MANUEL LARBIG, Jahrgang 1987, ist Biologe, Wildkräuternarr und Outdoorexperte. Im Raum Berlin führt er Wildkräuterworkshops und Survivalkurse durch. Sein Hang zu Naturerlebnissen mit Minimalausrüstung brachten ihn dazu, ohne Zelt und Schlafsack einmal quer durch Deutschland zu wandern, worüber er in seinem Buch berichtet, um noch mehr Menschen für die Natur zu begeistern.
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Manuel Larbig
Waldwandern
Von der Sehnsucht nach Wildnis
und Nächten unter freiem Himmel
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Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: Hafen Werbeagentur, Hamburg
unter Verwendung eines Motivs von Benjamin Zibner
Redaktion: Nadine Lipp
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25151-2
V002
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Ein Mann ist reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge, auf die er verzichten kann.
Henry David Thoreau
Es ist so, dass viele Menschen die Natur lieben und trotzdem in Häusern übernachten.
Helge Schneider
Prolog
Einleitung
1 Aufbruch zur Deutschlandwanderung
Tag 0
Tag 1
Tag 2
Tag 3
Praxistipps: Die Planung
Wie will ich unterwegs sein?
Was nehme ich mit? Das Equipment
Wie plane ich meine Route?
Trip in die Natur – was möchte ich eigentlich?
2 Übernachten im Freien
Tag 4
Tag 5
Tag 6
Tag 7
Tag 8
Tag 9
Tag 10
Praxistipps: Laubmatratze, Laubhütte & Co.
Der Lagerplatz
Das Tarp
Das Zelt
Die Laubmatratze
Die Schrägdachhütte
Die Laubhütte
3 Rechtliche Fragen beim Wandern & Wildcampen
Tag 11
Tag 12
Tag 13
Tag 14
Tag 15
Tag 16
Praxistipps: Was darf ich im Freien und was nicht? – Die Gesetzeslage
Fremde Grundstücke betreten
Erwischt beim Campen ohne Genehmigung − was nun?
Übernachtungsmöglichkeiten
Faszination Feuer
Wildpflanzen, Beeren, Pilze sammeln
Tiere töten
4 Naturnahrung & Proviant
Tag 17
Tag 18
Tag 19
Tag 20
Tag 21
Praxistipps: Wie ernähre ich mich im Freien?
Erlebnisbericht: Spessart bis Frankfurt ohne Nahrung
Mikronährstoffe und Makronährstoffe
Tierische Naturnahrung: von Proteinbomben und Wurmspaghetti
Pflanzennahrung
Beeren, Früchte und Nüsse
Zubereitungsmethoden
5 Wasser: Lebenselixier & Gefahrenzone
Tag 22
Tag 23
Tag 24
Tag 25
Tag 26
Tag 27
Praxistipps: Gutes von schlechtem Wasser unterscheiden
Trinkwasser
Gefahren im Wasser
Trinkwasser erkennen
Wasser aufbereiten
6 Feuer: Moralheber & Wärmequelle
Tag 28
Tag 29
Tag 30
Tag 31
Tag 32
Praxistipps: Die Kunst des Feuermachens
Zunder
Holz
Verschiedene Feuerarten
Wie mache ich ein Feuer?
7 Potenzielle Gefahren & Erste Hilfe
Tag 33
Tag 34
Tag 35
Tag 36
Tag 37
Praxistipps: Wie erkenne ich Gefahren & wie handle ich in Notsituationen?
Gefährliche Tiere
Unwetter
Erste Hilfe: problemorientiertes Handeln
Was tun bei Bissen, Vergiftungen, Unterkühlung, Brüchen & Co.?
Kleinere »Wehwehchen«
8 Orientierung & Wetter
Tag 38
Tag 39
Tag 40
Tag 41
Tag 42
Praxistipps: Wie orientiere ich mich & wie deute ich das Wetter?
Sonne, Mond und Sterne
Karte & Kompass
Wetterzeichen
9 Notdurft & Hygiene
Tag 43
Tag 44
Tag 45
Tag 46
Tag 47
Praxistipps: Körperpflege & Hygiene im Freien
Outdoor-Hygiene für Frauen
Die Kleidung waschen
Das große Geschäft – oder die »Wie-mach-ich-richtig-in-den-Wald«-Anleitung
Epilog
Bildteil
Ich öffne die Augen. Absolute Dunkelheit. Direkt an meinen Ohren raschelt das trockene Laub. Für einen Moment frage ich mich, wo ich bin, und als hätte er meine Frage gehört, antwortet der Waldkauz mit einem lang gezogenen schaurigen Ruf. In der engen Laubhütte, in der ich liege, kann ich mich kaum umdrehen; stoße ich zu fest an das Holzgerüst, kann die gesamte Konstruktion zusammenbrechen. Letzte Woche ist mir das mitten in einer kalten Mainacht passiert, und ich war so müde und durchgefroren, dass ich lieber weitergelaufen bin, statt die Laubhütte im Dunkeln wiederaufzubauen.
Als ich meinen Kopf himmelwärts drehe, rieselt mir Dreck in die Augen. Ich stoße einen langen und tiefen Seufzer aus und frage mich, was zur Hölle ich hier eigentlich mache.
Neben mir, gefühlt doppelt so viel Platz einnehmend wie ich, liegt mein Hund Rocko und schnarcht. Er macht sich in der Nacht immer ziemlich breit, und wenn ich mir etwas Platz zurückerobern will und ihn ein wenig zur Seite schiebe, antwortet er mit einem leisen, nicht ganz ernst gemeinten Knurren. Er schläft nicht draußen, sondern bei mir in dieser archaischen Konstruktion aus Holz und Laub, da er sonst die Waldtiere anbellen und mich jedes Mal wecken würde. Ist er in der Hütte, bekommt er nichts mit und schläft durch wie ein müdes Baby.
Langsam fallen meine Augen wieder zu, den spitzen Stein unter meiner Hüfte spüre ich kaum noch. Als ich erneut aufwache, dämmert es bereits. Rotkehlchengesang. Ich schiebe die provisorische Laubtür zur Seite und blicke dem Grund, hier und nirgendwo sonst zu sein, direkt ins Gesicht.
