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IMMANUEL KANT

Kritik der reinen
Vernunft

Vollständige Ausgabe
nach der zweiten, hin und wieder
verbesserten Auflage 1787

vermehrt um die Vorrede zur
ersten Auflage 1781

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Orthographie und Interpunktion folgen der zweiten Auflage
(vgl. Akademie-Textausgabe Kants gesammelte Schriften.
Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Band III, Berlin 1904/11. Unveränderter photomechanischer Abdruck
bei Walter de Gruyter & Co., Berlin 1968 u. ö.).
Sämtliche Textauszeichnungen im Fließtext wurden übernommen
(gesperrt und Antiqua zu kursiv, halbfett zu halbfett).

© 2011 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-7306-9045-1
V002
www.anacondaverlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Vorrede zur ersten Auflage

Vorrede zur zweiten Auflage

EINLEITUNG

I.

Von dem Unterschiede der reinen und empirischen Erkenntniß

II.

Wir sind im Besitze gewisser Erkenntnisse a priori, und selbst der gemeine Verstand ist niemals ohne solche

III.

Die Philosophie bedarf einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit, die Principien und den Umfang aller Erkenntnisse a priori bestimme

IV.

Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urtheile

V.

In allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft sind synthetische Urtheile a priori als Principien enthalten

VI.

Allgemeine Aufgabe der reinen Vernunft

VII.

Idee und Eintheilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft

I.
TRANSSCENDENTALE
ELEMENTARLEHRE

Erster Theil. Die transscendentale Ästhetik

§ 1

Erster Abschnitt. Von dem Raume. §§ 2, 3

Zweiter Abschnitt. Von der Zeit. §§ 4–7

Allgemeine Anmerkungen zur transscendentale Ästhetik. § 8

Beschluß der transscendentalen Ästhetik

Zweiter Theil. Die transscendentale Logik

Einleitung. Idee einer transscendentalen Logik

I.

Von der Logik überhaupt

II.

Von der transscendentalen Logik

III.

Von der Eintheilung der allgemeinen Logik in Analytik und Dialektik

IV.

Von der Eintheilung der transscendentalen Logik in die transscendentale Analytik und Dialektik

Erste Abtheilung. Die transscendentale Analytik

ERSTES BUCH. Die Analytik der Begriffe

Erstes Hauptstück. Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe

Erster Abschnitt. Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt

Zweiter Abschnitt. Von der logischen Function des Verstandes in Urtheilen. § 9

Dritter Abschnitt. Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien. §§ 10–12

Zweites Hauptstück. Von der Deduction der reinen Verstandesbegriffe

Erster Abschnitt. Von den Principien einer transscendentalen Deduction überhaupt. § 13

Übergang zur transscendentalen Deduction der Kategorien. § 14

Zweiter Abschnitt. Transscendentale Deduction der reinen Verstandesbegriffe. §§ 15–27

ZWEITES BUCH. Die Analytik der Grundsätze

Einleitung. Von der transscendentalen Urtheilskraft überhaupt

Erstes Hauptstück. Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe

Zweites Hauptstück. System aller Grundsätze des reinen Verstandes

Erster Abschnitt. Von dem obersten Grundsatze aller analytischen Urtheile

Zweiter Abschnitt. Von dem obersten Grundsatze aller synthetischen Urtheile

Dritter Abschnitt. Systematische Vorstellung aller synthetischen Grundsätze desselben

1. Axiomen der Anschauung

2. Anticipationen der Wahrnehmung

3. Analogien der Erfahrung

A. Erste Analogie. Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz

B. Zweite Analogie. Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Causalität

C. Dritte Analogie. Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft

4. Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt

Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze

Drittes Hauptstück. Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena

Anhang. Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe

Zweite Abtheilung. Die transscendentale Dialektik

Einleitung

I.

Vom transscendentalen Schein

II.

Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transscendentalen Scheins

A. Von der Vernunft überhaupt

B. Vom logischen Gebrauche der Vernunft

C. Von dem reinen Gebrauche der Vernunft

ERSTES BUCH. Von den Begriffen der reinen Vernunft

Erster Abschnitt. Von den Ideen überhaupt

Zweiter Abschnitt. Von den transscendentalen Ideen

Dritter Abschnitt. System der transscendentalen Ideen

ZWEITES BUCH. Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft

Erstes Hauptstück. Von den Paralogismen der reinen Vernunft

Allgemeine Anmerkung, den Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie betreffend

Zweites Hauptstück. Die Antinomie der reinen Vernunft

Erster Abschnitt. System der kosmologischen Ideen

Zweiter Abschnitt. Antithetik der reinen Vernunft

Erster Widerstreit

Zweiter Widerstreit

Dritter Widerstreit

Vierter Widerstreit

Dritter Abschnitt. Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite

Vierter Abschnitt. Von den transscendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, in so fern sie schlechterdings müssen aufgelöset werden können

Fünfter Abschnitt. Sceptische Vorstellung der kosmologischen Fragen durch alle vier transscendentalen Ideen

Sechster Abschnitt. Der transscendentale Idealism als der Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik

Siebenter Abschnitt. Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst

Achter Abschnitt. Regulatives Princip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen

Neunter Abschnitt. Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Princips der Vernunft in Ansehung allerkosmologischen Ideen

I. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen zu einem Weltganzen

II. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Theilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung

Schlußanmerkung und Vorerinnerung

III. Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen

Möglichkeit der Causalität durch Freiheit

Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit

IV. Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Abhängigkeit der Erscheinungen ihrem Dasein nach überhaupt

Schlußanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft

Drittes Hauptstück. Das Ideal der reinen Vernunft

Erster Abschnitt. Von dem Ideal überhaupt

Zweiter Abschnitt. Von dem transscendentalen Ideal

Dritter Abschnitt. Von den Beweisgründen der speculativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen

Vierter Abschnitt. Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes

Fünfter Abschnitt. Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes

Entdeckung und Erklärung des dialektischen Scheins in allen transscendentalen Beweisen vom Dasein eines nothwendigen Wesens

Sechster Abschnitt. Von der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises

Siebenter Abschnitt. Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft

Anhang zur transscendentalen Dialektik

Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft

Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft

II.
TRANSSCENDENTALE
METHODENLEHRE

Einleitung

Erstes Hauptstück. Die Disciplin der reinen Vernunft

Erster Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche

Zweiter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs

Von der Unmöglichkeit einer sceptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft

Dritter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen

Vierter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise

Zweites Hauptstück. Der Kanon der reinen Vernunft

Erster Abschnitt. Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft

Zweiter Abschnitt. Von dem Ideal des höchsten Guts

Dritter Abschnitt. Vom Meinen, Wissen und Glauben

Drittes Hauptstück. Die Architektonik der reinen Vernunft

Viertes Hauptstück. Die Geschichte der reinen Vernunft

BACO DE VERULAMIO.

Instauratio magna. Praefatio.

De nobis ipsis silemus: De re autem, quae agitur, petimus: ut homines eam non opinionem, sed opus esse cogitent; ac pro certo habeant, non sectae nos alicuius, aut placiti, sed utilitatis et amplitudinis humanae fundamenta moliri. Deinde ut suis commodis aequi – in commune consulant – et ipsi in partem veniant. Praeterea ut bene sperent, neque instaurationem nostram ut quiddam infinitum et ultra mortale fingant, et animo concipiant;

quum revera sit infiniti erroris finis et terminus legitimus.

Sr. Excellenz,
dem Königl. Staatsminister
Freiherrn von Zedlitz

Gnädiger Herr!

Den Wachsthum der Wissenschaften an seinem Theile befördern, heißt an Ew. Excellenz eigenem Interesse arbeiten; denn dieses ist mit jenen nicht bloß durch den erhabenen Posten eines Beschützers, sondern durch das viel vertrautere Verhältniß eines Liebhabers und erleuchteten Kenners innigst verbunden. Deswegen bediene ich mich auch des einigen Mittels, das gewissermaßen in meinem Vermögen ist, meine Dankbarkeit für das gnädige Zutrauen zu bezeigen, womit Ew. Excellenz mich beehren, als könne ich zu dieser Absicht etwas beitragen.

Demselben gnädigen Augenmerke, dessen Ew. Excellenz die erste Auflage dieses Werkes gewürdigt haben, widme ich nun auch diese zweite und hiermit zugleich alle übrige Angelegenheit meiner literärischen Bestimmung und bin mit der tiefsten Verehrung

Ew. Excellenz
unterthänig-gehorsamster Diener

Immanuel Kant

Königsberg den 23sten April 1787

VORREDE

ZUR ERSTEN AUFLAGE

Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.

