DAS BUCH
Evangeline Tregre wünscht sich nichts mehr, als ihr altes Leben und ihre Familie hinter sich zu lassen. Als sie sich einen großen Traum erfüllt und in San Antonio ihre eigene Bäckerei eröffnet, scheint ein Neustart für die schöne Evangeline endlich möglich. Dass sie das magische Blut der Leopardenmenschen in sich trägt, versucht sie soweit es geht zu verdrängen. Und zunächst gelingt das auch ganz gut – bis zu dem Tag, an dem Alonzo Massi ihre Bäckerei betritt. Alonzo ist sinnlich, selbstbewusst und geheimnisvoll – und ebenfalls ein Leopardenmensch. Vom ersten Augenblick an ist Evangeline klar, dass sie Alonzos erotischer Ausstrahlung nichts entgegenzusetzen hat, und so lässt sie sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit ihm ein. Auch wenn sie genau weiß, dass Alonzo gefährlich für sie ist …
DIE LEOPARDENMENSCHEN-SAGA
Erster Band: Wilde Magie
Zweiter Band: Magisches Feuer
Dritter Band: Wildes Begehren
Vierter Band: Feuer der Wildnis
Fünfter Band: Dunkle Liebe
Sechster Band: Geliebte Jägerin
Siebter Band: Entfesselte Göttin
Achter Band: Ruf der Dunkelheit
DIE AUTORIN
Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als siebzig Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie unter anderem mit ihrer Schattengänger-Serie, der Leopardenmenschen-Saga und der Shadows-Serie äußerst erfolgreich.
Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:
www.christinefeehan.com
Christine Feehan
Ruf der
Dunkelheit
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Ruth Sander
Titel der amerikanischen Originalausgabe
LEOPARD’s FURY
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Deutsche Erstausgabe 06/2020
Redaktion: Sabine Kranzow
Copyright © 2016 by Christine Feehan
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von Shutterstock/George Rudy
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-26073-6
V001
www.heyne.de
Für meine wunderschöne, tapfere Enkelin Shylah.
Du stellst dich jeder Situation mit Mut und Grazie,
und ich bin sehr, sehr stolz auf Dich!
Dieses Buch ist für Dich.
Verdammt noch mal, Evangeline, du musst wieder nach Hause kommen.«
Evangeline Tregre schüttelte den Kopf und schaute sich langsam in ihrem kleinen Café um. Es florierte nicht gerade, aber es hielt sich nach wie vor über Wasser und wurde jeden Tag beliebter. Die Wände hatte sie eigenhändig gestrichen, in einem hellen Blau. Jeder Schrank, jede Vitrine, jedes noch so winzige Detail, vom Schriftzug bis hin zum Bodenbelag, war von ihr ausgewählt worden. Sie hatte die staubigen, heruntergekommenen Räumlichkeiten selbst renoviert und mit Tischen und Stühlen einladend und gemütlich eingerichtet. Sie liebte den Duft, der sie dort empfing. Jeden Morgen, wenn sie aufstand, um zu backen, freute sie sich auf den Tag. Ihr Leben »zu Hause« hatte sie gehasst.
»Dies ist mein Zuhause, Robert. Hier gefällt es mir, und ich werde nicht mehr weggehen. Der Ort, von dem du sprichst, war das nie so sehr für mich wie das hier«, erwiderte sie ruhig und leise, denn sie war daran gewöhnt, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie stritt sich nicht gern und mochte keine lautstarken Auseinandersetzungen. Und noch weniger mochte sie es, dass Robert Lanoux in ihren Laden kam, den sie sich mit so viel Mühe aufgebaut hatte, und darauf bestand, dass sie zurückkehrte. »Ich dachte eigentlich, du wärst nach Borneo gefahren, in den Regenwald.«
Sie wusste alles über Robert, obwohl sie ihm bis zu diesem Augenblick noch nie begegnet war. Er war davongejagt worden, hatte eine kurze Haftstrafe verbüßt und war einer längeren Verurteilung nur entgangen, weil er als Kronzeuge gegen seine Freunde ausgesagt hatte. Die allesamt Mörder waren. Er hatte dabei zugesehen, wie sie alte Menschen in ihren Häusern zusammengeschlagen und ausgeraubt hatten oder Stripperinnen Gewalt antaten. Er hatte zahllose Verbrechen gegen sein Rudel begangen, und ein Blick auf ihn sagte ihr, dass er an niemandem außer sich selbst interessiert war. Und Frauen verachtete.
»Die können mich mal«, fauchte Robert. »Ich lasse mich nicht von einem dahergelaufenen Außenseiter herumkommandieren, der glaubt, er könnte mich von zu Hause wegschicken. Ich sollte doch nur nach Borneo gehen, um mir eine Frau zu suchen. Da kann ich auch dich nehmen. Es macht mir nichts aus, dass du dich nicht verwandeln kannst.«
Dabei drehte sich ihr förmlich der Magen um. Evangeline atmete tief durch. Sie hatte seine Welt hinter sich gelassen und würde es nicht zulassen, dass ein jähzorniger bösartiger Leopardenmensch, der ganz sicher keine Skrupel hatte, eine Frau zu verprügeln, sich in ihr Leben einmischte.
»Die Antwort ist Nein. Ich werde niemals zurückkehren.«
»Du bist uns etwas schuldig.« Robert packte sie am Arm und riss sie an sich.
Ein Angstschauer rieselte über ihren Rücken. Sie trat einen Schritt zurück, doch er hielt sie mit eisernem Griff fest. »Lass mich los, Robert. Sofort«, zischte sie, damit er merkte, dass sie sich nicht von ihm drangsalieren lassen würde. Genauso wenig wie von jemand anderem. Nie wieder. »Ich will, dass du gehst. Das hier ist mein Laden, und ich bitte dich höflich, ihn jetzt zu verlassen.«
Die Glocke über der Tür bimmelte fröhlich, was nicht zu der Spannung im Café passte. Als sie und Robert sich umschauten, stockte Evangeline der Atem. Sie war mit gefährlichen Männern groß geworden. Verbrechern. Furchtbar heimtückischen, schrecklich grausamen Kriminellen. Sie kannte sich mit solchen Kerlen aus. Diesbezüglich hatte sie so etwas wie einen Radar. Aber den brauchte man gar nicht, um zu erkennen, dass der Mann, der gerade durch die Tür ihres Cafés kam, sehr gefährlich war. Brandgefährlich.
