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Eine moderne Heldengeschichte: von der Einsamkeit des Andersseins und der Erlösung durch die Liebe.

Die Zahlen sind Olivers Zuflucht. Die Mutter ist schon kurz nach seiner Geburt im Sommer 1989 aus der sächsischen Kleinstadt abgehauen, der Vater straft ihn mit Gleichgültigkeit. Mit sechzehn erfährt Oliver zum ersten Mal Anerkennung, als er bei der Mathematik-Olympiade in Montreal eine Auszeichnung erhält. Danach ist alles anders – und doch nichts besser. Zwar werben die angesehensten Institutionen um ihn, und er kann sich seinen Wunsch erfüllen: am größten Problem der Mathematik, dem Geheimnis der Primzahlen, zu arbeiten. Doch diese Aufgabe treibt ihn in die Abgründe seiner Existenz. Bis ihn die Physikerin Ina aus seiner Einsamkeit rettet.

Nagel im Himmel erzählt eine Geschichte von Scheitern und Erfolg, Finsternis und Licht, Sehnsucht und Liebe. Ein Bildungsroman über genialische Wissenschaft, rauschhafte Fantasie und menschliche Größe.

Patrick Hofmann, geboren 1971 in Borna, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Berlin, Leipzig, Moskau und Straßburg und promovierte über Husserls Theorie der Beschreibung. Für sein Debüt Die letzte Sau wurde er 2010 mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. Nagel im Himmel ist sein zweiter Roman. Patrick Hofmann lebt in Berlin.

»Man kann diesem Roman in seinen Einzelheiten nachspüren. Man kann ihn aber auch in einem Zug lesen, als sinnesfrohe, tragikomische deutsche Familiengeschichte.« Tobias Heyl, Süddeutsche Zeitung über Die letzte Sau

»Ein erstaunlich gelungenes Buch – von einem Autor, der so entschlossen und originell debütiert, ist noch einiges zu erwarten.« Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung über Die letzte Sau

»Patrick Hofmann hat eine Parabel geschrieben über drei Generationen einer ostdeutschen Familie, die, so Enkelin Kathrin, längst von der Zeit überholt wurde.« Michaela Schmitz, WDR über Die letzte Sau

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PATRICK HOFMANN

NAGEL
IM
HIMMEL

ROMAN

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Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagabbildung: © Arcangel / Cheryl Clegg

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-25708-8
V001


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meiner Mutter gewidmet

1

Er zählte. 37, 41, 43, 47. Die Zähne aufeinandergepresst. Ein blasser, zuletzt stark gewachsener Junge. Die dunkelblonden Haare kräuselten sich an der Seite. 53, 59, 61. Er saß schräg hinter seinem Vater im Auto, Samstagnachmittag auf einer Landstraße, unterwegs zur Urnenbeisetzung seiner Oma. Vor ihm die Stiefmutter, neben ihm deren Tochter Alexandra. Die Alten vorn, die Jungen hinten; männlich weiblich kreuzweis. Das flache Land südlich von Leipzig. Die Felder abgeerntet, umgepflügt. Nur hier und da noch dürrer Mais Mitte September.

67, 71, 73. Vor zehn Wochen hatte ihm die todkranke Großmutter erzählt, was sie nicht mit ins Grab nehmen wollte. Anfang Juli. Im gleichen Monat war er vierzehn geworden. Dann war endlich der Sommer vorbeigegangen, hatte die Schule wieder angefangen. Sein drittes Jahr an der Spezialschule.

79, 83, 89, 97. Er hatte immer gezählt. Zahlen waren seine ersten Wörter gewesen: Eins, zwei, drei, ja! Vier, fünf, sechs, gut! Und noch ein Löffel, sieben, acht, neun. Viel zu ihm gesprochen hatte niemand. Oder ihn gehalten; länger gehalten als nötig. Solche Berührungen ließen sich zählen. Und Zählen half. Die Zahlen halfen. Denn sie waren immer da. Nicht hier, aber da. Sein festester Halt, wenngleich imaginär. Er liebte Zahlen. Ganz besonders liebte er später die Primzahlen, von denen niemand wusste, woher sie kamen.

»Geschrien hasde«, hatte die Großmutter bei seinem letzten Besuch im Krankenhaus gekrächzt, »als dich Achim bekam vier Wochen nach der Geburt. Darauf hatten wir uns geeinigt: das Mädchen, ihre Eltern, ich, Harald un Achim, als der noch bei der NVA war. Grad ma achtzn war die un wollte weder den noch ein Baby. De Schwangerschaft hattese zu spät bemerkt. Als nich mehr abgetriem wern konnte. Adoptiern lassen wollte die dich. Aber ihre Eltern hatten erst mit der andern Seite sprechen wolln, mit uns, un die Adresse rausgefunden im Mai neununachtzsch.«

Niemand sagte ein Wort im Auto. 101, 103, 107. Alexandras ausgewachsener Körper irritierte Oliver. Er sah nicht hin. Er ging in die neunte Klasse des Spezi, sie ging in die zwölfte Klasse eines Gymnasiums bei Leipzig. Groß, dunkelhaarig, gelangweilt saß sie neben ihm. Ihre Mutter Vera, eine Angestellte in einem Baumarkt, war drei Jahre älter als sein Vater. Achim hatte die geschiedene Frau kennengelernt, als Oliver in die Grundschule kam. Ein Jahr später waren sie in ihr Haus gezogen, nur ein paar Dörfer entfernt von Olivers Großeltern Harald und Lisbeth Seuß. Die graublauen Augen zusammengekniffen, sah Oliver die kurzen schwarzen Haare, das freie Ohr, die glattrasierte Wange seines Vaters, der seit Jahren in einer Firma für Pumpen- und Abwasseranlagen arbeitete. 109, 113, 127.

»Geschrien, als der dich Ende August, da war der schon fertsch midder Armee, indn Arm hielt, denn du wolltest nich de Flasche. Geschaukelt hat der dich off sein Arm hin un her, mit dir ne Stunde durchn Ort geloofen isser, da hast du immer noch geschrien. Nichema n Kinderwagen hatte der besorgt. Da hat der dich dann ins Bettchen gelegt, is fort – un zwei Stunden später widdergekomm mit ner Fahne. Da hast du dann ooch getrunken.«

Die Urnenbeisetzung fand in kleinerem Kreis statt als die Trauerfeier vier Wochen zuvor, wobei sie immer noch zwanzig Leute waren. Auf dem frisch aufgestellten Grabstein war über Lisbeths Namen, Geburts- und Sterbedatum eben soviel Platz freigelassen worden. Oliver stand seitlich hinter seinem Vater. 317, 331, 337.