Der Wald ist am Morgen am schönsten, die ersten Sonnenstrahlen fallen durch das dichte Blätterdach auf einen großen moosbewachsenen Stein, und ein paar Erdhummeln summen herum. Das leise Plätschern des klaren Baches habe ich durch die dicke Laubdecke in der Nacht nicht hören können, nun begrüßt es mich wie eigens für diesen Augenblick komponierte Musik.
In solchen Momenten vergesse ich all die Entbehrungen, das ständige Aufwachen in der Nacht und das Gefühl, dass meine Kleidung nie richtig trocken wird. Ich weiß nicht genau, wie lange ich so daliege und die Szenerie beobachte, man beginnt bei einem solchen Trip in anderen Zeitmaßstäben zu denken. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Selbst beim Wochentag bin ich mir unsicher. Und das Schönste daran ist: Es ist völlig unwichtig.
Nachdem ich mich wie ein Wurm aus der Laubhütte gewunden habe, recke ich mich. Ich sauge die frische Morgenluft ein, schließe die Augen und lausche. Nichts. Was für ein Geschenk! Es kommt in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland wirklich nicht oft vor, dass man in den Genuss eines solchen Luxus kommt. Nun rumort es in der Laubhütte, Laub rutscht ab, und die ganze Konstruktion beginnt, gefährlich zu wackeln. Ein dunkelbrauner Kopf schiebt sich aus der Hütte, dunkle Augen schauen mich an. Rocko streckt sich, reckt den Kopf in die Höhe und gibt einen Laut von sich, der einem Grunzen ähnelt. Er ist ein richtiger Langschläfer und steht grundsätzlich später auf als ich. Als er herauskommt, will ich ihn begrüßen, doch er wendet sich direkt ab, wackelt etwas steif auf den nächsten Baum zu und hebt ein Bein.
Nachdem wir ein gutes Stück gelaufen sind, machen wir gegen Mittag eine Pause. Es ist mittlerweile warm geworden, an die zwanzig Grad, und ich muss ein paar Kleiderschichten ablegen. Zu essen gibt es für mich eine Handvoll Haselnüsse und eine Ecke Bergkäse, für Rocko Trockenfutter. Von der wunderschönen Anhöhe aus, auf der wir sitzen, kann ich weit in der Ferne eine auffällige Bergkuppe sehen. Ein Blick auf die Karte verrät mir, dass es sich um den Kalmit, den höchsten Berg des Pfälzerwaldes, handelt.
An der nachlassenden Intensität des Lichts erkenne ich ein paar Wegstunden später, dass es langsam an der Zeit ist, mein Nachtlager zu bauen. Ich verlasse den Wanderweg und gehe durch einen trockenen Wald mit vielen imposanten Eichen, so lange, bis ich eine gute Stelle für mein Nachtlager finde. Auch wenn ich Buchenwälder für eine Laubhüttenübernachtung vorziehe, da sie eine riesige Menge an Laub zur Verfügung stellen, werde ich mich heute mit Eichenlaub zufriedengeben. Und wieder beginne ich routinemäßig, Stöcke für die Hütte zu suchen. Dabei weiß ich genau, dass ich in zwei Stunden todmüde, aber mit einem unbeschreiblich wohligen Gefühl in meine (für diesen Trip) siebte von insgesamt knapp vierzig Laubhütten kriechen werde.
Es gibt mittlerweile sehr viele gut strukturierte und noch besser designte Outdoor-Handbücher, die Techniken und Handlungsstrategien für Extremsituationen außerhalb der Zivilisation erklären. Leider wird in diesen Büchern aber zum einen die Natur oft als Faktor angesehen, der »überwunden« werden muss, bis man wieder in der Zivilisation angekommen ist; zum anderen werden die Leserinnen und Leser oft überfordert. Nicht jeder, der Natur intensiv erleben will, möchte Frösche häuten oder Singvögelfallen bauen. Ein Naturerlebnis lässt sich nicht daran messen, wie spektakulär oder extrem es ist, sondern einzig und allein an den persönlichen Vorstellungen, Grenzen und bisherigen Erfahrungen.
Das Ziel eines Naturerlebnisses sollte das Sammeln neuer Erfahrungen sein. Die Komfortzone verlassen, sich selbst beim Lösen der Probleme zuschauen (und sich ab und zu dabei auf die Schulter klopfen). Die Natur, die Witterung, den Regen am eigenen Leib spüren. Im Trockenen sein, weil man es geschafft hat, eine dichte Hütte zu bauen. Mittags feststellen, dass man seit Stunden nicht mehr an den Alltag und die Arbeit gedacht hat.
Du hast noch nie gezeltet? Dann solltest du erst mal keine detaillierten Abhandlungen über Laubhütten und mehrwöchige Naturtrips in die Hand nehmen. Sie vermitteln dir das Gefühl, dass das alles eigentlich ein »Klacks« sei, und du fühlst dich ohnmächtig. Solche Bücher können, wenn du keine Erfahrungen mit dem Leben im Freien hast, demotivierend wirken, und sie werden dich eher davon abhalten, es zu versuchen.
Wenn ich in diesem Buch von meinen persönlichen Erfahrungen spreche, dann tue ich es nicht, um dir zu zeigen, wie ein Abenteuer aussieht. Ich möchte dich lediglich dazu ermuntern, rauszugehen und deine eigenen Erfahrungen zu machen. Dieses Buch ist also kein reines Handbuch, auch wenn man es aufgrund der Struktur durchaus als Nachschlagewerk nutzen kann.
Anstatt dich und deine Vorstellungen von einem Trip im Freien mit anderen zu vergleichen, versuche lieber, nur deinen eigenen Maßstab zuzulassen. Du hast noch nie im Wald geschlafen? Dann wäre deine erste Stufe des Naturerlebnisses, eine Nacht auf einer nahe gelegenen Wiese im Zelt zu verbringen. Alleine oder mit einem Menschen, in dessen Nähe du dich wohlfühlst. Und ich verspreche dir: Du wirst es nicht bereuen! Du wirst Geräusche hören, die du nicht einordnen kannst, und sie werden dir vielleicht Angst machen. Du wirst bestimmt auch etwas gerädert aufwachen. Doch der Anblick eines frühmorgendlichen Waldes »aus der Innenperspektive«, der Anblick der ersten Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach auf einen mit Flechten bewachsenen alten Baumstamm fallen, ist überwältigend. Und es macht einen großen Unterschied, ob du morgens von zu Hause aus aufbrichst, um im Wald spazieren zu gehen, oder ob du im Wald aufwachst.
