Das Buch
Joy Divison tauchten Mitte der Siebzigerjahre in Manchester auf und sorgten zusammen mit dem Label Factory dafür, dass die graue Industriestadt in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Bis heute gelten sie als einflussreichste Protagonisten des Post-Punk und Bezugspunkt für nachfolgende Entwicklungen wie Gothic Rock, Dark Wave oder Indie-Rock. Obwohl die Band nur zwei offizielle Studioalben aufnahm, sorgten diese und einige legendenumwitterte Liveauftritte dafür, dass Joy Division zur aufregendsten Undergroundband ihrer Zeit aufstiegen. Doch kurz vor der ersten großen Amerika-Tour nahm sich Sänger Ian Curtis das Leben.
In Sengendes Licht, die Sonne und alles andere hat Jon Savage Interviews mit zentralen Figuren der Joy-Division-Geschichte aus den letzten dreißig Jahren zu einer Oral History zusammengestellt, darunter Bernard Sumner, Peter Hook, Stephen Morris, Deborah Curtis, Paul Morley, Tony Wilson, Terry Mason, Rob Gretton und Martin Hannett. Es ist die Erzählung einer Band, die das Bild einer ganzen Stadt bestimmte, wie diese Band auf ungewöhnliche Art zusammenfand, wie ihre Musik eine ganze Generation bewegte, wie junge Menschen mit elektrischen Gitarren und literarischen Vorlieben die Welt veränderten. Und es ist auch die niederschmetternde Geschichte, wie Krankheit und innere Dämonen einen charismatischen Sänger und visionären Texter dazu brachten, der Welt zu entfliehen.
Der Autor
Jon Savage, geboren 1953 in London, ist ein britischer Pop-Musikjournalist und Publizist. Für die Musikzeitschriften Sounds, New Musical Express und Melody Maker war er von 1977 bis in die 1980er hinein tätig. Seither schreibt Savage regelmäßig als Popmusik-Kritiker für britische Tageszeitungen wie The Observer und den New Statesman sowie das Magazin Mojo. Bekannt wurde er vor allem durch seine vielbeachteten Bücher England‘s Dreaming: Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock sowie Teenage: Die Erfindung der Jugend.
JON SAVAGE
SENGENDES LICHT, DIE SONNE UND ALLES ANDERE
DIE GESCHICHTE VON
JOY DIVISION
Aus dem Englischen
von Conny Lösch
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THIS SEARING LIGHT, THE SUN AND EVERYTHING ELSE. JOY DIVISION – THE ORAL HISTORY bei Faber & Faber, London
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie alles rund um das Hardcore-Universum.
Weitere News unter www.heyne-hardcore.de/facebook
Copyright © 2019 by Jon Savage
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Lektorat: Markus Naegele
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung des Fotos von Hermann Vaske
Fotos im Vor- und Nachsatz und Rückseite © Jon Savage
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-25046-1
V001
Für Tony Wilson, der mein Leben verändert hat
INHALT
Dramatis Personae
Einführung
1 Die Sprache der Städte
2 1966 – 76
3 Juni 1976 – Juni 1977
4 Juli 1977 – April 1978
5 Mai – Juni 1978
6 Juni – Dezember 1978
7 Oktober 1978 – Mai 1979
8 Juni – September 1979
9 Oktober – November 1979
10 November 1979 – Februar 1980
11 Februar – März 1980
12 April – Mai 1980
13 Mai 1980
Quellen
Danksagung
DRAMATIS PERSONAE
In der Reihenfolge ihres Auftretens:
Bernard Sumner: Joy Division
Peter Hook: Joy Division
Stephen Morris: Joy Division
Deborah Curtis: Ehefrau von Ian Curtis; Zeitzeugin
Tony Wilson: Moderator, Granada Television; Mitbegründer von Factory Records
C.P. Lee: Alberto y Lost Trios Paranoias
Peter Saville: Artdirector und Mitbegründer von Factory Records
Paul Morley: Autor, New Musical Express
Liz Naylor: Autorin, »No City Fun«
