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Für Craig,
der immer alles aufwäscht

DAS KOCHBUCH

Leah Hyslop

ESSEN UND
TRINKEN
MÄANDERN
WIE DIE
THEMSE
DURCH
LONDONS
GESCHICHTE.

INHALTSVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

FRÜHSTÜCK & BRUNCH

VORSPEISEN & SNACKS

FÜNFUHRTEE

LON-DINNER

DESSERTS

LONDON BEI NACHT

LONDON FLÜSSIG

LITERATUR & REGISTER

EINFÜHRUNG

»EIN MANN, DER EINE
LONDONER DINNERTAFEL
BEHERRSCHEN KANN, KANN DIE
WELT BEHERRSCHEN.«

OSCAR WILDE

London ist eine gefräßige Stadt.

Man muss nur einmal im quirligen West End im Herzen der Metropole spazieren gehen und schon hat einen ein wahrer Moloch der Gastronomie verschlungen. Aus den Fish-and-Chips-Läden weht der Duft von Essig und Backteig; aus einem Foodtruck hört man das Brutzeln von Burgern; vor dem hektischen indischen Restaurant drängt der Besitzer die Passanten lautstark: »Kommen Sie, kommen Sie, bestes Balti in der Stadt!«. Bei mehr als 7000 Restaurants könnten die Londoner sieben Jahre lang jede einzelne Mahlzeit des Tages in einem anderen Etablissement einnehmen, ohne dabei zweimal am selben Ort essen zu müssen. Der Stadt ist das Essen sogar in die Geograie eingeschrieben: Selbst bei einem flüchtigen Blick ins Londoner Straßenverzeichnis fallen Namen wie Bread Street, Saffron Hill, Fish Street und Honey Lane ins Auge – allesamt nach den Lebensmitteln benannt, die einst dort gehandelt wurden, sei es Brot, Safran, Fisch oder Honig.

Ich wurde in London geboren. In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich am schlickigen Ufer der Themse bei Greenwich und verteile mir Mr-Whippy-Eiscreme gleichmäßig im Gesicht, während vor mir die Schiffe vorbeigleiten. Wir sind dann erst einmal nach Kent gezogen, doch als ich nach dem Studium nach London zurückkehrte, wo ich wenige Freunde und noch weniger Geld in der Tasche hatte, erschien mir die Stadt riesig, fremd und abweisend. Das sollte sich ändern – durch das Essen. Samstags sprang ich in die U-Bahn und besuchte Borough Market. Ich drückte mir die Nase an den Fenstern angesagter Restaurants wie »Thy Ivy« platt. Auf dem Nachhauseweg von der Arbeit machte ich Abstecher zu berühmten Bäckereien, um mir ein Brot zu kaufen. So erkundete ich die Stadt, bekam eine topografisch-kulinarische Vorstellung von ihr und fühlte mich allmählich zu Hause. Ich schloss neue Freundschaften in alten Pubs und füllte meine winzige Küche mit Marmelade und Käse der brillanten Lebensmittelerzeuger, von denen es in London nur so wimmelt. Diese meine Liebesaffäre mit der Londoner Küche fiel zufällig in genau das Jahrzehnt, in dem sich die Stadt ihren Ruf als Feinschmeckerparadies Nummer eins erwarb. Die New Yorker sind da vielleicht anderer Meinung, doch ich glaube, dass London im Augenblick das kulinarische Zentrum der Welt ist.

Im Vergleich mit anderen Großstädten ist es schwierig, London ein einzelnes typisches Gericht zuzuordnen. Rom etwa ist die Stadt von Pizza und Pasta, zu Paris gehören Cassolette und Steak mit Pommes frites ebenso untrennbar wie die gruseligen Katakomben. Natürlich gibt es auch in London kulinarische Institutionen: die altmodischen Pie-and-Mash-Läden z.B. oder die schicken Hotels mit ihrem Fünfuhrtee. Doch durch seine ungeheuer vielfältige Bevölkerung hat sich London immer schon die Rosinen aus den Küchen rund um den Globus herauspicken können. Und so kommt es nicht selten vor, dass das englische Heiderind mit Gewürzen aus dem Nahen Osten oder der schottische Lachs genau so zubereitet wird, wie es die Mutter eines spanischen Küchenchefs ihrem Filius beigebracht hat. Die Londoner Küche ist wie die Architektur der Stadt, wo sich Fachwerkhäuser aus der Tudorzeit und normannische Kirchen an spiegelnde Wolkenkratzer schmiegen: Hier schichten sich neue Traditionen nonchalant auf alte, und man weiß spannenderweise nie ganz genau, was man bekommt.

Einen gemeinsamen Nenner gibt es jedoch: die Kreativität. Die Liste berühmter Gerichte, die in der Stadt erfunden wurden, ist lang, von den »Maids of Honour«, jenen köstlichen Küchlein, die schon Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert gern gegessen hat, bis zum »Omelette Arnold Bennett«, das 1929 im Savoy-Hotel kreiert wurde. Und auch moderne Klassiker geben einer nach dem anderen ihr Debüt. Im »Craft« in Greenwich wird Stevie Parle für seine Ente im Tonmantel auf einem Bett aus Kiefernadeln regelrecht angebetet, und in dem nahöstlichen Restaurant »Berber & Q’s« hat der ganze geröstete Blumenkohl mit pikanter Butter und Rosenblütenblättern Geschichte gemacht.