Ich kenne kaum jemanden, der im Nachhinein nicht von einem tollen Erlebnis spricht, wenn er/sie sich überwunden hat, außerhalb der Zivilisation zu nächtigen.
Übrigens schwindet die Angst erfahrungsgemäß mit der Wissenszunahme: Je mehr nächtliche Waldgeräusche du zuordnen kannst, desto weniger Unwohlsein werden sie dir bereiten. Was sich wie ein gequälter Säugling anhört, entpuppt sich als Schrei der Schleiereule; was wie ein verwilderter, tollwütiger Hund anmutet, ist ein bellender Rehbock.
Am Abend des 30. April 2015 saß ich in meinem winzigen Wohnheimzimmer und schaute mir ein letztes Mal meine Ausrüstung an. Es war so wenig. Alles, was ich in den nächsten sechs Wochen benötigen würde, passte in einen kleinen Eintagesrucksack. Ich habe vor jeder Tour das Gefühl, etwas vergessen zu haben, und tatsächlich ist dem auch meist so. Andererseits wollte ich in einem der am dicht besiedelten Länder der Welt wandern gehen, und nicht in der Mongolei. Unterwegs könnte ich also immer noch etwas besorgen.
Meine damalige Freundin Isabel schlief in jener Nacht bei mir, der Wecker war auf fünf Uhr gestellt. Warum so früh? Zum einen hatte ich eine lange Zugfahrt nach Saarbrücken vor mir, und ich wollte nicht allzu spät am Startpunkt ankommen. Zum anderen wollte die Spiegel-Reporterin Katja Döhne um sechs Uhr vorbeikommen, um zu filmen, wie ich noch im Dunkeln losstiefele.
Isabel war schon lange eingeschlafen, als ich ihr Gesicht im Halbdunkel betrachtete. Ich fragte mich, ob ich bei meiner Rückkehr noch derselbe sein würde und wie mein heimkommendes und ihr dagebliebenes Ich in zwei Monaten zueinander stehen würden. Ich wollte sie nicht wecken, unterdrückte den Drang, ihr über die Wange zu streichen, und konnte erst mal nicht einschlafen.
Es ist nicht so, dass ich die ganze Zeit gar keine Bedenken gehabt hätte, ich hatte ihnen einfach keinen Raum gegeben. Ich hatte die Tour ziemlich gut durchgeplant und mich auf unterschiedlichste Krisen mental und ausrüstungstechnisch vorbereitet. Dadurch konnte ich es gut rechtfertigen, aufkommende Zweifel zu unterdrücken. Doch nun, kurz bevor es losgehen sollte, kamen sie hoch und ließen meine Gedanken kreisen.
Mutete ich dem guten alten Rocko nicht zu viel zu? Rocko ist ein Schäfer-Collie-Mischling, und er sollte mich begleiten. Und was ist, wenn meine Knie nicht mitmachten? Zu diesen Fragen gesellten sich weitere, sie drängten sich mir geradezu auf. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ihnen in den Wochen zuvor keinen Raum zu geben; hätte ich sie mal lieber schon früher ernst genommen und beantwortet. Doch wer weiß, vielleicht hätte ich mich dann gegen dieses Abenteuer entschieden.
Katja und ihr Kameramann Roman standen pünktlich auf der Matte und filmten, wie ich mich von Isa verabschiedete und losging. Es war schon etwas befremdlich, vor allem bei so einem intimen und persönlichen Moment wie dem Abschiednehmen von der Freundin, und außerdem hatte ich vorher noch nie vor einer Kamera gestanden. Es dämmerte bereits, als ich mich, von Rocko und den zwei Reportern begleitet, auf den Weg zum Eberswalder Bahnhof machte. In Berlin stiegen die beiden aus – sie wollten mich später während der Tour noch einmal filmen –, und ich war nach kurzer Aufregung wieder alleine.
Ich schaute aus dem Fenster, und mir war bewusst, dass ich die vielen Kilometer, die in großer Geschwindigkeit an mir vorbeirauschten, wieder zurücklaufen musste. Nein, ich verbesserte mich selbst: Ich durfte sie wieder zurücklaufen. Ich tat das freiwillig, und natürlich freute ich mich auch auf diese besondere Erfahrung. Dennoch hatte ich ein leicht mulmiges Gefühl dabei – das war wirklich eine gewaltige Strecke. Ich hoffte inständig, dass mich meine Knie und Füße nicht im Stich lassen würden.
Nach fast zehn Stunden kam ich endlich in Saarbrücken an. Als ich aus der Bahnhofshalle trat, blendete mich die Sonne, obwohl sie nur schwach durch die dicke Wolkendecke schimmerte. Ich fühlte mich wie ein Außerirdischer – was machte ich hier? Ich würde jetzt einfach loslaufen und immer weitergehen, immer weiter, bis fast zur polnischen Grenze? Ich kann mich noch gut an das Gefühl erinnern, das ich in diesem Moment hatte. Es ähnelte dem Gefühl auf dem Zehnmeterbrett. Man steht da und weiß, dass das Unvermeidliche gleich kommen wird, aber man zögert. Ich fasste mir ein Herz, schaute meinem ungeduldig gewordenen Rüden in die Augen und lief los.
Es war schon Nachmittag, und ich kam an Tag eins nicht besonders weit. Der Himmel hatte sich noch stärker zugezogen, und zu den dichten grauen Altostratuswolken hatten sich Regenwolken gesellt, die ihrem Namen alle Ehre machten. Trotz Regenjacke und Regenhose fühlte ich mich klamm, und auch Rocko sah mit seinem kurzen, triefnassen Fell ziemlich bemitleidenswert aus. Als mir vier stockbesoffene junge Männer mit einem Leiterwagen mitten im Wald entgegenkamen und mir etwas Unverständliches entgegengrölten, war ich doch ein wenig überrascht. Mir fiel ein, dass der 1. Mai für den einen oder anderen frisch gebackenen Vater (oder Bekannten eines Bekannten, der Vater geworden ist) ein beliebter Tag zum öffentlichen Saufen ist. Die Jungs hatten keine Regenkleidung an, der Alkohol schien ihnen Superkräfte zu verleihen. Oder ihre Wahrnehmung wurde durch den Alkohol zugunsten einer möglicherweise aufkommenden Erkältung verzerrt. Eins von beidem.
