Warum befassen wir uns mit der Freiwilligenarbeit und dem Freiwilligen Engagement in der Pflege? Vor dem Hintergrund demografisch bedingter Einflüsse auf die Strukturen sozialer Gemeinschaften rücken deren mögliche Folgen in den Blickpunkt. Die grundsätzliche Verlässlichkeit sozialer Sicherungssysteme wird zwar nicht in Frage gestellt, jedoch wird deren Umfang an Leistungen in Zukunft nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß zu erwarten sein. Grenzen der Kosten und der Pflegepersonalressourcen wie auch sich abschwächende häusliche Pflegepotenziale rufen nach weitergehenden Unterstützungsstrukturen.
Umstrukturierungen begründen sich auf Personen und ihre Bereitschaften, Veränderungen mitzutragen. Da sind in erster Linie die Angehörigen zu nennen, deren Pflegebereitschaft auch in Zukunft die tragende Säule in der Pflege sein kann, wenn sie in ausreichendem Maße unterstützt werden. Es ist heute bereits absehbar, dass ein wachsender Bevölkerungsteil auf die Leistungen von Angehörigen aus unterschiedlichen Gründen verzichten muss. In beiden Fällen sind Versorgungsangebote zu schaffen, die den Anspruch auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der Betroffenen und ihrer Angehörigen erhalten.
Im Zuge der Neuorientierung sind nicht nur die Betroffenen und ihre Angehörigen gefordert, sondern die Bürger in ihrem sozialen Nahbereich, die sich verantwortlich für einander einsetzen. Hierzu werden sozialpolitische Steuerungsleistungen gefragt sein, die den Zusammenhalt fördern. In erster Linie werden die Kommunen angesprochen, die auf verschiedenen Ebenen die Voraussetzungen dafür stellen müssen, denn es wird zukünftig eine Konzentration auf die Förderung von Solidarität für Hilfe- und Pflegebedürftige in der Kommune und eine Verantwortung für das Gemeinwesen erforderlich. Hilfebedürftige und ihre Angehörigen müssen eine verlässliche Unterstützungsstruktur vorfinden.
Den in der folgenden Darstellung im Fokus stehenden freiwillig Engagierten und der Freiwilligenarbeit kommt in dem Angebots- und Leistungsspektrum des Sozial- und Gesundheitsbereichs eine zunehmend tragende Rolle zu. Der Entlastungseffekt des freiwilligen Engagements in der Pflege liegt in der Stützung des sozialen Zusammenhalts durch neue Formen der Solidarität und Integration. Ein weiterer Aspekt liegt in der Sicherung der Individualität bzw. der individualisierten Lebensweise auch bei Pflegebedürftigkeit. Soziale Ungleichheiten, die durch Pflegebedürftigkeit verschärft werden, könnten damit etwas an ihrer Brisanz verlieren. Nicht zuletzt verschaffen sich freiwillig Engagierte auch selbst einen Gewinn durch die Erweiterung ihres persönlichen Netzwerkes und den Erwerb sozialer Kompetenz.
Das Ausmaß des Bedarfs an Laienhilfe wie aber auch die Bereitschaft zum Freiwilligen Engagement führt zu der Frage, ob Humankapital zukünftig verfügbar sein wird oder ob verpflichtend ein Freiwilligendienst in der Pflege eingeführt werden muss. Nicht zu übersehen ist die Gefahr einer Vereinnahmung der Freiwilligenarbeit durch Organisationen und Träger der Alten- und Behindertenhilfe, denn Tendenzen in dieser Richtung bestehen.
Eine mögliche Chance, Freiwilliges Engagement als zivilgesellschaftliches Korrektiv institutionalisierter Versorgungsstrukturen im Altenhilfe- und Behindertenbereich einzusetzen, könnte durch Verpflichtungs- und Verrechtlichungstendenzen gefährdet werden.
Das Humankapital des Freiwilligen Engagements beruht auf Partizipation und Freiwilligkeit. Es steht an der Schnittstelle zwischen konventionellen Versorgungsstrukturen und freiwillig erbrachten Leistungen. Beide Seiten, Gebende wie auch Empfänger, sollten ohne Druck miteinander abstimmen, welche Aufgaben wahrgenommen werden. So könnten erweiterte soziale Netzwerke entstehen und aus denen heraus verlässliche Verantwortungsstrukturen erwachsen.
Berlin, Januar 2012
Heike Reggentin
Jürgen Dettbarn-Reggentin
Freiwilligenarbeit und somit das Freiwillige Engagement gewinnt mit der Diskussion um die zukünftige Gestaltung und Neuorientierung des Sozial- und Gesundheitssystems an Bedeutung. Aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln wird die Gemeinschaft auf ihre Solidarstrukturen hin geprüft und hinterfragt, inwieweit sie in Zukunft den Herausforderungen des demografischen und sozialen Wandels gewachsen sein wird. Dabei erhält die Frage nach der Versorgungssicherheit alter, pflegebedürftiger wie auch behinderter Menschen in diesem System höchste Priorität.
Die Bereitstellung notwendiger Ressourcen zur Sicherung der Pflege und Betreuung wird daher eine der wichtigsten und anspruchsvollsten Zukunftsaufgaben darstellen.
Es ist zu erwarten, dass die Zahl Pflegebedürftiger in den kommenden Jahren und Jahrzehnten demografisch bedingt erheblich zunehmen wird. Obwohl die Pflegeversicherung weiterhin auf die familiale Unterstützung pflegebedürftiger Menschen setzt, wird schon heute klar, dass diese Aufgabe zukünftig nur schwer in dem derzeitigen Ausmaß allein von Familienangehörigen zu bewältigen sein wird. Verschiedene Einflussfaktoren begrenzen die häuslichen Pflegeressourcen.
