man an den Krähenfüßen, die sich bis zu seinen Schläfen zogen, an den silbrigen Strähnen in seinem blonden Haar und an dem leichten Bauchansatz. So hätte David in zehn Jahren ausgesehen, schoss es mir durch den Kopf. Vor Schreck fiel mir das Glas mit Bohnen aus der Hand und zerschellte in tausend Scherben im Gang.
»Andreas, alles in Ordnung?« Eine Frau Anfang dreißig erschien mit einem Einkaufswagen, auf dem ein Maxi Cosi thronte. Sie blieb neben der älteren David-Version stehen und sah mich freundlich, wenn auch mit leichter Besorgnis an. »Geht es Ihnen gut?«, fragte sie, bevor sie den Arm ausstreckte, um mich ein Stück von den Scherben wegzulotsen.
Ich zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück, als hätte sie versucht, mich zu schlagen.
Das Baby fing an zu weinen. Die Frau wandte sich ihm zu, um das krähende Bündel aus den Gurten zu befreien. Es war ein Junge, der blaue Strampler noch ein wenig groß für den winzigen Körper. Sobald er in den Armen seiner Mutter lag, beruhigte er sich, und das Schreien ebbte zu einem leisen Glucksen ab, um dann ganz zu verstummen. Das Paar stand immer noch vor mir, sah jetzt aber eher alarmiert aus.
»Möchten Sie, dass wir jemanden anrufen?«, fragte die Frau vorsichtig, und presste den Säugling an sich, als fürchte sie, ich könnte ihn ihr jeden Augenblick aus den Armen reißen.
Ich schüttelte den Kopf so vehement, dass sich meine Haare aus dem unordentlichen Zopf lösten und mir ins Gesicht flogen. Dann ließ ich den Bastkorb fallen und rannte los, rannte weg von diesem Bild, dieser perfekten kleinen Familie, von der irrigen Illusion meiner Zukunft, die niemals mehr wahr werden würde.
Ich wusste nicht, wie ich nach Hause gekommen war, wusste nur, dass ich jetzt auf dem Boden im Flur gleich neben der Haustür lag und mehr Luft einatmete, als ich aus meiner krampfenden Lunge herausbekam. Eine Panikattacke. Ich wusste, dass es eine Panikattacke war, weil ich solche Aussetzer unmittelbar nach dem Unfall dauernd hatte. Sie überfielen mich zu allen Tages- und Nachtzeiten, in Augenblicken, in denen es mir verhältnismäßig gut ging, und in Momenten, in denen ich ohnehin schon am Boden war – so wie jetzt. Irgendwie schaffte ich es, mich an der Wand hochzudrücken und schwer atmend in die Küche zu stolpern, wo ich wie eine Wahnsinnige die Schubladen aufriss, bis ich endlich eine Papiertüte fand, in die ich atmete, bis ich halbwegs das Gefühl hatte, wieder Luft zu bekommen. Anschließend zerknüllte ich die Tüte in meinen schweißnassen Händen und starrte zur Decke, durch die Decke hindurch zu einem Himmel, an den ich schon lange nicht mehr glaubte.
»Warum bist du fortgegangen? Warum?«, schrie ich, während ich mich auf die Knie sinken ließ, da, mitten in der Küche, auf die kalten schieferfarbenen Fliesen, die wir zusammen ausgesucht hatten.
Das Telefon riss mich aus meiner Verzweiflung. Mühsam kam ich auf die Beine, um danach zu suchen. Mit Sicherheit war das meine Mutter, denn sie war in diesen Tagen die Einzige, die regelmäßig bei mir anrief. Freunde hatte ich kaum noch, und mein Sozialleben war in etwa so lebhaft und fruchtbar wie mein Liebesleben. Ich rannte ins Wohnzimmer und riss suchend die Kissen vom Sofa, doch das Mobilteil des Telefons fand sich erst dann unter dem Sessel, als das Klingeln bereits aufgehört hatte. Mit steifen Fingern wählte ich die altbekannte Nummer meiner Eltern, denn meine Mutter war vermutlich jetzt schon besorgt, und würde sie nicht zeitnah etwas von mir hören, säße sie im nächsten Zug nach Köln, um nach dem Rechten zu sehen.
»Mel, da bist du ja«, sagte sie ohne Begrüßung, als sie nach dem ersten Klingeln abnahm.
»Ja, da bin ich«, gab ich sinnloserweise zurück. Meine Stimme klang selbst für meine Ohren auf eine gekünstelte Art und Weise zu munter.