Er schaute sich in ihrem wunderschönen kleinen Laden um und sah jedes Detail, ließ sich aber nicht anmerken, was er davon hielt. Nichts an ihm regte sich. Weder in seinem Gesicht noch in den flachen, kalten, toten Augen. Die trotzdem wunderschön waren. Absolut faszinierend. Und unglaublich blau. Wie Gletschereis. Lange, nachtschwarze Wimpern bildeten den Rahmen für diese eisblauen Augen, doch leider zeigte sich in ihnen nicht das geringste Gefühl, nicht einmal, als ihr Blick auf Roberts Hand an ihrem Arm fiel. Absolut keins. Der Mann war lebendig. Und atmete. Möglicherweise ein Killer. Aber wenn er tötete, dann völlig emotionslos. Er hatte sie beide streiten hören. Die Art, wie er Roberts Finger ansah, mit denen er sie festhielt, verriet es ihr.
Er war sehr groß und muskelbepackt und wirkte absolut unbesiegbar. Evangeline war an Männer mit Muskeln gewöhnt, aber dieser hier war ein geübter Kämpfer. Das sah man schon daran, wie er sich bewegte – so kontrolliert und beherrscht, so geschmeidig und locker, als glitte er eher dahin, als zu gehen. Zudem machte er dabei nicht das leiseste Geräusch, seine sündhaft teuren italienischen Lederschuhe schienen den Boden gar nicht zu berühren.
Sein Anzug sah aus, als hätte er genauso viel gekostet wie die Renovierungsarbeiten am Café und als wäre er ihm auf den Leib geschneidert worden – was vermutlich sogar stimmte. Sein eisiger Blick blieb auf Roberts Fingern liegen, die sich in ihren Oberarm bohrten. Sie hatte beinah vergessen, dass Robert sie so fest umklammert hielt, doch nun wurde ihr plötzlich kalt vor Angst.
Robert schien es genauso zu gehen. Obwohl er ein Leopardenmensch war. Ein Gestaltwandler. Sie hatte gehört, er sei sehr reizbar und stark wie ein Ochse. Und habe wie die meisten Gestaltwandler nur selten vor etwas Angst. Wenn jemand ihn bedrohte, konnte sein Leopard den Gegner blitzschnell in Stücke reißen. Trotzdem ließ Robert sie endlich los und trat verstohlen einen Schritt zurück, sodass sie zwischen ihm und dem Neuankömmling stand.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Evangeline. Ihre Stimme klang anders als sonst, selbst in ihren eigenen Ohren. Ihr weicher, verlockender Cajun-Akzent war viel ausgeprägter, obwohl sie es gar nicht darauf angelegt hatte. Oder etwa doch? Jede einzelne Faser in ihrem Körper reagierte auf diesen Mann, deshalb schlug ihre Herkunft aus dem Bayou so stark durch wie noch nie. Es klang wie eine Einladung, die Nacht damit zu verbringen, unter dem Sternenhimmel über einen ruhigen Fluss zu gleiten.
Sie war nicht der Typ Frau, der mit Männern flirtete, geschweige denn sie mit so einer Stimme ansprach. Sie wusste es eigentlich besser. Sie erkannte Gefahr, wenn sie ihr gegenüberstand, und dennoch – in dem Moment, in dem dieser Fremde ihr Café betreten hatte, schien sie zum Leben erwacht zu sein. Ihr Körper hatte geschlafen, doch jetzt war er hellwach und höchst interessiert an diesem Mann aus Eis. Sie hatte ihm bereits einen Spitznamen gegeben und betrachtete ihn als ihren Eismann, auch wenn das nur ein Traum war.
Sein Blick richtete sich auf sie. Ohne einen einzigen Lidschlag schaute er sie mit seinen gletscherblauen Augen an. »Kaffee. Schwarz. Und ein Stück von Ihrem Zimtkuchen.«
Seine Stimme war tief und sonor. Aber so kalt wie seine Augen. Wie Sibirien – im tiefsten Winter. Gleichzeitig aber auch so sinnlich, dass ihr unwillkürlich ein leichter Schauer über den Rücken lief. Dann wurde ihr heiß, und tief in ihr rührte sich etwas Animalisches, Wildes, und sie verspürte den unerwarteten Drang, mit diesem inneren Feuer den Versuch zu unternehmen, das Eis dieses Mannes zu schmelzen.
Er sprach mit einem starken italienischen Akzent. Aus irgendeinem Grund überraschte sie das. Sie hatte ihn nicht für einen Italiener gehalten. Eher für einen Russen. Vielleicht weil seine Kälte sie an Sibirien erinnerte. Sie konnte das nicht aus dem Kopf bekommen. Für sie würde er immer ihr russischer Eismann sein.
Evangeline nickte und wandte sich ab, um seiner männlichen Anziehungskraft zu entgehen. Er war definitiv außerhalb ihrer Liga. Ihrer Welt. Ihres Universums. Das war kein Mann, den eine vernünftige Frau in ihrem Leben haben wollte. Mit bebenden Händen goss sie ihm Kaffee ein – ihre besondere naturreine Mischung, von der alle Kunden schwärmten. Die Zimtkuchenstücke waren großzügig bemessen, und sie richtete eins auf einem der rechteckigen Teller an, die ihr schickes goldenes Firmenlogo trugen. Das E für Evangeline war in der Mitte.
Wortlos, nur mit einem Nicken, nahm der Mann seine Bestellung entgegen. In seinen eisblauen Augen war kein Licht, kein Leben, kein Gefühl. Einfach nichts. Ganz offensichtlich fühlte er sich von ihr nicht so magisch angezogen wie sie sich von ihm. Lässig wandte er sich um, ging quer durch den Raum und drehte einen Stuhl so herum, dass er mit dem Rücken zur Wand sitzen und die gläserne Eingangstür im Auge behalten konnte. Dann zog er einen Tisch vor sich, stellte das Tablett mit dem Kaffee und dem Teller darauf ab und ging zu dem kleinen Stand, wo es die Servietten und das Besteck gab.