Zuvorderst ist die Pflegebereitschaft innerhalb der Familien und Partnerschaften zu nennen. Wie wird sich die Versorgung Pflegebedürftiger, auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Pflege, gestalten? Werden weiterhin genügend häusliche Ressourcen verfügbar sein?
Die Pflege- und Betreuungsleistungen für schwer- und schwerstpflegebedürftige Menschen stellen hohe fachliche Anforderungen und erfordern einen erheblichen zeitlichen Pflegeeinsatz. Insbesondere Pflegebedürftige mit einer demenziellen Erkrankung führen die Hauptpflegeperson bald an die Grenzen ihrer Kräfte.
Welche formellen und insbesondere informellen Unterstützungssysteme sind entwickelbar und in der Lage verlässlich Versorgungsaufgaben zu sichern?
Eine weitere Anforderung an das soziale und gesundheitliche Versorgungssystem resultiert aus dem wachsenden Anteil alleinstehender pflegebedürftiger Personen, die in großstädtischen Ballungsgebieten und deren Randlagen bereits zwei von drei Personen in der Altersgruppe der über 80-Jährigen ausmachen. Bei ihnen ist eine Versorgung über grundpflegerische Leistungen hinaus erforderlich. Bisher sind Hilfestrukturen oder -kulturen nicht erkennbar, die den Personenkreis Alleinstehender mit Hilfebedarf ausreichend absichern.
Nicht nur der häusliche Pflegebereich, sondern auch die institutionelle Pflege ist auf die Solidarität externer Helfer angewiesen. Die Mitwirkung von Angehörigen, Laienhelfern und Ehrenamtlichen wird zunehmend gesucht werden müssen, zumal die bisherige Ausrichtung der Pflege auf verrichtungsbezogene Tätigkeiten eine Lücke in der psychosozialen und emotionalen Betreuung hinterlässt, die vom professionellen Pflegepersonal nur schwer geschlossen werden kann.
Schon heute werden im Zuge des konzeptionellen Wandels mit der Einführung kleiner Wohneinheiten, personenzentrierter Versorgungsstrukturen und der Betonung des „Wohncharakters“ externe Betreuungskräfte auf ehrenamtlicher Basis eingebunden. Die Mithilfe freiwillig Engagierter soll eine neue Verantwortungskultur eröffnen. Hierin ist auch eine höhere Bewertung der Laienhilfe zu erkennen. Damit ist nicht ein Rückzug aus der professionellen Pflegearbeit gemeint, sondern die notwendige Ergänzung verrichtungsbezogener Pflegeleistungen, da zwar psychosoziale Betreuung propagiert wird, aber in den Leistungskatalogen ambulanter Vergütungskriterien bisher nicht enthalten ist. Nicht zuletzt wird mit dem Einsatz unbezahlter Kräfte in der Betreuung ein wirtschaftlicher Nutzen erzielt, ohne den häufig keine ausreichende kostendeckende Versorgung möglich wäre.
Mit dem demografischen Wandel kommen somit Gestaltungsaufgaben auf das Gemeinwesen zu, die als Ziel die Stärkung der privaten Hilfenetzwerke, insbesondere durch eine kommunale Alterssozialpolitik, haben. Gestaltungsaufgaben erwachsen jedoch nicht allein aus den individuellen Anforderungen in bestimmten Lebenslagen, zusätzlich sind Anpassungsprozesse auf nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen zu vollziehen. Die Ausdifferenzierung der Lebensphasen bezieht auch die Lebensphase des höheren Erwachsenenalters und somit thematisch immer neue Bevölkerungsgruppen ein. Damit werden nicht Ressourcenmängel, sondern auch Ressourcenüberschüsse in der Zielgruppe Alter thematisiert.
Der demografische Wandel fördert gewissermaßen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Er fordert nicht nur neue Formen der Fürsorge, sondern bringt zugleich die Kräfte hervor, die diesen Wandel mit gestalten sollen. Letztere bilden den Kern aktiven gestalterischen Mitwirkens in Form Freiwilligen Engagements, um den es in diesem Band vorrangig gehen soll.
Das Freiwillige Engagement wird als gesellschaftliche Ressource angesehen, um die Betreuung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zu stärken. Freiwilliges Engagement in Form von Ehrenamt und Selbsthilfe kann helfen, Ausgrenzungen und soziale Isolation pflegebedürftiger Menschen zu vermeiden. Es ist in ein Konzept sozialer Interaktion und Kommunikation eingebunden. Mit dem sich aufbauenden Kommunikationssystem wird die Welt des Bekannten und Vertrauten erhalten und Wissen verbreitet, das wiederum handlungsleitend sein kann. Der Einsatz von Laienhelfern kann somit auch als Lernmodell angesehen werden, in dem die eine oder auch beide Seiten im Kommunikationsprozess durch „Empowerment-Erfahrung“ gestärkt werden kann.
Unter dem Aspekt des Netzwerk-Ansatzes wird mit der Verfügbarkeit ehrenamtlicher Helfer das persönliche Netzwerk des Pflegebedürftigen wie auch das des Helfers erweitert. Gerade bei hochaltrigen wie auch bei behinderten Menschen im Alter können die sich verringernden sozialen Beziehungen kompensiert werden.
Eine weitere Frage stellt sich bezüglich der zukünftig benötigten Helfer: Werden genügend Personen verfügbar und auch motiviert sein, Pflege und Betreuung zu übernehmen, auch für Personen außerhalb ihres persönlichen Netzwerkes? Zukünftig muss von einem erheblichen Fachkräftemangel ausgegangen werden.
Die Darstellung in diesem Band geht von einem Modell des Freiwilligen Engagements als Interaktionssystem aus, das zur Sicherung der Kommunikation und des Alltagslebens bei eingeschränkter Selbstständigkeit (Pflegebedürftigkeit) beiträgt. Die Einschätzung des Bedarfs, der Bereitschaft und der Förderung sozialen Freiwilligen Engagements wird im Hinblick auf seine Einordnung in ein Gesamtsystem helfen, Qualität, Grenzen und Risiken der Freiwilligenarbeit in Form von Laienhilfe im Pflegebereich zu erkennen.
