Über das Buch:
Abgeschieden von der westlichen Zivilisation hat in den Anden Perus ein jahrtausendealtes Wissen über die Zusammenhänge von Mensch und Kosmos überlebt. Die Paqos, Nachfahren der Inka, leben seit jeher im Einklang mit der Natur und behandeln sie mit Respekt, der uns modernen Menschen leider abhandengekommen ist. Doch gerade jetzt ist es wichtiger denn je, uns wieder mit Mutter Erde zu verbinden. Madita Böer wurde von den Paqos als Botschafterin ihres Wissens auserkoren und offenbart das verborgene Wissen der Andenpriester. Anhand von Meditationen, Zeremonien und praktischen Übungen zeigt sie, wie wir die Prinzipien der schamanischen Andentradition für unser eigenes Leben nutzen können, um unsere wahre Natur zu entfalten und Heilung zu finden. Mit Audio-Meditationen zum Download.
Vita:
Madita Böer ist Hispanistin, Körpertherapeutin und Geschäftsführerin der Gesellschaft zur Förderung regenerativer Mikroorganismen. Seit 2010 lernt sie in der schamanischen Andentradition und hat Abschlüsse der Four Winds Society sowie des Serena Anchanchu Centre for Inca Shamanism erworben. In ihren Seminaren gibt sie das wertvolle Wissen der Paqos weiter. Madita Böer lebt in Bremen.
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Originalausgabe
© 2020 Arkana, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Annette Gillich-Beltz, Essen
Umschlaggestaltung: ki36 Editorial Design, München
Umschlagmotive: SinghaphanAllB/getty images (Berge), creativemarket (Illustrationen)
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-25195-6
V002
www.arkana-verlag.de
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Schamanische Übungen und Meditationen zum Download
Fünf Übungen, die dir helfen können, dich zu erden, zu spüren, auszurichten, zu reinigen und aufzuladen, sind Bestandteil dieses Buches.
Du kannst die Audiodateien kostenlos herunterladen unter:
https://www.randomhouse.de/Der-Ruf-von-Mutter-Erde
Inhalt
Einleitung
Die Kosmologie der Paqos
Don Mariano und Don Sebastian
Kawsay – alles ist lebendige Energie
Du bist Kawsay
Pachamama – die Mutter von Zeit und Raum
Die drei Zentren: Herz, Kopf, Bauch
Sami und Hucha – leichte und schwere Energie
Ayni – die heilige Wechselwirkung
Kallpa – innere Stärke durch die Kraft der Natur
Die drei Säulen der Andentradition
Entfalte deine wahre Natur
1. Säule Zeremonien – Kommunikation mit der Natur
2. Säule Initiationen – der Kosmos in dir
3. Säule Mesa – die heilige Arbeit mit Steinen
Lerne die Kunst der Despachos
Interdependenz als kreative Kraft
Die Kraft der Despacho-Zeremonien
Despacho-Grundlagen
Zutaten für ein Despacho
Despacho-Anleitung
Schamanische Übungen
Heilung deiner Beziehung zu Pachamama
Erdung und Vertrauen
Dein achtes Chakra – die Wiraqocha
Stärkung deines Raumes
Die Verbindung zu deinem Itu Apu und deiner Paqarina
Dein Ayni – drei Schritte für Veränderungen
Innere Verletzungen heilen
Hucha ausleiten
Deine Energie stärken
Nachwort
Dank
Glossar
Anmerkungen
Bildnachweis
Über die Autorin
Die fünf schamanischen Übungen
Schamanische Übung 1: Erden – mit Pachamama verbinden
Schamanische Übung 2: Fühlen – deine Wiraqocha öffnen
Schamanische Übung 3: Ausrichten – Aktivierung der sieben Sonnen
Schamanische Übung 4: Reinigen – Hucha Mikuy
Schamanische Übung 5: Aufladen – Saminchakuy, Tullunchakuy, Yawarchakuy, Kallpachakuy
Es ist die Liebe von Pachamama,
die Energielinien erschafft –
diesen können wir folgen, und sie bringen
uns in diesem Moment zusammen.