Zumindest was die gute Laune anging, war ich ein wenig neidisch auf die Leiterwagenzieher. Denn meine war im Keller. Es waren jetzt am Abend keine zehn Grad mehr, und unter meiner Regenkleidung fühlte sich alles feucht an. In einem größeren Waldstück fand ich schließlich eine gute Stelle für eine Laubhütte. In einiger Entfernung konnte ich zwar Lichter von Häusern erkennen, mir blieb aber nichts anderes übrig, als hier zu übernachten, die Zeit spielte gegen mich. Halbherzig baute ich meine Laubhütte und lag nach eineinhalb Stunden gemeinsam mit Rocko darin. Das Laub war nass. Der Hund war nass. Ich war nass. Kurz vor dem Einschlafen dachte ein Teil von mir: Du wirst schlecht schlafen, du hast einfach nicht genug Laub aufgeschüttet. Dann dämmerte ich weg.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Mir war kalt, aber der eigentliche Grund, warum ich aufwachte, war mein haariger Begleiter. Sein Fell war zwar schon fast gänzlich getrocknet, dennoch zitterte er, und das versetzte die ganze Laubhütte in Schwingung. Ich schaufelte also das Laub am Eingang zur Seite und schlängelte mich vorsichtig aus der Hütte. Rocko kam mir direkt nach, streckte sich und pinkelte an einen Baum.
Ich zog mich komplett aus, legte die Funktionsunterwäsche beiseite und zog den Rest schnell wieder an. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, es war aber dennoch so kalt, dass mein Atem kleine Nebelwölkchen bildete. Dann zog ich Rocko meine Unterwäsche an. Er ließ die Prozedur ohne Einwand über sich ergehen, wahrscheinlich ahnte er schon, dass ihm die Wäsche helfen würde. Ich musste kurz lachen, als ich den angezogenen Hund vor mir sah, und wir krochen wieder in unsere feuchte Höhle zurück.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte es wieder zu regnen begonnen. Ich stöhnte. Mein Rücken tat weh, ich war in der Nacht oft aufgewacht, weil es sehr kalt war. Rocko dagegen schien mit meiner Unterwäsche gut geschlafen zu haben, jedenfalls hatte er nicht mehr gezittert.
Für einen Moment bereute ich, ihn vor der Tour geschoren zu haben. Aber dann dachte ich an die mit Sicherheit kommende Wärmeperiode Anfang Juni, es ging wirklich nicht anders. Ich beschloss, noch heute einen Kinderschlafsack für meinen Hund zu besorgen – ich wollte meine Funktionsunterwäsche zurückhaben! Da ich laut Plan am heutigen Tag keine größere Stadt mehr passieren würde, blieb mir nur eine Möglichkeit: Ich musste wieder zurück zu meinem Anfangspunkt Saarbrücken.
Bevor ich losging, schaute ich mir noch einmal meinen ersten »Schlafsack« für diese Tour an, die Laubhütte Nummer eins, und hätte mich ohrfeigen können für meine Faulheit am vorherigen Abend. Ich schwor mir, in Zukunft trotz Müdigkeit mehr Zeit in die Laubhütten zu stecken, und lief los.
Zum Glück war ich am Vortag nur an die vierzehn Kilometer gelaufen, somit stand ich knapp drei Stunden später vor einem Kaufhaus und wurde dort schnell fündig. Dabei waren Einkaufscenter für mich schon immer der Horror schlechthin. Wie Menschen hier Stunden verbringen und dabei noch positive Gefühle entwickeln können, wird mir ewig schleierhaft bleiben. Andererseits kann bestimmt auch nicht jeder nachvollziehen, warum ich sechs Wochen lang jeden Abend in Laub und Dreck schlafen möchte.
Als ich die Kaufhölle verließ und den Weg Richtung Wald ein zweites Mal einschlug, sah ich von Weitem den Bahnhof. Ich muss gestehen, dass ganz kurz die Idee in mir aufkeimte, alles abzubrechen und wieder nach Hause zu fahren. Der Regen war stärker geworden, und der Blick zur Wolkendecke schenkte keine Hoffnung auf Besserung. Zum Glück ließ ich diesem Gedanken keinen Raum und stapfte in Richtung Wald.
Ich machte ungefähr dort Mittagspause, wo ich am Abend zuvor mein Nachtlager aufgeschlagen hatte, und aß ein Käsebrot. Meine Laune besserte sich merklich, obwohl der Regen weiterhin sehr unangenehm war. Meine Regenjacke und Regenhose fühlten sich von innen feucht an, die Kapuze klebte mir am Kopf. Ich begann langsam, mich auf die Natur, in der ich mich nun für lange Zeit aufhalten sollte, einzulassen. Ich atmete tief durch und konnte den Trubel der Stadt das erste Mal seit Beginn der Tour wirklich hinter mir lassen. Ich schloss die Augen und lauschte dem Dauerregen – wie schön er sich anhörte.
Gegen Nachmittag verließ ich den Wanderweg und ging über eine alte Rückegasse einen mit Fichten bewachsenen Hügel hinauf. Auf dem Hügelrücken angekommen, sah ich mich nach einem Lagerplatz um. Ich entdeckte eine flache Stelle mit viel Eichenlaub – und fing direkt an, Laub mit den Füßen sternförmig zu dieser Stelle zu schieben. Nach zwei Stunden war die Hütte fertig, diesmal mit viel mehr Laub als die Nacht zuvor. Stolz blickte ich auf mein Bauwerk, während ich auf einer umgefallenen Hainbuche saß und an einem Müsliriegel nagte. Heute Nacht wird eine gute Nacht, sagte ich mir, zog meine Funktionsunterwäsche an und schob mich in die klamme Hütte.
Als ich die Augen aufschlug, fühlte ich in mich hinein und machte einen kleinen Rundumschlag: Der Rücken tat nur mäßig weh, ich war nur zwei- oder dreimal aufgewacht in der Nacht und hatte nur in der Morgendämmerung einmal kurz gezittert: alles in allem eine Steigerung zur vorherigen Nacht! Als ich mittags in einem etwas größeren Ort ankam, war ich wieder mittelmäßiger Laune. Die Sonne hatte keine Lust, sich zu zeigen, und das Grau spuckte mir einen penetranten Sprühregen ins Gesicht. Da es an der Zeit war, etwas einzukaufen, ging ich schnurstracks zum nächsten Supermarkt.