In einen erweiterten Bezugsrahmen der Betrachtung des Freiwilligen Engagements als Bestandteil des sozialen Sicherungssystems sollen folgende Aspekte einbezogen werden:
Vornehmlich sind Menschen im höheren Alter von Pflegebedürftigkeit betroffen, denn Hochaltrigkeit gilt als gesundheitliches Risiko. Die Altersgruppe der über 80-Jährigen stellt etwa die Hälfte aller pflegebedürftigen Personen. Freiwilligenarbeit in der Pflege spricht jedoch nicht nur die Hilfebedürftigen selbst, sondern auch deren Angehörige an, soweit sie als Hauptpflegepersonen einbezogen sind. In nicht wenigen Fällen bilden sie eine eigene Gruppe mit Hilfebedarf.
Eine weitere Personengruppe mit Unterstützungsbedarf sind Menschen mit einer spezifischen Behinderung, psychisch Kranke und Demenzkranke, deren Zahl zukünftig erheblich steigen wird.
Alleinstehende Menschen im Alter, Pflegebedürftige wie auch behinderte Menschen laufen Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Dies gilt es zu vermeiden und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern, mit dem Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und ihre Würde zu bewahren.
Von der Sicherung der Leistungen pflegender Angehöriger sowie ergänzend hierzu der Gewinnung von externen freiwillig ehrenamtlichen wie auch professionellen Hilfen wird es abhängen, ob zukünftig eine ausreichende wie auch qualitätsvolle Versorgung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen gegeben werden kann.
In Kapitel 1 werden zunächst einige Grundprobleme in der aktuellen wie auch der zukünftigen pflege- und betreuerischen Versorgung dargestellt. Die Pflegepotenziale, die zukünftigen Veränderungen in der Familie und deren mögliche Auswirkungen auf die Pflege und die Hauptpflegepersonen sind Gegenstand des Kapitels 2.
In Kapitel 3 wird gefragt, welche Unterstützung pflegende Personen bekommen und wie freiwillige Helfer gewonnen werden. Sind freiwillig Engagierte bereit, prekäre soziale Netzwerke pflegebedürftiger Menschen zu stärken und zu erweitern?
Freiwillig Engagierte, ihre Motivation, Tätigkeit und Qualifikation, stehen im Mittelpunkt von Kapitel 4. Als Bestandteil von Pflegemix-Strukturen wird das Freiwillige Engagement gegenüber professionellen Dienstleistungen abgegrenzt.
Selbstgesteuertes Lernen stellt eines der zentralen Merkmale Freiwilligen Engagements dar. In Kapitel 5 wird vor dem Hintergrund eines handlungsbezogenen Lernmodells der Ansatz der Bildung von Empowerment verfolgt.
Kapitel 6 beschreibt die Entstehung von Netzwerkstrukturen zwischen freiwillig Engagierten im häuslichen oder auch im stationären Umfeld und den von ihnen betreuten Menschen. Diesem Ansatz wird auf übergeordneter Ebene, dem Gemeinwesen, in Kapitel 7 nachgegangen; in Kapitel 8 werden in verschiedenen Zusammenhängen und Beispielen fördernde Strukturen aufgezeigt. Schließlich werden in Kapitel 9 und Kapitel 10 zusammenfassend Perspektiven des Freiwilligen Engagements diskutiert und schließlich resümiert, inwieweit unser Pflege- und Gesundheitssystem ohne Freiwilligenarbeit heute noch denkbar ist.
Die Darstellungen basieren im Wesentlichen auf den Ergebnissen des Freiwilligensurveys 1999–2009, dem Soziökonomischen Panel sowie weiterer kleinerer Studien. Sie wurde angeregt durch die Expertise „Freiwilliges Engagement in der Pflege und Solidarpotenziale innerhalb der Familie“, die von Dettbarn-Reggentin & Reggentin für die Enquetekommission Pflege des Landtages in Nordrhein-Westfalen erstellt und auf die sich in Teilen gestützt werden konnte.
Das Leben mit einer gesundheitlichen, körperlichen oder geistigen Einschränkung erfordert nicht nur in alltäglichen Verrichtungen, sondern häufig auch begleitend psychischen und emotionalen Beistand, wenn auch individuell in unterschiedlichem Ausmaß.
Hilfe- und Pflegebedürftigkeit verbreitet sich unter dem Einfluss demografischer Entwicklungen, die aufgrund gravierender Umwälzungen in der Bevölkerungsstruktur auch als demografischer Wandel bezeichnet werden. Der Umfang und die Anforderung an die Qualität der Unterstützung unterliegen stetigen Veränderungen. Die Versorgungsarrangements werden hierdurch in ihrer Struktur beeinflusst.
Um die Auswirkungen des Wandels im Hinblick auf die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu ermessen, werden gemeinhin Vorhandensein und erwartbare Entwicklungen von Pflegebedürftigkeit anhand von Bevölkerungszahlen ermittelt und auf dieser Basis Prognosen erstellt. Den Anhaltspunkt für zukünftige Prävalenzen bilden altersspezifische Pflegebedürftigkeitsquoten sowie die altersbezogene Verbreitung von Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Solche Prävalenzraten sind weitgehend bekannt und zur Orientierung in Bezug auf den zukünftigen Bedarf an Versorgungsleistungen geeignet.