Evangeline atmete tief durch. Sie durfte ihn nicht so anstarren und wollte es auch gar nicht. Robert trat wieder so nah an sie heran, dass sie seinen Atem an ihrem Ohr spürte – ein Übergriff, der sie ärgerte. Der Eismann hatte ihr Interesse so gefesselt, dass sie Roberts Anwesenheit fast vergessen hatte.
»Wir sind noch nicht fertig, meine Liebe. Ich nehme dich mit zurück«, raunte er.
»Ich habe dich gebeten zu gehen«, entgegnete sie genauso leise. »Und komm bitte nicht wieder.«
Robert fauchte und bekam Katzenaugen, weil ihr Widerstand ihn reizte. Doch Evangeline blieb standhaft, obwohl ihr Herz plötzlich heftig klopfte. Sie wollte keine Angst vor ihm haben, aber das war unmöglich, wenn er so dicht neben ihr stand und sie so drohend ansah. Er wollte sie einschüchtern. Sie kannte ihn kaum, sie wusste nur, was ihre Freundin, Saria Boudreaux – inzwischen Donovon –, ihr von ihm erzählt hatte, und nichts davon war gut. Saria kannte jeden im Bayou. Robert Lanoux stammte aus einer der sieben Gestaltwandler-Familien, die Tausende Morgen Land im Sumpf gepachtet hatten.
Robert trat noch näher heran, sodass er wie ein Turm vor ihr aufragte. Dann bohrte er seine Finger wieder in ihren Arm, diesmal so hart, dass blaue Flecken zurückbleiben würden. Plötzlich gab es ein leises Geräusch, und als sie sich beide umwandten, sahen sie, dass der Eismann ein kleines Stück entfernt stand und mit seiner großen Hand, die in einem sehr teuren Lederhandschuh steckte, seine Serviette in den Mülleimer schob. Dabei schaute er Robert an, und seine Augen wirkten kälter denn je. Nur dass unter all dem blauen Eis eine Flamme zu glühen schien.
Wieder stockte Evangeline der Atem, und in ihr wurde es ganz still. Auch dieser Mann war ein Leopardenmensch. Einer, der zum Tier werden konnte. Auch wenn das fast unmöglich zu sein schien in San Antonio, weit weg von dem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Gestaltwandler waren sehr selten und sie in einer Stadt zu entdecken … höchst unwahrscheinlich, aber diese Augen verrieten ihn. Sie waren zu exotisch. Zu erschreckend. Und starr auf Robert fixiert.
»Lass. Sie. Los.« Jedes Wort klang sanft und leise. Doch die Stimme klirrte vor Kälte. Der Eismann hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Mann gerichtet, der ihr gerade wehtat.
Robert konnte diesen unheilverkündenden Blick nicht missverstehen und begriff, was ihm drohte. Leise fluchend ließ er sie los, stürmte aus dem Café und schlug die Tür hinter sich zu. Daraufhin drehte der Eismann sich um und ging zu seinem Tisch zurück.
»Vielen Dank«, sagte Evangeline matt. Sie hatte alles hinter sich gelassen und wollte nie wieder zurück. Es war ihr egal, dass dieser Mann offenbar ein Killer war. Noch dazu ein sehr viel gefährlicherer als Robert. Hauptsache, Robert war wie ein Hase vor ihm weggelaufen, obwohl sein Leopard sicher ganz wild auf einen Kampf gewesen war. Der Mann hatte sich eingemischt, obwohl er es nicht hätte tun müssen, und sie war ihm dankbar dafür. Das sollte er wissen.
Der Eismann blickte sich um und musterte sie über die breiten Schultern hinweg. Seine gletscherblauen Augen betrachteten sie von Kopf bis Fuß, dann nickte er leicht und drehte sich wieder weg.
Langsam atmete Evangeline aus und wandte sich der Aufgabe zu, das Gebäck in der Vitrine zu ordnen. Sie stand jeden Tag um drei Uhr morgens auf und buk die Kuchen und Plätzchen für den Tag, damit sie frisch waren. Sie konnte es sich nicht leisten, jemanden anzustellen, also machte sie alles allein. Backen, Kaffee kochen, abwaschen, putzen, alles, und das erfüllte sie mit Stolz. Sie kam über die Runden und schaffte es, jeden Monat ihre Rechnungen zu bezahlen, das hieß, dass sie sich ihre Unabhängigkeit bewahren konnte. Sie war fest entschlossen, es allein zu schaffen.
Wieder warf sie dem Eismann einen schnellen Blick zu. Er schien kein Interesse an ihr zu haben. Nicht das geringste. Obwohl sie angeblich gut aussah. Seit sie nach San Antonio gekommen war, hatten viele Männer heftig mit ihr geflirtet. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit all dieser Aufmerksamkeit anfangen sollte, und sie wollte sie auch nicht, aber sie hatte einsehen müssen, dass das, was Saria ihr immer wieder über ihr Aussehen gesagt hatte, vielleicht tatsächlich stimmte.
Sie war nicht ganz eins sechzig groß, also hatte sie nicht diese langen Beine, die Männer so anziehen, dafür aber üppige Kurven und eine schmale Taille, die das betonte. Ihr Haar war lang und sehr dunkel und ihre Augen grün wie Smaragde, eine ungewöhnliche Farbe, umrahmt von langen, dichten schwarzen Wimpern. Außerdem hatte sie eine wunderschöne Haut, einen sinnlichen Mund und eine kleine, gerade Nase. Alles in allem war sie also nicht schlecht anzuschauen. Aber er schaute sie nicht an.
Zum Glück begannen die Kunden einzutrudeln, sodass sie sich nicht komplett lächerlich machen konnte. Als der Mann schließlich aufstand und ging, wusste sie, dass er nicht zurückblicken würde.