Terry Mason: Tourmanager von Joy Division
Iain Gray: Zeitzeuge
Ian Curtis: Joy Division
Mark Reeder: Factory Deutschland
Michael Butterworth: Buchhändler
Martin Hannett: Produzent für Factory Records
Pete Shelley: Buzzcocks
Alan Hempsall: Crispy Ambulance
Richard Boon: Manager der Buzzcocks
Kevin Cummins: Fotograf
Jeremy Kerr: A Certain Ratio
Bob Dickinson: Autor, New Manchester Review
Richard Searling: Grapevine Records, DJ im Wigan Casino
Rob Gretton: Manager von Joy Division, Mitbegründer von Factory Records
Lesley Gilbert: Freundin von Rob Gretton; Zeitzeugin
Richard Kirk: Cabaret Voltaire
Malcolm Whitehead: Filmemacher
Jon Wozencroft: Zeitzeuge
Lindsay Reade: Ehefrau von Tony Wilson; Zeitzeugin
Jill Furmanovsky: Fotografin
Dave Simpson: Zeitzeuge
Mary Harron: Autorin, Melody Maker
Annik Honoré: Zeitzeugin
Gillian Gilbert: Freundin von Stephen Morris; Zeitzeugin
Anton Corbijn: Fotograf
Daniel Meadows: Fotograf
Dylan Jones: Zeitzeuge
EINFÜHRUNG
Bernard Sumner: Obwohl wir erwarteten, dass uns die Musik einfach zuflog, hatten wir kein großes Interesse an dem Geld, das wir vielleicht einmal damit verdienen würden. Wir wollten einfach etwas machen, das schön anzuhören war und uns emotional berührte. Karriere oder so was hat uns nicht interessiert. Wir haben keinen einzigen Tag im Voraus geplant.
Peter Hook: Ian hat die Impulse gegeben. Wir nannten ihn »den Entdecker«. Er sagte zum Beispiel so was wie: »Klingt gut, wir nehmen noch ein bisschen Gitarre dazu.« Wir wussten nicht, was gut klang, aber er schon, weil er einfach nur zugehört hat. Das hat das Songwriting beschleunigt. Es gab immer einen, der zugehört hat. Ich kann’s nicht erklären, das war reines Glück. Hatte gar keinen bestimmten Grund. Wir haben uns das ehrlich nicht überlegt, es ist einfach so gekommen.
Stephen Morris: Er war eher zurückhaltend mit dem, was er geschrieben hat. Ich glaube, mit Bernard hat er ein bisschen über die Songs gesprochen. Er war ganz anders, als er auf der Bühne gewirkt hat. Bevor er zwei bis drei Starkbier getrunken hatte, war er schüchtern. Danach kam er ein bisschen in Fahrt. Als ich Ian zum ersten Mal auf der Bühne sah, konnte ich’s kaum glauben. Er hatte sich in eine wilde Windmühle verwandelt.
Deborah Curtis: Er war sehr ehrgeizig, wollte einen Roman schreiben, Songs schreiben. Und es schien ihm sehr leicht zu fallen. Bei Joy Division kam das alles für ihn zusammen.
Tony Wilson: Ich weiß immer noch nicht, wo Joy Division eigentlich herkam.
1
DIE SPRACHE DER STÄDTE
Fabriklandschaft, Greater Manchester, Oktober 1977 (Jon Savage)
Tony Wilson: Ich denke, dass im französischen Situationismus der Fünfzigerjahre die Psychogeografie und die Stadt als Konzept im Zentrum standen, und genauso gehörte auch die im Niedergang begriffene Stadt zum Leben von Joy Division: Das waren Jungs aus Macclesfield und Salford, und dann war da noch die Stadt – Manchester. Sie zieht sich thematisch durch das Ganze hindurch, Manchester als die archetypische moderne Stadt.
C.P. Lee: Früher hat man gesagt: »Was man heute in Manchester denkt, wird morgen in London gemacht.« Im neunzehnten Jahrhundert war das ja wirklich ein unglaublich innovativer Ort. In Salford, das nicht zu Manchester gehört, aber direkt daneben liegt, gab es die erste Straßenbeleuchtung, die ersten Straßenbahnen. All das kam aus Manchester: der soziale Wohnungsbau, die erste öffentliche Leihbibliothek – viele großartige Innovationen, die wir für Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts halten, sind dort im neunzehnten Jahrhundert entstanden.