In diese Verlegenheit geräth sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genöthigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrthümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Gränze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probirstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.

Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die That nimmt, so verdiente sie wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen, und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hecuba: modo maxima rerum, tot generis natisque potens – nunc trahor exul, inops – Ovid. Metam.

Anfänglich war ihre Herrschaft, unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten Barbarei an sich hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus, und die Sceptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung. Da ihrer aber zum Glück nur wenige waren, so konnten sie nicht hindern, daß jene sie nicht immer aufs neue, obgleich nach keinem unter sich einstimmigen Plane, wieder anzubauen versuchten. In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollte allen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden werden; es fand sich aber, daß, obgleich die Geburt jener vorgegebenen Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtig werden müssen, dennoch, weil diese Genealogie ihr in der That fälschlich angedichtet war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch alles wiederum in den veralteten, wurmstichigen Dogmatism und daraus in die Geringschätzung verfiel, daraus man die Wissenschaft hatte ziehen wollen. Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Uberdruß und gänzlicher Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden.

Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann. Auch fallen jene vorgebliche Indifferentisten, so sehr sie sich auch durch die Veränderung der Schulsprache in einem populären Ton unkenntlich zu machen gedenken, wofern sie nur überall etwas denken, in metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück, gegen die sie doch so viele Verachtung vorgaben. Indessen ist diese Gleichgültigkeit, die sich mitten in dem Flor aller Wissenschaften eräugnet und gerade diejenige trifft, auf deren Kenntnisse, wenn dergleichen zu haben wären, man unter allen am wenigsten Verzicht thun würde, doch ein Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient. Sie ist offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urtheilskraft* des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntniß, aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.

Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben, alles aber aus Principien.

Diesen Weg, den einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun eingeschlagen und schmeichle mir, auf demselben die Abstellung aller Irrungen angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft im erfahrungsfreien Gebrauche mit sich selbst entzweiet hatten. Ich bin ihren Fragen nicht dadurch etwa ausgewichen, daß ich mich mit dem Unvermögen der menschlichen Vernunft entschuldigte; sondern ich habe sie nach Principien vollständig specificirt und, nachdem ich den Punkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie zu ihrer völligen Befriedigung aufgelöst. Zwar ist die Beantwortung jener Fragen gar nicht so ausgefalIen, als dogmatisch schwärmende Wißbegierde erwarten mochte; denn die könnte nicht anders als durch Zauberkünste, darauf ich mich nicht verstehe, befriedigt werden. Allein das war auch wohl nicht die Absicht der Naturbestimmung unserer Vernunft, und die Pflicht der Philosophie war, das Blendwerk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben, sollte auch noch so viel gepriesener und beliebter Wahn dabei zu nichte gehen. In dieser Beschäftigung habe ich Ausführlichkeit mein großes Augenmerk sein lassen, und ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden. In der That ist auch reine Vernunft eine so vollkommene Einheit, daß, wenn das Princip derselben auch nur zu einer einzigen aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur aufgegeben sind, unzureichend wäre, man dieses immerhin nur wegwerfen könnte, weil es alsdann auch keiner der übrigen mit völliger Zuverlässigkeit gewachsen sein würde.

Ich glaube, indem ich dieses sage, in dem Gesichte des Lesers einen mit Verachtung vermischten Unwillen über dem Anscheine nach so ruhmredige und unbescheidene Ansprüche wahrzunehmen; und gleichwohl sind sie ohne Vergleichung gemäßigter, als die eines jeden Verfassers des gemeinsten Programms, der darin etwa die einfache Natur der Seele, oder der Nothwendigkeit eines ersten Weltanfanges zu beweisen vorgiebt. Denn dieser macht sich anheischig, die menschliche Erkenntniß über alle Gränzen möglicher Erfahrung hinaus zu erweitern, wovon ich demüthig gestehe, daß dieses mein Vermögen gänzlich übersteige; an dessen Statt ich es lediglich mit der Vernunft selbst und ihrem reinen Denken zu thun habe, nach deren ausführlicher Kenntniß ich nicht weit um mich suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe, und wovon mir auch schon die gemeine Logik ein Beispiel giebt, daß sich alle ihre einfachen Handlungen völlig und systematisch aufzählen lassen; nur daß hier die Frage aufgeworfen wird, wie viel ich mit derselben, wenn mir aller Stoff und Beistand der Erfahrung genommen wird, etwa auszurichten hoffen dürfe.