»Alles in Ordnung?« Die Antennen meiner Mutter funktionierten gut, manchmal zu gut. Sie konnte in Augenblicken wie diesem heraushören, wie es gerade wirklich um mich stand, und obwohl ich mich nun fast zwei Jahre bemühte, ihr weiszumachen, dass ich auf dem Weg der Besserung sei, ließ sie sich nur selten etwas von mir vormachen.
»Melanie, was ist los?«
Ich ließ mich aufs Sofa fallen und überlegte kurz, ob ich ihr etwas vorlügen sollte, doch dafür hätte ich mehr Kraft gebraucht, als ich noch besaß. Also erzählte ich ihr von dem Vorfall im Supermarkt. Von dem Mann, der David so ähnlich gesehen hatte, und der Frau mit dem Baby. Sie hörte schweigend zu; fast konnte ich sehen, wie sie ihre Stirn besorgt in Falten zog. Sie ließ mich aussprechen und setzte erst dann wieder an, als mein manischer Erzählfluss durch heftige Schluchzer zum Versiegen kam.
»Melanie, warum kommst du nicht her? Du weißt, du hast hier immer ein Zuhause. Es tut dir nicht gut, allein in der Großstadt zu sitzen, noch dazu in dieser Wohnung, die wie ein Schrein für David ist.« Ich wollte etwas sagen, doch sie brachte mich mit einem entschlossenen »Lass mich ausreden« zum Schweigen. »Du hast in der ganzen Zeit nichts verändert. Seine Sachen liegen noch so auf dem Schreibtisch, wie er sie am Tag seines Todes dort zurückgelassen hat. Seine Bettseite hat immer noch den gleichen Bezug, sein Anzug hängt in eurem Schlafzimmer an der Tür, und seine Schuhe stehen im Flur, wo sie immer gestanden haben, stimmt’s?« Sie war schon monatelang nicht mehr in meiner Wohnung gewesen, einfach, weil ich ihren Trost und ihren Pragmatismus nicht ertragen konnte. Umso mehr überraschte es mich, dass sie genau wusste, wie es hier, wie es in mir aussah. Eigentlich hatte ich versucht, uns beiden einzureden, dass ich durch die Routine und die Medikamente auf dem Weg der Besserung sei.
»Mel, du bist noch so jung, du hast dein Leben noch vor dir. David hätte nicht gewollt, dass du dich aufgibst. Er wäre am Boden zerstört, wenn er wüsste, dass du am Tag des Unfalls gleich mit ihm gestorben bist.« Bei den letzten Worten brach die Stimme meiner Mutter, und ich hörte durch die Entfernung und das leise Rauschen meines defekten Hörers hindurch, wie sie um Fassung rang. Ich war ihr einziges Kind. Sie war so froh für mich gewesen, als ich David fand, und versank mit mir in tiefster Trauer, als ich ihn verlor. Doch bei ihr überwog nun die Sorge um mich ihren Schmerz und den Verlust, was ich zwar verstehen, aber nicht ändern konnte.
»Kind, wir haben David auch geliebt, er war so ein großartiger Mensch, und das Schicksal hat es wirklich nicht gut mit dir gemeint. Aber du musst irgendwann wieder nach vorne blicken, dem Leben eine zweite Chance geben.«
Ich starrte eine gefühlte Ewigkeit auf den Boden unter mir. Ich wusste, dass sie auf eine Antwort wartete, aber was hätte ich darauf sagen sollen?
Irgendwann sah meine Mutter ein, dass das Gespräch in eine Sackgasse führte, und wechselte auf unverfänglicheres Terrain. »Dein Vater hat sich eine Angelausrüstung gekauft.«
Ich konnte nicht anders, ich musste durch den Schleier meiner Tränen hindurch lachen. »Das ist nicht dein Ernst? Papa hat in seinem Leben noch nie geangelt. Er hat weder Geduld, noch verbringt er gerne Zeit am Bach wegen der Mücken und der Hitze im Sommer.«
Meine Mutter atmete hörbar aus. »Er möchte etwas für sich tun«, sagte sie, und ich konnte fast sehen, wie sie resigniert den Kopf schüttelte. Mein Vater war ein Arbeitstier. Er war seit über fünfundzwanzig Jahren der Bürgermeister unserer kleinen Verbandsgemeinde und hatte stets das Wohl der anderen im Kopf – das allerdings auf Kosten unseres Familienlebens. Mein Vater hatte sein Amt nicht nur wie einen Job betrachtet, es war sein Ein und Alles. Er war mit Leib und Seele Kommunalpolitiker, »weil man da wirklich noch was bewegen kann für die Menschen«, wie er immer sagte. Und obwohl mein Vater einer Partei angehörte, hatte er sich stets darum bemüht, seine Entscheidungen überparteilich und unabhängig zu treffen. Er hatte in seiner Amtszeit zwei neue Kindergärten und ein Altenheim gebaut und noch dazu einen Nachbarschaftshilfeverein auf die Beine gestellt. Die Menschen liebten ihn und hätten vermutlich sogar erneut für ihn gestimmt, doch nun ging mein Vater auf die siebzig zu, und eine weitere Amtszeit war ihm vom Wahlgesetz her untersagt. So musste er schweren Herzens bekannt geben, dass er für die nächste Wahl nicht mehr zur Verfügung stehen würde, »damit nach fünfundzwanzig Jahren auch mal ein anderer rankann«. Doch glücklich machte ihn die Aussicht nicht. Dabei war es wirklich an der Zeit, denn obwohl meine Mutter zwölf Jahre jünger war als er, wurde auch sie älter und hatte definitiv ein bisschen mehr Aufmerksamkeit verdient. Doch je näher der Termin rückte, desto mehr schien ihn der Gedanke an seinen Ruhestand in schiere Panik zu versetzen.
