Alex Bell
Aus dem Englischen
von Sabine Reinhardus
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Deutsche Erstausgabe August 2020
Text © Alex Bell, 2019
The right of Alex Bell to be identified as the author of this work has been asserted by her in accordance with the Copyright,
Designs and Patents Act, 1988.
© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Music and Malice in Hurricane Town« bei Stripes Publishing Ltd,
an imprint of the Little Tiger Group, London.
Aus dem Englischen von Sabine Reinhardus
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München
Umschlagmotive © Shutterstock (Oleksandr Grechin, NataliaKo (5x), grmarc, sergio34, Wiktoria Matynia)
kk · Herstellung: AS
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24926-7
V001
www.cbj-verlag.de
Für meine Eltern,
dafür, dass sie mich
nach New Orleans mitgenommen haben,
als ich es am nötigsten hatte.
Ich hoffe, wir stehen eines Tages wieder
zusammen auf der Bourbon Street.
»Bist du Jude Lomax?«
Jude spuckte eine Portion Blut auf das Kopfsteinpflaster und blinzelte zu dem verwahrlosten Jungen hoch.
»Wer will das wissen?«, knurrte sie. Vorsichtig befühlte sie ihren Zahn mit der Zunge. Er wackelte.
»Benny schickt mich«, sagte der Junge und schwenkte einen Briefumschlag. »Ich soll mich nach einer Rothaarigen umsehen, hat er gesagt. Und dass sie sich wahrscheinlich entweder gerade prügelt oder schon irgendwo im Rinnstein liegt.«
Jude verzog das Gesicht. Sie war absolut nicht in Stimmung für Schlaumeier. »Gib mir die Nachricht und verzieh dich«, schnauzte sie.
Der Junge zuckte die Achseln, ließ den Umschlag einfach auf das schmutzige Kopfsteinpflaster fallen, drehte sich um und verschwand. Mühsam setzte Jude sich auf und lehnte sich an die nächstbeste Mauer. Es roch, als hätte jemand hingepinkelt, aber sie rümpfte nicht einmal die Nase. Jede einzelne Stelle an ihrem Körper tat weh, die Rippen, der Kopf, die Schultern – und ihre Seele übrigens auch. Von der Schnittwunde an ihrer Stirn tropfte Blut in ihre Augen, jeder Atemzug schmerzte höllisch, und außerdem war ihr übel. Was für ein beschissener Morgen. Überhaupt ein beschissenes Leben, alles in allem.
Mit einem vorsichtigen Rundumblick vergewisserte sie sich, dass Sidney Blues Sampson tatsächlich verschwunden war und nicht etwa noch mal auftauchte, um ihr weitere Tritte zu verpassen. Aber sie konnte ihn nirgends sehen. Anscheinend hatte ihr Vermieter sich verzogen, nachdem er sie großzügig mit Drohungen überschüttet und Stiefeltritten eingedeckt hatte.
Am Abend zuvor hatte Jude wie üblich ihren Trompetenkoffer unter den Arm geklemmt und sich auf den Weg nach Moonfleet Manor gemacht, wo sie einmal in der Woche spielte. Aber an der Türe wurde sie abgewiesen. Der Meister hatte einen schlechten Tag, erklärte Paris mit dem gewohnt höhnischen Grinsen auf den perfekt geformten Lippen.
Jude war das Herz bis in die Stiefel gerutscht. Sie hatte fest mit dieser Gage gerechnet, und jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als rasch noch irgendeine andere Arbeit zu finden. Also klapperte sie alles ab: jeden Jazz Club, jede Spelunke im Hurricane Quarter, jede Kneipe und jede miese Kaschemme im Meatpacking District, jeden Nachtclub und jede Spielhölle im Ruby Quarter der Vampire, jedes Dampfboot und jedes Vergnügungsschiff, das am Paradise Pier lag. Aber eine Trompetenspielerin war an diesem Abend nicht gefragt.