Don Sebastian Succle Apaza
Einleitung
In einer kühlen Seitengasse sehe ich einen kleinen Laden. Die Geräusche der Marktstände auf der Plaza rücken in den Hintergrund, je weiter ich der kleinen Straße folge. Pisaq ist bunt und voll mit Menschen, Reisenden, spirituell Suchenden und den lokalen Händlern, die ihre wunderschönen Handwerkswaren anbieten. Die kleine Stadt liegt nur eine halbe Stunde mit dem Bus von Cuzco entfernt. Ich betrete den Laden, der bis oben hin mit Steinen gefüllt ist. Ich bin ganz allein. Links an der Wand steht ein einfaches Regal aus groben Brettern, das sich unter der Last der vielen Steine biegt. Es sind schwere Meteoriten, wie man sie nur in den hohen Bergen von Peru findet. In der hinteren Ecke steht der Verkäufer, geschmückt mit einem bunten, aus Lamawolle gewebten Poncho und einer Mütze mit Ohrlappen. Sie hat ein Diamantenmuster in allen Regenbogenfarben und ist bestickt mit Hunderten von kleinen weißen Perlen. Die Perlen symbolisieren die Sterne, der Diamant steht für die Sonne.
»Bien venido, Schwester! Woher kommst du?«
»Aus Deutschland. Ich bin das erste Mal in Peru.«
»Ah, que bien, sumaq. Herzlich willkommen in Peru«, entgegnet er freundlich.
»Ich würde gerne zwei Meteoriten mitnehmen«, sage ich etwas schüchtern. »Sie sind für meinen persönlichen Altar, meine Mesa.«
»Ah, du hast eine Mesa, dann erarbeitest du dir hier in Peru deine Medizinsteine dafür? Na, dann brauchst du einen weiblichen und einen männlichen Stein.«
Er kramt in dem überquellenden Regal herum und reicht mir einen runden und einen gewellten Stein. »Dieser hier ist männlich. Er ist magnetisch«, sagt er, als er mir den runden Stein hinhält, »die weiblichen Steine sind es nicht.« Er zieht einen Magneten unter seinem Poncho hervor, der auf dem runden Stein anhaftet.
»Komm, setz dich, ich reinige die Steine für dich.« Er greift von der anderen Seite in das Regal und öffnet eine gelbe Flasche mit Agua de Florida, einer alkoholischen Reinigungstinktur, die nach Zitrone, Orange und Zimt duftet. Er nimmt einen großen Schluck und prustet die Tinktur in einem breiten Strahl auf meine Meteoriten.
»Panachay, gib mir mal deine Hand«, sagt er dann zu mir und ich reiche ihm meine offene Handfläche. Er reibt seine Hände mit Agua de Florida ein, um sie energetisch zu reinigen, und kreist dann mit einer Hand unterhalb meiner Hand, mit der anderen auf meinem Handteller. Dann positioniert er seine Hände in einem leichten Abstand zu meiner Hand und wird ganz still. Er schließt seine Augen und fühlt meine Aura.
»Du hast zwei Bestimmungen«, sagt er, »zwei Ziele in deinem Leben.«
Was mag das sein?, überlege ich. Werde ich doch noch eine berühmte Musikerin? Und dann noch Schamanin. Ja, das könnte es sein, was er meint.
Und dann sagt er etwas wirklich Wichtiges: »Dein Energiefeld hat nicht genug Kraft. Du musst häufiger in die Natur gehen. Dich aufladen. Dann wirst du stärker. Du brauchst diese Kraft, um deinen Weg zu gehen. Sonst kommst du nicht weit.«
Ich bin kaum in der Natur, denke ich, ich wohne in der Stadt und habe schon Probleme, meinen Vorgarten vernünftig zu bepflanzen. Ich bin oft im Probenraum und auf Tour und arbeite häufig nachts. Meine Haut ist blass, ich fühle mich schwach und habe oft Schmerzen. Ich bin Veranstaltungstechnikerin und Musikerin. Meine Klamotten wechseln zwischen Zimmermannshose und Bühnenoutfit, und ich kann mit sämtlichen Werkzeugen umgehen. Aber ich bin nicht grob. Mein Gesicht und meine Hände sind fein und filigran, und ich habe ein sehr sensitives Wesen. Doch das fühle ich noch nicht. Mit meinem starken Auftreten liefere ich den Menschen um mich herum immer eine gute Show. Meine zahlreichen Talente und Fähigkeiten machen es schwer, nicht aufzufallen. Aber all das zusammen ist viel zu laut, viel zu groß, und ich habe keinen inneren Haltepunkt, keinen Anker. Ich stürze einfach von einer Rolle in die nächste, und das permanent und in einem Affentempo. Wie ein Planet mit vielen Trabanten, der alles in seiner Umlaufbahn hält, aber keinen magnetischen Kern besitzt. Mein natürliches sensitives Wesen kann sich nicht entfalten und gedeihen. Es wird nur chaotisch herumgeschleudert. Mein Kern ist einfach nicht stark genug. Ich brauche die Ordnung und die Heilkraft der Natur!