So viel von der Vollständigkeit in Erreichung eines jeden und der Ausführlichkeit in Erreichen aller Zwecke zusammen, die nicht ein beliebiger Vorsatz, sondern die Natur der Erkenntniß selbst uns aufgiebt, als der Materie unserer kritischen Untersuchung.

Noch sind Gewißheit und Deutlichkeit, zwei Stücke, die die Form derselben betreffen, als wesentliche Forderungen anzusehen, die man an den Verfasser, der sich an eine so schlüpfrige Unternehmung wagt, mit Recht thun kann.

Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urtheil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Waare sei, die auch nicht für den geringsten Preis feil stehen darf, sondern, so bald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß. Denn das kündigt eine jede Erkenntniß, die a priori fest stehen soll, selbst an: daß sie für schlechthin nothwendig gehalten werden will, und eine Bestimmung aller reinen Erkenntnisse a priori noch viel mehr, die das Richtmaß, mithin selbst das Beispiel aller apodiktischen (philosophischen) Gewißheit sein soll. Ob ich nun das, wozu ich mich anheischig mache, in diesem Stücke geleistet habe, das bleibt gänzlich dem Urtheile des Lesers anheim gestellt, weil es dem Verfasser nur geziemt, Gründe vorzulegen, nicht aber über die Wirkung derselben bei seinen Richtern zu urtheilen. Damit aber nicht etwas unschuldgerweise an der Schwächung derselben Ursache sei, so mag es ihm wohl erlaubt sein, diejenige Stellen, die zu einigem Mißtrauen Anlaß geben könnten, ob sie gleich nur den Nebenzweck angehen, selbst anzumerken, um den Einfluß, den auch nur die mindeste Bedenklichkeit des Lesers in diesem Punkte auf sein Urtheil in Ansehung des Hauptzwecks haben möchte, bei zeiten abzuhalten.

Ich kenne keine Untersuchungen, die zur Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zu Bestimmung der Regeln und Gränzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die, welche ich in dem zweiten Hauptstücke der transscendentalen Analytik unter dem Titel der Deduction der reinen Verstandesbegriffe angestellt habe; auch haben sie mir die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht unvergoltene Mühe gekostet. Diese Betrachtung, die etwas tief angelegt ist, hat aber zwei Seiten. Die eine bezieht sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes und soll die objective Gültigkeit seiner Begriffe a priori darthun und begreiflich machen; eben darum ist sie auch wesentlich zu meinen Zwecken gehörig. Die andere geht darauf aus, den reinen Verstand selbst nach seiner Möglichkeit und den Erkenntnißkräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjectiver Beziehung zu betrachten; und obgleich diese Erörterung in Ansehung meines Hauptzwecks von großer Wichtigkeit ist, so gehört sie doch nicht wesentlich zu demselben, weil die Hauptfrage immer bleibt: was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen? und nicht: wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich? Da das letztere gleichsam eine Aufsuchung der Ursache zu einer gegebenen Wirkung ist und in so fern etwas einer Hypothese Ähnliches an sich hat (ob es gleich, wie ich bei anderer Gelegenheit zeigen werde, sich in der That nicht so verhält), so scheint es, als sei hier der Fall, da ich mir die Erlaubniß nehme, zu meinen, und dem Leser also auch frei stehen müsse, anders zu meinen. In Betracht dessen muß ich dem Leser mit der Erinnerung zuvorkommen: daß, im Fall meine subjective Deduction nicht die ganze Überzeugung, die ich erwarte, bei ihm gewirkt hätte, doch die objective, um die es mir hier vornehmlich zu thun ist, ihre ganze Stärke bekomme, wozu allenfalls dasjenige, was Seite 134–170 gesagt wird, allein hinreichend sein kann.