Der »Golden Boy of Pye Corner« (View Pictures/Getty Images)

Natürlich gab sich die kulinarische Geograie Londons nicht immer so verlockend. Viele Jahre lang wirkten die traditionellen, schwer verdaulichen britischen Gerichte mit so seltsamen Namen wie »Spotted Dick« (Geleckter Teig) oder »Toad in the Hole« (Kröte im Loch) eher abschreckend auf Besucher. »Die Schlechtigkeit der Londoner Restaurants«, merkte der amerikanische Schriftsteller Henry James 1877 an, »ist buchstäblich legendär.« Bis in den 1980er-Jahren eine Welle innovativer Köche und Restaurants – darunter Rose Grays und Ruth Rogers’ »The River Café« sowie Rowley Leighs »Kensington Place« – über London schwappte und die Stadt zum Mekka des guten Geschmacks wurde.

Die Geschichte Londons und seines Essens begann vor Hunderten von Jahren. Um 50 n. Chr. errichteten die Römer eine Siedlung am Ufer der Themse und nannten sie Londinium. Die genussfreudigen Italiener nutzten den Fluss, um sich ihre Lieblingsspeisen aus allen Ecken des Römischen Reiches kommen zu lassen: Bei Ausgrabungen wurden die Überreste exotischer Nahrungsmittel wie Kirschen, Pflaumen, Erbsen und Walnüssen zutage gefördert, die in Britannien bis dato unbekannt gewesen waren. Die Römer importierten sogar ihre geliebte Fischsauce Garum. Auf einer in Southwark in Südlondon gefundenen Amphore ist die folgende Werbung zu lesen: »Luccius Tettius Aicanus liefert die beste Fischsauce aus Antipolis«. Was die Schlichteres gewohnten Briten davon hielten, ist nicht überliefert.

Auch spätere Einwanderer füllten die Speisekammern der Stadt und machten Appetit auf Neues. Im 17. Jahrhundert brachten jüdische Flüchtlinge aus Portugal und Spanien ihre Tradition des mehlierten und gebratenen Fischs mit, die sich alsbald mit einem weiteren Immigrantengericht paarte: den bei den französischen und belgischen Hugenotten so beliebten frittierten Kartoffeln – die Geburtsstunde des heutigen Klassikers Fish and Chips. Es wird übrigens heftig darüber gestritten, wer ihn als Erster verkaufte; weit vorn im Rennen liegt jedoch der jüdische Einwanderer Joseph Malin, der 1860 im East End einen bescheidenen Laden eröffnete.

Im 20. Jahrhundert steuerten karibische Immigranten durch ihre farbenfrohen Märkte und Läden in Brixton im Süden der Stadt wiederum neue Lebensmittel wie Kochbananen bei. Und in den 1970er- und 1980er-Jahren brachten die vietnamesischen Boatpeople London die Segnungen von Zitronengras und Ingwer, meist ganz erstaunlich wirkungsvoll vereint in einer dampfenden Schale Nudelsuppe, auch bekannt als Pho.

Das geschäftige Treiben auf dem Covent Garden Market 1864 (Foto: Museum of London/Heritage Images/Getty Images)

Als Sitz der mächtigsten Bürger des Landes – der königlichen Familie – war es meist London, das zuerst in den Genuss neuer Lebensmittel kam, manchmal auch auf den drängenden Wunsch des Monarchen selbst. Im 16. Jahrhundert führte die Salat liebende Gattin Heinrichs VIII., Katharina von Aragón, eben jenes Gemüse am Hof ein, das sie eigens aus Holland kommen ließ. 100 Jahre später verwandelte Katharina von Braganza, die Frau von Karl II., ein exotisches chinesisches Getränk namens Tee in den neuen Lieblingszeitvertreib der Briten. Früher oder später wanderte alles aus dem Empire über den Seeweg und die Themse nach London auf den Tisch: Ananas aus der Karibik, Gewürze aus Indien, Mais aus Amerika.

Was als Laune der oberen Klassen begann, sickerte bald auch nach unten durch. Im 17. Jahrhundert etwa entwickelten die Londoner einen unstillbaren Appetit auf Schildkrötensuppe, zubereitet aus importierten Grünen Meeresschildkröten, oft im eigenen Panzer serviert. 1776 war die Nachfrage so groß, dass die »London Tavern« riesige Becken errichtete, in denen sie die lebenden Schildkröten hielt – der Gedanke an heutige Hummerbecken liegt nahe. Gut und vor allem reichlich zu essen galt als Wahrzeichen des echten Londoners – auch wenn es manchen doch ein wenig anrüchig dünkte. An der Pye Corner in der Nähe der St Paul’s Cathedral ist die kuriose Statue eines drallen, goldhäutigen Jungen zu sehen; sie markiert den Ort, an dem 1666 die letzten Glutnester des Großen Brandes von London gelöscht wurden. Darunter ist zu lesen: »Im Gedenken an den Brand von London, der jüngst durch die Sünde der Völlerei hervorgerufen worden war«. Viele denken bei London zuerst an die Statue Lord Nelsons, wie er stolz auf seiner Säule auf dem Trafalgar Square thront, oder an Königin Viktoria, die vor dem Buckingham Palace wacht. Für mich allerdings ist der pummelige kleine Junge mit dem seligen Lächeln der Wohlgenährten der Inbegriff von London.