In jenem Moment denke ich nur an den Bürgerpark in Bremen, und dass ich dort öfter spazieren gehen könnte. Aber das, was mir dieser Ladenbesitzer sagt, sollte in den darauffolgenden Jahren eine völlig andere Dimension annehmen. Mehr in der Natur sein – mehr mit der Natur sein. Selbst Natur sein.
Ich ging nach Peru, weil ich gerufen wurde und weil ich Heilung suchte. Was auch immer es ist – wir alle suchen etwas. Unsere Welt ist voll von Suchenden. Das, was wir suchen, ähnelt sich, und dennoch sind unsere Wege so unterschiedlich. Wir suchen Abenteuer, Liebe, berufliche Erfüllung und seelische Entfaltung – unseren ganz eigenen Weg. Ja, wir suchen uns selbst und geben keine Ruhe, bis wir uns auch wirklich und wahrhaftig wahrnehmen. Einige suchen in der Ferne, lassen alles hinter sich und brechen in ihr großes Abenteuer auf. Andere suchen in verschiedenen Jobs, diversen Kursen und unendlichem Aktionismus. Dann sind da jene, die draußen suchen, in der Natur, die wandern, zelten, Biwaks bauen. Und es gibt die Mütter und Väter, die gerade nicht mehr suchen oder zumindest für ein paar Jahre pausieren, weil das Wunder der Geburt sie an ein Stückchen Wahrheit geführt hat. Wieder andere suchen sich über Heilung, so wie ich. Auch die Dinge, von denen wir glauben, dass wir sie für unsere Suche brauchen, unterscheiden sich –, mehr Geld, mehr Reisen, mehr Freizeit, eine andere Arbeit, einen Partner, ein Kind, ein Haus oder einen VW-Bus –, ja, der bringt meine Freiheit!
Ein tägliches Spiel aus Sehnsüchten und Projektionen, die wir in unsere Umlaufbahn werfen oder mit denen wir versuchen, unseren schwachen Kern zu stärken. Dabei liegt das, was wir suchen, genau in diesem Kern. Ganz still und ganz ruhig wartet er darauf, dass wir endlich anhalten, ihn stärken und spüren. Dieser Kern ist dein Wesen, das immer da ist. Es ist in deinem Puls, der in der Bewegung der Erdplatten seinen Rhythmus findet. Es ist in deinem Körper, der die Wärme der Sonne verkörpert. Es ist in deinem Atem, den du mit den Bäumen teilst. Und es ist in deinen Augen, wenn dein Blick dich mit der Natur verbindet. Dein Wesen ist das Geheimnis, das dich, mich und alle Menschen zu einem Kind des Kosmos werden lässt.
Ich bin diesem Geheimnis auf der Spur, und ich koste davon – immer wieder und immer mehr. Die Heiler aus Peru nennen es das Erwachen deines Lichtsamens. Du trägst deinen Lichtsamen in deinem Herzen, und wenn er aufgeht und wie eine Sonne zu leuchten beginnt, wird er zu einer mächtigen Brücke zwischen der Erde und den Sternen. In dieser Verbundenheit liegt das Mysterium deiner Existenz und die Antwort auf die Frage, wer du bist und was du mit Mutter Erde, die in Peru Pachamama genannt wird, zu tun hast.
Ich habe gelernt, meinen Lichtsamen zu wässern, zu nähren und vorsichtig die Erde zu bereiten, in der er liegt. Meine Verbindung zu Pachamama wird mit jedem Tag stärker und liebevoller. Und sie ist es, die mir meine wahre innere Natur langsam offenbart. Ich sehe und höre Dinge, die an anderen vorbeirauschen, als ob sie sich auf einer parallelen geheimen Straße bewegen. Ich gehe wie jeder andere durch den Alltag. Aber auf dieser anderen Spur. Sie ist intensiver, lebendiger und ich habe gelernt, zu Pachamama und vor allem zu mir eine Beziehung aufzubauen und zu pflegen.