Auf der Grundlage der ermittelten Daten lassen sich nun Ausmaß und Verbreitung des Hilfebedarfs schätzen. Eine zweite ebenso wichtige Komponente stellt der Trend zur Wahl der Lebensform dar. Er bildet die Grundlage zur Bereitstellung von Hilfenetzwerken. So liefert etwa die steigende Zahl der Einpersonenhaushalte von Menschen höheren Alters Anhaltspunkte für die Gestaltung der Umwelt, aber auch bei zu erwartendem höheren Unterstützungsbedarf im Alter ein Signal zur Stabilisierung sozialer Beziehungen, wie sie beispielsweise durch Erweiterung sozialer Netzwerke mit Hilfe freiwillig Engagierter geleistet werden kann.
Zusammenlebensformen auf der Basis sozialer Gemeinschaften stehen daher auch im Zentrum von kommunalen oder wohnungswirtschaftlichen Gestaltungsaufgaben. Diese Ausrichtung rührt nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass eine abnehmende Verfügbarkeit informeller Unterstützungsnetzwerke durch Verkleinerung der Haushalte kompensiert werden muss, wenn weitergehende, aufwendige und somit kostenwirksamere Unterstützungsleistungen vermieden werden sollen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie lange Angehörige bereit und in der Lage sein werden, ihre hilfebedürftigen Verwandten zu unterstützen. Pflegende haben eigene Familien, die ihre Zuwendung und Aufmerksamkeit brauchen, und auch die Pflegepersonen selbst altern. Diese Situation tritt in naher Zukunft insbesondere im Versorgungsbereich behinderter Menschen auf. Hinzu kommt, dass erstmals in Deutschland nach der nahezu völligen Vernichtung Behinderter im „Dritten Reich“ eine Nachkriegsgeneration behinderter Menschen das Rentenalter erreicht. Sie müssen erleben, dass die eigenen Eltern pflegebedürftig werden oder sie selbst zusätzlichen Hilfebedarf aufweisen und von den alten Eltern nicht mehr angemessen versorgt werden können.
Mit dem demografischen und sozialen Wandel scheint auch eine Veränderung in der Einstellung zur Pflege von Angehörigen einzusetzen. Die Pflegebereitschaft von Angehörigen ist eine Voraussetzung für die Versorgung von Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung. Überwiegend besteht innerhalb der Familie derzeit noch Solidarität. Doch ist davon auch zukünftig auszugehen? Zumindest die Option, selbst zu pflegen, steht in einigen sozialen Milieus gegenüber der Entscheidung für eine institutionelle Versorgung in Frage. Die Alternative besteht darin, mit Pflegeleistungen aus den Mitteln der sozialen Pflegeversicherung bzw. aus der Sozialhilfe die ambulante oder stationäre Pflege abzusichern. Mit dieser Alternative verhält es sich ähnlich wie mit der familiären Perspektive: Die Mittel sind begrenzt bei einer zukünftig unsicheren Verfügbarkeit professionellen Pflegepersonals.
Der Intention dieses Buchs entsprechend wird die Aufmerksamkeit auf die noch nicht ausgeschöpfte Ressource „Freiwilligen Engagements“ gelenkt. Wenn nicht genügend Mittel, nicht ausreichend vorhandenes Personal und abnehmende private Pflegepotenziale und -bereitschaften zu erwarten sind, steht die Frage an, ob sich die bereits heute abzusehenden Versorgungsprobleme nur mit Unterstützung von informellem Freiwilligem Engagement und Humankapital bewältigen lassen. Es wird davon ausgegangen, dass die vorhandenen Ressourcen häuslicher Solidarität, freiwillig Engagierter und professioneller Hilfen nur mit Pflegearrangements verlässliche Bündnisse bilden, mit denen die Gestaltung zukünftiger Anforderungen in der Pflege bewältigt werden können.
Im Wesentlichen werden zur Einschätzung des Auftretens von Hilfe- und Pflegebedarf zwei Merkmale benannt, die den demografischen Wandel bestimmen: erstens der seit Jahrzehnten anhaltende Geburtenrückgang. Es werden weniger Kinder geboren als zur Erhaltung des Bestandes der Bevölkerung notwendig sind. Der abnehmenden Zahl Jüngerer steht zweitens eine Zunahme der Lebenserwartung gegenüber. Das bedeutet, die Anzahl älterer Menschen nimmt nicht nur absolut zu, sondern steigt auch im Verhältnis zu den Jüngeren an (siehe Tabelle 1.1). Parallel hierzu verändern sich mit den Familien- und Haushaltsformen auch die Formen des Zusammenlebens, die bisher als Garant für die Unterstützung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen angesehen wurden. In Tab. 1.1 wird die gesellschaftliche Gesamtdimension der Altersgruppenverschiebung bis 2030 dargestellt.
Betrachtet man zunächst die demografischen Trends seit 2010 für die kommenden zehn Jahre, so wird schnell erkennbar, dass einer steigenden Zahl Hochaltriger (über 80 Jahre) eine sinkende Zahl junger Menschen unter 20 Jahren gegenüberstehen wird.
Während die Gesamtbevölkerung bis zum Jahr 2020 bereits erkennbar abnehmen wird, sind relativ erhebliche Zuwächse vor allem bei den über 80-Jährigen zu erwarten. Gemessen an der absoluten Zahl werden bereits in etwa zehn Jahren ca. 1,75 Millionen Personen mehr dieser Altersgruppe in Deutschland angehören. Die junge Bevölkerung unter 20 Jahren wird dagegen um rund 780.000 Personen abnehmen.
Noch stärker wird die Abnahme unter den jungen bis mittelalten Erwachsenen mit annähernd einer Million Menschen sein. Diese Altersgruppe stellt die Enkelgeneration und ist zwischen 20 und 40 Jahre alt.
Die relevante Altersgruppe für die häusliche pflegerische Versorgung ist jedoch die Kindergeneration der pflegebedürftigen Personen. Im Alter zwischen 40 und 65 Jahren werden die häufigsten pflegerischen Leistungen erbracht (siehe Abb. 1.1).