In der folgenden Woche kam ihr Eismann noch dreimal. Jedes Mal probierte er etwas anderes, das er auswählte, indem er stumm mit dem Finger oder dem Kinn darauf deutete. Ihr fiel auf, dass er gern Gebäck mit Zimt nahm und Äpfel mochte. Er trank seinen Kaffee stets schwarz, und alle drei Male gab er ihr zu verstehen, dass er seine Tasse nachgefüllt haben wollte. Jedes Mal, wenn er kam, verrückte er einen Tisch, damit er mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte. Nach dem dritten Mal stellte sie seinen Tisch selber um und ließ ihn für ihn so stehen. Er bedankte sich nicht dafür, und irgendwie war sie froh darüber. Sie brauchte zwar ihre Kunden, wollte aber besser keine engere Beziehung zu ihm haben.
Sie hatte geglaubt, mit der Zeit würde er ihr weniger unheimlich und einschüchternd erscheinen, aber sie hatte sich getäuscht. Die gefährliche Aura um ihn herum flößte ihr immer mehr Angst ein. Sie sah ihn nie lachen oder lächeln. Er beachtete sie kaum, dennoch registrierte er alles, jede Bewegung, drinnen und draußen. Sie war sicher, dass er bis an die Zähne bewaffnet war, und manchmal hatte sie Sorge, dass die wenigen Polizisten, die im Laden vorbeikamen, ihm begegnen könnten und es eine Schießerei oder etwas ähnlich Schreckliches geben würde.
Zwei Monate gingen vorüber, und er kam dreimal die Woche, manchmal viermal, doch abgesehen von seiner Bestellung sagte er kein Wort. Evangeline ertappte sich dabei, dass sie auf ihn wartete. Ihn sogar anlächelte, wenn er hereinkam. Er lächelte nie zurück, doch er blieb immer länger. Inzwischen mindestens eine halbe Stunde länger als beim ersten Mal.
Im dritten Monat kamen noch mehr Männer in italienischen Anzügen. Niemals gleichzeitig mit ihrem Eismann, aber sie wusste, dass er sie zu ihr geschickt hatte. Danach schien das Geschäft besser zu laufen, als ob Kundschaft im Laden noch mehr Kundschaft anzöge. Deshalb musste sie härter arbeiten und mehr Kuchen backen, aber es machte ihr nichts aus; endlich hatte sie es geschafft.
Robert hatte sie beinah vergessen. Doch als sie an einem Donnerstagmorgen, einem Tag, an dem ihr Eismann selten kam, das Café aufschloss, wartete Robert bereits draußen auf sie. Also hatte er offenbar den Laden beobachtet, um ihre Gewohnheiten herauszufinden. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als er eintrat und das Schild an der Tür lässig von Geöffnet auf Geschlossen drehte.
Hastig griff sie nach ihrem Handy. Doch er machte einen Satz wie ein Raubtier, riss es ihr aus der Hand und schleuderte es ein Stück weit entfernt auf den Boden, sodass es in seine Einzelteile zerbrach. Evangeline holte tief Luft und kam hinter der Theke hervor, denn sie wollte nicht, dass noch mehr zu Bruch ging.
»Du Miststück«, blaffte Robert. »So leicht lasse ich dich nicht davonkommen.«
»Wovon redest du? Ich versuche doch gar nicht wegzukommen.«
»Du hast Saria erzählt, dass ich nicht im Regenwald war. Du konntest einfach dein Maul nicht halten.«
Evangeline runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich habe seit Monaten nicht mit Saria geredet. Ich hatte zu viel zu tun.« Aber sie hätte sie anrufen sollen. Sicher machte ihre Freundin sich Sorgen um sie.
Robert kam quer durch den Raum auf sie zu, und sie wusste sich nicht zu helfen. Obwohl sie beschlossen hatte, nicht nachzugeben, wich sie vor ihm zurück, bis sie fast an die Tür stieß.
»Du elende Lügnerin. Du hast versucht, mich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich wollte schon fast ein Auge zudrücken. Das Letzte, was ich will, ist eine Frau, die sich nicht verwandeln kann, aber jetzt wirst du dafür bezahlen, dass du mir Drake und die anderen auf den Hals hetzen wolltest. Also läuft es jetzt so. Bislang habe ich in einem Zimmer in der Stadt gewohnt, aber jetzt ziehe ich bei dir ein. Gib mir die Schlüssel zu deinem Haus. Und außerdem brauche ich Geld. Ich weiß, dass du welches hast, also her damit.«
»Wenn du glaubst, dass ich dich bei mir einziehen lasse, musst du verrückt sein. Alles Geld, das ich habe, habe ich selber verdient, und ich brauche es, um meine Rechnungen zu zahlen.«
Da schlug er sie mit dem Handrücken ins Gesicht. So hart, dass ihre Wange sich anfühlte, als wäre sie geplatzt. Mit Tränen in den Augen fand Evangeline sich auf dem Boden wieder. Robert war stark, unglaublich stark, und sein Leopard wollte hervorkommen. Sie sah es an seinem Blick, den grüngelben Augen, die sie drohend anstarrten.
Doch der Angriff hatte tief in ihr ein reizbares, verborgenes Wesen geweckt, das vor Wut tobte, ja raste. Die Härchen an Evangelines Armen und Beinen stellten sich auf, als ein starkes Jucken das kurz bevorstehende Erscheinen ihrer anderen Hälfte ankündigte.
Nein, Bebe, sagte Evangeline scharf. Er darf nichts von dir wissen. Lieber würde sie sich schlagen lassen, als ihre beste Freundin einem so widerlichen Artgenossen zu zeigen.
Wieder kam Robert im Schleichgang der Leoparden drohend auf sie zu. Als Evangeline versuchte aufzustehen, schlug er sie noch einmal, auf die gleiche Seite. Der Schmerz war so stark, dass ihr speiübel wurde.
Wie aus weiter Ferne hörte sie die Türglocke, und dann sah sie, die Tränen aus den Augen blinzelnd, wie Robert sich krümmte und jämmerlich grunzte. Ihr Eismann stand über ihm und drosch mit seiner großen, behandschuhten Faust gnadenlos auf ihn ein. Sie hörte, wie Roberts Rippen brachen. Dann brachte ein kurzer Kinnhaken ihn zum Taumeln, und er ging in die Knie. Sofort packte der Eismann ihn um die Taille und schleifte ihn nach draußen.