Als sie auf dem Rückweg den Cadence Square überquerte, war ihr Blick auf einen Teller Congri – mit Reis gemischte Schwarzaugenbohnen – gefallen, der dort in einem Kreis aus Silbermünzen unter den Platanen stand. Bei diesem Anblick hatte ihr Magen sich deutlich gemeldet, und ihre Finger hatten gezuckt, als wollten sie nach dem Geld greifen, aber Jude war stur weitermarschiert, ohne etwas anzurühren, wie jeder vernünftige Mensch in Baton Noir. Alle wussten, dass nur ein Cajou-Zauberer Essen und Münzen dort abgestellt haben konnte – Cajou, jene seltsame, dunkle, mächtige Magie, vor der man sich hüten musste. Dieses Geld oder das Essen zu nehmen, kam der stummen Einladung gleich, alle nur denkbaren Katastrophen in sein eigenes Leben hereinzubitten.
Als sie frühmorgens endlich nach Hause gekommen war, hatte ihr Vermieter bereits auf sie gewartet. Und er war absolut nicht in der Stimmung gewesen, sich anzuhören, warum sie mit der Miete im Rückstand war. Ganz und gar nicht.
Als sich ihr endlich nicht mehr alles vor Augen drehte, hob Jude den Briefumschlag auf, den der Junge ihr vor die Füße geworfen hatte. Sie zog den Brief heraus, überflog ihn hastig und ihre Laune hob sich mit einem Schlag. Die Done & Dusted Band wurde darin gebeten, bei einer Jazz-Trauerfeier zu spielen. Das bedeutete Arbeit, einen Scheck und nicht krankenhausreif geschlagen zu werden, weil man mit der Zahlung im Verzug war. Als Jude den gesamten Brief auf der Suche nach Einzelheiten überflog, verflüchtigte sich ihre Hochstimmung allerdings schlagartig. Die Beerdigung fand heute statt, genauer gesagt, jetzt gleich. In diesem Teil der Stadt gab es keine Kanäle, daher war eine Fahrt mit dem Sumpfgleiter ausgeschlossen. Sie würde durch halb Baton Noir rennen müssen, falls sie es überhaupt noch rechtzeitig schaffen wollte, und das ausgerechnet jetzt, wo es mehr als fraglich war, ob sie überhaupt bis zu ihrer Haustür humpeln konnte.
Sie ächzte und biss die Zähne zusammen. Was blieb ihr schon übrig. Diesen Job durfte sie auf keinen Fall verpassen. Jazz-Trauerfeiern wurden nur für wichtige und besonders vornehme Bewohner von Baton Noir ausgerichtet, und wer konnte schon wissen, wie lange es dauerte, bis der nächste von ihnen ins Gras biss.
Sie rappelte sich mühsam hoch und eilte die Treppe hinauf in ihre winzige Wohnung. Glücklicherweise schlief ihr Vater noch, und sie konnte sich ungestört und in Rekordzeit umziehen, ihre Trompete schnappen und wieder zur Tür hinausrennen. Aber obwohl sie es so eilig hatte, blieb sie an der Haustür stehen und rieb die Eingangsstufen mit Ziegelstaub ein, der ausschließlich zu diesem Zweck in einem Eimer neben der Tür aufbewahrt wurde. Angeblich ließen sich dadurch Flüche und Verwünschungen abwehren, die irgendjemand auf das Haus und seine Bewohner ausgesprochen hatte. Jude wusste nicht so recht, ob sie das tatsächlich glauben sollte, rieb aber trotz ihrer Zweifel die Stufen jeden Morgen mit dem rötlichen Staub ein. Sogar an einem Tag wie heute, wo es auf jede Sekunde ankam.
Dann ging es nur noch darum, so schnell wie möglich zu rennen. Es war mörderisch heiß, und sie spürte, wie sich der Schweiß zwischen ihren Schulterblättern auf dem Rücken ihres Hemdes abzeichnete. Die blaue Band-Uniform war in der sengenden Hitze steif und unbequem. Die schwarze Schirmmütze im Militärstil rutschte ihr ständig über die Augen, ihre Fliege saß völlig schief, und die Herrenschnürschuhe scheuerten an ihrem rechten Knöchel.
Aber sie durfte jetzt nicht langsamer werden oder kurz verschnaufen, sonst kam sie zur spät zur Beerdigung. Sie musste sich durch den Schmerz hindurchkämpfen, ganz einfach. Sie würde es, verdammt noch mal, rechtzeitig zu diesem Auftritt schaffen, und wenn es sie umbrachte! Sie dachte an alles, was sie wütend machte, und schaffte es so, noch schneller zu laufen.