»Wie de Leute in dem Sommer abhauten un in Leipzsch drinne demonstrierten, hatten ja nich weiter intressiert. Der suchte Arbeit unne eigne Wohnung, wollte Musik machen, mit sein Kumpels rumziehn, feiern. Da ließ der dich oft bei mir. Das habsch ne Weile mitgemacht. Aber alser dann ma n ganzes Wochenende gar nich nach Hause kam, hats mir gelangt. Ich war dreinsechzsch un hatte fünf Kinder durchgebracht. Ich brauchte ma Ruhe. Da kamsde in de Wochenkrippe.«

Bis zu diesem Gespräch mit der Großmutter hatte Oliver von all dem kaum etwas gewusst. Über seine Mutter wurde nie geredet.

Neben dem rechteckigen dunklen Grabstein präsentierte der Bestatter mit weißen Handschuhen die Urne. Wie ein Zauberer seinen Lieblingstrick. Harald nahm sie noch einmal in die Hand, als ob er sie wiegen wollte, und reichte sie seinem Ältesten. Henry gab sie Achim weiter. Die drei Schwestern weigerten sich, die Urne anzufassen. Der Angestellte polierte den handlichen Metallkörper mit einem grünen Samttuch, bevor er ihn in das akkurat ausgehobene Loch des frisch bepflanzten Grabs versenkte, Erde nachstopfte und die Stelle mit einem Geranientopf krönte. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, nickte der alte Mann ernst und entfernte sich.

383, 389, 397, 401.

»Dort warsde von Montag bis Freitag. Versorgt. Mit fünfnzwanzsch andern Babys von Leuten, wos wo ooch grad schwierig war. Hasde widder geschrien, dass dei Nabel offbrach un blutete. Damit konnten die aber umgehn. Da kam e Arzt, hat das genäht un verbunden un warsde dann ruhig. N Knuppel blieb dir von dem Bruch stehn. So dürre, wiede warst, fiel der richtig off unter nem Strampler. Das erschreckte jeden, der dich ma windelte. Wie so n Korken steckte das in deim Bauch. Ab un zu puderten wir den Zippel ein, denn das schien dich zu jucken. Wennde dich gekratzt hast, schimpften wir mit dir, pochten dir off de Fingerchen. Offem Bauch liegen durftsde ooch nich.«

Schwer atmend holte der Großvater aus einem Beutel eine zerbeulte grüne Feldflasche hervor. Seine Töchter sahen ihn verwirrt an. Harald drehte an dem knirschenden Deckel, sodass einige erschauerten. An den Stellen, wo die Farbe von der Flasche abgeplatzt war, schien das blanke Weißblech hervor wie ein Knochen. Endlich sprang der mit einem Strick gesicherte Schraubverschluss Harald aus den Händen.

Er hielt die Flasche hoch. »Diese Flasche hatte ich dabei, als ich mit Lisbeth s erste Mal verabredet war. Im Sommer nachm Krieg. Das Dorf zum Teil zerstört. Überfüllt mit vertriebnen Schlesiern. S gab kee Zimmer, keene Kammer, nichema ne Scheune, in der man ungestört hätte offm Stroh liegen könn. Die Felder abgeerntet. Kahl. Alle Wiesen, alle Straßenränder gemäht. Also ging wir indn Wald, obwo ihr das Angst machte, weil sie off dem Weg hierher durch viele Wälder hatte loofen, manchma sogar drin hatte schlafen oder sich verstecken müssen. Deswegen hatte ich in der Flasche Schnaps. Fracht mich nich, wie das möglich war, an Schnaps zu kommen nachm Krieg. Aber ohne die zwee, drei Schlucke Fusel wärse nich mitgekommen un wahrscheinlich ooch nich in Muckau gebliem.«

Harald hielt den Arm über das frische Grab, goss einen Schwapp über die Blumen und nippte selbst an der Flasche.

Die Leute schluckten. Aber nicht verwirrt wie beim ersten Anblick der Feldflasche, sondern überrascht, wie selbstverständlich diese Zeremonie sich vollzog.

Harald Seuß und seine Kinder waren nicht religiös. Was ein Sakrament war, wusste niemand mehr, obwohl einige noch getauft worden waren. Von den Jahrzehnten, in denen der Kommunistenstaat die Religion verunglimpft und bekämpft hatte, blieb ihnen eine Verachtung des Glaubens. Religion war einfach Humbug, Volksverdummung. Opium, wie jemand mal gesagt hatte. Punkt. Sie glaubten nicht an den Glauben. Das aber nicht aus schierer Gleichgültigkeit wie moderne Menschen, die, wenn sie von einem Schicksalsschlag getroffen worden wären, vielleicht doch eine höhere Macht hätten fürchten können. Sie standen der Kirche feindlich gegenüber wie gute alte Proletarier, die nur an den Lohn von und in ihren Händen glaubten. Diese Haltung zeigten sie sich aber zuletzt nur noch untereinander an ihren Mundwinkeln. Denn die Kirche genoss nach zwei Diktaturen allgemein wieder Anerkennung, und ihr gehörte der Friedhof.

Harald reichte die Flasche Henry, der von diesem Moment an überzeugt war, mit ihrer Hilfe an jenem Tag gezeugt worden zu sein. Nickend, mit vorgeschobenem Unterkiefer wog er die Reliquie in der Hand, nahm ein Schlückchen. Als Nächster Achim.

Oliver verzog genauso abschätzig wie sein Vater den Mund. 409, 419, 421. Er dachte an die Großmutter.

»Ne Arbeit hatter dann noch vor den ersten frein Wahln gefunden innem alten Maschinenbaubetrieb. Unne Wohnung in Kitzscher im Neubaugebiet. Aber mit den Betrieben lief das gar nich gut vor unnoch lange nach der Währungsunion. Da brach ja fast alles zusammen oder wurde kaputt gemacht. Da warer immer widder ma arbeitslos un schimpfte off de Politik. Zumindest hatter dann für dich nen normalen Krippenplatz gekrigt. Ich dachte ja, dassm das Halt gibt, wenner dich jeden Tag hinbringt un abholt. Aber öfter hab ich das gemacht. Oder ooch ma Simone. Wenner nich gekommen war un die uns anriefen. Wir hatten ja n Telefon, also Harald, als Parteisekretär. Sonst wärsde villei ins Heim gekommen.«

Die Flasche ging von Hand zu Hand, Mund zu Mund zu Oliver. Achims Schwestern sahen streng zu ihrem jüngeren Bruder. Der rührte sich nicht. Oliver wusste nicht, was stärker brannte: Haralds Schnaps oder Lisbeths Worte.