Im Gewebe der Stadt sind die Restaurants quasi der rote Faden. Jahrhundertelang hatten die ärmsten Einwohner kaum Zugang zu einer Küche, weshalb die »cookshops« oder »ordinaries« boomten, wo man gegen die kleine Gebühr von ein paar Pennys ein mitgebrachtes Stück Fleisch im Ofen garen lassen konnte. Im 18. Jahrhundert aß man in »chophouses« oder »beefhouses« wie dem »Dolly’s Chophouse« in der Paternoster Row, das für seine Steaks berühmt war und so bekannte Persönlichkeiten wie Daniel Defoe (Robinson Crusoe) und Jonathan Swift (Gullivers Reisen) anlockte. Die Speiselokale waren allerdings alles andere als luxuriös. Nathaniel Hawthorne äußert sich in seinen englischen Tagebüchern (English Notebooks, 1853–58) recht abfällig über eines, die »Albert Dining Rooms«: »Schmutziges Tischtuch voller Krümel von anderen Leuten, Gabeln aus Eisen, Salzstreuer aus Blei, Teller aus dem gewöhnlichsten Ton und eine kleine, dunkle Ecke, in der man eingezwängt sitzt und isst.« Doch wie auch die Pie-and-Mash-Läden boten sie müden Arbeitern einen geselligen Ort und billiges Ale.

Natürlich konnte man auch vornehmer speisen. Im 19. Jahrhundert öffneten viele der berühmtesten Restaurants Londons ihre Pforten, z.B. das »Café Royal«, in dem Eduard VII. und Oscar Wilde verkehrten, oder das »Criterion« in Piccadilly. Letzteres taucht auch in Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten auf: Dort hört Dr. Watson das erste Mal von dem mysteriösen Detektiv, dessen Kompagnon er später werden sollte.

Heute ist die Londoner Restaurantszene schillernder denn je. Viele der Top-Küchenchefs des Landes arbeiten hier, von Gordon Ramsay bis Heston Blumenthal, und täglich kommen neue Etablissements dazu – 2015 gab es beispiellose 179 Neueröffnungen. Die insgesamt 72 Michelinsterne ziehen Besucher und Einheimische gleichermaßen an. Am erfreulichsten aber ist der Zuwachs an qualitativ ausgezeichneten legereren Lokalen im letzten Jahrzehnt. Im »Polpo« in Soho etwa trinken die Gäste Wein aus Bechern und genießen venezianische Cichetti – und das ganz ohne weißes Tischtuch oder hochnäsigen Sommelier. Im »Padella« in der Nähe der London Bridge stehen Büroangestellte in der Mittagspause Schlange für einen Teller Pappardelle mit geschmortem Rind oder Ravioli mit Kürbis und Majoran, der kaum mehr als fünf Pfund kostet. Und am aufregendsten überhaupt ist das Streetfood.

Streetfood gibt es in London schon seit Jahrhunderten. In viktorianischer Zeit wimmelte es in den kopfsteingepflasterten Gassen nur so von Straßenhändlern, die alle möglichen Delikatessen feilboten: frittierten Fisch und Erbsensuppe, gebackene Kartoffeln und Chelsea Buns, importierte Orangen und eingelegte Schnecken. Frischer Aal aus der Themse war sehr beliebt, oft wurde er vor den Augen der Käufer lebendig gehäutet. In seinem Buch Die Armen von London zeichnet der Journalist Henry Mayhew das lebendige Bild eines überfüllten samstäglichen Nachtmarktes, »wo die Arbeiter das Abendessen für Sonntag kauften«: Nach der Lohnauszahlung am Samstagabend oder ganz früh am Sonntag ist auf dem New Cut und besonders dem Brill kein Durchkommen mehr. Hier geht es eher zu wie auf dem Jahrmarkt, nicht wie auf dem Markt… Gehweg und Straße sind vollgestopft mit Käufern und Händlern. Die Hausfrau mit dickem Schal und Einkaufskorb am Arm schlendert vorbei, wirft einen Blick auf den Stand mit den Hauben und feilscht um ein Bund Gemüse. Knaben mit drei bis vier Zwiebeln in der Hand drücken sich durch die Massen, schlängeln sich durch jede noch so kleine Lücke und werben in klagenden Tönen Kundschaft an, als bäten sie um eine milde Gabe. Und dann der Tumult der aus voller Lunge durcheinander schreienden Händler, sodass es einem im Kopf ganz wirr wird. »Verrrr-kauft!«, brüllt der eine. »Esskastanien, Esskastanien, die Stiege ein’ Penny!«, dröhnt ein anderer. »Für’n Penny Schuh putzen!«, quakt ein kleiner Junge dazwischen. »Kaufen Sie, kaufen Sie, kaufen Sie!«, mischt sich der Metzger ein. Dann der Schreibwaren- und Buchhändler: »Zwölfeinhalb Bogen Papier für nur einen Penny!« »Twopence fürs Pfund Trauben!« »Yarmouth-Bücklinge, drei für einen Penny!« »Wer will’ne Haube für Fourpence?« »Hier ganz billig! Drei Paar Schnürsenkelfür einen Halfpenny!« »Zugreifen! Herrliche Schnecken!« »’N halben Penny«, ruft der Zuckerbäcker, während ein anderer Händler ihm mit einem gebratenen Bückling vor der Nase herumwedelt und die Apfelfrau ihre Boskops anpreist. Ein schier unendliches Babel.

