Inhalt
Kapitel 1 – HANNAH – Im Moment der Landung …
Kapitel 2 – IMOGEN – Imogen Collins betrachtet sich …
Kapitel 3 – HANNAH – Wie Speichelgeschosse klatschen …
Kapitel 4 – IMOGEN – Imogen hat schon so oft …
Kapitel 5 – HANNAH – Ein Facebook-Freund …
Kapitel 6 – IMOGEN – Mit jedem tiefen Schluck …
Kapitel 7 – HANNAH – Auf der Autofahrt …
Kapitel 8 – IMOGEN – Imogen steht vor …
Kapitel 9 – HANNAH – Einen Tag nach …
Kapitel 10 – IMOGEN – Imogen hat sich …
Kapitel 11 – HANNAH – Um kurz nach sieben …
Kapitel 12 – IMOGEN – In der Kneipe …
Kapitel 13 – HANNAH – Es ist kurz vor fünf …
Kapitel 14 – IMOGEN – Mit dem Telefon …
Kapitel 15 – HANNAH – Bei der morgendlichen …
Kapitel 16 – IMOGEN – Imogen sitzt allein …
Kapitel 17 – HANNAH – Kaum vom Mittagessen …
Kapitel 18 – IMOGEN – An die Wand gedrängt …
Kapitel 19 – HANNAH – Es ist drei Uhr nachts …
Kapitel 20 – IMOGEN – Aus Imogens Sicht …
Kapitel 21 – HANNAH – Ich bin noch am Leben.
Kapitel 22 – IMOGEN – In diesem Zustand …
Kapitel 23 – HANNAH – Ich will jetzt …
Kapitel 24 – IMOGEN – Es ist sechs Uhr morgens …
Kapitel 25 – HANNAH – In Sigurlínas Küche …
Kapitel 26 – IMOGEN – Seit 40 Minuten …
Kapitel 27 – HANNAH – Ich bekomme mit, …
Kapitel 28 – IMOGEN – Das letzte Mal …
Kapitel 29 – HANNAH – Heute ist mein erster Schultag.
snow·flake n
1. Schneeflocke f; federleichter Eiskristall, meist von einer zarten sechsfachen Symmetrie
2. abwertend, informell; übermäßig empfindliche, leicht zu beleidigende Person; Person, die von sich glaubt, aufgrund vermeintlich einzigartiger Eigenschaften einen Anspruch auf besondere Behandlung zu haben
Foto: In einem engen Flur steht zwischen lauter Schuhen ein pinkfarbener Koffer.
Filter: Clarendon
Mögliche Bildunterschriften …
Option 1: Auf ins exotische Abenteuer #myglamorouslife
Option 2: Dieses Gepäckstück hat mir mein Dad gerade gekauft. Kennt der mich überhaupt?
Option 3: Mein ganzes Leben passt in einen einzigen Koffer. Mums Asche passt perfekt auf den Kaminsims.
Option 4: Ich habe ein Verbrechen begangen und werde nun dorthin geschickt, wo die Verdammten ewig für ihre Taten büßen.
Tatsächliche Bildunterschrift …
Macht’s gut, und danke für den Fisch.
38
Im Moment der Landung ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Eine neue Nachricht von Daisy.
Vermisse dich jetzt schon!
Und eine von Dad.
Musste länger arbeiten, komme ca. 20 Minuten später.
Typisch für ihn.
Dad wollte mich unbedingt vom Flughafen abholen. Ich habe ihm gesagt, ich könne auch gerne den Bus nehmen, kein Problem. Ich fahre immer mit dem Bus. Aber diesmal ist es anders.
Langsam rollt das Flugzeug über die vereiste Piste zum Terminal. Es schliddert ein bisschen, was aber anscheinend niemanden stört. Verglichen mit den Turbulenzen während des Sinkflugs, als die Windböen auf den Flieger eingeprügelt haben wie die unsichtbaren Fäuste eines gigantischen Boxers, ist das ein Klacks.
Meine Sitznachbarin sieht mich immer wieder an und lächelt. Sie will mich in ein Gespräch verwickeln, das merke ich genau. Ich starre auf mein Handy. Ich will nicht reden. In den letzten drei Wochen, zwei Tagen und sechs Stunden habe ich das so häufig gesagt, ich sollte es mir als Motto auf ein T-Shirt drucken lassen.
Auf dem Handy-Display ploppen von oben nach unten Benachrichtigungen verschiedener Apps auf, Zahlen in Blasen, die mir mit der Autorität eines Stoppschilds befehlen: Egal, was du machst, du klickst mich jetzt sofort an. Die üblichen Gefühle steigen in mir auf, eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung, Grauen und Bestätigung, die süchtig macht. Natürlich sollte ich das alles nicht empfinden. Natürlich lasse ich mich dadurch von gierigen Konzernen ausnutzen, denen es allein um Klickrate und Kontostand geht. Doch in meiner Situation ist das einfach mal eine schöne Abwechslung, denn sonst will ich mich immer nur auf den Boden legen und darauf warten, dass es vorbeigeht.
Ich überfliege die Zahlen in den Blasen, die ewigen Gezeiten der Wertungen und Urteile, denen wir in Wirklichkeit so gleichgültig sind wie die Küste dem Meer: Wie sehr wirst du heute geschätzt? Wie stark geliebt, wie viele Menschen suchen deine Nähe? Mag dich denn überhaupt irgendwer? Hast du neue Freunde? Wie sieht’s mit Followern aus?
Zuerst tippe ich auf Gmail. Abgesehen von Newslettern und Benachrichtigungen verschiedener sozialer Netzwerke habe ich genau zwei neue E-Mails. Eine stammt von einer gewissen Stacey Callaghan, und obwohl mir der Name rein gar nichts sagt, habe ich so eine Ahnung, worum es gehen könnte. Der Betreff lautet: »Mein Beileid«. Ich schiebe die Mail zu den ganzen anderen in den Später-Lesen-Ordner. Die andere Mail ist von Granny Jo. Sie will einfach nicht kapieren, wie man Textnachrichten schreibt, und schickt mir stattdessen immer kurze Botschaften in der Betreffzeile: »Bring auf dem Heimweg Milch mit« oder »Muss bis spät arbeiten, bestell dir eine Pizza«. Diesmal steht dort: »Ruf an, wenn du bei deinem Dad bist.« Ich öffne die E-Mail, auch wenn das Textfeld sowieso jedes Mal leer ist. Ist es in diesem Fall aber nicht.
Mein liebes Mädchen, ich hoffe, du bist sicher gelandet. Ich wollte dich nur darum bitten, nein, ich flehe dich an, nicht einfach zu vergessen, was ich dir heute Morgen gesagt habe. Du bist jetzt nur noch für dich selbst verantwortlich und für niemanden sonst. Gestatte dir, frei zu sein. Bitte, Hannah. Noch ein vergeudetes Leben halte ich nicht aus.
In Liebe
Granny
Ich tue mein Bestes, nicht in Tränen auszubrechen.
Vor nicht einmal fünf Stunden habe ich mich von Granny Jo verabschiedet. Irgendwie kommt es mir schon jetzt vor wie eine Ewigkeit.
Dass sie mir vor meinem Abschied noch eine Ansage machen würde, hatte ich mir denken können. Aber mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Das war zu viel verlangt. Ich könne nicht einfach so neu anfangen, erklärte ich ihr, mein Leben sei keine Geschichte in einem Word-Dokument, das ich mal eben löschen und durch ein neues ersetzen könne. Wenn das jemand wissen sollte, dann sie.
