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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Carola Henke

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler unter

Verwendung von Fotos von Gettyimages / Jasmina 007

und Shutterstock (bejo, kzww)

hf · Herstellung: MJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25678-4
V001

www.cbj-verlag.de

Kapitel 1

»Unsere Klassenbeste in diesem Schuljahr ist … Emmy Sonnenschein.«

Emmy strahlte über das ganze Gesicht und wurde ihrem Nachnamen mehr als gerecht. Sie sprang auf, und ihr Herz klopfte so heftig, dass sie kaum atmen konnte. Ihre Mitschüler klatschten, sogar Sven, der sich für den schlauesten Jungen auf diesem Planeten hielt.

Frau Schulte überreichte ihr das Zeugnis. »Englisch volle Punktzahl. Emmy, das hat mich am meisten gefreut. Das beweist, dass man alles schaffen kann, wenn man sich nur ein wenig anstrengt und sich auf das Wesentliche konzentriert.«

Emmy hörte Nadja neben sich maulen. »Na klar, Schulte. Halt einfach die Klappe.« Nadja stand mit Frau Schulte auf Kriegsfuß, und zwar besonders wegen ihrer Englischleistungen. Die waren, wenn man der Lehrerin glaubte, unterirdisch. So wie Emmys Englischnoten bis zu diesem Schuljahr. Aber dass Emmy plötzlich so super Noten in Englisch geschafft hatte, war wirklich nicht Frau Schultes Verdienst.

Sie hatte einen viel besseren Ansporn. Eine Reise nach New York mit ihrem Vater. Die hatte er ihr fest versprochen, wenn sie in Englisch volle Punktzahl erreichen würde. Mit dem Fahrstuhl bis in die höchste Etage des Empire State Buildings fahren, mit dem Fahrrad durch den Central Park cruisen, mit dem Boot um die Freiheitsstatue herumkurven. Und genauso wichtig: endlich mal wieder mit ihrem Vater allein sein.

Seit ihre Eltern geschieden waren, sah sie ihn nicht mehr so oft, wie sie es sich wünschte. Und nun bekam seine neue Freundin auch noch ein Baby.

Emmy würde Schwester werden und darauf hatte sie gar keine Lust.

Jessica war Emmys Reitlehrerin gewesen, so hatten sich ihr Vater und sie kennengelernt. Wirklich Pech, dass die beiden sich ineinander verliebten. Doppeltes Pech, dass Emmy Jessica wirklich sehr gemocht hatte.

Nur nicht als Freundin ihres Vaters.

Das alles würde sie ihrem Vater sagen, wenn sie erst allein unterwegs wären. Und dass sie sich ohne ihn oft einsam fühlte.

Während Frau Schulte weiter Zeugnisse verteilte, zog sie heimlich ihr Handy aus dem Rucksack und fotografierte ihr Zeugnis. Das Bild schickte sie an ihren Vater. Hey, Papa. Welcome to New York. Kannst schon packen. Deine Klassenbeste. Gerade rechtzeitig schob sie das Handy zurück, denn eine Sekunde später stand Frau Schulte wieder neben ihrem Tisch.

Nadja hatte eines der schlechtesten Zeugnisse und musste einen ewig langen Vortrag über verpasste Chancen über sich ergehen lassen.

»Oh Mann, ich hasse Frau Schulte«, stöhnte Nadja, kaum dass es zum Stundenende läutete. Zum allerletzten Mal vor sechs Wochen Ferien.

»Und tolle Ferien wünsche ich euch allen, kommt erholt zurück!«, rief Frau Schulte ihren hinausstürmenden Schülern hinterher.

»Süße, das tut mir so leid«, bemitleidete Emmy ihre Freundin und nahm sie in den Arm, als sie sich durch das Gewusel auf dem Schulhof schoben.

»Das werden schlimme Ferien«, sagte Nadja düster. »Meine Eltern werden mir Nachhilfe aufbrummen. Und wetten, ich muss die Kohle, die sie dafür aus dem Fenster schmeißen, in der Eisdiele abarbeiten? Tschüss, Badesee.«

Nadja verreiste in den großen Ferien nie, weil ihre Eltern ein Eiscafé hatten. Erst in der Winterpause fuhren sie nach Sizilien, dort wohnte die Familie ihres Vaters.

»Na, du Streberin!«, rief Sven und boxte Emmy freundschaftlich in die Seite. »Gibst du ’ne Runde Eis aus auf deinen Sieg? Nächstes Jahr bin ich wieder vorn.«

Emmy tippte sich an die Stirn. »Spinner. Mir doch egal, wer Klassenbester ist. Ich wollte nur nach New York.«

Für Sven war immer alles Wettstreit. Bestes Zeugnis, schnellster Läufer, coolste Party, weiteste Reise. Sven verzog das Gesicht. »New York? War ich schon dreimal. Matte Sache. Ich fliege morgen mit meinem Alten zum Schnorcheln nach Mauritius. Das ist abgefahren.«

Auch Svens Eltern waren geschieden wie viele andere Eltern von Emmys Mitschülern. Im Gegensatz zu ihr nahm Sven die Trennung seiner Eltern sportlich, sie konkurrierten um ihn und Sven pickte sich die Rosinen raus. Dieses Jahr hatte anscheinend sein Vater das Rennen gemacht – mit Mauritius.