All das haben mir die Paqos beigebracht, die Heiler und Schamanen in Peru. Sie haben dieses kosmische Wissen über viele Generationen weitergegeben und lebendig gehalten. Die Paqos gehören der Quechua sprechenden indigenen Bevölkerung Perus an und stammen zum größten Teil aus einer Region, die Q’ero heißt. Diese Region wurde von verschiedenen Anthropologen in den 1950er-Jahren wiederentdeckt. Mehrere benachbarte Dörfer in nahe beieinanderliegenden Hochtälern bilden die Q’ero-Nationen. Die Siedlungen, Weideländer und Felder der Q’ero sind auf verschiedenen zwischen 1800 und knapp 5000 Meter hohen Plateaus verteilt und befinden sich in der Nähe der Provinz Cuzco im mittleren Süden Perus.
Wenig berührt von den spanischen Eroberern, führten die Q’ero ihr einfaches, traditionelles Leben und folgten ihrer naturverbundenen Kosmologie. Seit den 1960er-Jahren wurde einzelnen Anthropologen, die dort ankamen, ein Zugang zu diesen Lehren ermöglicht. Sie halfen den Q’ero zunächst auch dabei, sich aus dem Hacendado-System zu befreien. Wie der Rest der Landbevölkerung mussten die Q’ero einen Großteil ihres Landes abgeben und ihre Arbeitskraft in den Dienst eines Großgrundbesitzers stellen und lebten selbst in großer Armut. Trotz dieser schwierigen Zeiten oder gerade deswegen folgten die Q’ero weiterhin ihrer überlieferten, naturverbundenen Kosmologie. So haben auch die Paqos, die Heiler, Priester und Weisen der Q’ero, ihre lebendige Beziehung zum Kosmos bewahrt. Sie sind direkte Inka-Nachfahren, doch ihre Kosmologie und ihr heiliges Wissen sind sehr viel älter als die Inka-Kultur. Es reicht Jahrtausende zurück, bis in eine Zeit, in welcher der Mond die Sonne des Planeten war, erzählen die Legenden. Das ist eine Epoche, die wir in keinem Geschichtsbuch der Welt finden.
Heute leben bereits einige der Paqos aus Q’ero in den Städten nahe bei Cuzco und arbeiten hauptberuflich als Bauern. Ihre Heilertätigkeit üben sie zusätzlich aus. Viele von ihnen, meist die Männer, reisen um die Welt. Die weiblichen Paqos bleiben häufig in Peru, um ihren familiären Pflichten nachzukommen. Dieser naturverbundene spirituelle Pfad der Anden bekommt immer mehr Bedeutung und wird immer bekannter. In allen Ländern sind die Paqos aus Q’ero unterwegs und teilen ihr Wissen, welches so dringend benötigt wird. Sie beobachten uns und sehen, woran es uns mangelt: Wir haben keine Verbindung zu Pachamama – und somit keine Liebe für sie. Und wenn wir sie nicht lieben, wie sollen wir dann lieben, was wir selbst im Inneren sind?
Die Zeit ist reif, das von den Paqos zu lernen, was wir überall auf der Welt so dringend benötigen – ein Leben in harmonischer Wechselwirkung mit der Natur und dem Kosmos.
Die Paqos sprechen von sich als Pampa Mesayok, als Sirvientes de la Pachamama, als »Diener von Pachamama«. Wir würden vielleicht eher »Erdenhüter« dazu sagen, obwohl die Bezeichnung »Hüter« einen ganz anderen Fokus setzt als »Diener«. So ist die Beziehung zu Pachamama immer gegenseitig: Nicht nur wir profitieren von ihren vitalen Energien, sondern auch sie benötigt unsere bewussten Handlungen.