Ein Fischhändler mit Aal in Aspik, Muscheln und Schnecken in den 1950er-Jahren (Hulton-Deutsch Collection/Getty Images)

Der Grapes-Pub in Limehouse, ein Lieblingslokal von Dickens, abgebildet 1887 in der Illustrated London News (The Print Collector/Getty Images)

Mit der Zeit schrumpfte die lebhafte Streetfoodszene. Vor zehn Jahren assoziierte man damit schlaffe Hotdogs und trockene Burger, die man nur betrunken essen konnte und bei denen man jederzeit mit einer Lebensmittelvergiftung rechnen musste. Heute ist zum Glück ein neues Zeitalter angebrochen. Nun bieten leidenschaftliche Foodies köstliches Essen aus aller Welt an: Bao (weiche taiwanesische Brötchen, mit Schweinebauch gefüllt), argentinische Steaks mit Jalapeño-Salsa oder hawaiianischen, pikant marinierten frischen Fisch, serviert mit fluffigem Reis und knusprigen Sesamsamen. Viele dieser Stände findet man auf eigenen Streetfoodmärkten wie dem Dinerama in Dalston oder dem Model Market in Lewisham; sie bieten jungen, talentierten Köchen, die zur Restaurantgründung nicht das Kapital haben oder die experimentelle Freiheit schätzen, eine Plattform, auf der sie ihre Kreationen präsentieren können. So kommt es nicht selten vor, dass man das derzeit beste, innovativste Gericht Londons mit der Plastikgabel aus einer Styroporschachtel vor einem Foodtruck isst.

Zum Londoner Essen gehören die Getränke. Die Stadt mochte Alkohol schon immer. »Angesichts der vielen Tavernen und Bierschenken würde man meinen, Bacchus sei der einzige Gott, dem man hier frönt«, giftete Thomas Brown 1730. Jahrhundertelang waren helles Bier und Ale die beliebtesten Getränke, besonders bei den unteren Klassen; die köstliche dunkle Biersorte Porter wurde im 18. Jahrhundert sogar in London erfunden. Sie verdankt ihren Namen den »porters«, jenen Männern, die Waren kreuz und quer durch die Stadt schleppten, als es Amazon noch nicht gab, und die diese Biersorte mit Vorliebe tranken.

Biergenussort Nummer eins ist natürlich das Pub, und die Londoner Pubs sind wahre Institutionen – die ältesten Gebäude reichen bis mindestens in die Tudorzeit zurück. Leider sterben auch hier – wie im Rest des Landes – die Pubs allmählich aus, was nicht zuletzt auf unerschwingliche Pachten zurückzuführen ist. Glücklicherweise sind einige wunderschöne alte Pubs wie »The Grapes« in Limehouse (das in Charles Dickens’ Unser gemeinsamer Freund auftaucht) und »The Olde Cheshire Cheese« in der Fleet Street, das gern von Journalisten besucht wird, noch immer geöffnet. Und während die Pubs zu kämpfen haben, steigt der Stern der Bars, vor allem der Cocktailbars. Als eine der besten der Welt (!) gilt das »Artesian« im Langham Hotel. Doch überall in der Stadt mixen Mixer aus selbst gemachtem Sirup und exotischen Spirituosen ganz erstaunliche Eigenkreationen, bei denen am Ende dann noch duftender Rauch aus dem Glas aufsteigt.

Nicht immer ging es in der Trinkgeschichte der Stadt jedoch so gesittet zu wie heute. Insbesondere der Dämon Gin setzte London ein halbes Jahrhundert lang schwer zu. In den 1740er-Jahren gingen auf den durchschnittlichen Londoner zehn Liter des Getränks pro Jahr – in den Worten des ehrwürdigen Sir John Fielding »flüssiges Feuer, mit dem man sich geradewegs in die Hölle säuft«. Das endete erst, als der Preis des Getreides, aus dem der Gin destilliert wurde, stieg. Heute erlebt er eine Renaissance: In jüngerer Zeit wird er von vielen neuen Destillerien wie Sipsmith gebrannt und eher als erfrischender Gin Tonic, nicht flaschenweise in der Gosse getrunken … es sei denn natürlich, man hatte einen wirklich harten Tag.