»Ein richtiger Kotzbrocken bist du!«, rief ihm Nadja hinterher. »Tu mir den Gefallen und lass dich von ’nem Hai auffressen!«

Sven lachte gelassen. »Hast du in Erdkunde etwa auch ’ne Fünf? An den Stränden von Mauritius gibt’s keine Haie, du Geografie-Genie.« Bevor Nadja so richtig wütend werden konnte, nahm Emmy ihre Hand.

»Lass doch, der kapiert es sowieso nicht. Ich hab aber wirklich Lust auf Eis. Mama ist heute für eine Reportage in Brandenburg unterwegs und kommt erst am Abend nach Hause. Ich weiß nicht, wann Papa und ich nach New York fliegen, aber bestimmt sehr bald. Das Appartement von seinem Kumpel ist nur im Juli frei. Dann sehen wir uns eine halbe Ewigkeit nicht.«

Nadja umarmte Emmy. »Ach, Schatz, ich werde dich so vermissen. Los, jetzt lassen wir uns von meinem Vater den größten Eisbecher der Stadt zaubern.« Sie holten ihre Fahrräder aus dem Fahrradkeller und trafen Frau Schulte, die gerade ihren Helm festzurrte. »Schöne Ferien euch beiden«, wünschte sie ein zweites Mal. »Emmy, hast du nicht Lust, mit deiner Freundin in den Ferien zu üben? Nadja, du bist doch nicht dumm, bloß stinkfaul.« Nadjas Gesicht verfinsterte sich augenblicklich.

»Tut mir leid, Frau Schulte«, lachte Emmy. »Aber ich bin in New York.« Frau Schulte guckte beeindruckt. »Donnerwetter, wie toll. Schreibt deine Mutter dort eine Reportage?« Emmy schüttelte ihren Lockenkopf. »Nein. Ich fahre mit Papa. Ganz allein.«

Frau Schulte lächelte Emmy an. »Das freut mich wirklich für dich, Kind. Dann hast du deinen Vater mal ganz für dich allein. Die Trennung deiner Eltern ist doch noch gar nicht so lange her. Prima, dass sich das nicht negativ auf deine schulischen Leistungen ausgewirkt hat.« Sie nickte Nadja zu. »Du kannst dir wirklich ein Beispiel an deiner toughen Freundin nehmen.« Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte winkend davon.

»Dumme Pute!«, rief ihr Nadja hinterher, aber erst, als sie sicher war, dass Frau Schulte sie nicht mehr hören konnte. Sie äffte die letzten Sätze der Lehrerin nach. »Die ist nicht ganz fit im Oberstübchen«, sagte sie. »Meint sie, meine Eltern sollen sich auch scheiden lassen, damit ich besser in der Schule werde? So ein Bullshit. Außerdem lassen sich meine Eltern niemals scheiden, die sind Italiener. Die lassen nur ihre armen Kinder für sich arbeiten. Kein Wunder, dass ich keine Zeit zum Lernen habe.« Sie trat mit dem Fuß wütend gegen ein fremdes Fahrrad.

Emmy guckte mitleidig. »Lass die Schulte doch quatschen. Komm jetzt, ich brauche dringend ein Eis.«

Obwohl es sehr warm war, traten die beiden mit voller Kraft in die Pedale.

»Oh nein, schon wieder der Klugscheißer!«, rief Emmy, als sie auf das Café zusteuerten.

Tatsächlich belagerte nicht nur Sven, sondern ihre halbe Klasse die Eisdiele von Nadjas Eltern.

»Egal«, erwiderte Nadja. »Papa freut sich, wenn die Bude voll ist. Sven lassen wir einfach links liegen. Er wird gleich mega-neidisch gucken, wenn Papa uns seinen gigantischen Eisbecher zaubert.« Sie zog Emmy mit sich hinter die Theke zu ihrem Vater. »Papa, Emmy ist Klassenbeste geworden, sie braucht dringend ein Eis, und ich auch.«

Herr Molino strahlte Emmy an. »Bravissimo, bella cara. Glückwunsch.«

Er schüttelte ihr die Hand und drückte sie so fest an sich, dass sie keine Luft mehr kriegte.

»Und dein Zeugnis, Nadja?«, fragte er.

Nadja seufzte. »Frag nicht, Chef. Oder nicht jetzt. Später.«

Herr Molino nickte wissend. »Das musst du mit Mama besprechen. Sie ist hinten und macht neues Eis.«

Nadja schüttelte den Kopf. »Nicht der richtige Zeitpunkt.« Sie zog Emmy mit sich nach draußen zu einem leeren Tisch. »Mama wird stinksauer sein«, sagte sie und räumte das schmutzige Geschirr weg.