Ein Druck auf den Home-Button meines Handys und Grannys Nachricht verschwindet. Ich stecke den Kopf in den virtuellen Sand. Ich kann mich damit jetzt nicht beschäftigen.
Zur Ablenkung gehe ich auf Facebook. Nichts Neues bei mir außer einer einzigen Freundschaftsanfrage von jemandem, der mit ziemlicher Sicherheit nicht real, sondern ein Bot ist. Doch ich brauche jetzt dringend eine Dosis digitale Liebe, also schnell Instagram öffnen.
Schon besser. Mein Koffer-Foto hat bereits 38 Likes und einen Kommentar. Der stammt von Daisy: »Was für ein traumhaft schönes Gepäckstück!«
Ich spüre ein leichtes Kribbeln. 38 ist nicht schlecht. Über dem Durchschnitt.
Die Frau neben mir lehnt sich immer weiter herüber. Sie strahlt ein verzweifeltes Mitteilungsbedürfnis aus. Sie ist wie ein prall gefüllter Ballon kurz vor dem Platzen. Ich tue so, als hätte ich es nicht mitbekommen, doch es gibt Leute, die merken einfach gar nichts.
»Ich besuche hier meine Enkel«, flötet sie und rückt mir dabei so dicht auf die Pelle, dass ihr Atem über meine Wange streicht. Er riecht nach Knoblauch und Minze.
Meine Antwort sollte einerseits gerade so höflich ausfallen, dass die Frau mich nicht für eine psychopathische Menschenfeindin hält, andererseits aber so knapp, dass mein verschwindend geringes Interesse an einer Unterhaltung mit ihr deutlich wird. Ergebnis: »Wie schön.«
Die Frau hat entweder null Gespür für Zwischentöne oder sie ignoriert meine Signale mit Absicht. Sie bietet mir eine Lutschtablette an. »Auch eine?«
Ich schüttele den Kopf.
Sie steckt die Hustenbonbons wieder in ihren abgewetzten Rucksack zu ihrer Brille und ihrer Reiselektüre, einem typischen düsteren Skandinavien-Thriller, neuerdings ein Muss im Gepäck eines jeden trendbewussten Menschen. Auf dem Cover prangt die unvermeidliche Schneelandschaft, gesprenkelt von geschmackvoll arrangierten Blutstropfen. Minimalistischer Mörder-Chic. Wieso verbringen so viele Leute ihre Freizeit mit ausgedachten Horrorgeschichten? Ist die echte Welt nicht schon schlimm genug?
Die Frau deponiert ihren Rucksack auf dem Boden, richtet sich dann wieder in ihrem Sitz auf und lässt ihre gelblichen Zähne aufblitzen, wie um mich vorzuwarnen: Gleich geht es weiter mit dem Small Talk.
»Sind Sie zum ersten Mal hier?«
Ich stecke mein Handy ein. Es sollte mich von der Außenwelt abschotten. Es hat mich enttäuscht. »Nein.«
»Machen Sie hier Urlaub?«
Unwillkürlich stöhne ich leise auf. Wieso sollte man hier Urlaub machen? Wer kommt auf die Idee, freiwillig ans bitterkalte Ende der Welt zu reisen? Was ich sagen sollte: Nein, ich mache hier keinen Urlaub. Was ich sagen sollte: Ich bin zur Strafe hier. Ich bin Gefangene meines beschissenen Schicksals. Doch ich sage bloß: »Ja, klar.« Niemand will die Wahrheit hören, auch wenn das immer alle behaupten. Die Wahrheit ist selbst sogenannten Profis unangenehm – das ist mir schnell klar geworden.
Einen Tag nach Mums Tod klopfte der Pfarrer der örtlichen Kirche bei uns an. Wie er darauf kam, weiß ich nicht, vermutlich hatte ihm jemand aus der Nachbarschaft von uns erzählt. Wir gingen nie in die Kirche. Weder Granny Jo noch ich hatten den Mann, der jetzt auf dem bröckelnden Bürgersteig vor unserer Tür stand, je gesehen.
»Sind Sie vom Lieferdienst?«, fragte Granny und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Trotz seiner hohen Stirn wirkte er einigermaßen jung und noch dazu trug er Jeans und eine dicke Daunenjacke gegen die Septemberkälte, die gerade über uns hereingebrochen war. Man konnte ihn wirklich leicht für einen Fahrer von Ocado halten, der uns wie immer unseren Wocheneinkauf vorbeibringen sollte.
»Ich bin Dominic Johnson«, sagte der Mann mit einem fein austarierten Gesichtsausdruck – ohne Lächeln, aber doch mit der klaren Botschaft, dass er in Frieden komme. »Ich bin von der Christ Church. Darf ich eintreten? Ich würde mich gerne ein bisschen mit Ihnen und Ihrer Enkeltochter unterhalten.«
Granny seufzte demonstrativ. Alles, was mit Gott zu tun hatte, ging ihr gehörig auf die Nerven. Und das war noch untertrieben.
Mit einer Mischung aus Neugier und dunkler Vorahnung folgte ich ihr und dem bedauernswerten Kerl ins Wohnzimmer. Granny bat ihn bestimmt nicht ohne Hintergedanken, in ihrem Lesesessel am Erkerfenster Platz zu nehmen. Im Regal gleich über seinem Kopf stand nämlich eines ihrer Lieblingsbücher, quasi ihre Bibel, was man aber nur sagen sollte, wenn man sie ärgern will. Vom Cover der prächtigen Hardcover-Ausgabe strahlte der kompromisslose Titel: Der Gotteswahn.
Grannys Blick senkte sich auf ihre graue Jogginghose, die sie ausschließlich zu Hause trug. Sie fuhr sich durch ihr schulterlanges Haar, strich es glatt. Es war grau mit kastanienbraunen Strähnen, genau anders herum als noch vor Kurzem.
Sie ärgerte sich nicht nur wegen der Sache mit Gott. Sie mochte außerdem keine Überraschungsbesuche. Eine Ausnahme machte sie nur bei Daisy, ansonsten wollte sie immer im Voraus wissen, wann wir Gesellschaft zu erwarten hatten. Wenn Besuch kam, gab sie sich stets Mühe, tauschte die Jogginghose gegen eine elegante Stoffhose mit Bluse, wenn nicht sogar gegen ein Kleid, und sorgte dafür, dass wir schmackhafte Kekse im Haus hatten. Früher hatte das aber auch an Mum gelegen. Granny wollte das Bild einer ganz normalen Familie vermitteln, von Mutter, Tochter und Großmutter, die glücklich vereint unter einem Dach wohnen. In ein normales Leben passte meine Mutter jedoch so gut wie eine gemütliche Teestunde auf die Startbahn eines Flughafens. Wenn spontan jemand an der Tür klingelte, dann konnte man nie wissen, in welchem Zustand sich Mum gerade befand.