Essen und Trinken mäandern wie die Themse durch Londons Geschichte. Wenn New York die Stadt ist, die nie schläft, dann ist London die Stadt, die immer hungrig ist. Vom Gourmet-Käseladen bis zum altmodischen Metzger, vom Foodtruck bis zum schnittigen italienischen Restaurant – in London gibt es alles, was das Herz oder der Magen begehrt. Die Touristen mögen wegen des Buckingham Palace, des Tower of London und der roten Busse kommen, doch ich verwette mein letztes Lakritzkonfekt von Liquorice Allsort darauf, dass ihre besten Erinnerungen die ans Essen sein werden. Um 4 Uhr früh aufzustehen, um den Fischmarkt in Billingsgate zu besuchen, wo sich die Küchenchefs gegenseitig überbieten und hungrige Robben in den Docks nebenan warten, ist ein unvergessliches Erlebnis.

Dieses Buch feiert all die kulinarischen Freuden, die die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs zu bieten hat. Ob Sie nun ein Londoner, ein Besucher oder jemand sind, der in weiter Ferne davon träumt, eines Tages an einer Tasse Tee im Schatten des Big Ben zu nippen – ich hoffe, Sie genießen es.

Einkaufsbummel an den Ständen in Brixton, dem Herzen der karibischen Gemeinde Londons, 1952 (Charles Hewitt/Getty Images)

EIN WORT ZU DEN ZUTATEN

SALZ

Die wichtigste Zutat im Vorratsschrank. Salz verleiht den Gerichten einen … nun ja … salzigen Geschmack, es verstärkt und vereint die Aromen aber auch. Bei den meisten Rezepten in diesem Buch bleibt die Menge Ihnen überlassen, wenn Salz jedoch entscheidend ist, habe ich eine Menge angegeben. Salz gehört übrigens auch in den Kuchen – wo man es zwar nicht direkt schmeckt, wo es den Geschmack der anderen Zutaten aber intensiviert.

MILCH & MILCHPRODUKTE

Verwenden Sie möglichst immer Vollmilch, sie schmeckt einfach besser als fettarme. Sie werden feststellen, dass in diesem Buch häuig Crème fraîche verwendet wird – die ideale Mischung aus sahnig und pikant. Ich gebe sie nicht nur herzhaften Gerichten zu, sondern serviere sie statt Eiscreme oder Sahne auch als Beilage zu besonders süßen Desserts.

BACKEN

Es werden immer Eier der Größe L verwendet, es sei denn, es ist anders angegeben. Am besten verwenden Sie Bio-Eier oder Eier von freilaufenden Hühnern. Normalerweise nehme ich gesalzene Butter zum Kochen und ungesalzene zum Backen, doch wenn ich nichts anderes im Kühlschrank habe, kommt die gesalzene auch schon einmal in den Kuchen (und bisher hat sich noch niemand beschwert). Stellen Sie sicher, dass die Zutaten beim Backen Zimmertemperatur haben, dann wird das Ergebnis leichter und lockerer.

ENGLISCHES SENFPULVER

Geheimwaffe des Kochs. Geben Sie allem, was ein wenig Schärfe verträgt – cremige Saucen, Gebäck, Klöße – rund einen Teelöffel des gelben Pulvers zu.

HELLER UND DUNKLER ZUCKERRÜBENSIRUP

Keine Londoner Küche wäre komplett ohne ihren Zuckerrübensirup von Tate & Lyle’s, dessen Becher für gewöhnlich am Schrankboden festklebt. Das aus viktorianischer Zeit stammende Nebenprodukt der Zuckerraffination verleiht klassisch britischem Gebäck wie Flapjacks (Plätzchen) oder Gingerbread (Lebkuchen) seine üppige Süße. Außerhalb Großbritanniens können Sie »golden syrup«, den hellen Sirup, notdürftig durch Ahornsirup ersetzen und »treacle«, den dunklen, durch Rübensirup.

EXOTISCHE ZUTATEN

Der Londoner Vorratsschrank hat sich dank Zuwanderung und Globalisierung in den letzten Jahren erheblich gefüllt. Deshalb finden Sie auf den folgenden Seiten auch aufregendes Neues wie Gochujang (eine scharfe koreanische Gewürzpaste), schwarzen Reis (aus Ostasien) und Sumach (ein in der nahöstlichen Küche weitverbreitetes Gewürz). Die exotischeren Zutaten sollten in größeren Supermärkten erhältlich sein; falls Sie sie dort nicht finden, können Sie sie auch online bestellen. Meine diesbezügliche Lieblingsseite ist www.souschef.co.uk.

FRÜHSTÜCK & BRUNCH

MIT WELCHEM ESSEN IN EINER STADT DER TAG BEGONNEN WIRD, SAGT VIEL ÜBER DIESE STADT AUS. DIE PARISER KNABBERN AN ELEGANTEN CROISSANTS, DIE NEW YORKER SCHLINGEN AUF DEM SPURT ZUR U-BAHN BAGELS HINUNTER.

LONDON IST HAUPTSTADT EINER NATION, DIE STOLZ AUF IHR FRÜHSTÜCK IST, UND ZU EINEM TYPISCHEN LONDONER TAGESBEGINN GEHÖREN NATÜRLICH AUCH DAS ENGLISCHE FRÜHSTÜCK UND PORRIDGE. WÄHREND MAN IN EINEM CAFÉ ALSO IMMER NOCH PRALLE WÜRSTCHEN UND GEBACKENE BOHNEN GENIESSEN KANN, WIRD IN DER NAHOSTBÄCKEREI NEBENAN WAHRSCHEINLICH SCHON HONIGGETRÄNKTES GEBÄCK VERKAUFT – ODER DER INDER DANEBEN BIETET SEINE VERSION DES KLASSISCHEN »BACON SARNIE« AN, DAS MAN SO SONST NIRGENDWO AUF DER WELT BEKOMMT.