Aber gleichzeitig birgt das alles auch ein Spannungsverhältnis. Ein Spannungsverhältnis, das um den Pöbel herum entsteht, die Arbeiterklasse. Sie tritt als Meute auf. Einige führende Persönlichkeiten in Manchester wollten mit diesen Leuten arbeiten und vieles verbessern, die Stadt nach vorne bringen, aber es gab andere, die den Pöbel für sehr gefährlich hielten, wodurch Spannungen entstanden.
Ein Viertel wie Angel Meadows heißt so, weil die Toten so dicht unter der Erde lagen, dass ihre Knochen herausschauten, wenn es regnete hatte und die oberste Erdschicht weggespült worden war. Das waren Gegenden, die Polizisten grundsätzlich nur zu zweit betraten. In den Dreißigerjahren war mein Vater Polizist und musste dort mit einem Kollegen auf Streife gehen. Um drei Uhr morgens saßen die Leute noch draußen, und mein Vater fragte: »Wieso sitzen die da?« Der andere meinte: »Die bleiben so lange sitzen, bis sie vollgesoffen sind, damit sie trotz der Bettwanzen schlafen können.«
Man hatte also eine innovative, wohlhabende Stadt, was der Baumwollindustrie zu verdanken war. Manchester wurde ja auch Cottonopolis genannt, war entstanden mit Blick auf die Zukunft, durch Visionen von der Zukunft. Es gab fantastische Errungenschaften wie den Ship Canal. Dreißig Meilen weit entfernt liegt das Meer direkt vor Liverpool, aber Manchester hat nicht untätig zugesehen. Man hat sich gesagt: »Wir bringen das Meer in die Stadt«. Und hat den Ship Canal gebaut, einfach fantastisch.
In Salford gab es Hafenanlagen, weshalb es auch Barbary Coast genannt wurde. Dort lebten lauter dunkelhäutige Matrosen aus Indien, auch viele Italiener, Spanier und andere Menschen aus dem Mittelmeerraum, die mit Ohrringen und Halstüchern herumspaziert sind, das war fantastisch. Männer mit Affen auf den Schultern. Dank der Hafenanlagen kamen sie alle nach Manchester, und die Stadt wurde zu einem unglaublich opulenten Schmelztiegel der unterschiedlichsten Einflüsse und Stile. Gleichzeitig barg sie aber auch viele Schattenseiten für die Arbeiterklasse, die nicht unbedingt was vom Kuchen abbekommen hat.
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte sich eine riesige politische Bewegung, zunächst im englischen Nordwesten. Die Chartisten und die Befürworter des Freihandels wollten im Prinzip genau das, was wir jetzt haben, nämlich ein allgemeines, freies Wahlrecht. 1819 veranstalteten sie eine Massendemonstration auf dem St. Peter’s Field in Manchester. Und was macht man, wenn Leute das Wahlrecht fordern? Man schickt ihnen die Kavallerie auf den Hals. Die Kavallerie hat die dort Versammelten massakriert. Hunderte wurden verletzt, fünfzehn starben, wahrscheinlich sogar mehr.
Das Ganze wurde mit dem Bau der Manchester Free Trade Hall gefeiert, sie wurde zu einem gewaltigen Epizentrum der psychogeografischen Energie. Alle wichtigen Künstler und Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts sind dort aufgetreten. Außerdem war sie ein Ort der politischen Auseinandersetzungen. Wenn die Gewerkschaften streikten, hielten sie dort ihre Versammlungen ab. Louis Armstrong hat dort gespielt, Bob Dylan wurde 1966 ausgebuht und ausgepfiffen. 1976 traten die Sex Pistols in der Free Trade Hall auf, und 1996 segnete der Dalai Lama dort die Menschen aus Manchester.
Sie wurde auf einem blutigen Schlachtfeld errichtet. Das ist es auch, was Manchester so einzigartig macht, weil es diese unglaubliche Dichotomie zwischen Besitzenden und Besitzlosen gibt, den Reichen und den Armen, den Denkern und den Nicht-Denkern. Dieses Spannungsverhältnis und diese Energie haben Manchester zu der lebendigen und bedeutenden Stadt gemacht, die sie heute ist.