Tab. 1.1: Bevölkerungsentwicklung und -prognose in der Bundesrepublik Deutschland von 2010 bis 2030 (in 1.000)1 (nach Statistisches Bundesamt 2009, eigene Berechnungen)
Von ... bis unter |
2010 |
2015 |
2020 |
2025 |
2030 |
Alle Veränderungen |
81.545 |
80.772 |
79.914 |
78.790 |
77.350 -5,13 % |
unter 20 |
15.017 |
14.239 |
13.641 |
13.291 |
12.926 -13,9 % |
20–40 |
19.659 |
19.134 |
18.663 |
17.649 |
16.290 -17,1 % |
40–65 |
30.069 |
29.860 |
28.973 |
27.670 |
25.858 -14,0 % |
65–80 |
12.541 |
12.724 |
12.646 |
13.954 |
15.858 +26,4 % |
80+ |
4.261 |
4.814 |
6.007 |
6.225 |
6.417 +50,6 % |
65+ |
16.802 |
17.538 |
18.653 |
20.179 |
22.275 +32,6 % |
Abb. 1.1: Trend der Bevölkerungsentwicklung nach Altersgruppen ab 40 Jahre in %, Bevölkerung 2010 = 100 % (nach Statistisches Bundesamt 2009, eigene Berechnungen)
Die zahlenmäßige Abnahme dieser Altersgruppe bewirkt einen herben Einschnitt in die Pflegesicherheit innerhalb der Familie. Zwischen 2010 und 2020 ist von einem Rückgang der Personenzahl um ca. 1,1 Millionen auszugehen. Bedeutsam ist der Rückgang dieser Altersgruppe aber auch für die Gewinnung von ehrenamtlichen Helfern. Sie erbringen nach dem Freiwilligensurvey 2009 die höchsten Engagement-Raten. Bezogen auf die Dekade zwischen 2010 und 2020 müsste mit einer Verringerung der freiwillig Engagierten allein in dieser Altersgruppe um ca. eine halbe Million Menschen gerechnet werden.
Zusammenfassend:
Zudem:
In der Literatur wird Pflegebedürftigkeit in der Regel mit einem Leistungsbezug nach dem SGB XI gleichgesetzt. Soweit ein Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung besteht, werden diese Leistungen nach Art und Anzahl statistisch erfasst. Alle Personen, die in einer gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung versichert sind, werden somit bei Inanspruchnahme von Pflegeleistungen in die Statistik einbezogen, womit jedoch noch nicht alle pflegebedürftigen Personen erfasst sind. Die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit erfolgt bisher nach verrichtungsbezogenen Tätigkeiten. Personen mit psychischen Erkrankungen, Demenzkranke ohne oder mit geringen somatischen Beschwerden wurden bisher nicht erfasst. Ebenso sind behinderte Menschen einzubeziehen, zumindest soweit sie nicht zugleich als Pflegebedürftige nach dem Sozialgesetzbuch XI – Soziale Pflegeversicherung – Pflegeleistungen in Anspruch nehmen.
Mit etwa zwei Dritteln (2009 67 %) stellen Frauen den überwiegenden Anteil der Pflegebedürftigen dar. Ein weiterer Zusammenhang besteht zwischen Alter und Pflegebedürftigkeit, denn 83 % aller pflegebedürftigen Personen waren älter als 65 Jahre, etwa ein Drittel älter als 80 Jahre (35 %).
In Deutschland erhielten Ende 2009 etwa 2,34 Millionen Personen Leistungen aus der Pflegeversicherung, von denen ca. 69 % (rd. 1,623 Millionen Personen) in Privathaushalten (zu Hause) versorgt wurden. In Heimen waren zu diesem Zeitpunkt ca. 0,717 Millionen pflegebedürftige Personen untergebracht (ca. 31 %).
1,07 Millionen Pflegebedürftige (45,7 %) erhielten ausschließlich Pflegegeld zur Sicherung der eigenen Pflege. Weitere 22 % (rund 0,555 Millionen Personen) der Pflegebedürftigen wurden in häuslicher Umgebung mit Hilfe von ambulanten Diensten ganz oder teilweise versorgt (siehe Tab. 1.2).
Tab. 1.2: Leistungsempfänger der Pflegeversicherung nach Versorgungsart in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland 2011. In der Spalte „stationär“ sind bis 2007 auch teilstationäre Fälle enthalten, die ab 2009 dem ambulanten Bereich zugeordnet werden. Die Differenz beträgt ca. 1 %, eigene Darstellung)
Ende des Jahres |
Gesamtanzahl Personen |
Privathaushalte |
davon mit ambulanten Diensten |
davon mit Pflegegeld (Angehörige) |
stationär |
Deutschland |
|||||
2001 |
2.039.780 |
1.435.415 (70,4 %) |
434.679 (21,3 %) |
1.000.736 (49,1 %) |
604.365 (29,6 %) |
2003 |
2.076.935 |
1.436.646 (69,2 %) |
450.126 (21,7 %) |
986.520 (47,5 %) |
640.289 (30,8 %) |
2005 |
2.128.550 |
1.451.968 (68,2 %) |
471.543 (22,2 %) |
980.425 (46,1 %) |
676.582 (31,8 %) |
2007 |
2.246.829 |
1.537.518 (68,4 %) |
504.232 (22,4 %) |
1.033.286 (46,0 %) |
709.311 (31,6 %) |
2009 |
2.338.252 |
1.620.762 (69,3 %) |
555.198 (23,7 %) |
1.065.564 (45,6 %) |
717.490 (30,7 %) |
Veränderung gegenüber 2001 |
+14,6 % |
+12,9 % |
+27,7 % |
+6,5 % |
+18,7 % |
Die innerfamiliäre Unterstützung der Pflegebedürftigen durch Angehörige stellt die zentrale Hilfe auf diesem Sektor in Deutschland dar. Der Anteil der pflegebedürftigen Personen, die private Unterstützung in der Pflege und Betreuung außerhalb vollstationärer Einrichtungen erhalten, macht 92 % aus (Schneekloth 2006).