So sagte einer meiner ersten Lehrer zu mir: »Wenn die Natur dich ruft, dann musst du antworten, so, wie sie dir antwortet, wenn du sie für deine Heilung rufst!«
Ich habe mich mit Mitte zwanzig auf meinen Ruf eingelassen. Ich musste. Ich hatte keine andere Wahl. Seit meiner Teenagerzeit war ich chronische Schmerz- und Migränepatientin, austherapiert und mit Aussicht auf eine Dauermedikation. Das war eine ziemlich schwere Zeit, besonders, als ich durch meinen körperlichen Zustand und einen Unfall meinen Beruf als Tontechnikerin aufgeben musste. Ich arbeitete mich durch Qigong, autogenes Training, dynamische Meditation, Akupunktur und sämtliche Arzneimittelprüfungen der Homöopathie.
Dann kam ein mächtiger Wendepunkt. Als ich mit meinem Mann in einem Kroatienurlaub auf einer kleinen Insel zeltete, erwischte uns die September-Bora, ein sehr starker Orkan, der unser Auto auf der windigen Landzunge fast zum Kippen brachte und die Zeltstangen zu zerbrechen drohte. Ich konnte nicht schlafen in dieser Nacht. Der Sturm tobte nicht nur um uns herum, sondern auch in mir. Er wühlte Verborgenes auf und er legte Kanäle frei – ich hatte eine Vision.
Mir erschienen meine verstorbenen Großmütter. Die Orte und Dimensionen schienen zu verschmelzen. Ich befand mich im Zelt und auch draußen im umtosten Olivenhain. Mein Geist und mein Körper befanden sich an unterschiedlichen Orten. Meine Ahnen standen vor mir – alle drei: meine beiden Omas und Oma Ticktack, meine Ur-Oma. Oma Ticktack war mir schon einmal erschienen, als ich sechs Jahre alt war, daher kannte ich diese Art von mystischer Situation bereits. Da waren sie nun. Hell und schön sahen sie aus. Im Auge des Sturms war es ganz still um uns herum. Sie sprachen ohne Worte, und sie hatten eine wichtige Frage an mich: »Willst du sehen?«
»Ja«, sagte ich, verwundert über meine klare und sichere Antwort.
»Willst du sehen?«, fragten sie erneut.
»Ja«, wiederholte ich.
Und noch einmal: »Willst du sehen?«
»Ja.«
Mit jeder Frage und jeder Antwort erschienen mehr Lichtmenschen um sie herum. Sie tauchten auf und standen da, direkt vor mir, hinter meinen Ahnen. Es war ein ganzer Chor oder eine Art Vereinigung. Alle in Weiß. Es war ein gigantischer Moment, und ich wusste, dass etwas Tiefgreifendes geschehen war. Dann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm etwas beruhigt, zeigte uns aber immer noch seine Kraft. Wir wechselten den Zeltplatz, und ich erlebte an diesem Tag noch einige seltsame Situationen, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart in Bildern mischten. Mir wurde schnell klar, was meine Ahnen mir angeboten hatten und worum es nun ging. Einen Tag vor dem Urlaub hatte ich spontan ein Buch über die schamanische Andentradition gekauft. Einfach wegen des schönen Covers. Ich hatte keine Ahnung, dass es darin um Schamanen ging. Am Tag nach dem Sturm wusste ich instinktiv, dass ich schleunigst mit dieser Tradition in Berührung kommen sollte. Drei Wochen später saß ich in Hamburg bei einem Vortrag des Buchautors, konnte plötzlich Auren sehen und weinte unaufhörlich, weil ich spürte, dass ich endlich nach Hause kommen würde. Lauter und deutlicher hätte dieser Ruf nicht sein können. Ich folgte meinem Impuls, plünderte mein Sparbuch, auf dem sich das Erbe meiner Omas befand, und machte mich auf eine lange Selbstheilungsreise.
Ich lernte bei namhaften internationalen Lehrern, die diese Tradition vermittelten. Dafür reiste ich oft und weit – nach Peru, in die USA, nach Holland, Griechenland und Skandinavien. Während dieser Reisezeit traf ich bereits verschiedene Paqos aus Q’ero und fand schließlich über eine Organisatorin in den Niederlanden meinen direkten Weg zu ihnen.