Granny setzte sich gegenüber vom Pfarrer auf das Sofa. »Hannah«, bellte sie mich an. »Mach dem Mann einen Tee.«
»Nicht nötig«, sagt er. Seine Daunenjacke hatte er nicht ausgezogen. »Ich will nicht stören …«
»Haben Sie doch schon.«
Es war mir dermaßen unangenehm, dass ich froh war, in die Küche fliehen zu können. Als ich wieder zurückkehrte, staunte ich allerdings. Die beiden unterhielten sich über die geplante Umgestaltung des nordöstlichen Teils von Highbury Fields, dem Park in unserer Nähe, und waren sich absolut einig: Mit ihrem Vorhaben richtete sich die Stadtverwaltung wie üblich allein nach den Interessen von Bauunternehmern, die nur in Beton und Geld dachten, und der Park sollte lieber so bleiben, wie er war.
Ich setzte mich neben Granny.
»Und wie geht es dir, Hannah?«, fragte der Pfarrer, nachdem er einen Schluck Tee getrunken hatte.
Granny richtete sich kerzengerade auf und reckte die Nase in die Höhe – die wachsame Alarmbereitschaft einer Hyäne, die den ersten Hauch eines Tierkadavers wittert.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht reden.
Als der Pfarrer sich nach vorne lehnte, sah man die kahle Stelle oben auf seinem Kopf. »Auch wenn sie nicht mehr da ist, wird sie trotzdem immer bei dir –«
»Tut mir leid«, unterbrach Granny Jo ihn. »Ich will ja nicht unhöflich sein …« (Das war eine glatte Lüge. Sie nahm aus Prinzip kein Blatt vor den Mund und hatte großen Spaß daran, andere Leute durch ihr forsches Auftreten aus dem Konzept zu bringen.) »… aber in meinem Haus kann ich solches Gerede leider nicht dulden.«
Der Blick des Pfarrers wanderte von mir zu Granny und er hob die Augenbrauen. Eingeschüchtert wirkte er nicht, kein bisschen. »Was für Gerede meinen Sie?«
»Gerede über Dinge, über Orte, die es nicht gibt.« Granny Jos Miene verhärtete sich. »Hören Sie, Reverend –«
»Nennen Sie mich Dom.«
»Okay, Dom. Hier bei uns wird der Tod nicht kleingeredet, als wäre er kein Abschied für immer. Der Tod hat eine Funktion. ›Er ist der dunkle Hintergrund, ohne den man in einem Spiegel nicht das Geringste sehen würde‹, hat ein kluger Mann einmal gesagt.«
Ich wusste nicht, wie oft ich das schon gehört hatte, irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen. Und ich konnte mir denken, wie es weiterging.
»Die Endlichkeit des Lebens verleiht ihm erst seinen Wert. Sie schärft den Blick und treibt uns dazu, alles aus unserem Dasein herauszuholen. Wieso sollte man ausgerechnet heute in ein Abenteuer aufbrechen, wieso sollte man in den Urlaub fahren, eine neue Sprache lernen, ein Buch lesen, sich gerade jetzt verlieben, wenn es sowieso immer weitergeht? In der Ewigkeit kann man alles erreichen. Ergo kann alles warten.« Granny Jo sog ihre Wangen ein, um ein triumphierendes Grinsen zu unterdrücken. Sie war offensichtlich hochzufrieden mit sich. »Deswegen lasse ich nicht zu, dass Sie in diesem Haus den Tod schlechtmachen.«
Der Pfarrer lächelte. »Ein schöner Vortrag war das. Ich wette, das haben Sie irgendwo gelesen.«
Grannys Mund öffnete sich leicht. Ein empörtes Zischen, ein Blick, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst. 32 Jahre lang hatte sie als Bibliothekarin in der Islington Central Library gearbeitet. Grob geschätzt würde ich vermuten, dass wir uns zu siebzig Prozent über Zeug unterhielten, das sie irgendwo gelesen hatte.
Mühsam zog sich der Pfarrer aus den Polstern des Lesesessels nach oben, trank noch einen Schluck Tee und stellte Tasse und Untertasse auf den Sofatisch. »Lassen Sie mich Ihnen eines sagen – und ich spreche aus Erfahrung: In der Praxis ist der Tod so viel komplizierter als in der Theorie.«
Granny spitzte die Lippen. Sie war berüchtigt dafür, eine schlechte Verliererin zu sein. »Mag sein. Dann werden wir schon auch noch dahinterkommen. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig.«
Der Pfarrer neigte das Haupt, gab sich geschlagen.
»Dann lasse ich die Damen mal in Frieden.« Er stand auf, zückte eine Visitenkarte und legte sie neben seine noch fast volle Teetasse, den Blick auf mich gerichtet. »Ein paar Leute aus der Nachbarschaft haben darüber nachgedacht, ob Sie vielleicht drüben in der Christ Church einen kleinen Gedenkgottesdienst für Ellen abhalten wollen. Wenn das etwas für Sie wäre, melden Sie sich bei mir. Sie finden mich gleich um die Ecke.«
Granny erhob sich vom Sofa, um den Pfarrer hinauszubegleiten. Noch war sie ihn aber nicht los. Als er in der Wohnzimmertür stehen blieb, ließ sie vor Enttäuschung den Kopf hängen.
»Hannah«, sagte er und wandte sich an mich. »Deine Mum ist ab und zu auf einen kurzen Schwatz in der Kirche vorbeigekommen. Ich weiß, sie hatte mit ihren Dämonen zu ringen, aber an guten Tagen war sie ein echter Sonnenschein.«
Ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte, füllte mich vollständig aus: abgrundtiefe Scham. Ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte einfach in den Sofakissen versinken und verschwinden. Auf die Außenwelt hatte Mum während ihrer Hochs immer ganz reizend gewirkt, nur für Granny und mich waren sie ein grelles Warnsignal in der Dunkelheit ihrer verworrenen Realität. Höhenflüge und Höllenqualen, das waren bei Mum zwei Seiten einer Medaille.
»Es tut mir sehr leid für dich, mein Kind. Gott sei mit dir.«
Dieser letzte Satz brachte für Granny das Fass zum Überlaufen. Hätte er sich den doch nur gespart, wäre der Pfarrer noch mal glimpflich davongekommen.
»Ich sage Ihnen jetzt, was Gott ist. Gott ist ein Meme – Sie wissen schon, diese albernen Bildchen im Internet – und zwar ein hoch ansteckendes. Gott ist ein kultureller Virus, der kaum auszurotten ist. Schönen Dank auch, aber Darwin ist mir persönlich viel lieber als Ihr Virus-Meme.« Und damit schob sie ihn buchstäblich aus der Tür.
Das Flugzeug hält am Terminal. Neben mir schwafelt die Frau darüber, mit ihren Enkelkindern am Teich Enten füttern zu wollen. Ich ertrage es nicht mehr. Nicht dass sie das persönlich nehmen müsste, von den glorreichen Belanglosigkeiten anderer Leute bekomme ich nun mal Atemprobleme. Wahrscheinlich liegt das an der Trauer. An der Trauer um das, was ich verloren habe, aber mehr noch um das, was nie war. Mein größtes Ziel im Leben ist Normalität. Für mich wäre etwas hirnabstumpfend Belangloses reinster Luxus. Langeweile ist meine Perfektion.
Wieder hole ich mein Handy raus, um mich vom Gequatsche der Frau abzuschirmen. Soll sie mich doch für ein unverschämtes Gör halten.
Wenn man sich meinen Instagram-Feed so anschaut, könnte man Folgendes über mich denken:
Ich habe glattes, glänzendes rotes Haar und makellose Haut.
Ich koche gern.
Ich mag die Natur.
Ich bin total gern mit meinen lustigen Freundinnen unterwegs.