Tony Wilson: Bei zwei Begriffen dachte man immer an die Städte im englischen Norden, insbesondere an Manchester. Der eine war »Slum« – ich hab noch im Ohr, wie Laurence Olivier auf Granada TV in einem Stück von Harold Pinter sagt: »You’re a slum slug.« Slums waren dreckige Wohngebiete der Arbeiterklasse. Der andere Begriff ist »Arbeitslosigkeit«. Das sind die beiden Begriffe – das »S«-Wort und das »A«-Wort –, meist in Verbindung mit »dreckig«. Manchester war eine wirklich dreckige Stadt, eine dirty, dirty old town. Ich glaube, wir mussten uns ganz schön Mühe geben, um nicht zu vergessen, dass sie historisch gesehen das Zentrum der modernen Welt war, dass wir hier die industrielle Revolution erfunden hatten; aber damit eben auch diese Zustände.
Ich bin erst vor Kurzem dazu gekommen, Elizabeth Gaskell zu lesen, ihren Roman Mary Barton. Im Prinzip entstand die Idee zum Kommunismus dadurch, dass Marx und Engels sich die ganze Scheiße angesehen haben, die erste Industriestadt.
Der große Triumph von Manchester in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war, dass die erste große Industriestadt nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg gespalten war, und zwar aus der Perspektive ihrer Einwohner, zum Glück: Wir haben nämlich zu denen gehalten, mit denen wir keine Geschäfte gemacht haben. Unsere Geschäftspartner waren die Plantagenbesitzer, aber jedes Mal, wenn der Süden und Richmond wollten, dass wir die Konföderation anerkannten, verhinderten aufständische Arbeiter in Manchester das. Westminster machte einen Rückzieher und erkannte den Süden nicht an. Deshalb gibt es in Manchester auch einen Lincoln Square.
Die meisten Menschen in Manchester wissen gar nicht, warum wir einen Lincoln Square haben, da keiner die Inschrift lesen kann. Präsident Lincoln hat in einem Brief an die arbeitende Bevölkerung von Manchester geschrieben, sie habe zu den wichtigsten Kräften bei der Überwindung dieses Übels gehört. Und das entgegen der eigenen Interessen. Weil wir uns nicht mit unseren Geschäftspartnern, den Plantagenbesitzern, identifiziert haben, sondern glaubten, mit den schwarzen Sklaven mehr gemein zu haben, was vermutlich sehr wahr ist.
Trotzdem waren wir danach gearscht. Außerdem wurde damals die Schifffahrt, vor allem Frachttransporte, ein wichtiger ökonomischer Faktor. Es gibt eine wunderbare Statistik aus der Zeit um 1870: Der Transport einer Tonne Kohle von New York nach Liverpool kostete sechs Shilling und vier Pence; dieselbe Tonne Kohle von Liverpool nach Manchester zu befördern kostete acht Shilling und sechs Pence. Im Prinzip waren wir also dadurch gearscht, dass wir keinen Hafen hatten. Daher sagten sich ein paar Mancunians, im wahren Geist der Stadt: »Na gut, dann bauen wir eben einen Hafen in Manchester.«
Also ging’s los, und es wurde ein Kanal von der Mersey-Mündung bis nach Manchester hinein gebaut. So richtig hat das allerdings nicht funktioniert, weil die ganzen modernen Fabriken auf der Liverpooler Seite des Mersey standen und es eigentlich keinen Grund gab, den Ship Canal runterzufahren. Aber dann meinte jemand: »Warum bauen wir nicht an einem Ort, der sich besonders gut für moderne Fabriken eignet?« Und dann ist das weltweit erste Industriegebiet entstanden, Trafford Park war das, und dadurch kam dann auch der Ship Canal in Schwung. Das Geschäft meiner Eltern befand sich eine halbe Meile von der Hafeneinfahrt in Salford entfernt.
Bernard Sumner: Weil alles so hässlich war, hielt man ständig nach etwas Schönem Ausschau, wenn auch vielleicht nur unterbewusst. Ich glaube, bis ich ungefähr neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen. Ich war von Fabriken umgeben, und da war nichts Schönes, gar nichts. Man hatte also eine Wahnsinnssehnsucht nach schönen Dingen, weil man sich halb in einem Zustand der sensorischen Deprivation befand, dadurch dass man in einer so brutalen Umgebung aufwuchs. Und wenn man doch mal was Schönes sah oder hörte, dachte man, »oh, eine neue Erfahrung«, und war total dankbar dafür.