Evangeline versuchte, sich an der Wand hochzuziehen, sah dabei aber die ganze Zeit aus dem Fenster. Vor ihrem Café parkte eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben. Ein Mann im Anzug hielt eine Tür auf, während der Eismann Robert in den Wagen stieß und dann ebenfalls einstieg. Es dauerte höchstens dreißig Sekunden, bis er wieder herauskam, als wäre nichts geschehen.
Durch die offene Wagentür erhaschte sie einen Blick auf Robert, der zusammengesackt auf der Rückbank saß, den Kopf in einem seltsamen Winkel verdreht. Schaudernd sah sie zu, wie ihr Eismann kurz mit dem Fahrer sprach, ehe er die Tür zuschlug. Er wartete, bis der Wagen abfuhr, sprach danach kurz etwas in sein Handy und kam ins Café zurück.
Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Nicht ein einziges Mal. Weder als er Robert zusammengeschlagen hatte, noch als er aus dem Wagen gestiegen war. Sie war fast sicher, dass Robert tot war. Ihr Eismann hatte sich nicht die Mühe gemacht, seinen Leoparden zu rufen, damit er mit Roberts kämpfte. Sie wusste, dass das ein Zeichen von Respekt gewesen wäre, also hatte der Eismann offenbar keinen vor Robert.
»Alles in Ordnung?« Er beugte sich zu ihr herab.
So nahe roch er genauso gut, wie er aussah. Etwas Ungezähmtes lag in seinem Duft, wie ein kühler Wald, schneebedeckt im Winter. Seine Augen waren noch schöner, als sie am Anfang gedacht hatte. So kalt, dass sie ihr einen Schauer über den Rücken jagten. Und so blau, dass sie das Gefühl hatte, darin ertrinken zu können.
»Evangeline.« Sie wollte, dass er ihren Namen kannte. »Ich heiße Evangeline.«
»Ich weiß.« Sanft berührte er ihre Wange. Er trug Handschuhe, deshalb hatten sie keinen Hautkontakt, aber ihr wurde trotzdem heiß.
Woher kannte er ihren Namen? Er tauchte doch im Café nirgendwo auf. Nur das große E in ihrem Logo war ein Hinweis darauf. Sie hatte es in Schönschrift geschrieben, und der Buchstabe war sehr elegant geworden, so wie ihr Café sein sollte. Small Sweet Shoppe. Aus irgendeinem Grund hatte ihr dieser Name sehr gefallen, und das galt immer noch.
»Jetzt müssten Sie mir Ihren Namen sagen.«
Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie auf die Füße, ließ sie aber nicht los, damit sie nicht wieder hinfiel. Jenes wilde Wesen in ihr bäumte sich auf. Es reckte sich und drängte so heftig hervor, dass ihre Haut spannte und sich zu eng anfühlte, dann zog es sich langsam wieder zurück.
Wag es bloß nicht, mahnte Evangeline.
Doch sie hatte den Eindruck, dass ihre Leopardin sich über die Drohung amüsierte, ehe sie sie wieder allein ließ.
»Sie wollen doch sicher nicht, dass ich Sie weiter meinen Eismann nenne. Denn das tu ich insgeheim. Ein Name wäre besser, meinen Sie nicht?«
Ihre Wange pochte, brannte wie Feuer und schwoll offenbar an. So wie ihr Auge. Großartig. Sie würde den ganzen Tag die Fragen der Kunden beantworten müssen. Falls welche kamen. Da fiel ihr wieder ein, dass auf dem Schild an der Tür Geschlossen stand.
Die gletscherblauen Augen wanderten über ihr Gesicht, doch der Mann verzog keine Miene. So viel dazu, ihn mit ihrem Sinn für Humor und ihrem so hübsch geschwollenen Gesicht zu beeindrucken. Sie musste schrecklich aussehen. Das hatte man davon, wenn man sich etwas auf seine Haut einbildete.
»Alonzo.«
Ein Wort. Sein Name. Sie jubelte innerlich, obgleich ihr klar war, dass er nicht die Wahrheit sagte. Er hieß nicht Alonzo. Das war eine Lüge. Aber sie ließ ihn damit durchkommen, weil er sie gerade gerettet hatte.
»Lebt er noch?«, fragte sie, obwohl sie es besser wusste. So sicher, wie sie wusste, dass Alonzo nicht der wahre Name ihres Eismannes war.
»Ist das wichtig?« Er führte sie um die Theke mit ihren wunderschönen Auslagen herum zum Hinterzimmer.
War es das? Dem Gesetz nach war es falsch, jemanden zu töten. Doch die Gestaltwandler hatten ihre eigenen Gesetze. Wenn einer von ihnen die anderen aus dem Rudel in Gefahr brachte, wurde er mit dem Tod bestraft. Doch dieses Leben hatte sie hinter sich gelassen.
Als sie zu Alonzo aufschaute, entdeckte sie, dass er mit der Intensität eines Leoparden auf sie herabsah, ohne dass seine Miene sich verändert hatte. Er war kalt wie Eis.
»Hat er dir etwas bedeutet?«
Hastig schüttelte Evangeline den Kopf und bereute es augenblicklich. Ehe sie es verhindern konnte, entschlüpfte ihr ein leiser Schmerzenslaut. Sofort hob Alonzo sie hoch, als wäre er verstimmt über ihr langsames Vorankommen. In seinen Armen, eng an seine Brust gepresst, verfolgte sie das Spiel seiner kräftigen Muskeln, während er sie vorsichtig auf Händen trug. Sie spürte nicht die geringste Erschütterung, so geschmeidig war sein Gang und so fest der Griff, der sie beinahe zerdrückte.
In der Küche setzte er sie auf einen Stuhl und ging zum Kühlschrank. Sie wünschte, sie hätte etwas Hübsches angezogen, auch wenn sie nicht viele hübsche Sachen hatte. Sie hatte ihr Geld für die Anzahlung auf ein kleines Haus ausgegeben und den Rest für das Café benutzt. Jeder Cent, den sie besaß, steckte in ihrem Laden, also konnte sie sich keine schicken Klamotten kaufen. Weil sie nie mit jemandem ausging, hatte sie auch keine gebraucht – bis jetzt.