Nach dem Einkaufen setzte ich mich neben dem Eingang auf den Boden und verstaute meine Lebensmittel. Ich war so mit dem Einpacken beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, dass jemand vor mir stand. Drei Schritte entfernt rieb sich ein Mann um die vierzig nervös die Hände, der weiße Kittel wies ihn als Mitarbeiter aus.
»Guten Morgen. Äh … wie lange haben Sie noch vor, hier zu sitzen?«
»Hallo«, erwiderte ich freundlich. »Nicht so lange, ich verstaue nur noch meine Sachen und esse vielleicht noch ein Brot. Wieso?«
Der Mann trat kaum merklich von einem Fuß auf den anderen. »Nun ja, ich bin der Geschäftsführer hier, und … äh … es könnte sein, dass sich unsere Kunden hier gestört fühlen, wenn so Leute wie Sie … also … verstehen Sie mich nicht falsch, ich weiß, wie hart das sein muss …«
Jetzt verstand ich: Er ging davon aus, ich sei ein Obdachloser, der hier herumlungerte. Wow, dachte ich mir. Sehe ich nach drei Tagen schon so runtergerockt aus? Meine Kleidung war zwar dreckig vom nassen Laub, aber Gesicht und Oberkörper hatte ich am Morgen noch am Bach gewaschen. Ich wollte etwas erwidern, da setzte er an: »Ich möchte Ihnen gerne etwas Geld geben.« Er hielt mir aus drei Metern Entfernung ein Geldstück hin.
»Nein danke«, sagte ich. »Ich bin auf Wanderschaft, und ich habe genug Geld für die nächsten sechs Wochen bei mir. Ist aber lieb gemeint.«
»So nehmen Sie es doch, wenigstens für den Hund. Aber gehen Sie bitte«, sagte er und blickte nach links und rechts. Er reagierte überhaupt nicht auf das, was ich ihm geantwortet hatte.
An den folgenden überaus verstörenden Moment kann ich mich noch heute erinnern, als wäre es gestern gewesen. Der Mann stand in drei Metern Entfernung da, hielt mir das Geld hin und lächelte schief. Er stand lange so da, und anstatt näher zu kommen und mir das Geld in die Hand zu drücken, warf er es mir aus der Entfernung zu. Ungläubig schaute ich auf das Zweieurostück, das auf dem Münzrand rollend vor mir seine Kreise zog. Als es umfiel, schaute ich hoch. Der Mann war weg. Unglaublich. Ich konnte es wirklich kaum fassen. In diesem Moment dämmerte mir, wie schlimm sich solch herablassende Gesten und Verhaltensweisen für einen Obdachlosen und Bedürftigen anfühlen müssen. Dieser Moment hat mich wirklich traurig gemacht. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Gerade diese Menschen, die so dringend Hilfe benötigen, bekommen durch den Teil der Gesellschaft, der bis dahin das Glück hatte, nicht in solch eine Lage geraten zu sein, noch einen reingedrückt. Doch als ob das Schicksal mich überzeugen wollte, dass es auch sehr hilfsbereite und wohlwollende Menschen gibt, sollte ich gegen Abend eine ganz besondere Begegnung haben.
Als ich ein Waldstück erreichte, zeigte mir ein Schild an, dass der Weg an einer öffentlichen Grillstelle vorbeiführen sollte. Dort angekommen, fand ich alles vor, was man für ein schnelles Lager braucht: eine überdachte Waldhütte samt Feuerstelle nebst einem dahinplätschernden glasklaren Bach. In null Komma nichts war mein Schlaflager vorbereitet und ein Feuer in Gang gebracht. Als ich einen Topf Reis aufgesetzt hatte, wurde ich aus meiner kurzen Lagerfeuertrance aufgeschreckt. Es dämmerte bereits, und ich sah von Weitem Autoscheinwerfer näher kommen.
Na toll, dachte ich mir, da wird wohl jemand was dagegen haben, dass ich hier lagere. Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor. Doch es kam anders. Der schwarze Mercedes kam einige Meter vor mir zum Stehen, und ein schick gekleideter Mann stieg aus. Ich hatte eher mit einem Jeep samt Förster gerechnet. Jedenfalls kam der Mann einige Schritte auf mich zu, etwas ungelenk staksend – die guten Schuhe! –, grüßte mich höflich und fragte, was ich hier täte. Ich grüßte zurück und erklärte, dass ich auf Wanderschaft sei und mir diesen Platz für mein Schlaflager auserkoren habe. Ob das denn in Ordnung sei. »Sicher«, sagte der Mann und fügte hinzu, »aber bitte das Feuer später löschen.« Dann stieg er wieder in sein Auto und fuhr davon.
Als der dampfende Teller nach einer Weile vor mir stand, hatte ich den Mann im Anzug schon wieder vergessen, plötzlich erschien der Mercedes wieder. Er wird es sich doch nicht anders überlegt haben, dachte ich ein wenig misstrauisch. Diesmal stieg mit dem Mann auch eine Frau aus, und sie kamen mit einem prall gefüllten Stoffbeutel auf mich zu. »Wir wollten Sie nicht beim Essen stören, aber wir haben etwas für sie.« Er überreichte mir den Beutel und sagte: »Meine Frau und ich wollten Sie in dem Wald unserer Gemeinde willkommen heißen. Ich bin der Bürgermeister dieses bescheidenen Örtchens. Wir haben Ihnen ein Proviantpaket zusammengeschnürt.«
Die Frau nickte mir freundlich zu. Ich war so verdutzt, dass ich fast vergessen hätte, mich zu bedanken. Nach einer knappen Verabschiedung schaute ich in den Jutebeutel. Brot, Käse, Wurst, etwas Obst und sogar Hundeleckerlis hatten diese freundlichen Menschen mir mitgebracht. Ich war so gerührt, dass ich beinahe meinen Reis vergaß. Damit hatte ich nach der Begegnung vom Morgen wirklich nicht gerechnet.
Seit diesem Tag gehe ich viel optimistischer in solche Begegnungen. Ich bin den beiden bis heute dankbar für diese herzliche Geste. Dankbar auch für die Erfahrung, dass man nicht nach dem Äußeren gehen darf, wenn man die Hilfsbereitschaft von Menschen vor einer Begegnung einschätzt. Das hat mich dieser Mann im Anzug gelehrt.
