Inhalt

Kapitel 1 – Kruso lebte auf …

Kapitel 2 – Wenn jemand böse …

Kapitel 3 – »Wir gehen unter.« …

Kapitel 4 – Hurra, die Welt …

Kapitel 5 – Als ich den …

Kapitel 6 – Schultage waren Avocadotage …

Kapitel 7 – Das Planungstreffen der …

Kapitel 8 – »Dad ist mal …

Kapitel 9 – Poppy kotzte. Genau …

Kapitel 10 – Das ganze Wochenende …

Kapitel 11 – »Wenn ein Fisch …

Kapitel 12 – Kruso füllte Kartoffeln …

Kapitel 13 – Kruso kam also …

Kapitel 14 – »Heißt du wirklich …

Kapitel 15 – Zwei Probleme auf …

Kapitel 16 – Poppy freute sich …

Kapitel 17 – Wir saßen am …

Kapitel 18 – Im Nullkommanix hatten …

Kapitel 19 – Bis zum Abend …

Kapitel 20 – Für die Markierung …

Kapitel 21 – Kruso zeigte uns …

Kapitel 22 – Die Streikankündigung ging …

Kapitel 23 – Wir standen auf …

Kapitel 24 – Als ich am …

Kapitel 25 – Alice trommelte unsere …

Kapitel 26 – »People of Change! …

Kapitel 27 – Plötzlich waren sie …

Kapitel 28 – Alice und Kenyal …

Kapitel 29 – Das Camp war …

Kapitel 30 – »Scheiß Zecken.« Hatte …

Kapitel 31 – Erstaunlicherweise gelang es …

Kapitel 32 – »Hallo Ava.« Ein …

Kapitel 33 – So ritten wir …

Kapitel 34 – Der Abend war …

Kapitel 35 – Bis zum Abend …

Kapitel 36 – Noch am selben …

Nachwort

Bisher von Annette Mierswa im Loewe Verlag erschienen

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

 

Für Pädagoginnen und Pädagogen haben wir eine kostenlose Lehrerhandreichung unter www.loewe-schule.de bereitgestellt.

Für meine beiden tollen Jungs,
die meine größten Lehrer sind.

 

»Die größte Bedrohung für unseren Planeten ist die Überzeugung, dass ihn schon jemand anders retten wird.«

Robert Swan, Polarforscher

1

Kruso lebte auf seiner Insel. In den sozialen Netzwerken existierte er nicht. Einem digitalen Shitstorm hielt er mit eiserner Ignoranz stand, wenn er überhaupt davon erfuhr. Er hatte nicht mal ein Smartphone. Und wenn man ihn direkt ansprach, zuckte er zusammen, als wäre er gerade aus einem Tagtraum hochgeschreckt. Erst als wir TIERRA gründeten, wurde mir klar, dass seine Welt sich nicht mit der unseren deckte. Als lebte er in einer anderen Dimension, die zeitgleich existierte und zu der wir keinen Zugang hatten. TIERRA wurde zur Schleuse zwischen diesen Welten, bis ich begriff, dass beide untrennbar zusammengehörten wie Yin und Yang und wir es waren, die auf einer Insel lebten. Der Insel der Privilegierten. Das war ein heilsamer Schock und der Anfang von etwas Wunderbarem.

2

Wenn jemand böse wird, hatte das ziemlich sicher mit seiner Kindheit zu tun. Meinte Herr Schlegel in Soziologie. Ob man zum Beispiel geliebt wurde oder geschlagen oder vernachlässigt. Natürlich dachte ich gleich über meine Kindheit nach – und Anjuscha. Das war damals meine Tagesmutter, bei der ich einziehen wollte, weil meine Eltern keine Zeit für mich gehabt hatten. Aber meine Mutter hatte noch mal die Kurve gekriegt und sofort Stunden reduziert, damit sie mich früher bei ihr abholen konnte. Und dann war eigentlich alles ganz in Ordnung gewesen.