Alonzo drückte ihr einen Beutel Eis in die Hand. »Halt dir das an die Wange und antworte mir. Das erwarte ich, wenn ich eine Frage stelle.«
»Gilt das auch andersherum?«
Als Evangelines Augen seinen begegneten, erschauerte sie wieder. Der Gletscher war soeben noch kälter geworden, falls das überhaupt möglich war. »Ich habe den Mann kaum gekannt. Bei uns zu Hause hatte er einen schlechten Ruf. Ich bin ihm nie zuvor begegnet, bis er hier zur Tür reinkam. Er wollte Geld.«
»Und dich. Er wollte dich.«
Das glaubte Evangeline nicht, aber sie wollte sich nicht mit Alonzo streiten.
»Macht es dir etwas aus, dass er tot ist?«
Evangeline holte tief Luft. Eigentlich mochte sie nicht antworten, weil es kein gutes Licht auf sie werfen würde, aber Robert hätte es nicht bei einer Tracht Prügel belassen. Sie wusste, was man ihm nachsagte.
Sie hob das Kinn, schaute Alonzo direkt in die Augen und schüttelte den Kopf. »Nur, wenn das bedeutet, dass du Schwierigkeiten bekommst, weil du mich gerettet hast.«
»Er wird dich nicht mehr belästigen.« Alonzo hielt den Blickkontakt und achtete sehr genau darauf, wie sie reagierte.
Sie war vor allem erleichtert. Und schämte sich deswegen. Alonzos eisiger Blick brannte auf ihren Wangen, doch es fühlte sich gut an. »Vielen Dank. Sieht so aus, als schuldete ich dir etwas. Ich schätze, ich werde dir für den Rest deines Lebens den Zimtkuchen umsonst geben müssen.«
Alonzo sagte nichts dazu. Er lächelte nicht einmal. Evangeline seufzte und schaute in ihren Schoß. Sie sollte sich nicht nach seiner Aufmerksamkeit sehnen. Wahrscheinlich hatte er gerade einen Mann umgebracht. Sie war sich nicht ganz sicher, aber wenn es so war, hatte er es wie nebenbei und leidenschaftslos getan. Es wäre verrückt, sich von ihm angezogen zu fühlen, und dennoch … sie war es. Wobei angezogen sogar noch eine harmlose Umschreibung dafür war, was in ihr vorging, wenn sie in seine Nähe kam.
»Warum bist du hier? Donnerstags kommst du nie, deswegen hat er mir ja heute aufgelauert.«
»Sein Pech. Ich wollte ein paar Dutzend Zimt-Apfel-Plätzchen für meinen Boss kaufen und bin extra früh gekommen, weil du dann noch genug davon dahast.«
Evangeline wollte den Eisbeutel wegnehmen, doch er drückte ihre Hand wieder herunter und ließ seine große Hand auf ihrer liegen. Wie immer trug er butterweiche Handschuhe, unter denen sich mehrere Ringe abzeichneten. Große, dicke, rechteckige Ringe. Das war ihr jedes Mal aufgefallen, wenn er seinen Kaffeebecher entgegengenommen hatte. Diese Ringe machten sie genauso neugierig wie die Tattoos, die sich aus dem makellosen Anzug heraus zu seinem Nacken hochschlängelten. Aus irgendeinem Grund machten ihn diese Tattoos noch interessanter für sie. Inzwischen war sie schon zweimal aus einem Traum erwacht, in dem sie ihm diesen Anzug ausgezogen hatte, um all die schönen Dinge zu sehen, die sich darunter verbargen.
Sie spürte, wie sie rot wurde, konnte es aber nicht verhindern. »Ich muss den Laden aufmachen.«
»Du musst diesen Eisbeutel mindestens eine Viertelstunde lang aufdrücken. Dann kannst du öffnen. Deine Kunden können warten.«
Sogar seine Stimme wirkte auf sie. Sie brachte all ihre Nervenenden zum Prickeln, als gäbe es eine elektrische Spannung zwischen ihnen. Wie von ihm hervorgelockt, kam ihre Leopardin wieder hervor. Allerdings sehr langsam, so als hätte sie keine rechte Lust. Dann tauchte sie ebenso schnell wie vorher wieder ab und hinterließ einen beunruhigenden Juckreiz, der sich besonders zwischen Evangelines Beinen bemerkbar machte und sehr weit reichte. Sie würde dieses Vieh umbringen.
Hör auf, du kleines Luder. Du willst doch wohl nicht, dass er sich für uns interessiert.
Wieder hatte Evangeline den Eindruck, als amüsierte sich Bebe, ehe sie sich ganz niederlegte.
Evangeline war in eine Gestaltwandler-Familie hineingeboren worden. Ihre Brüder hatten Leoparden in sich, genau wie ihr Vater und ihr Onkel. Also war damit zu rechnen, dass es bei ihr genauso sein könnte. Saria hatte ihr erzählt, wie es sich anfühlte, wenn das Tier in einem hervorkommen wollte. Evangeline war klar, dass sie eine Leopardin in sich hatte. Sie hatte es immer gewusst. Bebe gehörte einfach zu ihr. Trotzdem hatte sie ihren Freunden und ihrer Familie nichts von ihrer anderen Hälfte erzählt. Sonst würden sie darauf bestehen, dass sie zum Rudel zurückkehrte, und das würde sie niemals tun.
»Evangeline?«
Alonzo sprach ihren Namen mit diesem Akzent aus, der ihr jedes Mal durch und durch ging. Ihr wurde ganz heiß, doch Bebe hielt still und blieb versteckt. Erleichtert stieß Evangeline den Atem aus und schaute zu Alonzo auf.
»Hat er dich noch woanders erwischt?«
Sie schüttelte den Kopf und wünschte wieder, sie hätte ihn nicht so schnell bewegt. Ihre Wange pochte, und ihr Auge tat weh. O nein. Es schwoll ebenfalls an. Na klar – wenn ihr Eismann kam, sah sie natürlich schrecklich aus.