»Das kommt davon, wenn man denkt, man wäre mit seinem Beruf verheiratet, und plötzlich feststellt, dass es da noch eine Ehefrau gibt«, hatte meine Mutter gespottet, doch den leicht bitteren Unterton in ihrer Stimme konnte man nur zu gut heraushören. Mein Vater hatte im letzten Vierteljahrhundert eigentlich keine nennenswerte Freizeit gehabt, und nun, da er bald eine ganze Menge davon haben würde, wusste er nicht, was er damit anfangen sollte. Er hatte ungefähr jede Woche eine neue Idee für ein mögliches Hobby, von Briefmarken sammeln über Gartenarbeit bis hin zum Angeln.
»Du weißt das Beste noch nicht: Lutz Krieger will kandidieren«, sagte Mama nun, und ich bekam vor Überraschung einen Hustenanfall.
Lutz Krieger war so etwas wie Papas Erzfeind; in unserem Hause war er der Antichrist, das personifizierte Böse, das nur auf Erden wandelte, um Papa das Leben schwerzumachen. Als Fraktionsführer der gegnerischen Partei im Rat legte er Papa seit Jahren Steine in den Weg. Für jeden Antrag hatte mein alter Herr in den Reihen der kleinen Parteien werben und um Stimmen buhlen müssen, weil die beiden stärksten Fraktionen zahlenmäßig gleichauf waren und sich so bei jedem noch so kleinen Ansinnen stets gegenseitig blockierten.
»Ich befürchte, wenn dein Vater endlich als Bürgermeister abtritt, dann hat er entweder ein Magengeschwür oder aber Bluthochdruck. Er regt sich seit Tagen nur noch auf, und heute Morgen …« Weiter kam sie nicht. Es schepperte im Hintergrund. »Toni, dass kann jetzt nicht dein Ernst sein«, drang es leise aus dem Hörer; vermutlich hielt sie eine Hand über die Sprechmuschel.
»Mama? Was ist denn?«, wollte ich wissen, weil der Unterton ihrer Frage nichts Gutes verhieß.
»Mel, ich muss Schluss machen, dein Vater ist gerade mit einer kompletten Golfausrüstung zur Tür hereingekommen.« Sie seufzte. »Jetzt bist du wirklich übergeschnappt«, hörte ich sie noch sagen, dann endete das Gespräch.
Ich musste immer noch ein wenig lächeln, auch wenn mir nach solchen Momenten meine Einsamkeit noch deutlicher bewusst wurde. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass meine Panikattacke meinen Tagesrhythmus ganz schön durcheinandergebracht hatte. Es war schon nach vier, und wenn ich jetzt mit der Bahn aus der Stadt herausfahren würde, um meinen täglichen Spaziergang zu absolvieren, wäre ich vermutlich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Ich haderte einige Minuten lang mit der Entscheidung, was zu tun sei, denn ich wusste, wie gefährlich es war, die Routine zu durchbrechen. Das konnte einen wahren Dominoeffekt auslösen. Erst verzichtete man auf eine Kleinigkeit, und nur wenig später stellte man das ganze System in Frage. Am Ende solcher Phasen lag ich manchmal wochenlang im abgedunkelten Schlafzimmer, bis meine Mutter kam und mich wieder zu einem der Psychologen schleppte, die mir bei meiner Trauerbewältigung helfen sollten, mich aber nur noch trauriger und wütender machten.