»Andn Wochenenden hadder dich manchma bei uns abgeliefert. Manchma ließer dich ooch offm Balkon in der Wohnung. Hochparterre. Im Kinderwagen. Du warst das gewöhnt von der Wochenkrippe: vier Stunden bis zur nächsten Mahlzeit, hast geschlafen oder warst ruhig. Nach vier Stunden kam er dann zurück, gab dir Essen. Ich hab manchma geheult, wenner sich widder irgendwo rumtrieb. Aber jemand hat immer nach dir geschaut.«

Sie standen auf dem Friedhof. Seine Onkel und Tanten unterhielten sich.

»Ich hab das«, sagte Margit, Olivers älteste Tante, »schonn geregelt, dass ich später ma in so e anonymes, naja, Massengrab komme. Da braucht sich niemand weiter drum kümmern.«

Simone, die jüngste der Geschwister, klammerte sich entsetzt an den Arm ihres Ehemanns.

»Wenn ich ma nich mehr bin«, fuhr Margit fort, »kann Lothar oder von mir aus Nathalie glei n Container komm lassen.« Nathalie – sie trug dieselbe Kleidung wie in der Schule – stand daneben. »Meine Sachen, das kann alles ma weg. Wen interessiert schonn mei Zeug? Ooch meine Fotos. Wer guckt in die Alben noch rein? Die hab ich ja selbst de letztn Jahre nich in de Hand genommen.«

»Weilde ahmds immer fernsiehst«, sagte Lothar.

»Genau. Ab inn Container. Un wenn das erlaubt wäre, könntense mich glei mit entsorgen. Damit hätte sichs getan. War schön gewesen. Danke.«

»Jetz hör aber ma off«, schimpfte Lothar. »So weit kommts noch.«

»Ja, so weit kommts noch.« Margit verzog den Mund.

Die zerbeulte Feldflasche ging noch einmal rum. So viel passte da rein. Die Frauen wollten nicht mehr. Oliver hingegen bekam die Flasche abermals in die Hände. Trotzig begegnete er den besorgten Blicken und schüttelte sich.

Sie gingen zum Haus des Großvaters, in den Garten, holten Tische und Stühle aus dem Schuppen, stellten sie mitten auf die Wiese, wie es Lisbeth gemocht hatte. Hier und da stachen dann die Stuhlbeine unter den Kräftigsten in den Rasen. Die erschraken auf ihren schiefen Sitzen über den verkürzten Abstand zu der Erde, die gerade die Urne aufgenommen hatte.

Die Geschwister hatten sich abgesprochen und jeder etwas mitgebracht. Bier, Wein, zwei Flaschen Schnaps, Kekse, Kaffee in Thermoskannen, Selters. Die Frauen holten Gläser und kleine Teller aus dem Haus. Am Tisch erzählten sie von Lisbeth, was für eine gute Seele sie gewesen war, mit welcher Geduld sie den Schornstein verfugt hatte und die Natursteine am Sockel des Hauses. Margit erzählte die Geschichte, wie sich Lisbeth während eines Ostseeurlaubs mit einer Frau im benachbarten Strandkorb angefreundet hatte und die ihren Ehering verlor im Meer, wie Lisbeth sich die Stelle zeigen ließ, ungefähr, wo der das Gold vom kalten Finger in die See geglitten sein mochte, und das Ding tatsächlich, ja ja ja, im flachen Wasser entdeckte und herausfischte unglaublicherweise.

Damit es nicht zu traurig wurde, bat Harald seinen Jüngsten, etwas Lustiges zu erzählen.

Achim zog die Stirn hoch.

So ernst und nüchtern wie noch vor einer Stunde waren auch nicht mehr alle.

»Muss nich so verwegen sein wie Papas Geschichte«, sagte Margit und stellte die fast leere Flasche Schnaps weiter weg von Oliver.

»Mach schonn, du Dampfhans«, sagte der Alte.

»Naja«, Achim rieb die Lippen aneinander, »mir ham ja ma ne Zeit lang, also n paar Fußballer, in der alten Schule, alses die noch gab, Tischtennis gespielt.«

601. 607.

»Mit een oder zwei Kästen Bier. Un da kam ooch manchma der Bäcke rüber. Der alte. Wilfried. Der ja nu ooch schon …«

Simone hüstelte.

Oliver stand auf. Die Geschichte kannte er. Kannten die meisten. Die berühmte Wette. Den Wettlauf mit dem Sack Mehl. Er schwankte, argwöhnische Blicke im Rücken, über die Wiese, 613, 617, pinkelte hinter die Büsche, außer Hörweite.

Zwei Stunden hatte er im Krankenhaus an Lisbeths Bett gesessen. Am Ende nahm sie seine Hand, weinte. »Die Wochenkrippe.« Sie brauchte Pausen, bis sie weitersprechen konnte. »Der Balkon.« Sie schluchzte erschöpft. »Das is damals für alle schwer gewesen.« Mit leeren Augen hatte Lisbeth ihn angeschaut, als er sich von ihr verabschiedete.

619. 631. Langsam ging er zurück, fast gerade.

Die Familie drängte sich um Achim. »Als ich dem rückzu von der Eiche begegnete, warn meine Arme schonn zwee Meter lang.«

Oliver kannte jede Einzelheit, wie sein Vater mit dem Sack zu Boden ging. Es waren mit den Jahren immer neue Einzelheiten hinzugekommen von den Schmerzen, von dem Kampf. Er hatte Achim dafür bewundert und es akzeptiert, hinter ihm zu verschwinden, selbst nichts zu erzählen von sich, von der Schule, der Mathematik. Selten einmal war er von Achim oder einem Verwandten gefragt worden, wie es in Grimma auf der Schule lief und ob er später Professor werden wolle – in einem Ton, der ihn warnen sollte, sich nicht aufzuspielen.

»Richtig klar, wie ich da hingeknallt bin, war mir das nich. Immeim Kopp drehte sich alles. Ich klebte off der Straße un konnte kee Glied rühren.«

641. 643. Oliver schnappte sich ein Schnapsglas und trank es aus in einem Zug.

»Eh, sach ma«, fuhr ihn Henry an.

Streng sahen Margit und Effi zu ihrem pubertierenden Neffen auf, ob der nicht kapiert hätte, warum an diesem Tag alle Männer zum Pinkeln ins Haus gingen. Was bildete der sich ein!? Weil er auf der Spezialschule war? Brachte man denen dort das Saufen bei? Hochgeschossen und ungepflegt mit einem bösen Blick lief der hier rum; nicht mal dunkle Sachen hatte der angezogen – vielleicht aber auch gar nicht bekommen von Achim.