Was endlich die Deutlichkeit betrifft, so hat der Leser ein Recht, zuerst die discursive (logische) Deutlichkeit durch Begriffe, dann aber auch eine intuitive (ästhetische) Deutlichkeit durch Anschauungen, d. i. Beispiele oder andere Erläuterungen in concreto, zu fordern. Für die erste habe ich hinreichend gesorgt. Das betraf das Wesen meines Vorhabens, war aber auch die zufällige Ursache, daß ich der zweiten, obzwar nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe Genüge leisten können. Ich bin fast beständig im Fortgange meiner Arbeit unschlüssig gewesen, wie ich es hiermit halten sollte. Beispiele und Erläuterungen schienen mir immer nöthig und flossen daher auch wirklich im ersten Entwurfe an ihren Stellen gehörig ein. Ich sah aber die Größe meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich es zu thun haben würde, gar bald ein; und da ich gewahr ward, daß diese ganz allein im trockenen, bloß scholastischen Vortrage das Werk schon genug ausdehnen würde, so fand ich es unrathsam, es durch Beispiele und Erläuterungen, die nur in populärer Absicht nothwendig sind, noch mehr anzuschwellen, zumal diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen werden könnte und die eigentliche Kenner der Wissenschaft diese Erleichterung nicht so nöthig haben, ob sie zwar jederzeit angenehm ist, hier aber sogar etwas Zweckwidriges nach sich ziehen konnte. Abt Terrasson sagt zwar: wenn man die Größe eines Buchs nicht nach der Zahl der Blätter, sondern nach der Zeit mißt, die man nöthig hat, es zu verstehen, so könne man von manchem Buche sagen: daß es viel kürzer sein würde, wenn es nicht so kurz wäre. Andererseits aber, wenn man auf die Faßlichkeit eines weitläuftigen, dennoch aber in einem Princip zusammenhängenden Ganzen speculativer Erkenntniß seine Absicht richtet, könnte man mit eben so gutem Rechte sagen: manches Buch wäre viel deutlicher geworden, wenn es nicht so gar deutlich hätte werden sollen. Denn die Hülfsmittel der Deutlichkeit helfen zwar in Theilen, zerstreuen aber öfters im Ganzen, indem sie den Leser nicht schnell genug zu Überschauung des Ganzen gelangen lassen und durch alle ihre helle Farben gleichwohl die Articulation oder den Gliederbau des Systems verkleben und unkenntlich machen, auf den es doch, um über die Einheit und Tüchtigkeit desselben urtheilen zu können, am meisten ankommt.

Es kann, wie mich dünkt, dem Leser zu nicht geringer Anlokkung dienen, seine Bemühung mit der des Verfassers zu vereinigen, wenn er die Aussicht hat, ein großes und wichtiges Werk nach dem vorgelegten Entwurfe ganz und doch dauerhaft zu vollführen. Nun ist Metaphysik nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung versprechen darf, so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können. Denn es ist nichts als das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet. Es kann uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Princip desselben entdeckt hat. Die vollkommene Einheit dieser Art Erkenntnisse, und zwar aus lauter reinen Begriffen, ohne daß irgend etwas von Erfahrung, oder auch nur besondere Anschauung, die zur bestimmten Erfahrung leiten sollte, auf sie einigen Einfluß haben kann, sie zu erweitern und zu vermehren, machen diese unbedingte Vollständigkeit nicht allein thunlich, sondern auch nothwendig. Tecum habita et noris, quam sit tibi curta supellex. Persius.

Ein solches System der reinen (speculativen) Vernunft hoffe ich unter dem Titel Metaphysik der Natur selbst zu liefern, welches bei noch nicht der Hälfte der Weitläuftigkeit dennoch ungleich reicheren Inhalt haben soll, als hier die Kritik, die zuvörderst die Quellen und Bedingungen ihrer Möglichkeit darlegen mußte und einen ganz verwachsenen Boden zu reinigen und zu ebenen nöthig hatte. Hier erwarte ich an meinem Leser die Geduld und Unparteilichkeit eines Richters, dort aber die Willfährigkeit und den Beistand eines Mithelfers; denn so vollständig auch alle Principien zu dem System in der Kritik vorgetragen sind, so gehört zur Ausführlichkeit des Systems selbst doch noch, daß es auch an keinen abgeleiteten Begriffen mangele, die man a priori nicht in Überschlag bringen kann, sondern die nach und nach aufgesucht werden müssen; imgleichen da dort die ganze Synthesis der Begriffe erschöpft wurde, so wird überdem hier gefordert, daß eben dasselbe auch in Ansehung der Analysis geschehe, welches alles leicht und mehr Unterhaltung als Arbeit ist.

Die Antinomie der reinen Vernunft von Seite 362–391 ist so nach Art einer Tafel angestellt, das alles, was zur Thesis gehört, auf der linken, was aber zur Anthithesis gehört, auf der rechten Seite immer fortläuft, welches ich darum so anordnete, damit Satz und Gegensatz desto leichter mit einander verglichen werden könnte.