Im Februar 2015 entstand in mir das große Bedürfnis nach einem Abenteuer. Ich war achtundzwanzig, wohnte im beschaulichen Eberswalde, siebzig Kilometer nordöstlich von Berlin, und wusste nicht so recht, wohin mit mir. Mein Studium und die Liebe hatten mich dorthin verschlagen. Ich wohnte in einer ehemaligen psychiatrischen Anstalt, die zu einem Studentenwohnheim umfunktioniert worden war, und arbeitete selbstständig unter dem Projektnamen »Waldsamkeit« im Bereich Erlebnispädagogik. Gemeinsam mit meiner Partnerin veranstaltete ich höchst aufwendige und schlecht bezahlte Kinderabenteuer und Kindergeburtstage in den Wäldern rund um Berlin.
Rückblickend steckte ich aber in einer kleinen Krise: Das Masterstudium im Bereich Nachhaltiger Tourismus war mehr als enttäuschend, das Wohnheim schien von seiner alten Funktion als Anstalt nicht weit entfernt zu sein, und die Selbstständigkeit konnte uns kaum über Wasser halten. Auch wenn der Drang nach Abenteuer sicherlich ebenfalls dem Wunsch nach Abstand vom Alltag geschuldet war, spielten noch andere Gründe eine Rolle. Viele Bekannte und Freunde sind damals in der Welt herumgejettet und haben von ihren Rucksacktouren in Australien, Indien oder Neuseeland erzählt. Ich habe mich dann immer gefragt: Was kenne ich eigentlich von meinem eigenen Land? Wie viel habe ich hier denn überhaupt schon gesehen?
Meiner Meinung nach ist das Wandern die beste Methode, ein Land zu entdecken, also beschloss ich, meine Heimat einmal quer zu durchlaufen. Ich las alles über die Deutschlandwanderung von Rüdiger Nehberg und wusste auch ziemlich schnell, was ich anders machen würde. Nehberg ist 1981 von Hamburg bis ins Allgäu gelaufen, das Ganze ohne Zelt, ohne Schlafsack und vor allem: ohne eingekaufte Nahrung! So beeindruckend diese Tour auch heute noch ist, wollte ich mein persönliches Abenteuer anders angehen. Nehberg lief bei seiner Tour größtenteils an stark befahrenen Straßen entlang, denn seine Hauptnahrungsquelle waren überfahrene Tiere. Das hat nicht immer geklappt, und so hat er während des Marsches ganze fünfundzwanzig Kilo abgenommen.
Das kam für mich nicht infrage: Ich wollte soweit möglich die komplette Strecke fernab von Straßen in möglichst naturnaher Umgebung laufen. Ich wollte ja weder einen Rekord brechen noch irgendetwas beweisen – ich wollte einfach in der Natur laufen und schlafen, mich in ihr auflösen. Durch meine Vorerfahrungen wusste ich, dass man sich fernab von Straßen und ohne Mundraub zu begehen nur schwer in der Natur selbst versorgen kann, wenn man täglich dreißig Kilometer Strecke zurücklegen möchte. Essbare Wildpflanzen, Pilze, Früchte, Nüsse, Insekten und Würmer gibt es zwar fast überall, das Sammeln und Zubereiten dauert jedoch sehr lange. Zum anderen musste ich schon jeden Abend zwei Stunden für den Bau einer Laubhütte einplanen. Denn eine Tour mit Zelt, Isomatte und Schlafsack kam für mich nicht infrage. Ich wollte mich frei und unbeschwert fühlen, wollte meine Survival-Fertigkeiten schulen, in und auf Natur schlafen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon oft in einer Laubhütte geschlafen, doch nie in Verbindung mit einer längeren Wanderung. Also musste ich abwägen und kam zu dem Schluss, dass mir Minimalausrüstung und eine große Wegstrecke wichtiger waren als die Vollversorgung mit Nahrung aus der Natur.
Als ich bei der konkreten Planung eine Packliste mit nötigem Equipment schrieb, musste ich mich immer wieder dazu anhalten, diese so klein wie möglich zu halten. Das war gar nicht so einfach, immer wieder fielen mir scheinbar sinnvolle und nötige Dinge ein. Nach ein paar Stunden sah meine Liste aus wie der Notizzettel eines verrückten Professors, immer wieder strich ich Dinge durch und schrieb andere darüber und dahinter. Doch dann hatte ich es geschafft, und die Liste war auf ein überschaubares Maß an Equipment zusammengeschrumpft.
Folgende Dinge standen auf dem Zettel: Erste-Hilfe-Set, Kopflampe, GPS, Messer, Tarp, Skiunterwäsche, Regenhose, Regenjacke, Rettungsdecke, Pinzette, Sonnenbrille, Angelhaken, Angelschnur, wasserdichte Streichhölzer, Striker, Notizbuch, Stift, Wanderflöte, Zahnbürste, Zahnpasta, Mückenspray, Topf, Besteck, Kamera, Taschensäge.
Diese Dinge sollten meinen persönlichen Besitz während der nächsten sechs Wochen darstellen und alles sein, was ich wirklich benötigte. Mein achtjähriger Hund Rocko kam natürlich auch mit – für den angehenden Rentner sollte es das letzte große Abenteuer werden. Während ich dieses Buch schreibe, ist er schon zwölf Jahre alt und wäre mittlerweile nicht mehr in der Lage, eine solche Strecke zurückzulegen. Auch wenn ich Rocko, seit er zwei Monate alt war, stets in meiner Nähe hatte, wusste ich, dass uns diese große gemeinsame Tour auf ganz besondere Weise aneinander binden würde. Sechs Wochen lang am Stück mit seinem Rudelführer durch die Natur zu laufen, vierundzwanzig Stunden am Tag beieinander zu sein, nebeneinander zu schlafen und durch dick und dünn zu gehen – ich kann mir kein schöneres Szenario für einen Hund vorstellen.
Sein Part der Vorbereitung war, sich von mir scheren zu lassen. Der Collie in ihm produziert solche Fellmassen, dass er bereits im Frühsommer extrem leidet, wenn er nicht geschoren wird. Auch wenn ich die Tour bereits im Frühling starten wollte, hatte ich ja währenddessen keine Möglichkeit dazu, also wollte ich ihm das lange Zottelfell schon vor der Tour abnehmen.