Ich bin normal.
Nichts davon wäre wahr.
Foto: In einer grauen Londoner Straße steht ein Mädchen mit langem dunklem Haar und pinkfarbenem Blumenkleid, auf den Lippen ein strahlendes Lächeln, wie der einzige Sonnenstrahl an einem verregneten Tag.
Filter: Rise
Bildunterschrift: Sommer ist eine Einstellungssache.
1253
Wie die Bildunterschrift hätte lauten sollen …
Option 1: Was siehst du auf diesem Foto? #glück #glamour #liebedasleben #instamega
Option 2: Lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen #fake
Option 3: Für das Posten dieses Bildes auf Instagram habe ich 2.000 Pfund erhalten #werbung
Option 4: Dieses Foto hat keinen Bezug zur Realität #instalüge
Imogen Collins betrachtet sich im Spiegel. Ihre Haut sieht heute wirklich gut aus, kein Vergleich zu noch vor einem Jahr. Da hat sie jeden Morgen damit verbracht, Pickel und Unreinheiten mit einer Foundation zuzukleistern, die dick wie Wandfarbe war. Ob die Nachtcreme für unreine Haut, die sie von den L’Oréal-Leuten zugeschickt bekommen hat, tatsächlich die Lösung war? Oder liegt es an weniger Stresshormonen und größerem Abstand zwischen ihr und dem Monster?
Shit. Da ist es wieder. Das Monster. Andauernd schleicht es sich an und drängt sich ungefragt, gegen ihren Willen in ihre Gedanken. Ein Jahr ist seitdem vergangen und trotzdem will sein Schatten nicht verschwinden, nicht einmal an einem sonnigen Tag wie heute. Vielleicht sollte sie sich doch Hilfe suchen. Sich ein paar Tabletten besorgen oder so.
Draußen knarren Bodendielen. Auf der anderen Seite ihrer geschlossenen Zimmertür hört Imogen Schritte – leise, behutsame Tapser. Das kann nur Anna sein. Wenn Steph und Josh früh aufstehen, denken sie nie daran, dass andere eventuell noch schlafen. In fünf Minuten ist also der Kaffee fertig. Anna macht immer auch eine Tasse für Imogen. Imogen liebt Anna. Wäre Anna ein Mann, würde Imogen sie daten. Ach was, sie würde sie heiraten. Mit keinem anderen Menschen lebt es sich so angenehm wie mit Anna. Sie ist ruhig, sie kocht gerne, sie kann einen heftigen Mojito mixen. Der perfekte Partner. Was will man mehr?
Ein bisschen was würde Imogen schon einfallen: Augen, die irre braun und durchdringend sind; ein freches Lächeln, dessen Strahlen Stoff für ganze Nächte aus leicht peinlichen erotischen Träumen bietet; und steinharte Bauchmuskeln (die sie versehentlich gestreift hat, als sie beide gleichzeitig an die Latzugmaschine im Fitnessstudio wollten).
Heute Abend ist ihr Date mit Callum. Imogen hat ihn gefragt, nicht andersherum. Sie kennt ihn nicht wirklich. Im Gym haben sie sich ein paarmal kurz unterhalten, und seitdem ist Imogen sich ziemlich sicher, dass sie nicht das Geringste gemeinsam haben. Er arbeitet abends als Barkeeper und tagsüber als freiberuflicher Tätowierer. Doch sie will nach vorne blicken, endlich aus dem Schatten treten. Hör auf damit, Imogen. Wieso muss sich immer alles um ihn drehen? Wieso muss er immer alles besudeln? Kann ein Date nicht einfach ein Date sein und kein Versuch, nach vorne zu blicken, zu vergessen, neu anzufangen, einen neuen Weg zu finden oder sonst irgendein Scheiß? Eigentlich geht es ihr doch gut. Sie sollte glücklich sein. Ständig erklärt ihr irgendwer, was für ein fantastisches Leben sie doch habe. »Ich wünschte, ich könnte es dir nachmachen«, sagen sie, legen den Kopf schief und lächeln dabei, als würden sie sich unendlich für sie freuen, während sich in ihren eiskalten Augen unbewusst der Neid spiegelt.
Erst gestern ist sie in Covent Garden auf der Straße von einem staunenden Fan angesprochen worden.
»Bist du Imogen Collins?«, fragte das Mädchen. Es war höchstens zehn Jahre alt und in Begleitung einer erwachsenen Frau unterwegs, vermutlich seiner Mutter.
»Ja, ich bin Imogen«, antwortete Imogen und schenkte dem Mädchen ein professionelles Lächeln, das sie sich extra antrainiert hatte, um a) Offenheit auszustrahlen (weil es ebenso wichtig ist, bestehende Follower zu binden wie neue zu gewinnen), b) Überraschung auszudrücken (um das Mädchen glauben zu machen, sie wäre etwas ganz Besonderes, nämlich der erste Mensch überhaupt, der Imogen auf der Straße erkannt hat) und c) nett zu wirken (denn wer folgt schon gerne dem perfekten Leben einer arroganten Bitch?).
»Können wir ein Selfie machen?«, fragte das Mädchen.
Imogen war auf dem Rückweg von einer längeren Mittagspause und hatte es eilig, ins Büro zu kommen. »Aber natürlich, Süße.«
Als sie danach weiter die King Street hinunterlief, hörte Imogen die Mutter noch fragen: »Wer war das denn?«
Imogen legt die Hände flach auf den Schminktisch und atmet tief ein, eine Methode der Angstbewältigung, von YouTube. Manchmal funktioniert sie, manchmal nicht. Doch Imogen mag das Gefühl der kühlen Holzplatte unter ihrer feuchten Haut. Sie liebt ihren Schminktisch. Er ist aus Walnussholz gefertigt, passt aber trotzdem gut in die heutige Zeit: ein Spiegel ohne Rahmen, Schubladen ohne Griffe. Anna, Josh und Steph hat Imogen erzählt, sie habe ihn in einem Trödelladen entdeckt. Tatsächlich hat sie ihn von Heal’s und 3.299 Pfund dafür bezahlt. So viel verdienen die anderen nicht mal in zwei Monaten. Imogen kann es sich leisten. Sie könnte es sich beinahe leisten, allein in dem Vier-Zimmer-Haus in Bloomsbury zu wohnen statt mit drei anderen. Doch sie hat gerne Gesellschaft. Sie braucht Gesellschaft. Alleinsein bekommt ihr nicht mehr so gut. Sobald sie allein ist, wächst der Schatten, wird dunkler –
Hör auf damit. Hör einfach auf.
Imogen öffnet eine der Schubladen und entnimmt ihr eine Dose mit Puder, einen Pinsel und Wimperntusche. Alle glauben, sie würde sich jeden Morgen stundenlang zurechtmachen, sich schminken, Kleidungsstücke auswählen. Tut sie nicht. Tatsächlich interessiert sie sich gar nicht so sehr für Make-up und Klamotten, oder jedenfalls nicht mehr als alle anderen auch. Ihre Social-Media-Karriere hat sie nur aus einer Laune heraus gestartet, dann drehte sich die Spirale immer schneller und Imogen verlor die Kontrolle, wie so oft in ihrem Leben. Was sie auch tut, irgendwie gerät sie jedes Mal in eine solche Spirale.