Zwischen 2001 und 2009 war in Deutschland zwar absolut eine leichte Zunahme bei der Inanspruchnahme des Pflegegelds um ca. 70.000 Personen zu verzeichnen, der Anteil an Pflegegeldempfängern an der Verteilung der Gesamtleistungen ging jedoch zurück, sodass von einer relativen Abnahme dieser Leistung gesprochen werden kann. Gestiegen ist nicht nur absolut, sondern auch relativ die Leistung durch ambulante Dienste. Die Veränderungen bewegen sich jedoch auf einem verhältnismäßig geringen Niveau. Insgesamt ist eine leichte Verschiebung von stationär in Richtung ambulant zu verzeichnen.
Dieser kurze Überblick verdeutlicht bereits den weiterhin bestehenden Vorrang der ambulanten Versorgung vor der stationären Unterbringung. Die Zahlen zeigen einen leicht steigenden Trend, wobei einzelne Bundesländer bzw. Regionen uneinheitliche Entwicklungen aufweisen.
Wenn auch in den kommenden 20 Jahren die Zahl der über 65-jährigen Personen um ca. ein Drittel und die Zahl der über 80-Jährigen um die Hälfte ansteigen wird, so kann hieraus nicht linear eine Pflegequote errechnet werden. Zu viele Einflussfaktoren erschweren eine genauere Vorhersage. Neben dem medizinischen Fortschritt beeinflusst auch eigenes Verhalten zur Gesundheitsvorsorge späteres Eintreten von Erkrankungen.
Demografische Verschiebungen, die eine Alterung der Bevölkerung zur Folge haben, schließen auch Menschen mit Behinderung ein. Behinderung im Alter ist in Deutschland eine relativ neue Erfahrung. Zwischen 1933 und 1945 in der Zeit des Faschismus in Deutschland wurden Behinderte systematisch verfolgt und ermordet. Mehr als 200.000 Menschen mussten in Konzentrationslagern ihr Leben lassen. Nach dem Krieg ist nunmehr die erste Generation behinderter Menschen in das Rentenalter gekommen. Sie erleben Alterserscheinungen und gesundheitliche Einschränkungen ebenso wie Nichtbehinderte. Bei einigen Krankheitsbildern erleben die Betroffenen den Alterungsprozess bereits in früheren Jahren.
Der Gesamtanteil von Menschen mit einer Behinderung liegt bei etwa 10,5 % der Bevölkerung und betrug im Jahr 2005 etwa 8,64 Millionen Menschen. Hierin sind Personen einbezogen, die in einer amtlichen Statistik als „behindert“ erfasst sind und nach dem Sozialgesetzbuch IX (§ 2) in ihrer körperlichen Funktion, geistigen Leistungsfähigkeit oder seelischen Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate einen für ihr Lebensalter abweichenden Zustand aufweisen. Ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ist durch die Behinderung beeinträchtigt.
Das Ausmaß wird im Grad der Behinderung angegeben. Danach gelten Personen als schwerbehindert, wenn sie auf einer Abstufungsskala von 20 bis 100 einen Grad von 50 und mehr aufweisen.
Die Erhebung des Mikrozensus (Pfaff 2006) mit Daten zur Lebenslage behinderter Menschen aus dem Jahr 2005 hatte gegenüber 2003 eine Steigerung der betroffenen Personenzahl um 2,7 % (231.000 Personen) auf 8,640 Millionen amtlich anerkannte behinderte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen. Davon gelten etwa 6,7 Millionen Menschen als schwerbehindert. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei ca. 8,2 %.
Die Quote der Behinderten, also ihr Anteil an der jeweiligen Altersgruppe in der Bevölkerung, steigt bei den über 45-Jährigen deutlich an und erreicht bei den über 80-Jährigen mit 33,6 % den höchsten Anteil.
Die oben angeführten Zahlen beziehen sich auf formal anerkannte Schwerbehinderte, die in einem beantragten Verfahren als solche einen Bedarf an Unterstützung (Nachteilsausgleich) zuerkannt bekommen haben. Die so erfassten Personen machen jedoch nur einen Teil der schwerbehinderten Menschen aus. In verschiedenen repräsentativen Erhebungen auf der Basis von Selbstauskünften wird deutlich, dass sich wesentlich mehr Personen „behindert“ fühlen oder Hilfen zur Lebensführung benötigen, als die amtlichen Zahlen anführen.
In der Altersgruppe der unter 65-Jährigen gibt es einen deutlich größeren Anteil an Personen mit einer leichten Behinderung als Schwerbehinderte. Auch sind die höheren Altersgruppen nicht stärker betroffen als Personen im erwerbstätigen Alter. Die Zahlen verringern sich sogar und liegen in der Altersgruppe der über 80-Jährigen etwa auf dem Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung mit 2,3 %.
Nach dem Stand von 2005 ist mit geringen Zuwächsen im Schwerbehindertenbereich und höheren Zuwächsen von Personen mit leichter Behinderung zu rechnen (Pfaff 2006).
In einer zusammenfassenden Gliederung lassen sich vier Arten der Behinderung unterscheiden:
Die zunehmende Alterung behinderter Menschen schafft neue Probleme hinsichtlich ihrer Versorgungssituation. Der Eintritt von Pflegebedürftigkeit wird begleitet von ungewisser Zukunft. Die bisher betreuenden Eltern oder Geschwister erreichen selbst ein Alter, in dem sie möglicherweise auf Fremdhilfe angewiesen sind. Eigene Kinder sind in der Regel nicht vorhanden und weitere soziale Netzwerke, die zumeist mit dem Arbeitsleben verbunden sind – soweit dies in Werkstätten möglich war –, kaum existent. Dies trifft insbesondere Menschen mit einer angeborenen Behinderung. Unterstützungsleistungen werden im Unterschied zur Altenhilfe vorrangig durch Eltern und Geschwister gegeben; in der Altenhilfe sind es dagegen in erster Linie die Ehepartner und Kinder und zunehmend auch die Enkel, also die nachfolgenden Generationen. Mit dem Wegbrechen der Unterstützungsleistungen der Familie müssen andere Personen einbezogen werden.