Wenig später brachte Herr Molino die zwei größten Eisbecher, die Emmy je gesehen hatte. Ihren Becher hatte er noch mit einer Schokoladen-Eins verziert und jeder Menge Streusel.

»Da sind echte Goldplättchen drauf«, erklärte er stolz. »Glückwunsch, Emmy.« Er zündete zwei Sternenwerfer an, die er in eine Waffel gesteckt hatte.

»Voll lieb, Herr Molino!«, rief Emmy gerührt.

»Die Streberin lebe hoch!«, brüllte Sven und animierte die anderen Gäste zum Klatschen.

Nadja kicherte. »Der Trottel ist in dich verknallt!«

Emmy guckte entrüstet. »So ein Quatsch«, sagte sie entsetzt und stieß ihren Löffel wie ein Schwert in die oberste Schicht Eis. »Hmmm, lecker«, schwärmte sie. Manchmal redete Nadja wirklich Unsinn. Sven und sie hatten am selben Tag Geburtstag, nur war er ein Jahr älter als sie.

Als Emmy im April zwölf geworden war, hatte Sven sie zu seiner Feier in die Bowling Bahn eingeladen, als einziges Mädchen. Natürlich war sie nicht hingegangen. Sie hatte mit Jungs nichts im Sinn, und vor allem nicht mit diesem Angeber Sven, der einen ständig belehrte und alles besser wusste. Sie spürte, dass er immer wieder zu ihr herüberschaute, und versuchte, seinen Blick auf keinen Fall zu erwidern.

»Boah, ich bin schon voll satt«, stöhnte sie, als sie sich durch die Hälfte des Eisbechers geschaufelt hatte.

»Ich finde ja Baran nett«, sagte Nadja und nahm das Jungsthema zu Emmys Leidwesen wieder auf. »Ich verstehe nicht, wieso der mit Sven befreundet ist.«

Emmy fischte eine Weintraube aus ihrem Eisbecher. »Kannst du aufhören, über die Jungs zu quatschen?« Sie beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Sven aufstand und zu ihnen herüberschlenderte.

»Krass, Emmy, dass du es schaffst, so einen Monsterbecher wegzuputzen«, begann er das Gespräch. »So viel Zucker ist voll ungesund, das weißt du schon?«

Emmy guckte genervt. »Vielen Dank für die Info. Ich kümmere mich selber um mein Leben. Sonst noch was?«

Sven nickte. »Ja, wegen NY. Ich hab noch einen ganzen Stapel Reiseführer, du kannst dir natürlich auch so ’ne New-York-App runterladen. Aber ich dachte, ich sollte dir ein paar wirklich coole Tipps geben, was du dort so machen kannst. Ich hab auch einen Cousin in Manhattan, ich mach dir gerne den Kontakt. Wann geht’s los? Ich kann dir das Zeug heute Nachmittag vorbeibringen.«

Emmy sah aus dem Augenwinkel, dass Nadja kurz davor war, laut loszulachen. Das fehlte gerade noch, Nerv-Sven rückte ihr auf die Pelle.

Never, never, never. Jetzt ließ er sich auch noch megalässig auf den Stuhl fallen, der am Nebentisch frei geworden war, und lächelte sie an. »Ich würde schon gerne wissen, wie du das geschafft hast, deine Noten so krass zu verbessern«, sagte er.

»Zisch ab«, mischte sich Nadja ein. »Und hör auf, dich bei Emmy einzuschleimen.«

Sven schenkte ihr einen vernichtenden Blick. »Das Eis von deinem Alten ist Spitzenklasse. Verstehe gar nicht, dass er so eine Loserin als Tochter hat.«

Nadja sprang wütend auf und ballte die Fäuste.

»Hey, lass doch, Süße«, sagte Emmy und umfasste Nadjas Fäuste. »Das ist der Typ nicht wert.«

Auch Herr Molino war auf Nadja aufmerksam geworden. »Alles okay, Nadja?«, rief er zu ihnen herüber.

»Irgendwann hau ich dir deine Nase zu Brei«, sagte sie wütend zu Sven.

Sven reagierte nicht auf Nadja, er schaute immer noch Emmy an. »Also, was sagst du zu meinem Angebot?«

In diesem Augenblick brummte Emmys Handy in ihrer Hosentasche. Sie fummelte es mühsam heraus und begann zu strahlen.

»Mein Vater«, sagte sie und nahm das Gespräch an. »Hey, Paps, megacool oder? Ich bin sogar besser als Sven Winter. Weißt du schon, wann wir starten? Ich freue mich so, ich hab schon mit Packen angefangen, aber Mama war nicht sicher, ob ich nicht mit den Noten übertreibe. Wann sehen wir uns?« Sie lauschte in das Telefon. »Was?«, sagte sie mit einer ganz komischen Stimme. »Nicht wahr, Papa, nicht wahr!«, brüllte sie dann und beendete das Gespräch abrupt. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«