Aus der Küche ist ein schrilles Piepen zu hören. Eins, zwei, drei, Kaffee ist fertig. Eilig schmiert Imogen sich die Wimperntusche drauf. Das Zeug klumpt. Egal. Die Instagram-Fotos für diese Woche sind alle schon gemacht.
Imogen greift zu ihrem Flakon Coco Mademoiselle und sprüht sich eine großzügige Ladung auf die Haut – das Einzige, was in ihrer Morgenroutine nicht fehlen darf, ohne geht sie nicht aus dem Haus. Dann klappt sie ihren Laptop auf und stellt ihn vorsichtig auf den Schminktisch.
Sie will jeden Tag möglichst zwei Posts platzieren, einen vor der Arbeit und einen am Nachmittag. Gestern Abend hat sie vor dem Schlafengehen das Bild für heute Morgen ausgesucht und die Bildunterschrift verfasst. Es ist ein bezahlter Beitrag. Auf dem Foto steht Imogen an einem grauen Regentag auf einer belebten Londoner Straße, in ein schönes pinkfarbenes Sommerkleid von Topshop gehüllt. Die Bildunterschrift lautet: »Sommer ist eine Einstellungssache.«
Das Bild stammt vom letzten Wochenende. Auf dem Foto lächelt Imogen. Es sieht aus, als würde sie einen tollen Tag erleben, aber sie weiß noch, wie elend ihr zumute war. Ihr war kalt und sie hatte einen üblen Kater, weil sie am Vorabend zu viele von Annas Mojitos erwischt hatte. Auf dem Foto schirmt Imogen sich mit einer Ausgabe des Guardian von den dicken Regentropfen ab – als sie wieder zu Hause war, war von der Zeitung nur noch ein unlesbarer Klumpen Papierpampe übrig gewesen. Imogen kauft sich jeden Samstag den Guardian, er erinnert sie an zu Hause. Daran, wie Mum und Dad sich immer um den Kulturteil gestritten haben. Mit ihren Eltern hat sie … wie lange nicht mehr gesprochen? Jetzt ist August. Ihr epischer Skype-Streit war im März. Also: März, April, Mai, Juni, Juli … Mit ihren Eltern hat Imogen seit fünf Monaten nicht mehr gesprochen. Wow. Dass es schon so lange her ist, hätte sie nicht gedacht.
Auch das hat das Monster ihr genommen. Ihre Eltern hatten kein Verständnis für ihre Entscheidung. Imogen wollte es ihnen nicht erklären. Ergebnis: Stillstand.
Und wenn schon. Sie hat ein fantastisches Leben. Jede junge Frau würde liebend gern mit ihr tauschen. Alle wollen es ihr nachmachen. Sie hat Glück. Sie ist stark. Sie ist nicht kaputt.
Doch wenn sie sich nicht beeilt, wird sie trotzdem gefeuert. Verlässt sie nicht in spätestens acht Minuten das Haus, kommt sie zu spät zur Arbeit. Zu Fuß braucht sie 17 Minuten. Zur Hauptverkehrszeit, wenn auf den Straßen besonders viel los ist, sogar 20.
Imogen steht von ihrem Stuhl auf, einem zum Schminktisch passenden Walnussholzmöbel von Heal’s. Sie müsste nicht arbeiten gehen. Instagram allein bringt ihr doppelt so viel ein, wie sie bei London Analytica verdient. Doch der Influencer-Job kann keine echte Karriere ersetzen, zumindest nicht auf Lebenszeit. Es ist wie beim Fußball: Nach ein paar guten Jahren ist man fertig und raus. Heute ist man ein Star, morgen weiß niemand mehr, wie man eigentlich heißt. Aber darauf bereitet Imogen sich vor und deshalb hat sie alles unter Kontrolle. Es fühlt sich jedenfalls so an.
Die Türen ihres Kleiderschranks stehen offen. Er ist so voll, dass sie nicht mehr richtig zugehen. Seit Imogen in Sachen Follower die Millionen-Marke geknackt hat, schicken ihr die ganzen Firmen bergeweise Klamotten. Wahrscheinlich wird sie nie wieder waschen müssen.
Imogen wählt nach dem Zufallsprinzip ein Oberteil aus: eine weiße Schluppenbluse mit roten Blumen drauf. Sie reißt das Etikett ab, schlüpft hinein und sammelt schnell ihre Jeans vom Boden auf.
Wie sie sich auf den Kaffee freut, auch wenn sie ihn wahrscheinlich to-go trinken muss. Vor einem Monat hat sie auf Instagram ein Foto von ihrem alten Thermobecher gepostet, einem chromfarbenen Bodum-Teil, das sie vor den A-Levels von ihrer Mum geschenkt bekommen und mit Aufklebern verziert hatte, die offenbarten, was ihr damals, vor gefühlt ewig langer Zeit, noch nicht peinlich gewesen war: etwa ihre unsterbliche Liebe zu One Direction, Hello Kitty und Taylor Swift. Seit diesem Post schicken ihr Hersteller aus aller Welt neue Thermobecher.
Gerade als Imogen ihre Jeans zuknöpft, durchbricht ein kaum hörbares Summen die morgendliche Stille. Über Nacht stellt sie ihr Handy immer auf schwache Vibration. Sie hat Fans auf der ganzen Welt, auch etliche in Australien und den Vereinigten Staaten. In manchen Nächten bekommt sie mehr als eintausend Benachrichtigungen.
Imogen scrollt durch die Meldungen. In der Zeitung hat sie mal gelesen, dass die Anzahl der Likes, die man auf Social Media erhält, Einfluss auf das Selbstwertgefühl habe. Das hat ihr sofort eingeleuchtet. Ihr Post von gestern Abend, ein Foto ihrer Bettlektüre, war ein Erfolg. Sie spürt, wie sich ihre Stimmung aufhellt, wie sich der Schatten abschwächt.
Das Beste an ihrer Zufallskarriere auf Instagram sind nicht die Geschenke. Auch auf das Geld kommt es ihr nicht so sehr an. Das Beste ist das Kribbeln beim Aufwachen, das Gefühl, gesehen zu werden, gehört und geliebt. Es wirkt belebender als jeder Kaffee und es macht genauso abhängig.
Wann immer sie inmitten all der Botschaften von Instagram, TikTok und WhatsApp, diesem endlosen Strom aus Liebe und Anerkennung, eine vereinzelte Benachrichtigung von Gmail entdeckt, denkt Imogen zuerst: Wie putzig. Abgesehen von der Arbeit kontaktiert sie eigentlich niemand mehr per Mail und diese Mail ging nicht an ihre Arbeitsadresse, sondern an ihre private. Also ist der Absender alt. Nur alte Leute schreiben noch E-Mails. Die Generation 35 plus.
Sie liest den Namen – und ihre Freude über diese aus der Zeit gefallene Flaschenpost im digitalen Ozean wird von einem finsteren Tsunami verschlungen. Für einen Moment hält sie es für möglich, dass sie allein durch die Gedanken an ihn seinen Geist heraufbeschworen hat. Mit Vernunft hat das natürlich nichts zu tun. Aber das hat er aus ihr gemacht.
Was will er? Und wieso jetzt, nach über einem Jahr? Was will er ihr denn noch nehmen?
Sie kann die E-Mail nicht öffnen. Sie wird sie nicht öffnen.
Doch in der Benachrichtigung ist der Betreff zu lesen.
Jugend + Verunsicherung = scheiße viel Geld
Was soll das bedeuten? Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Will er sie verhöhnen?