Abb. 1.2: Hilfeleistungen für Personen mit Behinderungen, nach INA-Studie (in Anlehnung an Driller et al. 2008, S. 111, eigene Darstellung)
Die INA-Studie untersuchte die Inanspruchnahme und Etablierung sozialer Netzwerke von Menschen mit Behinderung in sechs Einrichtungen der Behindertenhilfe (Brüsseler Kreis). Die Abnahme der Unterstützungsleistungen durch Familienmitglieder wird im Alternsverlauf besonders deutlich. Über 60-jährige Menschen mit Behinderung erhalten in den untersuchten Einrichtungen nur noch zu etwa 20 % Unterstützung aus der Familie. Der Wegfall dieser Unterstützung wird zum Teil von Mitarbeitern der Einrichtungen und zu einem ebenfalls beträchtlichen Teil von Ehrenamtlichen aufgefangen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich insgesamt nur 2,4 % der freiwillig Engagierten im Sozial- und Gesundheitsbereich Menschen mit Behinderung zuwenden (Stricker 2006, in Driller et al. 2008). Gerade der Verlust verwandtschaftlicher Unterstützung wäre durch Ehrenamtliche gut zu kompensieren (siehe Abb. 1.2).
Für unsere Thematik ist es von Bedeutung, wie die Haushaltsgrößen verteilt sind, um einen eventuellen Unterstützungsbedarf einschätzen und die Form des Freiwilligen Engagements darauf planen zu können.
Bezogen auf die Haushaltsgröße wohnt jeder vierte Behinderte allein in einem Privathaushalt (ohne Personen in Behindertenheimen). Größere Haushalte sind häufiger bei Nichtbehinderten zu finden. Für die Behinderten kann hieraus ein höherer Bedarf an alternativen gemeinschaftlichen Wohnformen geschlossen werden.
Abb. 1.3: Haushaltsgrößen Behinderter und Nichtbehinderter im Vergleich (Reggentin 2009, S. 4, in Anlehnung an Mikrozensus 2005, eigene Darstellung)
Die Verteilung der Haushaltsgrößen unterscheidet sich zwischen Behinderten und Nichtbehinderten in den höheren Altersgruppen nur wenig (siehe Abb. 1.3). Unterschiede zeigen sich jedoch in der Haushaltsverteilung nach Geschlecht, wobei auch hier wieder nur geringe Abweichungen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu verzeichnen sind.
Während Männer beispielsweise im Alter zwischen 60 und 80 Jahren zu ca. 15–19 % allein wohnen, liegt diese Quote bei den Frauen zwischen 20 % (bei 60- Jährigen) und 55 % (bei 80-Jährigen). Über 80-jährige Männer leben etwa zu knapp 30 % allein, während ca. 70 % der Frauen in dieser Altersgruppe allein wohnen.
Die gewählte Wohnform kann für Menschen mit einer Behinderung auch deshalb von Bedeutung sein, weil unter ihnen annähernd jeder Vierte (23 %) seit mehr als einem Jahr krank bzw. unfallverletzt war. Im Vergleich dazu waren Nichtbehinderte zu 3 % von einer Langzeiterkrankung betroffen (Reggentin 2009).
Die Zahlen belegen die besondere Bedarfslage älterer und hochaltriger behinderter wie auch nichtbehinderter Personen, hier insbesondere der Frauen, von denen etwa drei von vier Personen in Einpersonenhaushalten wohnen. Die Selbstversorgungskompetenz dieser Menschen ist offenbar vorhanden, kann jedoch durch Krankheit oder Unfall sehr schnell eingeschränkt werden. Für diesen Personenkreis können besondere unterstützende Wohnformen, wie z. B. gemeinschaftliche Wohnprojekte mit zugehender Hilfeleistung durch freiwillig Engagierte, Sicherheit in ihrer Selbstständigkeit geben.
Die Statistik zum Hilfe- und Pflegebedarf in Deutschland 2007 ergab bei der Verteilung der Pflegeeinstufung folgendes Bild:
Der Anteil schwer und schwerstpflegebedürftiger Personen in häuslicher Versorgung (Pflegestufe II und III, SGB XI) hat zwischen 2001 und 2007 abgenommen. Insbesondere Pflegestufe 2 hat sich verringert um 3,7 %. Der Anteil der Pflegestufe 3 ist seit 2005 nahezu konstant.
Tab. 1.3: Die Verteilung nach Pflegeklassen in Privathaushalten (in Anlehnung an Statistisches Bundesamt 2011, eigene Berechnungen)
2001 |
2009 |
|
Pflegestufe 1 |
54,6 % |
60,7 % |
Pflegestufe 2 |
35,1 % |
30,3 % |
Pflegestufe 3 |
10,3 % |
9,0 % |
Die Tabelle 1.3 gibt die gesamte häusliche Versorgung – durch Angehörige plus Versorgung mit ambulanten Diensten – wieder. Sie verdeutlicht die schwerpunktmäßige Versorgung von Personen mit Pflegestufe 1 im häuslichen Bereich, während die schweren Pflegfälle eher im stationären Bereich zu finden sind. Die Verschiebungen beziehen sich jedoch auf einen relativ kurzen Zeitraum und sind in ihrer Ausprägung noch moderat. Zumindest scheint der häusliche Bereich für die leichteren Pflegefälle ein zunehmend akzeptierter Bereich zu sein. Dies ist für die mögliche Einbindung von freiwillig Engagierten bedeutsam.