* Man hört hin und wieder Klagen über Seichtigkeit der Denkungsart unserer Zeit und den Verfall gründlicher Wissenschaft. Allein ich sehe nicht, daß die, deren Grund gut gelegt ist, als Mathematik, Naturlehre u.s.w., diesen Vorwurf im mindesten verdienen, sondern vielmehr den alten Ruhm der Gründlichkeit behaupten, in der letzteren aber sogar übertreffen. Eben derselbe Geist würde sich nun auch in anderen Arten von Erkenntniß wirksam beweisen, ware nur allererst für die Berichtigung ihrer Principien gesorgt worden. In Ermangelung derselben sind Gleichgültigkeit und Zweifel und endlich strenge Kritik vielmehr Beweise einer gründlichen Denkungsart. Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.

VORREDE

ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurtheilen. Wenn sie nach viel gemachten Anstalten und Zuriistungen, so bald es zum Zweck kommt, in Stecken geräth, oder, um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen andern Weg einschlagen muß; imgleichen wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei, und es ist schon ein Verdienst um die Vernunft, diesen Weg wo möglich ausfindig zu machen, sollte auch manches als vergeblich aufgegeben werden müssen, was in dem ohne Überlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war.

Daß die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten Zeiten her gegangen sei, läßt sich daraus ersehen, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat thun dürfen, wenn man ihr nicht etwa die Wegschaffung einiger entbehrlichen Subtilitäten oder deutlichere Bestimmung des Vorgetragenen als Verbesserungen anrechnen will, welches aber mehr zur Eleganz, als zur Sicherheit der Wissenschaft gehört. Merkwürdig ist noch an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat thun können und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint. Denn wenn einige Neuere sie dadurch zu erweitern dachten, daß sie theils psychologische Capitel von den verschiedenen Erkenntnißkräften (der Einbildungskraft, dem Witze), theils metaphysische über den Ursprung der Erkenntniß oder der verschiedenen Art der Gewißheit nach Verschiedenheit der Objecte (dem Idealism, Scepticism u.s.w.), theils anthropologische von Vorurtheilen (den Ursachen derselben und Gegenmitteln) hineinschoben, so rührt dieses von ihrer Unkunde der eigenthümlichen Natur der Wissenschaft her. Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen läßt; die Grenze der Logik aber ist dadurch ganz genau bestimmt, daß sie eine Wissenschaft ist, welche nichts als die formalen Regeln alles Denkens (es mag a priori oder empirisch sein, einen Ursprung oder Object haben, welches es wolle, in unserem Gemüthe zufällige oder natürliche Hindernisse antreffen) ausführlich darlegt und strenge beweiset.

Daß es der Logik so gut gelungen ist, diesen Vortheil hat sie bloß ihrer Eingeschränktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt, ja verbunden ist, von allen Objecten der Erkenntnis und ihrem Unterschiede zu abstrahiren, und in ihr also der Verstand es mit nichts weiter, als sich selbst und seiner Form zu thun hat. Weit schwerer mußte es natürlicher Weise für die Vernunft sein, den sicheren Weg der Wissenschaft einzuschlagen, wenn sie nicht bloß mit sich selbst, sondern auch mit Objecten zu schaffen hat; daher jene auch als Propädeutik gleichsam nur den Vorhof der Wissenschaften ausmacht, und wenn von Kenntnissen die Rede ist, man zwar eine Logik zu Beurtheilung derselben voraussetzt, aber die Erwerbung derselben in eigentlich und objectiv so genannten Wissenschaften suchen muß.

So fern in diesen nun Vernunft sein soll, so muß darin etwas a priori erkannt werden, und ihre Erkenntniß kann auf zweierlei Art auf ihren Gegenstand bezogen werden, entweder diesen und seinen Begriff (der anderweitig gegeben werden muß) bloß zu bestimmen, oder ihn auch wirklich zu machen. Die erste ist theoretische, die andere praktische Erkenntniß der Vernunft. Von beiden muß der reine Theil, so viel oder so wenig er auch enthalten mag, nämlich derjenige, darin Vernunft gänzlich a priori ihr Object bestimmt, vorher allein vorgetragen werden und dasjenige, was aus anderen Quellen kommt, damit nicht vermengt werden; denn es giebt viele übele Wirthschaft, wenn man blindlings ausgiebt, was einkommt, ohne nachher, wenn jene in Stecken geräth, unterscheiden zu können, welcher Theil der Einnahme den Aufwand tragen könne, und von welcher man denselben beschneiden muß.