»Erst so nach un nach«, Achim sah jetzt müde aus, abgekämpft, obwohl das in ihm glühte; er blickte in die Augen seiner Schwestern, seines Vaters, Bruders, in das grimmige Gesicht seines Sohnes, zu Lisbeths Freundinnen, »verstand ich, dass der Zentner off meim Bauch lag un machte, dass ich kaum Luft kriegte. Dass ich den nich losgelassen hatte. Die Jungs schrien: Der kommt, der kommt! Tatsächlich lief der Bäcke an mir vorbei, sah mich off dem Asphalt un lief weiter. Die Kerle schrien: Mensch, steh off! Die Wette is noch nich verlorn. Das kannsde noch packen! Aber wie sollte ich offstehn mit dem Sack offm Wanst?«

647. Oliver war schwindlig. Er schüttelte den Kopf, als ob ihn ein Insekt belästigte, und setzte sich auf seinen Stuhl. 653. Sie wollten ja auch gar nichts hören von Mathematik, wenn sie doch einmal fragten, sondern erzählten immer gleich, wie schwer ihnen Mathe in der Schule gefallen sei, was für schlechte Noten sie bekommen hätten, dass er die Begabung schwerlich von den Seußens haben könne. Dabei rümpften sie die Nase.

»Da bewegte ich een Finger. Eene Hand. Een Arm. Een Been. Fing wie so n Käfer an zu strampeln. Ich stöhnte wien Angestochener. Wie ich das geschafft hab, mich da so hochzudrücken, war Wahnsinn. Ich schrie, schrie, dass der Bäcke sich nach mir umdrehte, wie ich widderofferstanden war. Von den Toten.«

Einige Zuhörer schluckten. Simone sah zu ihrem Vater. Harald zeigte keine Reaktion.

»Ich schmiss mir, ich weeß nich wie, den Sack off die Schulter un marschierte los. Dem Bäcke hinterher. Den Jungs stand das Maul offen. Un der Bäcke fing ooch an zu rennen kurz vor seim Haus. Zumindest versuchte der das. Ein Gejohle un Gekreische gab das. S halbe Dorf stand an der Straße. Die Alten feuerten den Bäcke an, die Jungen mich.«

659. Ganz klein und leise schloss Oliver die Augen, gab allen Widerstand auf gegen den schwirrenden Alkohol und die wirbelnden Sätze seines Vaters.

»Un dann hattich n genau vor mir. Der alte Asthmatiker fiepte. Der schaute so qualvoll zu mir rüber mit rausgequetschten Oochen, so wenig Luft bekam der nur noch. So wie ich vorher. Am Boden. Aber da war der an mir vorbeispaziert. Beim Tischtennis hatter ooch keene Gnade gekannt. Un wie ich an dem vorbeizog in der Einfahrt zu seim Hof, grapschte der nach mir! Ich sprang die letzten Schritte zur Backstube hoch. Un dort endlich vor der Tür hab ich den Sack hingeknallt un mich umgedreht. Da kroch der seine Offfahrt hoch, un die Alten off der Straßen warn alle stumm. Nur meine Jungs grölten.«

»Sechs sechs eins«, piepste es zwischen den gebannten Menschen. Ohne mit den Armen zu rudern oder zu versuchen, sich irgendwo festzuhalten, kippte Oliver auf seinem Stuhl nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf im Gras auf einen Stein.

»Der Bäcke«, Achim hob den Kopf mit verklärtem Blick, »kam dann nie widder zum …« Effi, die mittlere der Schwestern, stieß Achim in die Seite.

Sie sprangen auf, rüttelten den Jungen, drehten ihn hin und her, richteten ihn auf. Aber der blieb bewusstlos, sodass sie schließlich den Rettungsdienst anriefen. Ein Krankenwagen kam. Die ältere Notärztin fragte Achim streng, wie er es hatte zulassen können, dass sich sein minderjähriger Sohn auf einer Familienfeier so betrank. Achim musste etwas unterschreiben. Nachdem sie Oliver in den Wagen geschoben hatten, rief die Ärztin über die Wiese, ob denn nicht vielleicht der Vater oder sonst irgendjemand mitfahren wolle.

2

Das gelb-rot-braune Zackenmuster drang in ihn ein. Das Raster wuchs zu einem riesigen Mikado an, wucherte, stürzte zusammen, fiel auseinander, kontrahierte zwischen Chaos und Leere, immer schneller. Er versuchte, das explodierende Wirrwarr zu bändigen. Aber es wurde nur umso größer, verknäulter – blitzend starr, bevor es wieder umschlug. Nichts und niemand half. Er versuchte, es abzuschütteln, drehte den schmerzenden Kopf auf dem Kissen von einer Seite auf die andere Seite, ritt sich immer tiefer hinein in dieses heillose Pulsieren. In seiner Angst vor dem Nichts beschwor er die Balken, Linien, Streben. Hin und her ging das. Irgendwann kam ein Rhythmus in die Bewegungen, löste sich alles auf, beruhigte er sich.

Der Druck in seinem Kopf ließ nach. Er befand sich in einem warmen Zimmer. Am Fenster der Vorhang mit Zackenmuster bewegte sich von der Luft, die hereinwehte. Er lag in einem fremden Bett mit seitlichem Gestänge – zwei Wochen lang, dann konnte er das Krankenhaus verlassen. Die Beule an seinem Hinterkopf verschwand. Was ihm blieb von dem Sturz am Tag der Urnenbeisetzung seiner Großmutter, waren Kopfschmerzen ab und zu und das Kopfwackeln, in das er fand, wenn er auf dem Rücken im Bett lag, von links nach rechts, rechts nach links, mit geschlossenen Augen und einem friedlichen Gesicht, 3137, 3163, hin und her, 3167, 3169, von einer Seite zur anderen Seite, bis ihn die Primzahlen schlafen ließen.

Als er aber Anfang Oktober zurückkam in die Schule, begann er, die Mathematik zu vernachlässigen und andere Dinge zu treiben: Gedichte zu schreiben, Kant zu lesen, Wittgenstein, zu zeichnen, wobei er über Stümpereien nicht hinauskam. Gerade in den Fächern, wo er mittelmäßig war, strengte er sich nun manchmal an: Sport, Französisch, Geschichte – was an Selbstverleugnung grenzte und die Lehrer genauso stutzig machte wie seine Mitschüler.