Ich weiß noch, wie ich als Scooter Boy mit meinem Roller aufs Moor rausgefahren bin und gar nicht fassen konnte, wie weit man dort in die offene Landschaft schaut. Durch den Scooter hatte ich auf einmal die Freiheit, mich zu bewegen, mitten im Winter aufs Moor rauszufahren, die Schule zu schwänzen. Überall lag dort Schnee. Ich bin da hochgefahren, hab mich einfach nur umgesehen und gedacht: »Wahnsinnig schön.« Das ist mir bis heute geblieben.
Die Berge sind der Zufluchtsort vor all dem Schrecklichen, der toten Industrielandschaft von Salford und weiten Teilen von Manchester; der krasse Gegensatz zwischen dem Moor und dem Industriedreck, von dem wir in den Sechzigerjahren umgeben waren. Ich weiß noch, wie mir mal jemand auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählt hat, dass Salford als größter Slum Europas galt, und ich konnte es nicht glauben, weil ich ja dort gelebt habe. Ich hab mal gelesen, in Salford wohnen sei so, als würde man siebzig Zigaretten pro Tag rauchen.
Tony Wilson: Salford und Manchester sind praktisch dasselbe. Im Hubschrauber müsste man schon sehr tief fliegen, um den River Irwell zu erkennen, der die beiden Städte trennt, und trotzdem gab es früher Konflikte. Wenn jemand in Amerika sagte, »ach, du kommst aus Manchester?«, haben Leute wie ich geantwortet: »Nein, ich komme aus Salford.« – »Ist doch dasselbe.« – »Nein, ist es nicht.« Salford hatte seinen eigenen Stolz; es war bereits achthundert Jahre vor Manchester eine echte Stadt gewesen, wirkte jetzt aber wie eine Arbeitersiedlung am Rande des urbanen Zentrums von Manchester.
Zu den Eigentümlichkeiten dieser ganzen Entwicklung, der Erneuerung dieser ganzen Stadtregion, wie wir das jetzt nennen, gehört auch, dass Mitte der Achtziger Leute wie ich plötzlich gesagt haben: »Ich komme aus Manchester.« Da stand dann der Begriff »Manchester« für das gesamte Projekt, das Projekt des Wiederaufbaus dieser extrem vernachlässigten, schmutzigen, heruntergekommenen Gegend von Manchester und Salford.
Bernard Sumner: Ich bin in Salford aufgewachsen, in Lower Broughton, in der Alfred Street 11, bei meinen Großeltern und meiner Mutter. Und das war sogar gut. Eigentlich müsste ich sagen: »O Gott, es war schrecklich, so ein trister, fürchterlicher Ort. Überall nur Fabriken.« Am Ende unserer Straße war eine Chemiefabrik, am anderen Ende wohnte eine Verbrecherfamilie, aber das hat das Leben dort interessant gemacht.
Damals lebten eine Menge witzige Gestalten dort, und es gab viele Pubs, ganz in der Nähe vom River Irwell, an dem einen im Sommer auch unzählige Stechmücken quälten, das weiß ich noch. Aber man konnte überall zu Fuß hingehen. Meine Grundschule war ungefähr fünf Minuten von zu Hause entfernt, was mich nicht davon abgehalten hat, jeden Tag zu spät zu kommen. Ich hab deshalb immer schrecklichen Ärger bekommen, und die Lehrer meinten: »Aber du wohnst doch nur fünf Minuten entfernt, wie ist das denn möglich?«
Eigentlich war’s wirklich lustig da, konnte aber auch brutal sein. Einmal wurde ich von einer mit Speeren bewaffneten Bande gejagt, das war schon ganz schön beängstigend. Einmal auch von Typen mit Säbeln, Frauen standen auf der Straße und stritten, Leute wurden mit Eisenstangen verprügelt, aber ich würde trotzdem jederzeit wieder dorthin ziehen. Wenigstens gab’s keine Schusswaffen. Es ging derbe zu – ich weiß, das ist ein Klischee –, aber es herrschte auch ein ganz fantastischer Gemeinschaftssinn.
In den Sechzigerjahren hat wohl jemand bei der Verwaltung festgestellt, dass die Chemiefabrik, meine Straße und mein ganzes Viertel der Gesundheit nicht unbedingt dienlich waren, und irgendwas musste weichen. Leider war’s mein Viertel, das daraufhin verschwand. Als ich elf war, hat meine Mutter geheiratet, deshalb sind wir aus dem Haus meiner Großeltern raus und in eine Gegend namens Greengate auf der anderes Seite des Irwell gezogen.