»Jude, du musst irgendwie diese ständige Wut in dir loswerden«, sagte ihr bester Freund Sharkey immer. »Sonst braut sich da mächtig was zusammen. Am Schluss bringt es dich womöglich noch um.«
Jude wusste, wie zerstörerisch diese Wut war, aber manchmal fühlte sie sich an wie ein wildes Tier, das sie einfach nicht in den Griff bekam, sosehr sie sich auch anstrengte. Manchmal war die Wut aber auch wie ein Freund und half ihr dabei, über sich hinauszuwachsen, wenn sie eigentlich nicht mehr konnte. Mit stampfenden Schritten und schweißnassem Rücken lief sie weiter und war froh darüber, dass die Wut ihr Energie verlieh. Sobald sie Musik hörte, wusste sie, dass sie das Hurricane Quarter erreicht hatte. In diesem Stadtteil wurde Tag und Nacht Jazzmusik gespielt, drang durch die Türen der Clubs und Spelunken. Aus allen Musikboxen und auf Plattenspielern tönte Jazzmusik, kam kratzend und knisternd aus den Radios der Friseursalons und Schuhputzerstände. Abgestandener Rumdunst hing in der Luft, in den fettigen Pfannen der Hotdog-Karren brutzelten Zwiebeln, es roch nach billigem Parfüm und Austernfässern, die zu lange in der sengenden Sonne gestanden hatten.
Jude fand es einfach großartig. Sie mochte jeden Pflasterstein, jede krumme Holzplanke, jeden schmiedeeisernen Balkon, jedes verwinkelte Gässchen, jeden Hotdog-Karren, jeden Blumenkübel, jede Leuchtreklame und jeden Laternenpfahl. Die Cajou-Magie hatte Baton Noir zwar in eine zwielichtige und korrupte Stadt verwandelt, aber was Jude betraf, gab es nach wie vor keinen schöneren Ort auf der Welt.
Endlich stürmte sie um die Ecke und war im Hauptquartier der Done & Dusted Brass Band angekommen. Sie war halb verhungert und hatte insgeheim gehofft, ihr würden noch ein paar Minuten für einen blitzschnellen Küchenbesuch bleiben, um sich mit einer Tasse dampfendem Malzkaffee und einem mit Zucker bestreuten Krapfen zu stärken, aber die Beerdigung fing schon an. Alle hatten sich in Reihen vor dem Sarg aufgestellt, der auf einem schwarzen, auf Hochglanz polierten Kutschwagen lag. Wie in Baton Noir üblich waren vor die Kutsche keine Pferde gespannt, sondern man hatte an der Vorderseite ein langes Seil befestigt, an dem vier starke Männer den Wagen ziehen würden.
Jude war offenbar nicht als Einzige zu spät gekommen. Eine ganze Menge der Bandmitglieder fehlte. Aber zumindest war Sharkey da und wie immer mit Cajou-Charms übersät. Er trug sie als Anhänger an Halsketten, als Anstecker am Vorderteil seiner Banduniform, und sie baumelten an Armbändern um seine dünnen Handgelenke. Sharkeys Haut war beinahe schwarz, und er hatte so auffällig hohe Wangenknochen, dass immer mindestens drei Mädchen gleichzeitig hinter ihm her waren. Jude gehörte nicht dazu (selbst wenn ihr Ex-Freund da anderer Meinung gewesen war). Sie kannte Sharkey oder Kerwin, wie er damals noch hieß, seit ihrer Kindheit. Er war zwei Jahre älter als Jude und wie ein großer, gelegentlich etwas nerviger Bruder für sie.
Obwohl Sharkey genauso arm war wie sie selbst, hatten seine Bewegungen etwas Vornehmes; seine braunen Augen blickten seelenvoll und die gerade Nase wirkte irgendwie edel. Seine Familie wohnte schon so lange in Baton Noir, dass sogar Sharkeys Akzent von Gumbo, der lokalen Spezialität, durchtränkt zu sein schien. Er spielte Saxofon in der Reihe hinter ihr, und Jude hob grüßend die Hand, als sie noch etwas atemlos ihren Platz einnahm.