Seine schnelle Auffassungsgabe in Mathematik war schon an der Grundschule gefördert worden. Zweimal hatte Oliver erste Plätze bei kleineren Mathematik-Olympiaden in Sachsen belegt. Mit zwölf war er ans Spezi nach Grimma gekommen, die deutschlandweit älteste Spezialschule für Mathematik und Naturwissenschaften, die zahlreiche bedeutende Wissenschaftler und Ingenieure hervorgebracht hatte. Das ging in seinem Fall ganz unkompliziert und stieß bei Achim auf keinerlei Bedenken – im Gegenteil. Einerseits war das Vertrauen in die staatlichen Bildungsanstalten ungebrochen groß in Ostdeutschland. Andererseits sollten die Kinder früh hinaus ins Leben. Stubenhocker und Einzelgänger sahen sie in seiner Familie nicht gern. Die sollten sich draußen mal schön ihre Hörner abstoßen. Beim Spezi musste man wirklich nicht lange überlegen. Diese DDR-Schule war dreißig Jahre lang so erfolgreich gewesen und hatte so einflussreiche und ideologisch unbelastete Fürsprecher gehabt, dass sie nicht nur die Wiedervereinigung überstand, sondern auch das Vorbild abgab für zwei weitere Einrichtungen in den alten Bundesländern, ein seltener Vorgang deutsch-deutschen Lernens, der natürlich einen neuen Namen brauchte. Die Plätze an den drei Gauß-Schulen waren außerordentlich begehrt. Einen davon hatte Oliver zwei Jahre zuvor ohne Aufnahmeprüfung bekommen. Alles war ihm leichtgefallen im Internat und im Unterricht: die Regeln, die Aufgaben, der Stoff. Er war das Gegenteil von einem Muttersöhnchen, also im Vorteil. Auch nach ein paar Monaten, als die anderen sich an das neue Leben gewöhnt hatten, fühlte er sich weiter gut. Hier waren alle gleich. Die Mathematik liebte er nicht nur ihrer Präzision und Kälte, sondern mehr und mehr ihrer rätselhaften Tiefe wegen. Zum einen die Klarheit, zum anderen unerforschte Dunkelheit. Durch seine Fähigkeiten und erst recht durch sein Verhalten zählte er bald zu den Cracks, die stunden- oder sogar tagelang über einem Problem brüten konnten und danach unverständliche Erklärungen abgaben.

Die Fachlehrerschaft teilte sich in eine Gruppe, die Vorhersagen über eine vielversprechende akademische Zukunft der begabtesten Zöglinge mochte, und eine andere Gruppe, die derlei Spekulationen mit Schilderungen der tatsächlichen Lebenswege einstmals hoffnungsvoller Schulabgänger entgegentrat. In der Geschichte des Spezi und der gesamtdeutschen Gauß-Schulen hatten bislang zwei Absolventen die Fields-Medaille bekommen, die renommierteste Auszeichnung für Mathematiker bis vierzig. Die Bestimmung des Verhältnisses der Wahrscheinlichkeit, es als Gaußianer bis ganz nach oben zu schaffen, zur Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige im Lotto zu tippen, stellte eine beliebte Aufgabe für die Neuankömmlinge dar. Die Chancen für sie standen zweieinhalbtausendmal besser als für Glücksspieler.

Oliver war ein Einzelgänger, der wenig in Berührung kam mit Menschen oder Dingen, der sich an seiner Umwelt nicht stieß, nicht rieb, der sich nie beeilte, der wortkarg und abgehoben seinem Weg folgte. Er schwitzte nie. Wochenlang konnte er dieselbe Hose tragen. Er besaß zwei Jeans, drei schwarze T-Shirts, zwei schwarze Pullover – hauptsächlich. Gehänselt wurde er nicht, dafür machte er einen zu finsteren Eindruck, wobei er die Unscheinbarkeit bevorzugte. Er wollte seine Ruhe haben. Sport verachtete er. Trotzdem war er schlank. Er aß drei Mahlzeiten, ohne jemals Nachschlag zu verlangen und nachmittags ein Stück Kuchen.

Seit jenem Sturz nach der Urnenbeisetzung hatte Achim seinem Sohn gelegentlich Geschenke gemacht oder umstandslos – ohne die üblichen Anlässe wie Geburtstag, Weihnachten oder Schulzeugnisse abzuwarten – die Wünsche erfüllt, die Oliver selten genug einmal vorbrachte: einen Computer, eine Angelausrüstung, ein Zelt, Abfahrtsski. Die wollte sich Oliver bei den Winterferienfahrten mit dem Spezi nicht jedes Jahr ausleihen müssen.

Ein-, zweimal sagte Vera, wie gut der Junge es doch habe, wie sehr man ihn verwöhne. Da hörte Oliver auf, irgendwelche Wünsche vorzubringen. Seit jenem letzten Gespräch mit der Großmutter betrachtete er Achims Stolz auf seine mathematischen Erfolge mit Argwohn. In der Freude, dass aus ihm ein ordentlicher Mathematiker werden könnte, roch er die Erleichterung, ihn los zu sein. Deswegen fing er in der neunten Klasse damit an, die Leute ab und zu mit seinem Desinteresse an dem Fach zu ärgern.

In der zehnten Klasse gab es Vorbereitungskurse, Wettkämpfe, spezielle Nachwuchsworkshops an der Universität Leipzig oder Halle, zu denen er angemeldet war, aber nicht hinfuhr, wo er – was niemand wusste – allein über das Wochenende irgendwo angelte. Zu einer nationalen Schülerolympiade in den Winterferien Mitte Februar 2005 hatte er sich von Achim ein Hotel in Oberwiesenthal buchen lassen und sich tatsächlich auf den kurzen Schneepisten des Erzgebirges herumgetrieben, während sein Team ihn in Stuttgart vermisste. Das hatte Ärger gegeben in der Schule und mit Achim, der von der Direktorin angerufen worden war. Weder erklärte noch entschuldigte sich Oliver. Er brillierte allerdings in den nächsten Wochen bei der Untersuchung stochastischer Prozesse. Woher sein mathematisches Talent kam, konnte niemand sagen. Darüber mochte niemand Vermutungen anstellen. Er selbst am allerwenigsten.

Mitunter blickten oder schielten seine Mitschüler im Mathematikunterricht bei einer schwierigen Aufgabe zu ihm hinüber, lächelte auch der Lehrer Oliver an. Die Frage war, ob der zugehört hatte. Es war nicht so, dass er die schwierigsten Aufgaben löste und die einfachsten Dinge übersah, dass er die Herausforderung brauchte. Es war nicht seine Nachlässigkeit, Launenhaftigkeit oder Arroganz, die manchen Lehrer zur Verzweiflung brachte, sondern etwas anderes, das ihnen Rätsel aufgab. Manchmal schien er fast so etwas wie Hass auf sein außerordentliches Geschick zu haben. In einer solchen Stimmung ging Oliver bestenfalls nachmittags spazieren oder angeln über ein Wochenende an einem See zu Hause.