Zu einer annähernd gleichen Verteilung kam das Forschungsinstitut Infratest (2003) in einer Repräsentativerhebung zum Hilfe- und Pflegebedarf in Privathaushalten in Deutschland. Gegenüber den regelmäßig erhobenen Daten zur Pflegestatistik erbrachte die Repräsentativerhebung von Infratest darüber hinaus auch Angaben zu Personen mit Hilfebedarf.
Die Unterscheidung zwischen Pflege- und Hilfebedarf wurde entsprechend den Kriterien des SGB XI getroffen. Pflegebedürftig sind Personen, wenn ein erheblicher Pflegebedarf in körperbezogenen (mindestens einmal täglich) und zusätzlich in hauswirtschaftlichen Verrichtungen (mehrfach in der Woche) vorliegt und daraus ein Unterstützungsbedarf von täglich mindestens 90 Minuten (bei 45 Minuten Grundpflege) resultiert.
Als hilfebedürftig wurden Personen eingestuft, deren Bedarf vorrangig in hauswirtschaftlichen alltäglichen Verrichtungen besteht. Dieser Bedarf wird auch als vorpflegerischer Bereich oder Pflegestufe Null bezeichnet. Auf Bundesebene wurden 2,989 Millionen Personen mit Hilfebedarf ausgemacht (Dettbarn-Reggentin 2004).
Neben den Personen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen, müssen im Hinblick auf einen vorhandenen Hilfebedarf Personen mit Einschränkungen bei den alltäglichen Verrichtungen berücksichtigt werden, denn diese Personen stehen an der Schwelle zur Pflegebedürftigkeit. Die annähernd 3 Millionen Personen in Deutschland machen deutlich, dass auf jede pflegebedürftige Person in privaten Haushalten ca. 2,1 Personen hinzu zu rechnen sind, die einen Hilfebedarf aufweisen. Von diesen Hilfebedürftigen benötigt annähernd jede zweite Person täglich mindestens einmal Hilfe.
Insgesamt Hilfebedürftige: ca. 2.990.000 davon
Personen mit täglichem Hilfebedarf ca. 1.361.000 (45 %)
Personen mit wöchentlichem Hilfebedarf ca. 1.064.000 (36 %) und
Personen mit eher seltenem Hilfebedarf ca. 564.000 (19 %)
(Infratest 2003, S. 62).
Es kann davon ausgegangen werden, dass aus diesem Personenkreis etwa jeder Fünfte bereits einen Antrag auf Pflegeleistung gestellt hat. Sie sind ebenso wie die ca. 1.540.000 Pflegebedürftigen (Tabelle 1.2) in Privathaushalten Zielgruppe von Unterstützungsmaßnahmen und somit auf Leistungen aus dem näheren Umkreis angewiesen.
In Anbetracht möglicher externer Unterstützungsleistungen sind haushalts- wie auch personenbezogene Dienste notwendig. Der Hauptpflege- und Unterstützungsbedarf liegt bei alltäglichen Verrichtungen. Körperbezogene Beeinträchtigungen, kognitive Einschränkungen sowie nachlassende Fähigkeiten, haushaltsbezogene hauswirtschaftliche und instrumentelle Tätigkeiten ausführen zu können, müssen kompensiert werden. Im Bereich der körperbezogenen Leistungen sind beispielsweise Hilfen bei der Körperreinigung, beim An- und Auskleiden, beim Gehen und Treppensteigen, bei der Toilettennutzung und beim Essen/Nahrungsaufnahme notwendig. Bei Auftreten kognitiver Störungen werden Hilfen in der Orientierung und der Tagesstrukturierung sowie Sicherheit oder emotionale Zuwendung gegeben, während die Unterstützung bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten die Haushaltsorganisation und das Hauswirtschaften insgesamt umfasst. Häufig sind alle drei Bereiche gleichermaßen betroffen, sodass umfassende Hilfeleistungen gegeben werden müssen.
In einer Studie zu den Unterstützungsleistungen pflegender Angehöriger für demenziell erkrankte Menschen in Berlin und Brandenburg nannten die befragten Hauptpflegepersonen den gesamten alltäglich auftretenden Bedarf an Unterstützung, der alle Lebensbereiche umfasst. Psychosoziale Hilfen wie Trösten, Beruhigen oder Aufmuntern erfordern erheblichen Einsatz (Dettbarn-Reggentin & Reggentin 2002a).
Tab. 1.4: Unterstützung durch die Hauptpflegeperson in fundamentalen ADL und IADL-Bereichen2 (Quelle: Dettbarn-Reggentin & Reggentin 2002a)
Unterstützung bei folgenden Verrichtungen |
Häusliche Versorgung in % |
Zubettgehen |
52,7 |
Waschen |
51,7 |
An- und Auskleiden |
52,7 |
Treppensteigen |
26,1 |
Stuhl- und Urinkontrolle |
45,4 |
Körperpflege (Bad) |
38,6 |
Essen und Trinken |
61,8 |
Hinsetzen und Aufstehen |
34,8 |
Gehen und Fortbewegen |
29,5 |
Zur Toilette gehen |
38,2 |
Aufräumen und Putzen |
56,5 |
Umgang mit Geld |
46,4 |
Telefonieren |
32,9 |
Mahlzeiten zubereiten |
56,5 |
Umgang mit Geräten |
42,0 |
Trösten |
55,1 |
Beruhigen |
62,3 |
Aufmuntern |
60,9 |
In der Tabelle 1.4 wurde nicht nach Pflegestufen getrennt, sodass sich etwa in der Pflegestufe 3 noch höhere Inanspruchnahmen einzelner Leistungen ergeben können.