DOCH WO AUCH IMMER DER LONDONER FRÜHSTÜCKT – EINE TASSE TEE MIT MILCH ODER EIN DAMPFENDER KAFFEE IST IMMER DABEI.

GRAPEFRUIT MIT KARAMELLHONIG AUF KARDAMOM-INGWER-JOGHURT

Mit »The Wolseley«, dem eleganten Café neben dem Ritz, geht es mir wie Holly Golightly mit Tiffany’s: »Dort kann einem einfach nichts Schlimmes passieren.« Irgendetwas an den Deckengewölben und dem Farbenspiel aus Schwarz und Gold lässt mich sofort tief ausatmen und entspannen. Mein Frühstück der Wahl dort ist die Grapefruit, deren Filets erst ausgelöst und bis zur Perfektion karamellisiert und anschließend wieder in die Fruchtschale geschichtet werden. Zu Hause bereite ich eine etwas rustikalere Variante auf einem Bett aus Joghurt zu. Für den karamellisierten Honig wird dieser so lange in einem Topf erhitzt, bis er sich in eine dunkle, karamellähnliche Sauce verwandelt hat.

FÜR 4 PORTIONEN

2 Pink Grapefruits

70 g flüssiger Honig

500 g griechischer Joghurt

Samen von 3 grünen Kardamomkapseln, zerdrückt

5 Stücke kandierter Ingwer, ca. 100 g, fein gehackt

80 g Pistazien, gehackt (optional)

Die Grapefruits mit einem scharfen Messer so schälen, dass die weiße Haut mit entfernt wird. Die Früchte jeweils quer in rund sechs ½ Zentimeter dicke Scheiben schneiden.

Den Honig in einem mittelgroßen Topf bei mittlerer Temperatur erhitzen. Nach etwa 1 Minute sollte er Blasen werfen. Ohne zu rühren kochen lassen – nur hin und wieder den Topf schwenken –, bis der Honig dunkel bernsteinfarben ist und nussig duftet. Das dauert rund 5 Minuten, doch behalten Sie den Topf im Auge – der Honig brennt leicht an.

Den Topf vom Herd nehmen und die Grapefruitscheiben samt Saft in den Honig geben. Mit einem Pfannenwender wenden, damit die Scheiben ganz mit Honig bedeckt sind, und anschließend in eine Schüssel geben. 10 Minuten abkühlen lassen.

Joghurt, Kardamom und Ingwer in einer Schüssel vermischen. Auf 4 Teller, Schalen oder Gläser verteilen und die Grapefruitscheiben darauf anrichten. Mit dem restlichen karamellisierten Honig beträufeln. Nach Belieben mit Pistazien bestreuen und servieren.

PIDE MIT FEIGEN UND FETA

Das »Honey and Co.« ist ein so winziges Restaurant, dass man das Gefühl hat, man sei zufällig in jemandes Wohnzimmer gestolpert und habe sich selbst zum Essen eingeladen. Das Ehepaar-Team Itamar Srulovich und Sarit Packer serviert seine nahostinspirierte Kost mit so viel Charme und Schwung, dass es trotz der Enge schwerfällt, auch nur eine Minute dort nicht zu genießen.

Das Rezept für die Pide, die bootsförmigen Fladenbrote, die in der Türkei so beliebt sind, stammt von ihnen. Sie gelingen leicht und können ganz nach Geschmack belegt werden. Ich serviere die Pide mit Feigen und Feta gern zu einem späten Frühstück am Wochenende, begleitet von einem starken Kaffee.

FÜR 6 PORTIONEN

Für den Teig

300 g Mehl

1 Päckchen Trockenhefe (7 g)

1 TL Zucker

1 TL Salz

½ TL schwarzer Pfeffer, frisch gemahlen

1 EL Schwarzkümmelsamen

1 Prise Cayennepfeffer

1 TL Honig

150 g Naturjoghurt

Öl für die Schüssel und die Folie

Für die Füllung

5 EL Naturjoghurt

100 g Fetakäse, zerkrümelt

½ TL getrockneter Oregano

½ TL Sumach oder abgeriebene Schale von 1 Bio-Zitrone

Für den Belag

100 g Babyspinat

6 Feigen, jeweils in 4–5 Scheiben geschnitten

1 grüne Chilischote, in dünne Ringe geschnitten

Olivenöl zum Beträufeln

Salz und schwarzer Pfeffer, frisch gemahlen

1 Prise getrockneter Oregano

Für den Teig Mehl, Trockenhefe, Zucker, Salz, Pfeffer, Schwarzkümmelsamen und Cayennepfeffer in eine große Schüssel geben. Den Honig in 100 Milliliter warmem Wasser auflösen und mit dem Joghurt ebenfalls in die Schüssel geben. Zunächst mit einem Holzlöffel zu einem Teig verrühren, dann etwa 3 Minuten von Hand weiterkneten. Der Teig sollte relativ weich sein.