»Bisschen spät dran, hm, Darling?«, stellte Sharkey fest und hob eine Braue. Er musterte sie kurz und runzelte die Stirn. »Es ist ja nicht mal Mittag. Ziemlich früh für eine Prügelei, oder?«
»Ich hab mich nicht geprügelt«, gab Jude noch etwas atemlos zurück. »Zumindest nicht heute.«
Sharkey sah sie skeptisch an, und Jude konnte es ihm nicht verübeln. Sie geriet ziemlich häufig in Schlägereien, die sie häufig selbst anzettelte. Das war in Baton Noir nicht weiter schwierig. Sich mit jemandem zu prügeln, kam Jude manchmal wie die einzige Möglichkeit vor, ihre Gedanken und Sorgen auszublenden, und sei es auch nur für kurze Zeit.
»Ehrlich«, sagte Jude. »Ich kann nichts dafür. Mein Vermieter hat mir Prügel verpasst.«
Sharkeys Augen wurden schmal. »Alles in Ordnung mit dir?«
Jude zuckte die Achseln. »Mir ging’s schon mal besser. Warum sind wir eigentlich nur so wenige?«
»Ein paar haben abgesagt. Die wollten das Risiko lieber nicht eingehen, nicht mal mit Gefahrenzulage.«
Jude blickte ihn fragend an. »Gefahrenzulage?«, wiederholte sie erstaunt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wer wird denn hier beerdigt?«
Sharkey war sichtlich überrascht. »Das weißt du nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. So genau hatte sie den Brief in der Eile nicht gelesen.
Ihr Freund beugte sich zu ihr, was seine Charms zum Klingeln brachte. »Die Cajou-Queen«, raunte er.
»Ivory Monette?«
Sharkey nickte. »Sie wurde gestern Abend umgebracht.«
Jude riss die Augen auf. Ivory Monette gehörte zu den einflussreichsten Persönlichkeiten und mächtigsten Zauberinnen der Stadt. Sie war unantastbar, zumindest hatte Jude das bisher geglaubt. Sie hatte Ivory Monette immer mal wieder in Moonfleet Manor gesehen.
»Wo ist es denn passiert?«, wollte sie wissen.
»Im Blue Lady.«
So hieß ein Jazz Club am Moonshine Boulevard, der berühmt für starke Cocktails, gefährliche Kundschaft und richtig guten Jazz war.
»Die Leute sagen, dass ihr letzter Gang kein ruhiger sein wird«, fuhr Sharkey fort. »Deswegen ist die Hälfte der Band nicht aufgetaucht.«
Jude schnaubte. »Angsthasen.«
Die Macht einer lebendigen Cajou-Queen durfte man nicht unterschätzen, aber eine tote Queen war nur ein Stück Fleisch wie jeder andere Verstorbene auch, fand jedenfalls Jude. Als sie Sharkey ihre Ansicht mitteilte, schüttelte er den Kopf. »Da wär ich mir nicht so sicher.«
Wie die meisten Einwohner von Baton Noir glaubte er fest an die Macht des Cajou. Vor zwei Jahre hatte er seine heiß geliebten, mit Strass besetzten Sockenhalter, ein Erbstück seines Onkels, ins Pfandhaus getragen und sich für den Erlös einen mächtigen Zauber gekauft, der ihn zu einem besseren Musiker machen sollte. Seitdem war er als Einziger in der Band in der Lage, das teuflisch schwere Jazzstück Sharkbite Sally zu spielen – und verdankte diesem Umstand seinen Spitznamen.
Unglücklicherweise gehörte Judes Ex-Freund Leeroy Lamar zu den wenigen Bandmitgliedern, die gekommen waren. Leeroy war Drummer, ein selbstgefälliger, hübscher Typ mit blasser Haut und grausamen Augen, und der einzige Junge, mit dem Jude je zusammen gewesen war. Ihre Beziehung war von Anfang an toxisch und ungesund gewesen und so katastrophal verlaufen, dass Jude die Lust auf Beziehungen erst einmal gründlich vergangen war. Manchmal hörte sie sogar noch seine Stimme in ihrem Kopf, hörte Worte, die sich ihr tief unter die Haut gefressen und bis ins Mark gebohrt hatten. Sie hatte erst allmählich erkannt, dass das, was sie zuerst für Liebe und Fürsorge gehalten hatte, tatsächlich nichts anderes war als Leeroys eiserne Entschlossenheit, ihr Leben bis ins Kleinste zu kontrollieren.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, hatte er an jenem letzten Abend gezischt. Sein Atem stank nach abgestandenem Bier, seine Finger umschlossen ihre Arme wie Schraubzwingen.