Mathematik und Physik sind die beiden theoretischen Erkenntnisse der Vernunft, welche ihre Objecte a priori bestimmen sollen, die erstere ganz rein, die zweite wenigstens zum Theil rein, dann aber auch nach Maßgabe anderer Erkenntnißquellen als der der Vernunft.

Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht, in dem bewundernswürdigen Volke der Griechen den sichern Weg einer Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, daß es ihr so leicht geworden, wie der Logik, wo die Vernunft es nur mit sich selbst zu thun hat, jenen königlichen Weg zu treffen, oder vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, daß es lange mit ihr (vornehmlich noch unter den Ägyptern) beim Herumtappen geblieben ist, und diese Umänderung einer Revolution zuzuschreiben sei, die der glückliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zu Stande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und der sichere Gang einer Wissenschaft für alle Zeiten und in unendliche Weiten eingeschlagen und vorgezeichnet war. Die Geschichte dieser Revolution der Denkart, welche viel wichtiger war als die Entdeckung des Weges um das berühmte Vorgebirge, und des Glücklichen, der sie zu Stande brachte, ist uns nicht aufbehalten. Doch beweiset die Sage, welche Diogenes der Laertier uns überliefert, der von den kleinsten und nach dem gemeinen Urtheil gar nicht einmal eines Beweises benöthigten Elementen der geometrischen Demonstrationen den angeblichen Erfinder nennt, daß das Andenken der Veränderung, die durch die erste Spur der Entdeckung dieses neuen Weges bewirkt wurde, den Mathematikern äußerst wichtig geschienen haben müsse und dadurch unvergeßlich geworden sei. Dem ersten, der den gleichschenklichten Triangel demonstrirte, (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben) dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte, (durch Construction) hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem nothwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.

Mit der Naturwissenschaft ging es weit langsamer zu, bis sie den Heeresweg der Wissenschaft traf; denn, es sind nur etwa anderthalb Jahrhunderte, daß der Vorschlag des sinnreichen Baco von Verulam diese Entdeckung theils veranlaßte, theils, da man bereits auf der Spur derselben war, mehr belebte, welche eben sowohl nur durch eine schnell vorgegangene Revolution der Denkart erklärt werden kann. Ich will hier nur die Naturwissenschaft, so fern sie auf empirische Principien gegründet ist, in Erwägung ziehen.

Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab;* so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem nothwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die vortheilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hiedurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war.

Der Metaphysik, einer ganz isolirten speculativen Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt und zwar durch bloße Begriffe (nicht wie Mathematik durch Anwendung derselben auf Anschauung), wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll, ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, daß sie den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte, ob sie gleich älter ist als alle übrige und bleiben würde, wenn gleich die übrigen insgesammt in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen werden sollten. Denn in ihr geräth die Vernunft continuirlich in Stecken, selbst wenn sie diejenigen Gesetze, welche die gemeinste Erfahrung bestätigt, (wie sie sich anmaßt) a priori einsehen will. In ihr muß man unzählige mal den Weg zurück thun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen betrifft, so ist sie noch so weit davon entfernt, daß sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können. Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen sei.

Woran liegt es nun, daß hier noch kein sicherer Weg der Wissenschaft hat gefunden werden können? Ist er etwa unmöglich? Woher hat denn die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht, ihm als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren? Noch mehr, wie wenig haben wir Ursache, Vertrauen in unsere Vernunft zu setzen, wenn sie uns in einem der wichtigsten Stücke unserer Wißbegierde nicht bloß verläßt, sondern durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende betrügt! Oder ist er bisher nur verfehlt, welche Anzeige können wir benutzen, um bei erneuertem Nachsuchen zu hoffen, daß wir glücklicher sein werden, als andere vor uns gewesen sind?

Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine auf einmal zu Stande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, wären merkwürdig genug, um dem wesentlichen Stücke der Umänderung der Denkart, die ihnen so vortheilhaft geworden ist, nachzusinnen und ihnen, so viel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Object der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. Weil ich aber bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muß, so kann ich entweder annehmen, die Begriffea prioriErfahrunga prioria prioria priori