Den Teig in eine leicht eingeölte Schüssel legen und mit eingeölter Klarsichtfolie oder einem feuchten Geschirrtuch bedecken. Die Folie oder das Geschirrtuch sollte den Teig nicht berühren. An einem warmen Ort 1 bis 1½ Stunden gehen lassen, bis der Teig sein Volumen verdoppelt hat.

Für die Füllung Joghurt, zerkrümelten Feta, Oregano und Sumach oder Zitronenschale in einer Schüssel zu einer Paste vermischen.

Den Teig mit bemehlten Händen in 6 Stücke teilen und diese jeweils zu einem bootsförmigen Oval, etwa 18 Zentimeter lang und 10 Zentimeter breit, ausziehen. Die Ovale auf ein mit Backpapier ausgelegtes Backblech legen. In die Mitte jedes Ovals 1 Esslöffel der Fetamischung geben und verstreichen, dabei einen etwa 1 Zentimeter breiten Rand frei lassen. Jeweils mit 1 Handvoll Babyspinat, einigen Feigenscheiben und ein paar Chiliringen belegen und mit Olivenöl beträufeln. Mit Salz und Pfeffer würzen und mit Oregano bestreuen.

Die Enden der Ovale mit Daumen und Zeigefinger leicht zusammendrücken, sodass noch mehr Ähnlichkeit mit einem Boot entsteht. Die Pide mit Klarsichtfolie oder einem Geschirrrtuch bedeckt nochmals etwa 30 Minuten gehen lassen.

Den Backofen auf 220 °C (Umluft 200 °C, Gas Stufe 7) vorheizen. Die Pide im Ofen in 12 bis 15 Minuten goldbraun backen und warm servieren.

PORRIDGE MIT SCHWARZEM REIS UND KOKOS

Nur wenige Londoner Küchenchefs waren bislang so einflussreich wie Yotam Ottolenghi. Als der in Israel geborene Ottolenghi 1992 seinen ersten Feinkostladen in Notting Hill eröffnete, schuf er mit seiner kühnen Palette neuartiger Aromen den Londonern den Zugang zu einer ganz neuen Welt. Seitdem sind Harissa und eingelegte Zitronen aus unserer Küche nicht mehr wegzudenken.

Mir bescherte er die Entdeckung von schwarzem Reis. Seit ich diesen Porridge in Ottolenghis Soho-Restaurant »Nopi« probiert habe, findet er sich regelmäßig auf meinem Frühstückstisch. Im Grunde ist er nichts anderes als ein südostasiatisch inspirierter Reispudding, der allerdings mit seiner pappigen englischen Version nicht zu vergleichen ist. Sie können den Porridge warm genießen, ich serviere ihn aber auch gern kalt, gekrönt von einem Klecks Joghurt und Früchten.

FÜR 4 PORTIONEN

300 g schwarzer Klebreis

250 g Kokoscreme

400 ml Kokosmilch

70 g Zucker

1 Prise Salz

1 Vanilleschote oder 1 TL Vanillepaste/-extrakt

Außerdem (optional)

abgeriebene Schale von 1 Bio-Limette Palmzucker oder heller brauner Zucker tropische Früchte der Wahl, z.B. Ananas, Mango und Kiwi, gehackt

Wenn Sie Zeit haben, weichen Sie den Reis einige Stunden lang in kaltem Wasser ein, wenn nicht, geben Sie ihn in ein Sieb und spülen ihn einige Male unter fließendem kaltem Wasser ab.

Den Reis anschließend mit Kokoscreme, Kokosmilch, Zucker, Salz und 200 Milliliter Wasser in einen Topf geben. Die Vanilleschote längs halbieren und das Mark herauskratzen. Vanillemark oder Vanillepaste/-extrakt mit den Zutaten im Topf verrühren. Die Mischung zum Kochen bringen, dann die Hitze reduzieren und den Porridge etwa 1 Stunde köcheln lassen. Dabei immer wieder umrühren. Der Porridge sollte weich und cremig sein; falls er zu fest wird, etwas Milch oder Wasser unterrühren.

Auf 4 Schalen verteilen und nach Belieben mit Limettenschale und Palmzucker oder braunem Zucker bestreuen sowie mit tropischen Früchten garnieren.

»NEUMODISCH, ABSCHEULICH, HEIDNISCH«: EINE STADT ENTDECKT DEN KAFFEE

1674 kursierte ein Flugblatt auf den Straßen Londons. Vermutlich richtete es sich an die weibliche Bevölkerung, jedenfalls eiferte es gegen ein »neumodisches, abscheuliches, heidnisches« Getränk, das die Stadt im Sturm erobert hatte. Dieses »Pfützenwasser«, so die empörten Verfasser des Pamphlets, mache aus Londons vormals hart arbeitenden Ehemännern faule, tratschende, weibische »Sperlinge«, die abends so benommen ins Bett fielen, dass die Damen des Hauses unbefriedigt zurückblieben. Aber worum handelte es sich bei diesem Teufelsgebräu? Gin? Bier? Nein, etwas viel Exotischeres: Kaffee!