Als Nächstes machte ich mich an die detaillierte Routenplanung. Die grundlegende Frage war: Wollte ich eine Nord-Süd- oder eine West-Ost-Route? Beides hatte seinen Reiz: Die Idee, am Meer zu starten und irgendwann, in weiter Ferne, die Alpen näher rücken zu sehen, gefiel mir recht gut. Letztlich entschied ich mich aber für einen Kompromiss: eine Südwest-Nordost-Route. Ich war auch neugierig, wie sich Landschaft und Menschen von den alten zu den neuen Bundesländern verändern würden.
Der allergrößte Teil der Strecke verlief fernab von Straßen und Städten – das war mir wichtig. Und ich wollte auch, soweit es ging, weder mit analogen noch mit digitalen Karten laufen. Deutschland hat ein recht gut gepflegtes Wegzeichennetz – in fast allen Regionen werden Wanderwege das ganze Jahr hindurch von Ehrenamtlichen markiert und ausgebessert. Ich persönlich schaue lieber nach Markierungen an Bäumen als ständig auf die Karte oder ein GPS-Gerät, auch wenn ich Letzteres zur Sicherheit dennoch mitnahm.
Also suchte ich nach langen zusammenhängenden Wanderwegen in West-Ost-Richtung und wurde nach einigen Recherchen fündig. Als Startpunkt wählte ich das Saarland: Hier war ich noch nie gewesen und konnte so den attraktiven Pfälzerwald passieren. Als Zielpunkt kam für mich nur Eberswalde infrage: Ich fand die Idee schön, von weit her nach Hause zu laufen, und wollte das möglicherweise aufkommende Heimweh und die Sehnsucht nach meiner Freundin und den Freunden als Motivator nutzen.
Ich hatte also folgende Etappen vor mir:
In der ersten Etappe würde ich das Bundesland kennenlernen, von dem man selten etwas mitbekommt, das Saarland. In der Landeshauptstadt Saarbrücken, nahe der französischen Grenze, sollte meine Deutschlandwanderung beginnen. Dieses Mini-Bundesland wollte ich auf dem Saar-Rhein-Weg in weniger als drei Tagen zu Fuß durchqueren, um in den sagenumwobenen Pfälzerwald einzutauchen. Ich wusste, dass sich in diesem größten zusammenhängenden Waldgebiet Deutschlands viele interessante Felsformationen und Höhlen verbergen, darauf freute ich mich besonders. Kurz vor Neustadt macht der Saar-Rhein-Main-Wanderweg eine starke Kehrtwende nach Norden, sodass man auch den nördlichen Teil kennenlernen kann, bevor der Weg hinab in die Rheinebene führt. Der Rhein wird per Fähre bei Biebesheim überquert und führt dann quer durch die Bergstraße. Dort wollte ich kurzzeitig den Wanderweg verlassen, um meiner Mutter bei Darmstadt-Eberstadt einen Besuch abzustatten. Die letzte Teiletappe war der mir wohlbekannte nördliche Odenwald und endete schließlich bei Wörth am Main.
Ich fand keinen von Süd nach Nord verlaufenden und durchgängigen Wanderweg, um dieses Mittelgebirge zu durchqueren, also bastelte ich mir eine Route aus mehreren kleineren Wanderwegen zusammen. Der Spessart ist von einem riesigen Laubmischwald bedeckt, und ich freute mich auf die großflächigen Sandsteingebiete.
Die Rhön war ein Highlight für mich auf dieser Tour. Dieses raue und von extensiver Weidewirtschaft bestimmte Mittelgebirge hat immer schon einen großen Reiz auf mich ausgeübt. Der Rhön-Höhen-Weg verläuft einmal quer durch die Rhön und endet in Bad Salzungen. Die schroffe Landschaft und ständig wechselnde Höhenunterschiede von fast tausend Metern klangen auch aus sportlicher Sicht interessant.
Von Bad Salzungen aus musste ich mir wieder kleinere Wanderwege zusammensuchen, ich würde einen Teil des Thüringer Waldes passieren, um dann einen Abstecher in den Nationalpark Hainich zu machen. Weiterhin sollte die Route nördlich von Weimar in östliche Richtung bis nach Sachsen-Anhalt verlaufen. Ich wollte an Halle vorbeigehen und bei Wittenberg die Elbe überqueren.
Die letzte Etappe: Auf dem E11 über den Hohen Fläming, Potsdam, Berlin und schließlich in die Region Barnim in Nordostbrandenburg. Dort, genauer in meinem Wohnort Eberswalde, wollte ich nach schätzungsweise sechs Wochen und 1100 Kilometern per pedes zu Hause ankommen.
Ein paar Wochen vor der Wanderung schrieb ich einige Magazine und Zeitungen an – nicht dass ich persönlich Aufmerksamkeit erhaschen wollte, ich versprach mir dadurch mehr Medienaufmerksamkeit für unser Naturerlebnisprojekt Waldsamkeit. Ich rechnete nicht wirklich damit, dass sich jemand dafür interessierte, doch überraschenderweise erhielt ich ziemlich zügig einen Anruf der Spiegel-Reporterin Katja Döhne. Wir verstanden uns auf Anhieb gut, und sie wollte mich gerne ein paar Tage auf der Tour begleiten.
Die Frage, warum man überhaupt einen Trip in die Natur machen will, sollte man sich unbedingt stellen, und die Route sollte zumindest in groben Zügen geplant werden. Denn schließlich nimmt man sich Zeit für einen solchen Trip und steckt Energie hinein. Das hat nichts mit Durchgeplantheit zu tun, auch ich bin ein Freund von spontanen Aktionen. Es kann für zukünftige Projekte einfach sehr demotivierend sein, wenn man sich Urlaub für einen Trip nimmt und am Ende merkt, dass das ausgewählte Waldstück direkt an der Autobahn liegt und zudem dort an dem Wochenende eine Treibjagd durchgeführt wird. Außerdem kann es bei Menschen mit Eigenmotivationsproblemen helfen, denn wenn ein Trip erst mal geplant ist, hat der innere Schweinehund schlechtere Karten als bei einer »groben Idee«.
Wenn man einen Trip in die Natur machen möchte, sollte man sich zunächst über ein paar grundlegende Dinge klar werden, denn davon hängt wiederum die weitere Planung ab. Stelle dir also vorher folgende Fragen: Was ist deine Eigenmotivation? Was erhoffst du dir zu finden und auf welchem Weg?