Hör auf damit, Imogen. Hör auf. Sie weigert sich, seinetwegen zusammenzubrechen. Er hat ihr alles genommen. Dass sie trotzdem nicht umgekippt ist, ist alles, was sie noch hat. Das Einzige, worauf sie wirklich stolz ist. Alles andere, die Massen von Gratisklamotten, die schicken Möbel, das dicke Bankkonto, die vielen fremden Bewunderer, die unzähligen hübschen Fotos, all das würde sie opfern, wenn dafür nur alles wieder so wäre wie früher, als sie von ihren Eltern jede Woche ein mageres Taschengeld zugeteilt bekam. Wenn dafür nur alles wieder so wäre wie vor zwei Jahren, bevor sie auf die Uni gegangen und ihm begegnet ist – ihm, dem Monster.
Foto: Am Rand einer zugeschneiten Straße stehen drei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht. Dahinter erstreckt sich ein weites Lavafeld.
Filter: Nicht nötig
Mögliche Bildunterschriften …
Option 1: Und so trete ich meine Haftstrafe an … Nur ein Scherz, die suchen jemand anderen. Also, soweit ich weiß.
Option 2: Irgendwie wäre es mir fast lieber, sie würden nach mir suchen – im Gefängnis ist es bestimmt angenehmer als da, wohin die Reise für mich geht.
Option 3: Wieso denke ich wie eine Besessene darüber nach, was für ein Verbrechen hier geschehen sein mag?
Tatsächliche Bildunterschrift …
Düsterer Skandinavien-Thriller in echt.
12
Wie Speichelgeschosse klatschen die nassen Schneeregenflocken auf die Windschutzscheibe. Willkommen in Island, Hannah, hauche ich lautlos und kneife mir in den Oberschenkel, damit ich nicht schreie oder, was noch schlimmer wäre, in Tränen ausbreche.
Draußen herrscht eisige Kälte. Im Auto ist es trotzdem warm wie in einer Sauna. Mir hat noch nie eingeleuchtet, wieso man freiwillig in die Sauna geht, aber hier tun das eine Menge Leute (zum Glück rollen sie hinterher nicht nackt im Schnee herum wie so manch andere Skandinavier). In der heißen, stickigen Saunaluft fühle ich mich immer, als würde mir irgendwer ein unsichtbares Kissen aufs Gesicht pressen, und genauso fühle ich mich in diesem Auto.
Mein Blick zuckt zu dem Mann, der sich neben mir an das lederbezogene Lenkrad klammert.
Dad, nenne ich ihn.
Direkt ansehen kann ich ihn irgendwie nicht, da käme ich mir unhöflich vor, als würde ich einen Fremden anglotzen. Was jetzt im Prinzip gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. In manchen seiner Gesichtszüge erkenne ich mich zwar jedes Mal wieder, etwa in den schmalen grauen Augen und in ihrer Art, einen so durchdringend anzustarren, dass einem ganz anders wird, weil man nie weiß, ob er einem nun tief in die Seele blickt und die intimsten Gedanken entziffert oder einfach geradewegs durch einen hindurchschaut; auch in seinen Grübchen, die frech gegen seine stets bitterernste Miene rebellieren, und in seinen wilden dunkelblonden Augenbrauen. Im Ganzen ist er mir aber ziemlich fremd.
Seit zehn Minuten sind wir unterwegs und wir haben noch immer kein Wort miteinander gesprochen. Für die Fahrt vom Flughafen Keflavík zu Dads Haus in Fossvogur, einem Stadtviertel von Reykjavík mit Vorort-Flair und Einfamilienhäusern, die genauso gleichförmig sind wie ihre Bewohner, sollten wir ungefähr eine Stunde brauchen. Unter diesen Umständen ist eine Stunde eine Ewigkeit.
»Wie geht’s Rósa?« Ich versuche, durch ein bisschen Small Talk die Stimmung aufzulockern. Kein guter Plan.
»Sei nicht so, Hannah«, keift Dad und feuert einen durchdringenden Blick ab, den aber hauptsächlich der Schneematsch auf der Straße abbekommt.
»Wie bin ich denn?« Zugegeben, Rósa ist ein heikles Thema. Aber ich wollte wirklich nur wissen, wie es ihr geht. Glaube ich jedenfalls.
»Es ist dein Ton.«
Na gut, dann wird eben geschwiegen.
Gott, wie mir London fehlt. Wie mir Granny Jo fehlt. Wie mir …
Ich darf nicht einmal an sie denken. Trotz allem fehlt sie mir so sehr.
Am Ende ist Mum dann doch nicht vom Fluch dahingerafft worden (auch wenn wir alle fest damit gerechnet hatten). Am Ende hat sie etwas viel Banaleres kleingekriegt. Krebs. Und auch noch die häufigste Variante davon, nämlich Brustkrebs. Nichts Besonderes.
Wenn man bedenkt, wie oft sie diese Welt hinter sich lassen wollte, hat sie sich dann doch überraschend verbissen dagegen gewehrt. Zu ihren Bedingungen wäre sie freiwillig gegangen, aber so stemmte sie sich mit aller Macht dagegen. Für sie musste immer alles exakt nach ihren Vorstellungen ablaufen.
Mein Handy summt. Ich ziehe es aus der Tasche. Eine WhatsApp von Daisy.
DAISY Schon da?
HANNAH Leider ja.
DAISY Ach komm. Lass die negativen Gedanken nicht gewinnen. Du solltest das Ganze als Abenteuer betrachten.
Daisy ist ein Mensch, der Vorträge über positives Denken hält, ohne je davon gehört zu haben, dass es so etwas offiziell gibt. Meiner Theorie nach hat sich ihre Mum in der Schwangerschaft zu viele Selbsthilfebücher reingezogen. Daisy und ich sind seit der Vorschule befreundet und meistens finde ich ihre lebensbejahende Haltung toll. Manchmal will ich sie dafür aber erdrosseln.
HANNAH Keinen Bock auf Abenteuer. Denk nur an Alice.
DAISY Alice? Die Pickelige mit der Zahnspange, die früher bei KFC bedient hat?
HANNAH Nein, die hieß Alison. Ich meine die Alice … im Wunderland.
DAISY Ach die. Aber die hatte doch Spaß, oder?
HANNAH Sie wäre um ein Haar von einer verrückten Königin ermordet worden und fast in ihren eigenen Tränen ertrunken.
DAISY Ah okay. Hmm. Aber dein Kaninchenbau führt bestimmt nicht ins Wunderland.
HANNAH Da hast du auch wieder recht. Mein Kaninchenbau führt direkt in die Hölle.
Das ist gar nicht mal übertrieben. Oder nicht sehr. In alten Zeiten glaubte man tatsächlich, das Tor zur Hölle befände sich in Island.
DAISY Konzentrieren wir uns auf das Positive. Zum Beispiel: Es sind nur noch genau zwei Monate bis Weihnachten!
Das ist mal kein leerer Motivationstrainer-Spruch. Das ist ein echter Lichtblick. Nicht wegen des Weihnachtsmanns oder Jesus oder weil es dann bei Boots drei Parfüm-Geschenkboxen zum Preis von zweien gibt oder was man an Weihnachten sonst so großartig finden soll. Nein, an Weihnachten kommt Daisy mich in Island besuchen.