Alonzo schaute auf seine Uhr, nahm ihr den Eisbeutel ab, warf ihn ins Spülbecken, legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. »Das wird blaue Flecken geben, die du nicht verdecken kannst, also denk dir für deine Kunden eine Geschichte aus. Mir ist aufgefallen, dass viele Männer darunter sind. Die glauben dir alles, was du erzählst.«
Erstaunt sah Evangeline ihn an. Seine Stimme war ausdruckslos, Blick und Miene eisig. Unnahbar. Uninteressiert. Leblos. Dennoch kam es ihr so vor, als wäre er ein klein wenig gereizt, so als ob der Gedanke an all diese Männer ihm nicht sonderlich gefiele.
Langsam ließ er seinen intensiven Blick an ihr heruntergleiten. Dann richtete er ihn wieder auf ihr Gesicht, nickte und wandte sich ab. Ihr Instinkt sagte ihr, dass das alles war, was sie von ihm bekommen würde. Er kaufte ihr drei Dutzend Zimt-Apfel-Plätzchen ab und blieb nicht, um Kaffee zu trinken. Ein anderer Wagen, ebenfalls eine schwarze Limousine, nur diesmal mit einer roten Zierleiste, wartete an der Ecke auf ihn.
Danach kam er wie immer, montags, mittwochs und freitags, setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf seinen Stuhl, trank seinen Kaffee und aß sein Gebäck. Inzwischen strahlte sie ihn an und begrüßte ihn mit Namen, während er nur knapp nickte und Evangeline sagte. Sie freute sich auf sein Kommen und hatte versucht, ihm seinen Zimt-Apfel-Kuchen umsonst zu geben, aber er schaute sie immer nur stumm an und schob das Geld über die Theke. Wenigstens sagte er ihren Namen. Das war ein Fortschritt, auch wenn er sechs Monate dafür gebraucht hatte.
Mehrere männliche Gäste bemerkten ihn, machten aber einen Bogen um ihn. Wenn Alonzo nicht da war, beugten sie sich über die Theke und warnten sie vor ihm. Dann zuckte sie die Schultern und sagte, er sei ein guter Kunde und bereite nie Probleme.
Eines Tages, als der Eismann wieder einmal am Tisch saß und seinen Kaffee trank, blickte er plötzlich auf und schaute aufmerksam auf den Bürgersteig vor dem Café. Sie folgte seinem Blick und erstarrte unwillkürlich. Das könnte allerdings Probleme geben. Hastig griff Evangeline in ihre Kasse, zog den Umschlag hervor, den sie dort hineingestopft hatte, und eilte zur Tür. Doch Alonzo war schneller. Er schlang einen Arm um ihre Taille, schob sie sanft, aber entschlossen hinter sich und machte zwei Männern die Tür auf, verstellte ihnen aber den Weg und hinderte sie daran einzutreten.
»Alonzo.« Einer der Männer lächelte ihn zögernd an. »Wir sind geschäftlich hier.«
Alonzo schüttelte den Kopf. Mit klopfendem Herzen klammerte Evangeline sich hinten an sein Jackett. Wenn sie diese Männer nicht bezahlte, so wie alle auf der Straße es taten, würde sie ohne ihren Laden dastehen. Diese Kerle waren während der Renovierung aufgetaucht und hatten ihr erklärt, dass sie nie mehr als nötig von ihr nehmen würden, damit ihr Laden sicher war. Sie hatte gewusst, dass das bedeutete, dass sie zahlen musste, sonst wurde ihr Geschäft abgebrannt, oder es passierte etwas ähnlich Schreckliches. Sie hatte mit anderen Ladenbesitzern gesprochen und erfahren, dass sie alle Schutzgeld bezahlten, also hatte sie die benötigte Summe bei den monatlichen Kosten einkalkuliert.
»Die sind bewaffnet«, flüsterte sie an Alonzos Rücken. »Ich habe ihr Geld schon bereit.«
»Das wird dem Boss nicht gefallen«, sagte der andere Mann, trat aber einen Schritt zurück.
»Das lasst ruhig meine Sorge sein. Ich passe auf diesen Laden auf. Wenn euer Boss ein Problem damit hat, soll er sich an mich wenden.«
Evangeline vermutete, dass sie an die Mafia zahlte. Hatte Alonzo etwas damit zu tun? Die Männer, die bei ihr abkassierten, kannten seinen Namen und hatten offenbar Angst vor ihm. Trotzdem wollte sie nicht, dass er Ärger mit einem Mafiaboss bekam.
»Ich habe das Geld«, setzte sie erneut an und versuchte, den Umschlag um Alonzo herum an die zwei Männer weiterzureichen.
Beide fielen fast hintenüber und stolperten rückwärts, während ihr Eismann sie erstaunlich sanft am Arm packte und ihre Hand an seinen Oberschenkel drückte. Doch dabei sah er nicht sie an, sondern fixierte weiterhin die zwei Männer, die sich nun hastig umdrehten und schnell abhauten.
»Wenn ich nicht bezahle, ruinieren sie mein Geschäft«, sagte Evangeline und wollte sich an Alonzo vorbeidrängen.
»Nein.« Er zog sie zurück zur Theke. »In den sechs Monaten, die ich hierherkomme, hat sich die Zahl deiner männlichen Kunden vervierfacht, und sie baggern dich ständig an. Aber du gehst nie mit einem von ihnen aus. Warum nicht?«
Das war die letzte Frage, mit der sie gerechnet hatte. Evangeline hielt den Umschlag mit dem Geld immer noch in der Hand, die er an seinen steinharten Oberschenkel presste. »Warum fragst du mich das?«
»Weil eine Frau wie du nicht allein sein sollte.«
»Eine Frau wie ich?«, wiederholte sie, während sie überlegte, was er mit dieser Frage und dieser irritierenden und zugleich alarmierenden Aussage bezweckte. Wusste er etwa, dass sie eine Leopardin in sich hatte? Was meinte er mit diesem »wie du« denn?