Man könnte denken, dass meine Vision in jener Sturmnacht meine Initiation in die Tradition der Paqos war. Aber vielleicht ist alles viel mehr orchestriert, als wir meinen. Die Paqos sagen, dass wir mit zwei Büchern geboren werden. Einem goldenen Buch, das schon geschrieben ist, und einem silbernen Buch – das schreiben wir selbst. So begann mein goldenes Buch, mich zu lenken, als ich als Kind sprechen lernte. Nach »Mama« und »Papa« brachte mein Vater mir das Wort »Titicacasee« bei. Ich habe heute noch Tonaufnahmen davon, und unsere beiden Seelen wissen wohl, warum er dies tat. Dieser große See an der Grenze zwischen Peru und Bolivien gilt als Wiege der Inka. Dort wurde die Stadt Cuzco als Zentrum des Inkareiches prophezeit, und als Cuzco gegründet wurde, breitete sich das große und legendäre Inka-Imperium aus. In Prä-Inka-Zeiten soll es in unterirdischen Tempeln am Grunde des Sees einen Orden des Lichtes gegeben haben.
Ich bin keine Pionierin auf dem Gebiet der Erforschung der Andentradition. Fantastische Anthropologen und erste Botschafter dieser Kosmologie haben mir den Weg zu den Paqos bereitet. Ich habe mittlerweile verschiedene zertifizierte Abschlüsse in der Energiemedizin der Anden und bin sogar von den Paqos anerkannte Pampa Mesayok und Mesa-Trägerin. Als Pampa Mesayok arbeite und lebe ich in Kooperation mit der Natur, schenke ihr Gebete und Gaben und kanalisiere ihre Kräfte zu meinem Wohl und zum Wohl der anderen. Jede und jeder Pampa Mesayok hat eine Mesa, ein Bündel aus Medizinsteinen, das dafür verwendet wird. Titel und Zertifikate gehören in ein westliches Denkschema, dessen bin ich mir bewusst. Ich bin keine Q’ero und auch keine traditionelle Paqo. Ich habe lediglich die Tür zu einem sehr großen Kosmos aufgestoßen, in dem ich noch viel lernen und erfahren kann. Aber die Integration dieses Wissens in unsere Gesellschaft ist das, worauf es ankommt und wonach wir so sehr hungern. Mittlerweile gebe ich mein Wissen und meine persönlichen Erkenntnisse in Seminaren und Vorträgen weiter und lerne weiterhin direkt von den Paqos. Als Körpertherapeutin habe ich über mehrere Jahre die andinen Heiltechniken mit verschiedenen Massagepraktiken kombiniert und viele Zeremonien geleitet. Ich fahre immer wieder nach Peru, um meinen Kontakt zu den Paqos zu pflegen, weiter von ihnen zu lernen und mich von Pachamama-Peru direkt berühren und nähren zu lassen.
So erlebe ich sowohl die Welt der Paqos als auch meine Welt daheim. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, ich habe mich auskuriert, verwandelt, ich habe viel gelernt und kann liebevoll auf meinen Weg zurückblicken. Ich sehe nicht nur mich strahlen, sondern auch viele Menschen um mich herum. Doch ich sehe auch viele Menschen, die verzweifeln, sich nicht finden. Und ich sehe Mutter Erde, die trotz aller Umweltverschmutzung so viel Liebe aufbringt und uns Menschen eine weitere Chance gibt, die jetzt nötigen Erkenntnisschritte zu lernen.
Ich sehe Lichtsamen, die sich öffnen, wie bei den jungen Menschen der Fridays-for-Future-Bewegung. Ich sehe eine grüne Revolution mit vielen Umwelt-Speakern in den Startlöchern und junge Menschen, die bereits mit einer Verbindung zu Pachamama geboren werden, aber auch junge Menschen, die im Sog der Bildschirme aus ihren Körpern verschwinden. Sie müssten dringend in die Natur, so, wie der Ladenbesitzer in Pisaq mir geraten hatte. Die Paqos sagen, dass die Natur ihre Balance verliert und infolgedessen die Menschen ebenfalls ihre Balance verlieren. Mensch und Natur sind verwoben und bedingen sich gegenseitig. Der geheime Zugang zu unserer wahren Natur führt über die Natur, über Pachamama. Jetzt, in dieser umweltzerstörenden Zeit, haben wir die Möglichkeit, uns selbst wiederzufinden und zu entdecken, dass wir in einer absoluten Interdependenz, einer wechselseitigen Abhängigkeit mit der Natur leben. Die Paqos wissen um diese Wechselwirkung und das darin enthaltene Potenzial der Selbsterkenntnis und Gesundung. Sie nennen die Zeit, in der sich die Menschheit gerade befindet, das Taripay Pacha. Es ist die Zeit, in der wir uns selbst wiederbegegnen – unserer inneren wahren Natur.