Einerseits trieb Oliver seine Begabung, seine Fähigkeit zum arithmetischen Sehen, das sogleich Strukturen im Unübersichtlichen erkannte, immer tiefer in die Mathematik. Andererseits hielt ihn eine schmerzende Leere davon ab, sich länger an dieser Wissenschaft zu erfreuen. Bevor er allerdings nachdachte über sich, warum er so zurückhaltend blieb, wo es ihm doch gefiel an der Schule, warum er nicht aufging unter seinesgleichen, stürzte er sich lieber in mathematische Probleme.

Anfang der elften Klasse machte Oliver zwei Entdeckungen. Die erste war Bach: Kunst der Fuge, Brandenburgische Konzerte, Englische Suiten, Goldberg-Variationen, Wohltemperiertes Klavier. Nicht die Kantaten, nicht die Passionen. Darin gab es zu viel Schmerz, zu großes Leid bis zur Erlösung. Sondern das Leichte, die Kanalisierung des Himmels, die Mathematik der Sphären, die Mechanik der Schönheit. Ihn verblüffte die Ordnung, in der sich die Töne genauso unaufhaltsam wie prächtig übereinander ergossen. Für sein Herz – an eine Seele glaubte Oliver trotz des häufigen Umgangs mit Unendlichkeiten nicht – war diese Musik Medizin. Damit konnte er sich stundenlang mathematischen Aufgaben widmen. Er hörte die Musik leise mit Kopfhörern, hochkonzentriert, saß in der Bibliothek über alten und neuen Heften der Schülerzeitschriften Alpha und Die Wurzel, las populärwissenschaftliche Einführungen in die Mathematik und sonstige für den wissenschaftlichen Nachwuchs gedachte oder für zumutbar gehaltene Mathematikbücher.

Bei Euler stieß er auf die Zeta-Funktion und das wunderbare Euler-Produkt, eine unendliche Summe. Er beschäftigte sich mit Primzahlen – am einfachsten im Allgemeinen zu definieren, am schwierigsten im Einzelnen auszurechnen, so 1) mysteriös und unnütz wie alle schönen Dinge – , mit diophantischen Gleichungen, dem Euklidischen Algorithmus, mit Kettenbrüchen, Graphentheorie, Kartenfärbungen, dem Vierfarbenproblem, Kombinatorik, hyperbolischer Geometrie, chaotischem Verhalten und Fraktalen, erfuhr von Banach-Räumen, studierte den Satz von Wilson, den Kleinen Fermat, ging Schritt für Schritt diese Theorien und Beweise nach. An guten Tagen breitete sich vor ihm der Kosmos der Mathematik in seiner fantastischen Vertracktheit aus. Die Musik harmonierte perfekt mit seinem Studium. Etwas renkte sich ein, fügte sich. Welch guter Rausch, seinen Geist so fließen zu lassen! Nur hin und wieder erinnerte ihn eine Migräne, ein Drücken in seinem Hinterkopf, an den Sturz.

Die zweite Entdeckung war Bier. Einige Mitschüler standen regelmäßig abends in kleinen Gruppen an einem zur Schule gehörenden Pavillon am Fluss. Natürlich mehr junge Männer als Frauen, aber verhältnismäßig mehr Frauen als in den Klassen. Einmal ließ sich Oliver überreden, mitzukommen. Sie drückten ihm ein Bier in die Hand. Alkohol hatte er seit Lisbeths Urnenbeisetzung nicht mehr angerührt. Er stand da, hörte hin mit halbem Ohr, lehnte eine Zigarette ab oder, er war sich nicht sicher, einen Joint. Nach einer viertel Stunde ging ihm auf, dass es nicht das Geplapper war, was ihn einlullte und grinsen ließ, sondern der schwachprozentige Alkohol. Eine Weile ging er dann regelmäßig mit, probierte verschiedene Getränke, experimentierte, wie viel wovon ihm bekam.

Als er verstanden hatte, wie er trinken musste, damit sich ihm die Sphären öffneten, war klar, dass ihn das Lachen und Kichern, die Blicke, das Flirten, Sich-Zieren und Großtun nur störten. Als jemand auf einem iPod mit Minilautsprecher Hip-Hop spielte, war es ganz aus. Oliver ging am Fluss entlang und fand eine Stelle, wo er ungestört sitzen konnte.

Mit einer Flasche Bier in der Jacke ging er regelmäßig los im Herbst und auch noch im Winter. Das Bier zischte, der Fluss zog dahin, der Himmel wölbte sich. Nach dem dritten Schluck begann das Rauschen – ein Stromkreis, der sich in seinem Gehirn schloss. Das Rauschen rief die Musik. Der Musik folgte die Mathematik. Die Kunst bestand darin, diese Schwingungen nicht zu ersäufen. Weiter als mit 0,33 Liter ließ sich das Kopfkonzert nicht entfalten. Mehr Bier machte die Klänge schwer, wild, trüb. Dann verwandelten sich die Harmonien in etwas Dunkles, Erdiges. Außerdem schmeckte das Bier, so langsam, wie er trank, am Ende schal in einer großen Flasche. Bei einer kleinen blieb das Rauschen gut, kontrollierbar, produktiv. An diesem Punkt, auf diesem Niveau ließ es sich zwar nicht lange halten, aber auch das Verfliegen der Töne konnte er genießen. Darin bewies sich gerade die Schönheit des Vergnügens. Das schwingende Echo sank in ihn ein und hinterließ ein Glücksgefühl, das er öfter mit hoch auf das Vier-Mann-Zimmer nahm, wo er noch eine Weile für Mathematik empfänglich blieb. So ertrug er die Zumutungen des beengten Zusammenlebens. Zur Nachtruhe in dem einen Doppelstockbett unten wackelte er sich manchmal mit dem Kopf in den Schlaf, während die anderen drei onanierten. Ein Gequietsche. Aber danach schliefen sie.

Bach und Bier machten Olivers Welt heller. Damit schwebte er über der Bodenlosigkeit seines Lebens.

An schlechten Tagen, meist vor oder nach den Ferien, meldete er sich morgens öfter krank wegen Kopfschmerzen, blieb allein auf dem Zimmer, starrte aus dem Fenster über die Mulde.

Er versäumte nicht nur immer wieder viele Tage Unterricht. Schon das zweite Jahr hintereinander verpasste er die nationale Mathematik-Olympiade, bei der er als Dreizehnjähriger die volle Punktzahl erreicht hatte.