Das war ein Wohnblock, den ich fantastisch fand. Für mich war das, als würden wir nach New York ziehen. Dort gab’s eine Zentralheizung, wir hatten eine Badewanne und eine Wäschekammer, wo man seine Handtücher trocknen konnte. Ich dachte: »Das ist es, wie im Buckingham Palace.« Ich hab die Blocks geliebt und fand’s toll, wie Manchester umgestaltet wurde. In meinen Augen haben sie New York draus gemacht, und das war aufregend, das war die Zukunft.
Als Allererstes hab ich mich in die Wäschekammer gesetzt und die Heizung voll aufgedreht, hab so getan, als wär’s eine Sauna. Ich dachte: »Super, das ist eine Sauna, ich lebe in einem Palast.« Aber ich hatte mich geirrt. Es war furchtbar, dort zu wohnen, weil es den Gemeinschaftssinn nicht mehr gab, den wir auf der anderen Seite des Flusses noch gehabt hatten. Dort hatte jeder jeden gekannt; an einem schönen Sommertag hatten alle draußen gesessen und sich unterhalten. Das war alles weg. Es war ein Leben wie im Gefängnis. Zu Hause hatte man zwar alle Annehmlichkeiten, aber man war völlig isoliert.
Peter Hook: Ich wurde in Ordsall in Salford geboren und bin dort größtenteils auch aufgewachsen, abgesehen von den drei Jahren, die ich aus irgendeinem komischen Grund in Jamaika verbracht habe. Salford ist was Besonderes, Manchester nicht. Ich bin nicht stolz drauf. Salford hat den Ruf, sehr stur und aggressiv zu sein, wohingegen Manchester einfach Manchester ist. In Salford zu leben, war immer anstrengend. Es ist sehr arm, sehr unterdrückt, sehr industriell.
Es ist interessant, wenn Bernard sagt, dass Unknown Pleasures daher kommt, was vermutlich stimmt. Ich glaube nicht, dass Bernard und ich bewusst versucht haben, da rauszukommen. Ehrlich gesagt, waren wir mit unseren Leuten dort ganz zufrieden. Aber ich glaube, unterbewusst hat sich das doch sehr auf einen ausgewirkt.
Stephen Morris: Als ich aufgewachsen bin, sind wir immer nach Manchester und wieder zurück gefahren. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in Manchester war, da standen diese ganzen dicht an dicht gebauten Reihenhäuser. Wenn man das nächste Mal hingefahren ist, lag nur noch ein Haufen Schutt da, und beim übernächsten Mal wurde schon wieder gebaut. Als ich noch ein Teenager war, war’s schon eine Betonfestung, ziemlich futuristisch damals. Da war das College of Music, und überhaupt war die Oxford Road in den Siebzigern ganz schön futuristisch. Es gab auch düstere Ecken, aber im Vergleich zu Macclesfield war Manchester eine glamouröse Großstadt.
Peter Saville: Geografisch ist Manchester sehr speziell. Die Stadt scheint Ringe um sich herum zu bilden. Kaum jemand hat im Zentrum von Manchester gelebt, auch in dieser Hinsicht ist die Stadt anders als London oder Liverpool oder noch ältere Städte wie Bristol. Die Wohngebiete von Manchester entwickelten sich um das unmittelbare Stadtzentrum herum. Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts und auf jeden Fall im zwanzigsten Jahrhundert rückten die begehrten Wohnlagen immer weiter nach außen.
Die Stadt hat eine relativ bescheidene Größe, deshalb kann man gut am Rand von Greater Manchester leben und ist trotzdem in zwanzig bis fünfundvierzig Minuten ins Zentrum gependelt, je nach Tageszeit. Ich habe unten im Süden von Manchester gelebt, an der Grenze zu Cheshire, im Stockbroker Belt. Und als ich auf dem Art College war, fuhr ich jeden Tag ins Zentrum. Damals wusste ich das, was ich da sah, nicht wirklich zu schätzen, ich habe das eher unterbewusst aufgenommen.