Es scheint genau der richtige Zeitpunkt zu sein, um mit Unterstützung der Paqos diese letzte Chance für nötige Veränderungen zu nutzen. Aber wie viel Zeit haben wir noch, um einen anderen Umgang mit Mutter Erde einzuleiten? Die Andenschamanen sind jetzt an unserer Seite, damit wir von ihnen lernen. Hoch oben in den Bergen gibt es nur noch wenige Älteste. Sie kommen aber nicht herunter, sie verlassen ihre Welt nicht, erzählt mir der Paqo Don Mariano. Er selbst zählt sich mit seinen fast achtzig Jahren zu einer Generation, in der sich noch einige Paqos mit ihrem Wissen weltweit um die Menschheit und um Pachamamas Zukunft bemühen. Die jüngeren Generationen wandern in die Städte oder in die stadtnahen Dörfer ab. Das Landleben und der Ackerbau sind mühsam, und es locken die Städte mit ihrer wachsenden Wirtschaft und den westlichen Annehmlichkeiten. Die jungen Leute möchten zur Schule gehen, eine Berufsausbildung machen, die Möglichkeiten einer akademischen Laufbahn bekommen und richtige Berufe haben, erzählt mir Don Sebastian, der mich schon seit Jahren begleitet. Er wünscht sich für sie, dass sie beides haben – ein modernes Leben mit der Verbindung zu Pachamama.
Somit befinden sich auch die Paqos und das kosmische Wissen in einem Wandel, in einem sogenannten Pachakuteq (Pachakuti), einer Transformation der Welt. Einige Paqos reisen, wie Don Mariano betont, mittlerweile rund um den Globus, um ihr Wissen zu teilen. Es gibt spirituelle Schulen, die dieses Wissen in den westlichen Ländern weitervermitteln. Einige der jüngeren Paqos sprechen Spanisch und sogar etwas Englisch und verfügen über einen Facebook-Account, während die älteren Paqos ausschließlich Quechua sprechen und weder lesen noch schreiben können.
Das Wissen verbreitet sich jetzt, und diejenigen, die in dieser Zeit von den Paqos lernen, werden die Hüter von morgen sein.
Die Welt der Paqos, besonders der älteren Weisen aus Q’ero, ist eine ganz andere als die meine. Ich bin in einer Kultur groß geworden, die schon lange nicht mehr mit der Erde spricht, sondern sie plündert und die kosmischen Gesetze vergessen hat. Uns trennen nicht nur zwei bis drei Generationen, sondern wir blicken auch aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Kosmologie der Anden. Alles, was ich von den Paqos gelernt habe, hat mir geholfen, mich zu heilen, mich zu spüren, meine verstreute Seele wieder einzusammeln. Es hat mich die Sprache und Liebe der Natur und meiner wahren Natur gelehrt.
Meine ganz persönlichen Erfahrungen in den vielen Zeremonien und Initiationen hoch oben in den Anden und in Europa haben mich mit Natur gefüllt und den Lichtsamen in meinem Herzen gewässert, genährt und freigelegt. Sie haben mir meine Wechselwirkung mit der Natur, der Erde und dem Kosmos verdeutlicht.
Mir war diese Verbindung und Abhängigkeit nicht klar. Und auch nicht das Potenzial, das darin liegt. Es gab nur diese Lücke zwischen mir und der Natur, die automatisch zu einer Missachtung des Lebens, meiner Selbst und der Erde geführt hatte. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass diese Wunde in allen Menschen blutet, die versuchen, ihre Seele über Konsum, Annehmlichkeiten, Entertainment und einer ewigen Suche zu fühlen. Und ich sehe diese Wunde nicht nur im Umgang mit der inneren, sondern auch mit der äußeren Natur.