Die Direktorin seiner Schule, eine promovierte Mathematikerin aus Rheinland-Pfalz, hatte während ihrer mittlerweile achtjährigen Amtszeit noch nie den internen Wettbewerb zwischen den drei Gauß-Schulen gewonnen. In sechs Monaten standen die Drei-Jahres-Evaluationen an, die nicht nur Auswirkungen auf das Budget hatten, sondern dieses Mal auch über eine schon länger diskutierte informationstechnologische Neuausrichtung der Bildungsstätte entscheiden sollten. Dieses Ansinnen des sächsischen Bildungsministeriums empörte den Großteil des Kollegiums, wobei die älteren Ostdeutschen dahinter sogleich ein politisches Motiv witterten, die einstmals so erfolgreiche Einrichtung von ihrer ruhmreichen Geschichte abzuschneiden. Insbesondere der Vorgänger der Direktorin, der wegen seiner SED-Zugehörigkeit nach der Wende abgesetzt worden war, brüstete sich immer wieder mit den noch unter seiner Ägide zahlreich bei der Internationalen Mathematik-Olympiade gewonnenen Goldmedaillen und Silbermedaillen. Dass die Schule immer weiter an Renommee verlor, lag aber vor allem daran, dass die anderen beiden Schulen in den reicheren alten Bundesländern seit Jahren hoffnungsvolle Talente aus Osteuropa, Russland und selbst China mit dem Versprechen lockten, gute Arbeitsmöglichkeiten auch für die nachziehenden Familien zu bieten. Außerdem galt Sachsen als fremdenfeindlich.

Die Direktorin wollte für ihre Lehranstalt kämpfen, obwohl ihr einige ältere Kollegen unveränderlich reserviert begegneten. Diese Leute hatten den Lauf der Geschichte als persönliche Kränkung erfahren und besaßen mit dem Sieger-Besiegte-Schema für fast alle Probleme eine bequeme Erklärung. Davon wollten sie sich keineswegs trennen.

Rebekka Wolf wusste, dass der Schulwettbewerb wegen der Importtalente der anderen Gauß-Schulen schwerlich zu gewinnen war. Daran hatte und hätte auch ein Bestwert von Oliver Seuß wenig geändert. Sie konnte nur auf eine herausragende Einzelwertung bei der Internationalen Mathematik-Olympiade hoffen, die sie über die anderen Schulen erhob. Aber für die Bundesrunde hatte sich Oliver in diesem Jahr nicht qualifiziert. Ihr seit Langem bestes Pferd im Stall erwies sich als wenig verlässlich, wenn nicht sogar unwillig. Von verschiedenen Lehrern hatte sie gehört, wie unzugänglich Oliver war für Ratschläge oder Belehrungen, dass er machte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Trotzdem war dieser hochbegabte Junge ihre einzige Hoffnung.

Sie sprach mit seinen Lehrern. Bestellte einige seiner Mitschüler in ihr Büro, um zu erfahren, was Oliver interessierte. Sie sprach mit dem Internatsleiter, erfuhr von häufigen Erkrankungen, ließ sich das Krankenregister vorlegen. Ihr fiel auf, dass Oliver oft drei Tage am Stück fehlte, aber nie länger. Am dritten Tag mussten erkrankte Interne immer von ihren Eltern abgeholt werden.

Sie bestellte Oliver nach dem Unterricht zu sich.

Als die Sekretärin Oliver durch das Vorzimmer ließ, stand die Direktorin am Fenster und sah aus dem zweiten Stock des wilhelminischen Backsteinbaus hinunter auf den Fluss.

»Bitte, Herr Seuß. Treten Sie näher.«

Oliver ging an dem großen Schreibtisch vorbei. Vor der hohen Fensterfront, seitlich hinter der Direktorin, blieb er stehen. Das Alter der Frau konnte er schwer schätzen. Dafür hatte er kein Auge. Sie trug ein graues Kostüm. Unter der Jacke leuchtete eine olivgrüne Bluse mit breitem Kragen hervor. Blondes, vielleicht gefärbtes, hochgestecktes Haar. Eine schlanke Frau, größer als der Durchschnitt, zumal in Absatzschuhen. Diese Eleganz beeindruckte ihn.

»Die Mulde.«

Sie blickten beide hinaus.

»Den Fluss sehen und den Fluss verstehen sind zwei verschiedene Sachen. Es gibt in der Mathematik viele schwere Aufgaben. Eine Sache ist es, eine Lösung zu finden. Eine andere, diese auch zu verstehen.« Die Arme unter der Brust verschränkt, bewegte sich die Direktorin keinen Zentimeter. »Von vielen Aufgaben muss man ahnen, wohin sie gehen, um auf Ideen für eine Lösung zu kommen. Das nenne ich das mathematische Gefühl. Davon, glaube ich, haben Sie mehr als jeder andere Schüler, der mir begegnet ist, seit ich diese Schule leite.«

Oliver sagte nichts.

»Mir fällt dieses Gespräch nicht leicht. Denn ich habe Ihnen etwas Unerfreuliches mitzuteilen.«

Die Direktorin drehte sich Oliver zu, zog tief die Luft ein und die Stirn hoch. »Aber bitte.« Sie zeigte auf einen Sessel und setzte sich ihm gegenüber.

»Herr Seuß. Es ist jetzt Mitte April, und Sie haben in der elften Klasse schon zwanzig Tage Unterricht verpasst. Natürlich gibt es immer mal einen Schüler mit einer schweren Krankheit, eine Schülerin, die wegen eines Magen-Darm-Infekts drei, vier Wochen ausfällt und dann Mühe hat, den Anschluss zu finden. So etwas kennen wir, verstehen wir. Da helfen wir natürlich. In Ihrem Fall aber sind wir ratlos. So viele Unterbrechungen. Immer wieder einmal drei Tage.« Sie legte die Fingerspitzen aneinander. »Es gab vor Kurzem eine Besprechung im Kollegium, eine Diskussion, in der sich die Meinung durchgesetzt hat, dass unsere Schule Ihnen nicht guttut, dass Sie sich in der Nähe Ihrer Familie höchstwahrscheinlich besser entwickeln werden. Wir möchten, dass Sie sich für das nächste Schuljahr, also ab September, ein neues Gymnasium suchen und dort die zwölfte Klasse, also das Abitur, machen. Ich wollte Ihnen das persönlich sagen, bevor ich mich an Ihre«, sie langte nach einer Mappe auf dem Nachbartisch, sah hinein, »an Ihren Vater wende.«

Oliver war blass geworden.