Wenn sie ihn jetzt sah, wurde ihr immer übel, aber solange sie in der Band blieb, konnte sie ihm nicht aus dem Weg gehen. Und in der Band bleiben wollte sie unbedingt. Lieber sterben, als ihm diesen Gefallen zu tun.
Als Leeroy sie sah, beugte er sich zu seinem Freund Ollie und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Beide waren in einem noblen Krankenhaus des Fountain Districts angestellt. Leeroys Kommentar hatte Ollie zum Lachen gebracht, und jetzt blickten die zwei feixend zu Jude hinüber. Sie starrte grimmig zurück, hasste Leeroy, hasste, wie er es immer wieder fertigbrachte, dass sie sich so wertlos und klein vorkam, hasste seine Grausamkeit, mit der er sie innerlich ausgehöhlt und ihr auch noch das letzte bisschen Selbstvertrauen genommen hatte.
Leeroy drehte sich um und raunte Ollie wieder etwas zu. Diesmal wieherten beide los. Jude lief rot an. Wahrscheinlich hatte Leeroy gerade eine besonders derbe anzügliche Bemerkung über sie gemacht. Wie hatte sie es nur zulassen können, dass er sie je nackt gesehen hatte? Was hatte sie überhaupt in diesem Typ gesehen? Wie hatte sie nur so unglaublich bescheuert sein können?
Sharkey, in der Reihe hinter ihr, lehnte sich vor und sagte in seiner typischen gedehnten Sprechweise zu den beiden: »Hört mal, ihr zwei, mir ist klar, dass ihr nicht mehr Niveau habt als ’ne Dose Bohnen, aber wenn ihr nicht gleich mit dem dämlichen Gekicher aufhört, gibt’s einen saftigen Stiefeltritt von mir persönlich.«
Leeroy und Ollie verstummten schlagartig. Es war allgemein bekannt, dass Sharkey boxte, wenn er nicht in der Band spielte, und außerdem jeden Kampf gewann, obwohl er so lang und schlaksig und obendrein ein netter Kerl war. Womöglich war da auch irgendein Cajou-Zauber im Spiel, aber in jedem Fall hüteten sich alle, mit ihm aneinanderzugeraten. Leeroy und Ollie machten ein finsteres Gesicht, wandten sich jedoch wortlos wieder um.
Jude warf Sharkey einen dankbaren Blick zu und kurz darauf gab der Bandleader das Zeichen zum Aufbruch. Obwohl die Band mit weniger Leuten antrat, gaben die Musiker ihr Bestes, und der Jazz-Trauerzug schob sich lärmend und ausgelassen durch den Hurricane Quarter. Zuerst kam die Brass Band, dann der Sarg und zum Schluss die Trauernden. Wie üblich drängten sich viele Zuschauer auf den Bürgersteigen, um der Prozession zuzusehen, aber irgendetwas war dieses Mal anders als sonst bei Beerdigungen.
Normalerweise tanzten und sangen die Zuschauer und riefen einander zu. Bei Jazz-Trauerfeiern ging es lebhaft, beschwingt und freudig zu. Heute jedoch standen die Zuschauer nur still dabei und starrten mit düsterer Miene auf den Sarg.
Eine merkwürdige Anspannung lag in der Luft, wie die zu stark gespannten Saiten einer Violine. Man meinte fast, das schrille Quietschen unmittelbar vor dem Zerreißen zu hören. Vermutlich hatte Ivory Monette keinen Mangel an Feinden gehabt, dachte Jude. Bestimmt war sie nicht grundlos ermordet worden. Es war allgemein bekannt, dass sie nicht nur mit Liebestränken und Glücksbringern, sondern auch mit schwarzer Magie, Hexereien und Flüchen Geschäfte gemacht hatte.