Das erste Kaffeehaus in London eröffnete ein griechischer Unternehmer namens Pasqua Roseé 1652, der den Kaffee in der Türkei für sich entdeckt hatte. Kaum 50 Jahre später gab es schon 2000 solcher Etablissements in der Stadt. Das lag allerdings weniger am Kaffee, denn das zähflüssige, rußschwarze Zeug war noch weit vom heutigen seidigen Cappuccino und der süßen Vanille-Latte entfernt. Nein, ins Kaffeehaus ging man in erster Linie, um Zeitung zu lesen, sich über Politik zu streiten und Geschäfte zu machen – und all das unter dem Einfluss des mörderischen Koffeins.

Bald fiel die Beliebtheit der Kaffeehäuser auch Besuchern von außerhalb auf. »Die Engländer sind ziemlich klatschsüchtig«, schrieb der Schweizer Adlige César de Saussure 1726. »Die Arbeiter gehen morgens für gewöhnlich als Erstes in ein Kaffeehaus, um die neuesten Nachrichten zu lesen.« Und das Kaffeehaus als Forum politischer Debatten beunruhigte auch die Obrigkeit: König Karl II. erließ 1675 sogar ein Verbot der Kaffeehäuser, setzte es allerdings nie durch.

Jedes Kaffeehaus hatte seine ganz eigene Klientel. Advokaten und Wissenschaftler frequentierten das »Grecian« in Wapping, Bohemiens tranken im »Old Slaughter’s«, Soldaten bevorzugten »The Little Devil«. Und in manchen Häusern ging es handgreilicher als in anderen zu. Im »Hoxton Square Coffeehouse« veranstaltete man gern Scheinprozesse. So rollte man etwa einen des Irrsinns Verdächtigen hinein, auf dass er von einer »Jury« Kaffeeabhängiger befragt wurde. Befand man ihn für schuldig, wurde die arme Seele gleich ins nächstgelegene Irrenhaus verfrachtet. Im »Grecian« sollen Sir Isaac Newton und seine Kumpels von der Royal Society sogar einmal einen lebenden Delin seziert haben – obwohl ich mir vorstellen könnte, dass sie dort nur darüber geredet haben, statt zwischen zwei Tassen Kaffee mal eben das Skalpell zu zücken.

Von solchen Verschrobenheiten einmal abgesehen, waren die Kaffeehäuser tatsächlich wahre Schmelztiegel an Wissen und Unternehmertum. Im »Lloyd’s Coffee House« z. B. trafen sich Seeleute, Schiffseigner und Versicherer – und noch heute ist das Haus als Lloyd’s of London bekannt, der weltweit größte Versicherungsmarkt. Als in »Jonathan’s Coffee House« in der Change Alley ein Mann namens John Castaing begann, Listen von Lagerbeständen und Rohstoffpreisen aufzustellen, wurde daraus nichts Geringeres als die Londoner Börse. Der Historiker Matthew Green bringt diesen Ausbruch an ökonomischer Initiative damit in Verbindung, dass man in den Häusern Kaffee und keinen Alkohol trank: »Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts waren die meisten Engländer die ganze Zeit über entweder angetrunken oder sturzbesoffen. Kein Wunder: Angesichts des stinkenden Flusswassers trank man dann doch lieber helles Bier oder Ale. Die Ankunft des Kaffees ebnete einer Nüchternheit den Weg, die den Grundstein für wahrhaft spektakuläres wirtschaftliches Wachstum legte … weil die Menschen erstmals klar dachten.«

Algerian Coffee Stores in Soho (Keith van-Loen/Alamy)

Dennoch sank der Stern der Kaffeehäuser bald wieder, da vornehme Clubs zumindest die Wohlhabenderen anzogen und viele Gentlemen nun einem anderen Modegetränk die Treue schworen: dem Tee. Erst als in den 1950er- und 1960er-Jahren alles Italienische cool wurde, kehrten die Coffeeshops in ernst zu nehmender Anzahl nach London zurück. Nun sahen es vor allem junge Londoner als das ultimativ Angesagteste an, in Soho-Bars wie dem »Moka« – hier stand die erste Gaggia-Kaffeemaschine in ganz Großbritannien – einen Espresso zu schlürfen. »Once our beer was frothy / But now it’s frothy coffee« (»Einst schäumte das Bier, nun ist’s der Kaffee«), reimte Max Bygraves 1960 in seinem Hit »Fings ain’t wot they used t’be«. Was die miniberockten, gegelten Rebellen wohl dazu gesagt hätten, dass die Tradition, der sie frönten, in Engalnd schon Jahrhunderte zurückreichte?

Auch heute noch geht in London nichts ohne Kaffee. Natürlich sind amerikanische Ketten wie Starbucks auch hier ubiquitär, doch gibt es erfreulicherweise eine ganze Reihe unabhängiger Shops, die ihre mit Leidenschaft und Sorgfalt gebrauten Kreationen anbieten. Nur schade, dass sich der wilde Geist der ursprünglichen Kaffeehäuser verlüchtigt hat – na ja, zumindest kann man nun seinen Espresso trinken, ohne dabei einer Vivisektion beiwohnen zu müssen.

Kunden im »Lloyd’s Coffee House«, der Geburtsstätte der späteren Versicherungsbörse Lloyd’s of London (Bettmann/Getty Images)