»Was soll ich sagen? Vorletztes Jahr, da hatten Sie sich für die IMO qualifiziert. Mit vierzehn. Aber dann sind Sie kurz davor krank geworden. Deutschland hat nicht besonders gut abgeschnitten. Jetzt sind Sie nicht einmal für die Bundesrunde qualifiziert. Solche Dinge passieren. Natürlich. Das ist schade. Aber bei Ihnen, sagen einige Lehrer, passieren sie leider ständig, sodass man nicht auf Sie zählen, mit Ihnen nicht kontinuierlich arbeiten kann.«

»Ich möchte hierbleiben«, sagte er leise.

»Tja.« Die Direktorin zuckte die Schultern. »Vorletztes Jahr, da hatten Sie die Chance. Ihnen dürfte bekannt sein, dass alle sechs deutschen Teilnehmenden an der IMO automatisch in die Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen werden. Damit ist nicht nur deren Studium, sondern meist auch ihre akademische Zukunft gesichert. Dadurch hat man manchmal schon mit fünfzehn für sein Leben ausgesorgt. Natürlich würde man so einem Schüler niemals eine andere Schule empfehlen.«

»Ich …«

»Herr Seuß, für kleine Versprechungen ist es zu spät. Dass Sie mir jetzt womöglich versichern, nicht mehr so oft krank zu werden. Das bringt alles nichts. Darauf lässt sich das Lehrerkollegium nicht mehr ein. Wir haben eine lange Warteliste von begabten, fleißigen Schülern.«

»Ich könnte …«

»Wissen Sie«, schnitt sie ihm wiederum das Wort ab, »wer für Sie am meisten gekämpft hat? Ihr Mathelehrer.«

»Kobilke?«

Sie sah ihn streng an.

»Äh, Herr Kobilke?«

»Damit Sie bei uns bleiben. Obwohl er es wirklich nicht leicht mit Ihnen hat. Der hatte eine Idee. Aber gut.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Herr Seuß. Ich habe viel zu tun.«

»Was für eine?«

Die Direktorin machte Anstalten aufzustehen.

»Was für eine Idee?«, fragte Oliver verzweifelt.

Sie kniff die Augen zusammen, fixierte ihn, beugte sich nach vorn. »Im Mai, in drei Wochen, treffen sich am Mathematischen Forschungsinstitut in Oberwolfach die besten sechzehn Schüler des Landes, um die deutsche Mannschaft für die IMO im Juli zu ermitteln. Sie kennen das Prozedere ja. Kobilke sagte, wir sollten Ihnen eine letzte Chance geben. Sie würden es uns beweisen. Der«, sie schüttelte den Kopf, »traute Ihnen das zu.« Damit stand sie auf, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm sich einen Stapel Papiere.

»Ich könnte es versuchen.« Oliver stellte sich neben sie. »Ich kann das schaffen.«

Die Direktorin las weiter, schlug eine Seite um. »Ja, ja.« Sie wedelte mit der rechten Hand durch die Luft. »Sagen Sie jetzt. Weil Ihnen der Gedanke nicht behagt, von hier zurückgeschickt zu werden. Weil das wie eine Niederlage aussieht. Klar, das tut Ihnen weh. Aber in zwei Wochen tut Ihnen dann etwas anderes weh.«

»Nein.«

»Kobilke hat die anderen Lehrer bei der Besprechung nicht überzeugen können.«

»Ich werde nicht krank. Die Quali für die IMO ist nicht so schwer.«

Sie sah gleichgültig auf. »Ich bin nicht Ihre Mutter.«

Oliver taumelte zurück von dem Schreibtisch, sah zur Tür, blickte entgeistert die Direktorin an. Sein Bauch, seine Brust, sein Hals verkrampften sich, sodass kaum zu verstehen war, was er durch die Zähne presste. »Bitt … dies … Chance.«

Die Direktorin schob den Bürosessel hinter sich weg und blickte den Sechzehnjährigen ärgerlich an. »Sie haben keine Ahnung, was Sie da von mir verlangen! Auch Kobilke nicht. Die Einladungen an die sechzehn Kandidaten sind längst raus. Da soll ich jetzt für eine wirklich unerhörte, eine eigentlich unmögliche Ausnahmeregelung kämpfen und für Sie meinen Kopf hinhalten?«

Oliver presste die Kiefer aufeinander.

»Wissen Sie, wie viele Telefonate das wären? Ich müsste nacheinander mit dem Landesbeauftragten für Nachwuchsförderung in Dresden sprechen, mit dem Vorsitzenden des Vereins der Mathematik-Olympiaden, Professor Snell in Lübeck, ich müsste mit allen«, ereiferte sich die Direktorin, »mit allen Jurymitgliedern des IMO-Auswahlwettbewerbs sprechen, allen, die ich erreichen kann. Außerdem mit den Direktoren der beiden anderen Gauß-Schulen, dass die auf einen solchen Wettkampf eingehen und sich dann nicht beschweren, falls Sie wirklich einen von deren Kandidaten im Team verdrängen und mit nach Kanada fliegen. Und schließlich müsste ich auch den guten Geist in Oberwolfach überzeugen, dass der mitspielt und noch ein Zimmer für Sie herrichtet. Dr. Wendelin Müller. Kennen Sie ja. Das alles soll ich für Sie tun?«

Oliver sah sie entschlossen an. »Ich mache das.«

»Hah!« Die Direktorin schnaubte wild. »Für wen machen Sie das? Für die Schule? Vielen Dank. Das nimmt Ihnen keiner ab.«

»Für mich.« Er schluckte. »Dass ich hierbleiben kann. Bitte, Frau Dr. Wolf.«

Sie trat ans Fenster, sah hinaus.

Oliver ging langsam zur Tür.

»Na gut.« Sie verschränkte die Arme unter der Brust. »Ich werde versuchen, Sie noch auf den Zug zu setzen.«

»Danke.« Er nickte ungläubig, mit offenem Mund, aber das sah sie nicht. »Vielen Dank!«

»Eine Sache noch.«

Er sah die Silhouette der großen Frau gegen das starke Fensterlicht, einen olivgrünen Schimmer um ihren Hals, den Rock, die Beine in den hellen Strumpfhosen, die Schuhe. Ihm war übel von diesem Wechselbad der Gefühle.

»Denken Sie an den Fluss, Herr Seuß. Einige Probleme muss man nicht verstehen, um eine Lösung zu finden. Manchmal muss man nur in Bewegung bleiben, rechnen, verschiedene Techniken probieren, kombinieren. Beißen Sie sich nicht fest. Lassen Sie sich nicht aufhalten. Das Verständnis kommt vielleicht später.« Sie öffnete das Fenster, und er verließ das Zimmer.