An die im Prolog beschriebene Etappe meiner sechswöchigen Deutschlandwanderung mit Minimalausrüstung kann ich mich noch sehr gut erinnern, nicht zuletzt, weil ich an jedem Tag Tagebuch geführt habe. Heute bin ich sehr froh, das getan zu haben, denn ich kann mir so die Bilder zurückholen, die im Gedächtnis ansonsten verblassen würden.
Ich stelle die Frage ganz bewusst so und frage nicht: »Wie viel Zeit habe ich?« Wer für etwas »Zeit hat«, nimmt sich selbst aus der Verantwortung und handelt nur nach gegebenen Vorgaben. Wer sich »Zeit nimmt«, führt ein eigenmächtigeres Leben.
Nachdem die Spiegel-Doku über meine Deutschlandwanderung auf YouTube veröffentlicht wurde, gab es sehr schnell viele Klicks und Kommentare. Einen besonders schönen möchte ich hier zitieren:
»Sechs Wochen Wanderung. Wie viel Jahresurlaub hat dieser Mann denn??? In dieser Firma möchte ich auch gern arbeiten! Oder bezahlt ihn das Arbeitsamt oder Sozialamt, also unsere Steuern?«
Was in der Welt dieses Kommentators nicht zu existieren scheint, ist die eigentlich gar nicht so seltene Selbstständigkeit als Form der Erwerbstätigkeit. Doch man muss nicht unbedingt selbstständig sein, um einen Trip in die Natur durchzuführen, schließlich gibt es Urlaubsanspruch, oder man kann sich (je nach Job) einen Montag freinehmen. Und wie gesagt: Zwei Tage im Wald sind besser als keiner! Vor allem am Anfang solltet ihr erst einmal über Kurztrips nachdenken.
Unterschätzt jedoch nicht die Zeit, die ihr für die Anreise benötigt. Denn in ländlichen Regionen ist der Regionalverkehr oft schlecht ausgebaut, und nicht jeder hat die Möglichkeit, mit dem Auto anzureisen.
Ich persönlich gehe sehr gern allein in die Natur, wobei, ganz allein bin ich nicht, mein Hund Rocko ist so gut wie immer dabei. Doch abgesehen von diesem schweigsamen und haarigen Begleiter mache ich meine Touren am liebsten allein. So auch die Deutschlandwanderung, denn ich wollte nur für mich und meinen Hund verantwortlich sein. Ich wollte spontane Entscheidungen schnell und einfach treffen können und vor allem: das Alleinsein aushalten lernen.
Unsere Gesellschaft vermittelt oft ein eher negativ behaftetes Bild von Einsamkeit – Menschen, die allein sind, seien es aufgrund sozialer Inkompetenzen. Das ist natürlich Unsinn, in Wahrheit können wir in vorübergehender Einsamkeit eine Menge über uns lernen. Eine Zeit lang nur für sich zu sein, bietet einem die Chance, mit sich selbst besser auszukommen. Man steht Dinge mit sich selbst durch, und das verstärkt das Verantwortungsgefühl für das eigene Ich, und – so komisch es klingen mag – man verstärkt die Freundschaft zu sich selbst. Man lernt sich besser kennen, und es kommen Dinge hoch, die man verarbeiten muss, die in Gesellschaft mit anderen nicht hochgekommen wären. Insofern hat so ein Trip auch immer einen Therapiecharakter.
Keine Frage, auch mit netten Menschen kann man es draußen aushalten. Gerade wenn ihr euch unsicher seid oder Angst habt: Nehmt jemanden mit, dem ihr vertraut. In den allermeisten Fällen (Erwartungen abgleichen!) wird ein freundschaftliches Band durch einen gemeinsamen Trip verstärkt und kann auch auf Liebesbeziehungen einen positiven Einfluss haben. Denn mal ehrlich, wie romantisch ist das denn: morgens Arm in Arm in einem Doppelschlafsack auf einer tauglänzenden Lichtung von der Singdrossel geweckt zu werden. Klingt kitschig, ist aber so.
Eine andere Variante ist, nur einen Teil der Zeit mit einer anderen Person zu verbringen. Das kann auch sehr schön sein, gerade bei längeren Touren freut man sich sehr, wenn man das Erlebte zeitnah teilen kann.
Während meiner Deutschlandwanderung wurde ich bei drei Teilstrecken jeweils zwei Tage von unterschiedlichen Freunden begleitet, das war mir sehr willkommen. Falls man zu mehreren unterwegs ist, empfehle ich, die Erwartungen an den Trip vorher abzugleichen. Nicht selten gibt es sonst Knatsch, selbst mit Leuten, mit denen man sich im Alltag wunderbar versteht. Gerade weil die Vorstellung von Naturerlebnis eine ganz individuelle ist, kann die Idee »ein paar Tage in den Wald« völlig unterschiedliche Erwartungen hervorrufen. Der eine denkt an ein Lager im Wald, in dem man länger bleibt und ein paar Bushcraft-Techniken ausprobiert, der andere hat eher an eine viertägige Wanderung gedacht, bei der man unterwegs auch mal in eine Wirtschaft einkehrt. Wie so oft ist hier gute Kommunikation gefragt.
Stell dir also vor dem Trip die Frage: Möchtest du allein oder in Begleitung »raus«? Und, wie gesagt: Gerade auf den ersten Touren und/oder wenn du dir etwas unsicher bist, ist es keine Schande, einen Menschen, dem du vertraust, mitzunehmen. Auch die Variante einer zeitweisen Begleitung kann sehr schön sein.
Habt ihr diese Punkte durchdacht, sollte eure Auswahl überschaubar geworden sein. Dann könnt ihr euch online auf Google Maps (oder Alternativen!) Satellitenbilder zu euren Wunschgebieten ansehen. Ich habe schon oft Tourenpläne wieder über den Haufen geworfen, weil ich entdeckt habe, dass an einem scheinbar einsamen Waldsee zwanzig Ferienhäuser standen oder eine Autobahn durch meinen Wunschort verlief. Das alles frisst natürlich Zeit, ich empfehle es aber dennoch. Denn es ist auch für kommende Trips demotivierend, wenn man sich so sehr auf ein wenig Einsamkeit zwischen Bäumen und Bächen gefreut hat und dann vor Ort merkt, dass man eigentlich auch im Treptower Park hätte zelten können.