Als es draußen dann auch noch zu regnen anfing, war mein Entschluss gefasst. Ich goss mir einen Wein ein, verzichtete auf das Abendessen und betrank mich vor dem Fernseher, auf dem das Video unserer Hochzeit in Dauerschleife lief. David sah so umwerfend aus in seinem dunkelblauen Anzug. Seine Augen waren von einem fast unnatürlichen Blau – ein starker Kontrast zu seinen weißblonden Haaren –, und man sah die Grübchen in seinen Wangen, weil er über das ganze Gesicht strahlte. Er überragte mich um einen guten Kopf, seine Schultern waren breit vom vielen Sport und seine Hüften schmal. Er sah aus wie ein Filmstar, wenn er wie in jenem Augenblick in die Kamera lächelte. Ich drückte die Stopptaste, und sein Lächeln gefror auf dem überdimensionierten Flachbildfernseher, den er kurz vor seinem Tod unbedingt hatte kaufen müssen. Als ich aufstand, merkte ich, dass ich wankte. Die erste Flasche war schon leer, die zweite angebrochen. Etwas schwerfällig ließ ich mich vor dem Fernseher nieder und berührte sein Gesicht. Ließ meine Finger über die Pixel fahren, die sich zu seinen Zügen zusammenfügten, verharrte auf seinem vollen Mund und streckte mich dann etwas, um ihm einen Kuss aufzudrücken. Die Geste war so lächerlich wie traurig. Ich war lächerlich und traurig. Mit diesem Gedanken schlief ich ein, da vor dem Fernseher. Meine Routine war durchbrochen, der erste Dominostein war gefallen, und bald würden die anderen folgen.
Ein Geräusch riss mich aus meinen wirren Träumen. Ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass es meine Haustürklingel war. Ich hatte die rostige Tonfolge schon länger nicht gehört, und entsprechend benötigte mein Gehirn einige Zeit, um den ungewohnten Klang zuzuordnen. »Moment!«, rief ich und schob meine Beine aus dem Bett. Dabei fiel mein Blick auf den Wecker, der auch eine Datumsanzeige besaß. Wenn ich das richtig sah, dann war heute mein dreißigster Geburtstag. Hervorragend – ich hatte mich in einen Stupor getrunken und so wenigstens die letzten Tage meiner schwindenden Jugend nicht mit vollem Bewusstsein erlebt. Wie anders wäre dieser Tag mit David an meiner Seite!
Er hätte mich wachgeküsst, und wir hätten uns im goldenen Morgenlicht geliebt. Meine Gedanken wanderten weiter in eine andere Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, in der ich die Tür zu einem hübschen Kinderzimmer aufschiebe und mein schlafendes Baby betrachte. Ein Mädchen mit flachsblonden Haaren und langen Wimpern, die auf seinen Wangen ruhen, während seine Fäustchen im Schlaf zucken. Ich wecke die Kleine und nehme sie hoch, um mit ihr am Fenster den jungen Tag zu begrüßen. Später kommen meine Eltern, und wir sitzen um den großen Esstisch herum und lachen, weil das Baby mit seinen Schokoladenfingern eine dunkle Spur auf mein neues Kleid malt. Aber es stört mich nicht; für mich gibt es nur Liebe und David, der uns umarmt und mir ins Ohr flüstert, wie wunderschön ich doch sei.
Ich musste eingedämmert sein, denn die Bilder waren zu real für einen Tagtraum. Umso qualvoller traf mich nun die Erkenntnis, dass all das niemals sein würde. Ein Laut, wie ein waidwundes Tier ihn ausstoßen würde, entrang sich meiner trockenen Kehle, und ich bäumte mich auf, weil der Schmerz mein Innerstes zu zerreißen drohte. Gewaltsam lenkte ich meine Gedanken in eine andere Richtung. Nicht an David denken, nicht an das wunderschöne kleine Mädchen aus meinem Traum, nicht an das Glück. Mir wurde übel. Ich schob die Decke zur Seite, weil ich glaubte, mich im Bad übergeben zu müssen, doch als ich mich von der Matratze hochdrückte, begann sich der Raum um mich herum zu drehen, und ich ließ mich rasch wieder fallen. Mein Kreislauf spielte verrückt. Ich überschlug, wann ich mich das letzte Mal an meinen geregelten Tagesablauf gehalten hatte. Entsetzt stellte ich fest, dass ich bereits sechs Tage aus meiner Routine ausgebrochen war. Sechs Tage, in denen ich nicht geduscht, kaum gegessen, wenig geschlafen und dafür die Weinvorräte in unserer Vorratskammer dezimiert hatte. Ich stank und hatte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Gerade als ich beschloss, den Tag mit all seinen unerfüllten Versprechen zu verschlafen, vielleicht im Traum sogar das kurze Glück wiederzufinden, erinnerte mich ein neuerliches, nun eindringliches Klingeln daran, weshalb ich überhaupt aufgewacht war. Wer auch immer da vor meiner Tür stand, würde eine böse Überraschung erleben, wenn ich öffnete.