In dem heiligen Wissen der Andentradition sehe ich einen wichtigen Schlüssel für einen Evolutionsschritt der Menschheit hin zur Natur. Für unsere Gesellschaft gibt es kein Zurück in alte bäuerliche Strukturen. Es gibt nur die Betrachtung all dessen, was war, und den daraus resultierenden Lern- und Heilungsschritt. Wir werden neue Lösungen und Ansätze finden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kriege einfach aufhören, weil es Wichtigeres zu tun gibt, wie den Anbau gesunder Nahrungsmittel für alle Menschen und die Aufbereitung sauberen Wassers, ist genauso groß wie die Möglichkeit, dass die Ressourcen-Knappheit noch mehr Kriege auslöst. Welche Möglichkeit wir wahrscheinlicher werden lassen, hängt von unseren Herzen ab. Wir besitzen alle Technologien und Erfindungen, die wir brauchen, um die Herausforderungen der Welt anders anzugehen. Es mangelt aber an der Liebe und an der Selbstliebe, diese auch zu nutzen. Don Hernan Quillahuaman Quispe, einer der jüngeren Paqos aus Chinchero, einer Gemeinde in der Nähe von Cuzco, sagte mir einmal, dass es uns an Munay fehlt. Das ist die bedingungslose Liebe zur Natur und unserer inneren wahren Natur – die Liebe zu uns selbst. Es besteht kein Unterschied zwischen der Selbstliebe und der Liebe zur Natur. Im Kern ist beides das Gleiche.
So sehe ich die Verbindung zwischen dieser Fähigkeit und den Möglichkeiten unserer Zukunft. Von all unseren Umweltproblemen wissen die Paqos nur wenig. Sie wissen von Kriegen und von Bomben, von Gewalt in den Familien, von Saatgutmissbrauch im eigenen Land und von verkauftem heiligen Land. Sie sehen den Wetterwandel und erzählen von Hagel in Monaten, in denen es diesen nicht geben sollte. Aber sie kennen meine Welt nicht in allen Einzelheiten. Sie singen von den Wildgänsen, die oben in den Gletscherlagunen brüten und die Botschaft der Berge bringen. Sie erzählen von den Heilungen der Natur und in ihren Augen spiegelt sich das Licht der Sterne. Sie beten innig mit der Erde und nehmen jeden, der sie aufsucht, mit in diesen Kreis. Sie leben einfach und wissen, wie man inneren Frieden findet und sich durch die Zeit vor und zurück bewegen kann. In ihren fremden Worten klingt ein Lied, das meine Seele kennt. Und sie rufen sie langsam und liebevoll in meinen Körper zurück. Ja, das war es, was ich gesucht habe. Und nur deshalb kann ich zwischen all den schlimmen Dingen in meiner Welt das Leuchten eines Flusses sehen, auch wenn er verdreckt ist, ich kann den wundervollen Gesang der Pflanzen und das Gemurmel der Steine hören. Ich kann die Segnung des Windes empfangen, egal, welche Partikel er verteilt, und ich spüre die unendliche Kraft und Macht der Erde, die alles in einem Augenblick verändern könnte – ja, die alles vernichten könnte und uns stattdessen Heilung schenkt. Und ich spüre vor allem die bedingungslose Liebe der Natur, diese Heilung immer wieder zu wählen und niemals abzulehnen. So erlebe ich Pachamama, Tag für Tag.
Dank der Paqos lebe ich mittlerweile in einer Welt, in der nicht mehr nur absolute Trennung existiert, sondern auch allumfassende Verbundenheit. Die Tatsache, dass ich andere Dinge sehe und erlebe als die Paqos in Q’ero, stellt das, was ich von ihnen lerne, in einen neuen Kontext. Diese neue Interpretation ist keine Verfälschung eines ursprünglichen Wissens, sondern der unvermeidliche Schritt einer Evolution.
Die Kosmologie, die ich hier vorstelle, und die kraftvollen Übungen, die du als Audio-Download zu diesem Buch bekommst – all dies habe ich von den Paqos gelernt. Ich versuche, das Wissen und die Übungen mit größtem Respekt so authentisch und so genau wie möglich wiederzugeben. Die Bedeutung aber, welche dieses Wissen für mein und dein Leben in dieser Gesellschaft und Kultur hat, kann nur aus unseren Herzen kommen. Es ist das Licht, das die Andentradition in uns entfacht.
Wir sind die neue Generation von Mutter Erde!
Ich hoffe, dass dieses Buch dir dabei hilft, dich mit Pachamama bekannt zu machen, eure Beziehung zu verstehen und deine wahre Natur zu stärken. Trau dich, spüre hinein und entdecke die Segnungen, die in dieser Verbindung liegen!
Die Kosmologie
der Paqos