Eigentlich ist es mir gar nicht aufgefallen, bis ich in der Londoner Innenstadt gelebt habe und mir klar wurde, wie viel homogener die sozialen und geografischen Bindungen sind, wenn man mitten in einer großen Stadt wie London wohnt. Erst als ich schon ein paar Jahre aus Manchester weg war, begriff ich, dass ich auf der Fahrt von den Rändern ins Zentrum praktisch jeden Tag einen Querschnitt des britischen Sozialprofils vorgeführt bekommen hatte. Auf so einer halbstündigen Fahrt nach Manchester raus oder rein sieht man viele unterschiedliche Lebensweisen und Aktivitäten: Ackerland und Vorstadt, Innenstadtbezirke, in denen das Leben schwieriger ist und den Menschen mehr abverlangt, und dann gelangt man in das von der Geschäfts- und Berufswelt, vor allem vom Einzelhandel geprägte Stadtzentrum.
Ich denke, das ist eigentlich eine ziemlich gesunde Erfahrung. Es wird nichts versteckt, das ganze Spektrum des Lebens ist da. Dort, wo ich aufgewachsen bin, habe ich eine Art romantische Sicht auf die Stadt mitbekommen, auf eine industrielle Stadt – oder zu diesem Zeitpunkt besser gesagt auf eine postindustrielle Stadt. Ich fand Fabriken und Lagerhäuser spannend. Ich musste mich ja auch nicht in einer solchen Umgebung durchs Leben schlagen. Für mich war das eine Art Skulpturenpark.
Paul Morley: Man musste nicht weit aus dem Zentrum heraus, bis einfach alles zerfallen war und es nichts mehr gab. Alles war bombardiert und nie wieder aufgebaut worden. Man hatte nicht das Gefühl, dass irgendwas wieder aufgebaut und in was Neues verwandelt werden sollte. Man hatte das Gefühl, dass es immer so bleiben würde.
Liz Naylor: Da hat niemand gewohnt, da war nichts. Das war eine postindustrielle Stadt, leer. Ich bin gerne dort herumspaziert. Ich weiß noch, wie sich das 1978 angefühlt hat, wenn ich die Tib Street entlanggegangen bin, die jetzt zum Northern Quarter gehört. Für mich wird es immer ١٩٧٨ bleiben. Und ich sehe auch wirklich noch das alte Eighth Day in All Saints vor mir, das jetzt ganz anders ist als der kleine Laden, der’s früher war.
Als junge Frau war das für mich wirklich eine unglaubliche Art, die Stadt zu erleben. Und ich war auch immer alleine. Ich hab nicht mit Freunden zusammen die Schule geschwänzt; das war eine sehr einsame Erfahrung in der Stadt, und ich hatte keine Angst davor. Ich habe ihren Zerfall sehr geliebt, weil der natürlich meiner Depression entsprochen hat. Aber ich hab mich nicht schlecht benommen; ich war nur unglaublich deprimiert und selbstmordgefährdet, deshalb war’s perfekt, Ende der Siebzigerjahre durch Manchester zu gehen. Das war das, was ich machen wollte.
Da kam es zu einer Kollision zwischen dem Vorkriegs-Manchester und dem nach dem Krieg halb niedergerissenen, in dem neue Slums entstanden, sodass beide nebeneinander existierten. Der Norden von Manchester war wie ein Bombenkrater, das war erschreckend. Ich musste immer zu Fuß in die Stadt, also bin ich die Oldham Road und die Rochdale Road entlang, die damals wirklich trostlos waren. Überall leerstehende Gebäude ohne Fenster und Trümmergrundstücke. Der Krieg war wieder da.
Die Stadt war damals voller Vertriebener, und auch ich fühlte mich extrem vertrieben und entmachtet. Nirgendwo fühlte ich mich je mehr zu Hause. Joy Division waren mir gefühlsmäßig sehr nah. Sie waren meine erste Band. Ich denke, sie waren eine Band, die Außenseiter angesprochen hat, auch Mädchen. Ich hab mich vielleicht nicht wie ein Mädchen gefühlt, aber ich war eins und auch sehr verletzlich, und sie haben mich wirklich berührt. Ich halte Joy Division für eine sehr atmosphärische Band: Eigentlich betrachtet man sie gar nicht als Band, sondern als Ansammlung von Umgebungsgeräuschen.