Am selben Tag, an dem ich über meinen baldigen Umzug nach Island informiert wurde, hat Daisys Mum ihr das Flugticket gekauft. Ich fürchte, für das nun folgende Geständnis sollte ich auf ewig in der Hölle schmoren (danke, ich finde alleine hin, weit kann es ja nicht sein), aber auch eine unaussprechlich schreckliche Wahrheit ist immer noch wahr: Mein ganzes Leben lang habe ich mir insgeheim ausgemalt, wie es wäre, wenn Daisys Mum meine Mum gewesen wäre. Daisys Mum, mit ihren sanft geschwungenen Hüften, den selbst gemachten Pfannkuchen, dem warmen Lächeln und dieser Aura nichtssagender Normalität, fast als wäre sie einer Zeitschrift für »die gute Hausfrau« aus den 1950er Jahren entsprungen. Seit Mums Tod fühle ich mich deswegen erst recht wie eine Verräterin.
Das Handy in meiner Hand summt und ich zucke zusammen. Fast rechne ich mit einer Nachricht von meiner Mum, mit einem Anpfiff aus dem Grabe heraus, weil ich so schlecht über sie rede.
DAISY Bald ist Dezember und ich freue mich schon so darauf, dich zu sehen … dich und diese Polarlichter natürlich. Okay, muss weiterlernen. Jetzt willst du nicht mehr mit mir tauschen, was?
Doch, will ich trotzdem. Daisy lernt für ihre A-Levels am Highbury College. So wie ich bis vor einer Woche.
Daisy fehlt mir.
Ich stecke das Handy wieder ein. Ich wünschte, ich würde auch in London für meine A-Levels lernen. Aber dass ich das eben nicht tue, ist ausnahmsweise nicht Mums Schuld. Das habe ich ganz allein hingekriegt.
Eigentlich hatte ich die Schülerzeitung, die Highbury Gazette, nur als Ausrede gegründet, um nach dem Unterricht nicht immer gleich nach Hause gehen zu müssen. Doch dann habe ich mich ein bisschen hineingesteigert.
Zwanzig Leute schrieben regelmäßig für die Zeitung, wir trafen uns zweimal pro Woche in der Redaktion (sprich: in der Schulbibliothek) und diskutierten über den Inhalt der wöchentlichen Ausgabe. Daisy umgarnte als Chefin der Marketingabteilung per Telefon Geschäfte aus der Gegend, bis sie bei uns Anzeigen schalteten. Mit der Zeit sprachen mich immer öfter Leute auf dem Gang an, um über ihre Lieblingsartikel zu plaudern. Und bald wollten sogar immer mehr von ihnen mitmachen.
Ich fand es toll. Ich fand es toll, herumzuschnüffeln und nach lohnenswerten Themen zu suchen: der mäßige Nährstoffgehalt mancher Mahlzeiten in der Schulmensa, die Highlights der neuesten PISA-Studie oder das Zerwürfnis in der Theatergruppe – die eine Hälfte wollte eine modernisierte Version von Hamlet auf die Bühne bringen, die andere wollte die Aufführung traditionell halten. Ich fand es toll, Schüler zu interviewen, die an irgendeinem interessanten Ort gewesen waren oder irgendetwas Bemerkenswertes geleistet hatten, und den größten Kick gaben mir meine langen Enthüllungsstorys, etwa über die feuchten Wände in einigen Klassenzimmern, die sich tatsächlich als übler Schimmelbefall und damit als Gefahr für die Gesundheit von Schülern und Lehrern entpuppten.
So wurde die Highbury Gazette, anfangs ein bloßer Zeitvertreib, zu meinem ganzen Stolz. Ich war nicht mehr nur Hannah, das ziemlich unscheinbare Mädchen, das sich im Nebenjob um seine komische Mutter kümmerte, eine Frau, die hin und wieder im Nachthemd und mit einer halb geplatzten Tesco-Plastiktüte voller Bierdosen in der Hand am Schultor auftauchte. Plötzlich war ich Hannah, Herausgeberin der Schülerzeitung und Verkünderin der Wahrheit, ich war knallhart drauf und kein Niemand mehr.
Knapp eine Woche nach Mums Tod brauchte ich dann dringend eine Ablenkung. Ein Artikel aus dem Guardian, den Granny Jo jeden Morgen kaufte, brachte mich auf die Idee: Eine Radiomoderatorin der BBC hatte herausgefunden, dass ihre (männlichen) Kollegen für die gleiche Arbeit fünfzig Prozent mehr Gehalt bekamen.
Für ihre Marketing-Telefonate durfte Daisy ab und zu das Büro des Rektors benutzen, ich durfte dort Interviews führen. Bei einer dieser Gelegenheiten hackte ich mich in seinen Computer – so hat er es hinterher zumindest genannt. Ich finde, man kann nicht von »hacken« sprechen. »Hacken« ist nicht das Gleiche wie simples Einloggen und man muss gar nichts »hacken«, wenn der Benutzer den Vornamen seiner Gattin als Passwort eingestellt hat (worauf ich übrigens beim dritten Versuch kam). Innerhalb von zwei Minuten hatte ich die Gehaltslisten aufgespürt. Dann öffnete ich den Browser, ging auf Gmail, meldete mich an und schickte die Excel-Tabelle als Anhang an mich selbst.
Zu Hause rechnete ich das Ganze durch. Das Gehalt der männlichen Lehrkräfte an unserer Schule lag 23 Prozent über dem der weiblichen.
In dem Korrekturbogen, den ich meiner Englischlehrerin Ms Thackeray vorlegen musste, bevor die neue Ausgabe an die Druckerei ging, war meine große Enthüllungsstory noch nicht enthalten. Erst nachdem sie alles abgenickt hatte, tauschte ich die Titelseite aus.
Die Hölle brach los. Die Eltern rasteten aus. Die Schulaufsicht auch. Der Rektor musste sich öffentlich für das Gehaltsgefälle entschuldigen und geloben, es in Ordnung zu bringen. Die Schüler jubelten über das Chaos.
Ich wurde der Schule verwiesen.
Dads Blick zuckt für einen Moment zu mir. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
Ein Flugticket nach London?, hätte ich fast erwidert, aber ich kann mir gerade noch auf die Zunge beißen. Das wird ein Friedensangebot sein. Ich sollte es annehmen.
»Ich habe dir schon einen ersten Auftrag organisiert.«
Ach, das.
Wenn man bedenkt, wieso ich der Schule verwiesen wurde, hat meine Strafe eine gewisse Ironie, die meinen ehemaligen Rektor vermutlich ziemlich auf die Palme bringen würde: Ich wurde zu einem Praktikum bei der Zeitung meines Dads verdonnert.
Mein Blick zuckt zu ihm. Er schaut starr auf die Straße. Es ist kaum jemand unterwegs und unsere Geschwindigkeit liegt deutlich über dem Tempolimit.
»Was für ein Auftrag?«
Jetzt blickt er etwas milder drein. »Ein Interview.«
Okay. Okay, das könnte ganz gut werden. Interviews machen mir Spaß.
»Mit einer sehr bekannten Influencerin.«
Irrtum. Es wird eine Qual.