Einige Zuschauer trugen einen rubinroten Kronen-Charm als Anhänger. Er war das Mitgliedszeichen des sogenannten magischen Adels. Äußerlich ließen sich dessen Mitglieder nur schwer einordnen, bis auf die Vampire, die im Schatten der schmiedeeisernen Balkone lauerten und leicht zu erkennen waren. Ansonsten konnten sie alles Mögliche sein – Hexendoktoren, Cajou-Priester, Beschwörer, sogar Abkömmlinge, in deren Adern noch das echte Legba-Blut der Cajou-Geister floss.
Einige der Zuschauer kannte Jude. Dort drüben stand Doktor Herman, ein berühmter Hexendoktor, die lange Mähne in kunstvollen Knoten hochgesteckt. Zwischen den Knoten trug er seine vielen Gris-Gris – kleine, mit Pülverchen gefüllte Beutel, – sowie getrocknete Eidechsen, Tierknochen und sogar einen winzigen Eulenkopf. Er war dafür bekannt, dass er den Eulenkopf auf Leute zu werfen pflegte, die ihm missfielen, daher marschierte Jude möglichst zügig an ihm vorüber.
Sie gingen die Straße entlang und jeder Schritt fiel Jude zunehmend schwer. Die Hitze war mörderisch – ihr Hemdkragen schien sie regelrecht zu würgen. Ihr Magen knurrte, und sie fühlte sich schwach und dünn wie ein Bleistiftstrich, der allmählich ausradiert wird. Als sie in Richtung Cadence Square abbogen, wo sich der Markt befand, nahm ihre Schwäche noch zu. In der feuchten Luft roch es betäubend nach Pekannüssen und klebrigen, goldfarbenen, köstlichen Pralinen, gefüllt mit Kokosnüssen und karamellisiertem Popcorn.
Judes Wut hatte sie vorangetrieben. Jetzt erlosch sie mit einem Mal wie ein Feuerwerk, das alle Farben und Funken versprüht hat und sich in einer dünnen Rauchspur auflöst. Schweiß tropfte ihr in die Augen und sie nahm ihre Umgebung nur noch verschwommen wahr. Der Boden schwankte, und ihre Beine verloren jede Kraft. Alles wurde plötzlich ganz langsam, dehnte sich wie geschmolzener Teer, und Jude sank auf die Knie.
Sofort war Sharkey neben ihr und zog sie am Kragen hoch. Er schob sie neben sich in die Reihe und hielt ihr den Arm als Stütze hin.
»Hast du heute schon was gegessen, Jude?«, fragte er und beugte sich dicht zu ihr, um die Musik zu übertönen.
Jude schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht. Sie konnte nicht mehr klar denken.
»Du hättest mich ja vielleicht mal um Hilfe bitten können«, schnauzte Sharkey. »Was meinst du, schaffst du es noch bis zum Friedhof? Wenn du irgendwie durchhältst, kriegst du zumindest dein Geld. Ist ja nicht mehr weit.«
Jude nickte. Das Geld brauchte sie unbedingt. Sie musste einfach durchhalten.
Sie konnte nicht einmal mehr sprechen, und die Trompete baumelte an ihrer Hand. Genauso saft- und kraftlos wie Jude selbst, die völlig am Ende war.
Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie den St.-Clémence-Friedhof erreicht hatten, wo Ivory Monette im Grab der Familie zur letzten Ruhe gebettet werden sollte. Das Tor am Friedhofseingang war bereits zu sehen. An dem schmiedeeisernen, drei Meter hohen Doppeltor hing ein dichter Teppich aus Gris-Gris-Beuteln, Charms und Cajou-Puppen. Die Gaben sollten das Böse abhalten oder die Toten zum Schweigen bringen, oder es waren Geschenke, mit denen man die Geister freundlich stimmen wollte. Sie hatten allesamt unterschiedliche Formen, Größen und Farben: ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Hexerei und Cajou. Jude seufzte erleichtert auf. Sie waren beinahe am Ziel angelangt.
Doch als der Bandleader am Anfang der Prozession durch das Tor schritt, ertönte ein scheußlicher, markerschütternder Schrei. Er durchschnitt die Musik wie ein Messer, die Musiker blieben zögernd stehen und verstummten allmählich, bis schließlich nichts mehr zu hören war außer diesem Schrei, krank, verzehrt von Qual und Wut, ein flammendes Inferno des Hasses.
»Um Himmels willen, wo kommt das denn her?«, stieß jemand hervor.