Vorsichtig versuchte sie, ihm ihre Hand zu entziehen. Sie konnte sie nicht an seinem warmen, kräftigen Schenkel liegen lassen, ohne körperlich zu reagieren. Ihr war schon so heiß, dass sie das Gefühl hatte, träge Lava ströme durch ihre Adern.
Doch Alonzo ließ sie nicht los. Äußerlich schien er ihren verstohlenen Befreiungsversuch nicht einmal zu bemerken, aber sie wusste es besser. Er registrierte alles. Er sah sie mit einem so eiskalten Blick an, dass sie befürchtete zu erfrieren. Nichts deutete jemals auf das heißblütige Raubtier hin, das in ihm steckte. Wäre die gefährliche Aura nicht gewesen, die ihn umgab wie eine zweite Haut, hätte sie fast vergessen können, dass er ein Gestaltwandler war.
»Ja, Evangeline, eine Frau wie du. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Das hier ist kein schlechter Stadtteil, aber zu nah an schlechten dran. Und du kommst um drei Uhr morgens hierher und arbeitest allein, bis du wieder zumachst. Du brauchst einen Mann.«
Doch ganz offensichtlich wollte er nicht dieser Mann sein. Immerhin hatte er behauptet, sie sei die schönste Frau, die er je gesehen habe. Das war doch was. Natürlich hatte er es mit dieser kalten, ausdruckslosen Stimme gesagt, doch zumindest hatte er es gedacht. Und wieder hatte sie trotz der Ausdruckslosigkeit seiner Stimme das Gefühl, dass er etwas gereizt war, als würde es ihn fürchterlich nerven, dass sie Single war.
Kämpferisch hob sie das Kinn. »Manche Frauen leben lieber allein.«
Stumm musterte Alonzo sie. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Manche sollten aber nicht allein leben.« Er ließ ihre Hand los. »Diese Kerle kommen nicht wieder. Sonst knöpfe ich sie mir vor, das wissen sie.«
Evangeline wagte es, ihn am Arm festzuhalten, als er sich abwandte. »Alonzo, es macht mir nichts aus, das Geld zu bezahlen. Ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst. Diese Typen haben sich so angehört, als würde sich jemand über dein Eingreifen ganz schön aufregen. Ich würde lieber das Geld bezahlen als dich in Schwierigkeiten bringen.«
Alonzo blieb stehen und schaute auf ihre Hand hinunter. Ihre Finger reichten nicht einmal halb um seinen Unterarm herum und konnten ihn nicht aufhalten, trotzdem hielt er inne.
»Mach dir keine Sorgen um mich, Evangeline«, sagte er und sah sie dabei an. »Ich glaube, als du gesagt hast, wenn es ein Problem gäbe, würdest du es selber lösen, hast du gemeint, dass du das Geld bezahlen würdest, aber das lasse ich nicht zu.«
Äußerst behutsam nahm er ihre Hand von seinem Arm und ging zur Tür. »Wie auch immer, du hast keine Wahl.« Er ging wie sonst auch – ohne zurückzuschauen.
In den nächsten zwei Wochen wartete Evangeline auf ihn. Der Umschlag mit dem Geld lag bereit für ihn oder für die beiden Männer, die jede Woche vorbeikamen. Doch niemand tauchte auf, und das machte ihr Sorgen. War ihm etwas zugestoßen, weil er sie verteidigt hatte? Sie konnte keinen Kontakt mit ihm aufnehmen. Sie hatte keine Ahnung, wie er mit Nachnamen hieß oder wo er arbeitete.
Auch die anderen Kunden, die in den Anzügen, die sicher von Alonzo geschickt worden waren, kamen plötzlich nicht mehr. In den Nachrichten hatte sie gehört, dass Antonio Arnotto, ein bekannter Winzer, ermordet worden war. Es ging das Gerücht, dass er in Wahrheit ein Verbrecherboss gewesen sei und sein Revier nun sehr leicht von anderen Clans übernommen werden könnte. Die Spekulationen über einen Verteilungskrieg im Milieu begannen mit verschiedenen Gesichtern, die auf dem Fernsehschirm auftauchten. Evangeline sah genau hin, aber keins davon war Alonzos.
Eine weitere Woche ging vorüber, und er kam immer noch nicht. Inzwischen war sie ziemlich sicher, dass er nie wiederkommen würde, deshalb dachte sie über jede Kleinigkeit nach, die sie getan oder gesagt hatte. Sie hatte ihn berührt. Wider besseres Wissen. Und er war ein Einzelgänger. Ein Eisblock. Ohne Leben. Ohne Gefühl – sie hatte eine Grenze überschritten.
Sie konnte nicht mehr richtig schlafen, denn dann träumte sie, dass er erschossen worden war. Verprügelt und danach erstochen. Lebendig in Zement begraben. Am Ende hatte sie Angst, die Augen zuzumachen. Das Geschäft lief prächtig, aber ohne ihn war es irgendwie nicht mehr dasselbe. Zu Hause und bei der Arbeit ließ sie ständig die Nachrichten laufen. In der fünften Woche sah sie endlich ein Bild von ihm im Fernsehen. Er stand neben einem anderen bekannten Verbrecherboss, Elijah Lospostos, und dessen Frau Siena. Siena war die Enkelin von Antonio Arnotto. Alonzo Massi hatte für ihren Großvater gearbeitet, und nun arbeitete er für sie. Der Nachrichtensprecher mutmaßte, ob Alonzo Massi derjenige war, der zum neuen Don aufsteigen und das Arnotto-Gebiet übernehmen könnte.
Wenigstens wusste sie jetzt, dass er noch lebte. Aber auch, dass er nicht wiederkommen würde. Denn Siena Arnotto Lospostos war wunderschön. Mit so einer Frau konnte sie nicht konkurrieren, auch wenn ihr Eismann sie als die schönste Frau der Welt bezeichnet hatte. Siena war zwar verheiratet, aber wie sollte Alonzo sie im Vergleich mit dieser Frau schön finden? Ob er Sienas Leibwächter war? Er arbeitete für sie. Was sollte das heißen? Wahrscheinlich, dass er nicht wiederkäme. Ja, so musste es sein.