»Ich hasse Influencer.« Mit Wucht lasse ich mich gegen meine Lehne fallen. Mir doch egal, wenn ich mich aufführe wie eine schmollende Vierjährige, die keinen Lolli bekommen hat. »Influencer sind so dumm. Wegen denen steht meine Generation als lauter Hohlköpfe da. Als würden wir alle glauben, Duckface-Machen wäre ein echter Job, Belfies auf Instagram wären ein wichtiger Aspekt der Selbstfindung und Erfahrungen im Photoshoppen von Thigh Gaps wären ein großes Plus im Lebenslauf.«
Dad überhört meine Schimpftirade. »Sie heißt Imogen So-und-So. Schon mal von ihr gehört?«
»Millionen Menschen bilden sich ein, sie wären Social-Media-Stars. Wieso soll ich ausgerechnet von der gehört haben?«
»Na ja, sie ist genau wie du …«
Ist sie sicher nicht.
»Sie kommt aus Großbritannien, ist aber gerade nach Island gezogen.«
Mein Blick zuckt zu Dad. Da ist doch was faul. Das stinkt zum Himmel.
»Diese Imogen macht bei Cool Britannia 2.0 mit, einer Konferenz an der britischen Botschaft zur Stärkung der kulturellen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Rest der Welt. Sie spricht da über Mode oder Make-up oder Selbstverwirklichung … irgendwas in der Richtung.«
Irgendwas in der Richtung?
»Und dafür, dass wir ein Interview mit ihr bringen, hat sie sich bereit erklärt, dir unter die Arme zu greifen.«
Da ist sie schon, die Ursache des fauligen Geruchs: Mein Dad hat Hintergedanken und die stinken schlimmer als Harðfiskur, diese isländische Delikatesse aus getrocknetem Fisch, die den Duft eines alten Müllsacks verströmt.
»Sie soll mir wobei unter die Arme greifen?«
»Beim Einleben. Beim Ankommen in einem neuen Land.«
»Ich brauche keinen Babysitter. Ich habe jeden Sommer meines Lebens in Island verbracht.«
Das will Dad mit einem lässigen Schulterzucken abtun, es wirkt aber wahnsinnig steif und bemüht. Ihm ist durchaus bewusst, wie dumm sein Plan ist. »Es ist alles vorbereitet. Das Interview soll morgen über die Bühne gehen. Dann kannst du mal mit jemandem über alles reden. Nutz die Chance.«
»Nicht zu fassen. Du hast irgendeine blöde Social-Media-Tussi bestochen, sich mit mir zu unterhalten? Es ist kaum zu glauben.«
»Mein Gott, ich wollte dir einen Gefallen tun.«
»Dann lass mich ein richtiges Interview führen. Das wäre was gewesen.«
»Das ist ein richtiges Interview.«
»Ist es nicht. Es ist Werbung. Genau genommen bezahlt diese Imogen dafür, dass du ihren Auftritt in deiner Zeitung promotest, zwar nicht mit echtem Geld, aber mit einem Beratungsgespräch – und deshalb ist dieses Interview kein echter Journalismus, sondern eine Werbeanzeige.«
»Warum musst du immer alles so verdrehen?«
»Ist es nicht verboten, Werbung als echten journalistischen Inhalt auszugeben? Also zu Hause in Großbritannien darf man das nicht.«
Jetzt ist es Dad, der sich krachend gegen die Lehne fallen lässt. »Wie du das immer wieder hinkriegst, Hannah.«
Der Schneeregen ist zu richtigem Schnee geworden. Die Scheibenwischer schrubben wie wild über das Glas und kommen trotzdem kaum hinterher.
»Was? Was kriege ich immer wieder hin?«
Dads Gesicht färbt sich rot. »Du kriegst es immer wieder hin, dass sich alle schlecht fühlen.«
Uff. Das ist – selbst für seine Verhältnisse – hart. »Willst du jetzt wirklich darüber reden? Ich würd’s mir überlegen.« Irgendwo in meinem Hinterkopf droht der gesammelte Giftmüll aus 16 Jahren Bitterkeit zu explodieren.
»Worüber reden?«
Ich weiß genau, was ich ihm zu sagen habe. Ich habe meinen Vortrag ewig geübt. »Dass du nicht mit dir selbst klarkommst, ist nicht meine Schuld.«
Ich zögere. Will ich wirklich so in mein sogenanntes neues Leben aufbrechen? Ganz klar: Nein, will ich nicht. Doch meine Worte sind wie ein Felsbrocken, der einen Abhang hinunterrollt: Sie haben sich zu ihrem Ziel aufgemacht und ganz egal, was sie unterwegs zerquetschen, es steht nicht mehr in meiner Macht, sie aufzuhalten.
»Auch wenn dich die bloße Tatsache, dass es mich gibt, an deine Unzulänglichkeiten, deine moralischen Defizite und deine Selbstsucht erinnert, hast du kein Recht, mir die Schuld daran zu geben. Mum zu verlassen, war deine Entscheidung. Mich mit ihrer Scheiße allein zu lassen, war deine Entscheidung. Dafür bist nur du verantwortlich. Du fühlst dich schuldig? Dann mach das gefälligst mit deinem Gewissen aus und lass mich in Ruhe.«
Es ist raus. Endlich. Eine Mischung aus Wut, Angst und Erleichterung lässt mein Herz pochen.
Jeden Moment wird Dad mich anschnauzen.
Oder auch nicht.
Sekunden verstreichen. Werden zu Minuten. Scheiße. Die Stille im Wagen dröhnt mir in den Ohren. Ich sehne mich beinahe danach, angeschnauzt zu werden.
Bin ich zu weit gegangen? In Gedanken lasse ich meinen Vortrag noch einmal ablaufen. Und noch mal und noch mal. Mit jeder Wiederholung wirken meine Worte lauter und schärfer, gehässiger. Die ersten Schuldgefühle regen sich, aber warum eigentlich? Wieso sollte ich mich schuldig fühlen?
Ich ertrage Dads ausdruckslosen Blick nicht mehr. Das ist typisch mein Vater. Nie stellt er sich den Problemen. Immer wartet er ab, während sich das Unausgesprochene aufstaut, während es gammelt und fault und zu einem Höllengestank wird, der sich nie wieder aus der Welt schaffen lässt.
Will er das? Kann er haben. Ich wende mich ab, drehe mich zum Seitenfenster.
Ein Panorama, das kaum weniger hart und kalt ist als Dads Schweigen, nimmt mich in Empfang. Es heißt manchmal, die Fahrt vom Flughafen Keflavík nach Reykjavík führe durch eine magische Landschaft, man fühle sich wie auf den Mond versetzt (dieser Spruch kann eigentlich nur aufs Konto des Fremdenverkehrsamts gehen). Ich sehe bloß eine Einöde aus rauen, kahlen Lavafeldern, die Hinterlassenschaft von Vulkanausbrüchen vor Hunderten von Jahren.
Dass hier überhaupt jemand lebt, muss man als Wunder bezeichnen. Seit vor über eintausend Jahren die ersten Menschen nach Island gekommen sind, hat sich die Insel redlich bemüht, sie wieder umzubringen. Im Lauf der Zeit ist sie immer und immer wieder nur knapp daran gescheitert, den Homo sapiens durch eisiges Wetter, brodelnde Lava, Erdbeben, Überschwemmungen, Lawinen oder Seuchen von diesem Brocken aus Vulkangestein knapp unter dem nördlichen Polarkreis zu vertreiben. Im 18. Jahrhundert, nachdem eine Reihe von Naturkatastrophen einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausgelöscht hatte, hat man sogar darüber nachgedacht, das ganze Land nach Dänemark zu verlegen.
Hätte man das doch nur getan.