Alle blickten sich auf der Suche nach einem Schuldigen um. Die meisten wandten sich sofort dem Kutschwagen zu, als sei Ivory Monette noch gar nicht tot, sondern mit einem Mal in ihrem mit Samt ausgeschlagenen Gefängnis erwacht. Aber der Schrei kam nicht aus dem Sarg. Er kam vom Tor.
»Da drüben!«, schrie Sharkey.
Die Blicke der Trauernden folgten der Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers. Er wies auf eine am Tor befestigte Puppe, unverkennbar ein Abbild von Ivory Monette selbst. Die Puppe war etwa so groß wie Judes Hand und aus einem mit bunten Perlen und Knöpfen verzierten Stoffbeutel zusammengenäht. Um den Kopf hatte sie mehrere farbige Turbane gewickelt, sie trug einen langen, fließenden Rock und in den Ohren große Kreolen. Normalerweise hatten Cajou-Puppen keine Hände, sondern nur unförmige Klumpen, doch diese Puppe hatte sogar Finger, an denen Dutzende winzige Ringe funkelten. Dass jeder diese Puppe sofort als Abbild von Ivory Monette erkannte, lag jedoch vor allem an der großen weißen Schlange auf ihren Schultern.
Die Frauen der Familie Monette waren seit Generationen Cajou-Queens in Baton Noir. Alljährlich zum Fest der Cajou-Nacht wählte ein magisches Schlangenpaar – es hieß, die beiden seien Geschöpfe der Geisterwelt und die irdischen Vertreter von Daa, dem Schlangengott und Himmelsvater, der einst die Welt erschaffen hatte – eine Einwohnerin der Stadt zur Queen. Obwohl Daa sich bereits vor langer Zeit aus der Welt zurückgezogen und den Legba die Herrschaft überlassen hatte, ernannte er nach wie vor ein menschliches Wesen zur Queen; nach ihrer Krönung durfte sie unmittelbar mit den Legba kommunizieren.
Für gewöhnlich hatte eine Cajou-Queen das Amt ihr Leben lang inne, und genauso war es auch im Fall von Ivory gewesen. Die Zeremonie in der Cajou-Nacht war eine reine Formsache. Ivory hatte das Schlangenpaar besessen, bis die schwarze Schlange vor zwanzig Jahren auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Seit Jude sich erinnern konnte, hatte Ivory sich nur mit einer Schlange in der Öffentlichkeit gezeigt, einer über drei Meter langen Albinopython namens Beau. Genau diese Schlange wand sich um die Schultern der Puppe.
Cajou-Puppen waren unbelebte Objekte. Das wusste jeder. Sie führten kein eigenes Leben. Nichtsdestotrotz hing diese Puppe von Ivory Monette dort oben mit hervorquellenden Augen am Tor und aus ihrer Kehle ertönte ein lauter, durchdringender und sehr lebendig klingender Schrei.
Erschrocken murmelnd wichen die Trauernden vom Friedhofstor zurück und entfernten sich so weit wie möglich von dieser seltsamen, dunklen Magie.
»Was machen wir jetzt?«, fragte einer der Musiker.
»Wir gehen weiter!«, rief Benny, der Bandleader, von der Spitze des Zuges.
Er drehte sich um und stapfte entschlossen durchs Tor, geradewegs an der schreienden Puppe vorbei. Ein kurzes Zögern, dann spielte auch die Band wieder weiter und folgte ihm. Die Musik übertönte zwar die grässlichen Schreie, aber sie waren immer noch vernehmbar.
Als Jude neben Sharkey durch das Tor marschierte, bemerkte sie, dass die Augen der Puppe aus aufgenähten, leuchtend grünen Knöpfen bestanden. Als sich ihr Blick mit dem der Puppe kreuzte, schienen die Knopfaugen größer und größer zu werden, bis Jude nur noch in diese Augen sah, die ihr gesamtes Blickfeld ausfüllten. Alles andere verschwand, der Friedhof, die Band, die Puppe, die Tore – die ganze Welt löste sich einfach auf wie Nebel, bis nur noch Jude und die Puppe zurückblieben und sich anstarrten.
Dann endlich klappte der Mund der Puppe zu und ihr Schrei verstummte abrupt.