Was allerdings andauerte und ich einfach nicht verstand: Warum hatte ich so eine Wut im Bauch? Das war mir in dieser Schulstunde klar geworden. Da kochte etwas in mir, zwar auf kleiner Flamme, aber stetig. Ich erzählte es niemandem, nicht einmal Leon. Es war mir unheimlich. Würde man in mir sonst eine potenzielle Attentäterin sehen? Das Wutfeuer loderte immer besonders heftig, wenn ich irgendetwas nicht hinbekam, wie zum Beispiel einen neuen Tanzschritt oder eine Tonplastik im Kunstunterricht oder meine Eltern davon zu überzeugen, den SUV abzuschaffen und kein Fleisch mehr zu essen. Ich rastete nicht aus oder so. Ich hatte meine Gefühle gut im Griff, atmete dann einfach ein wenig langsamer und tiefer. Das hatte ich auf einem der Yoga-Retreats gelernt, zu denen mich Mama manchmal mitnahm. Sie machte das nämlich genauso. Und es funktionierte gut, zumindest äußerlich. Auf mein inneres Feuer wirkte das ganze Geatme eher wie ein Blasebalg und ich bekam immer mehr Angst, dass jemand mal die Stichflammen abbekommen könnte. Gab es da also etwas Böses in mir?

Dabei war mein größter Wunsch, die Welt zu retten. Nachdem ich das Video von Rezo gesehen hatte, war ich so deprimiert gewesen und alles war so sinnlos erschienen, dass ich ein ganzes Wochenende lang nicht aus dem Bett gekommen war. Wählen durfte ich ja auch noch nicht. Meine Mutter hatte dann eine Meditations-CD laufen lassen, auf der jemand sagte, man solle die Veränderung sein, die man in der Welt sehen wolle. Das leuchtete mir ein. Ich war sofort aufgestanden und hatte ein Demoschild gebastelt und genau diesen Satz daraufgeschrieben: Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt. Mahatma Gandhi. Drum herum hatte ich Fleischlappen, Flugzeuge und Autos gezeichnet und durchgestrichen.

Und mit diesem Schild ging ich nun seit ein paar Wochen jeden Freitagmittag auf Demos. Papa warf Mama vor, mich mit ihrem Esokram infiziert zu haben. Und Mama knallte die Tür zu ihrem Yogazimmer zu und atmete. Aber da ich am Wochenende immer den Schulstoff nachholte, hatte sich die Lage schnell wieder entspannt. Und sie waren sogar ein wenig stolz, weil ich mich für das einsetzte, was mir wichtig war, und trotzdem noch die Schule schaffte … und natürlich weil andere Eltern ihnen sagten, sie könnten stolz auf mich sein.

Aber dann kam die schockierendste Nachricht seit der vom Tod meiner Omi. Da meine juristisch verordnete Onlinezeit für diese Woche aufgebraucht war, saß ich vor dem Fernseher im Wohnzimmer und guckte die Nachrichten. Eine Karte von Hamburg wurde eingeblendet, auf der ein Drittel der Stadt unter Wasser stand, auch die Vier- und Marschlande. Ich blickte gebannt auf die gigantische blaue Fläche, während es mir den Boden unter den Füßen wegzog. Das riesige dunkle Loch, das mich schon seit einiger Zeit ansaugte, schien mich verschlingen zu wollen, ausweglos und unerbittlich. Meine Hände zitterten, als ich auf die Fernbedienung drückte. Meine ganze Welt zitterte.

Wir würden untergehen!

3

»Wir gehen unter.« Die Worte waren wohl sehr laut aus mir herausgepoltert, denn Papa ließ sein Buch fallen und fuhr herum.

»Was?« Er sah die Fernbedienung in meiner Hand. Der Schreck in seinem Blick löste sich auf und die Schutzschilde wurden hochgefahren. »Also Ava, das ist doch Blödsinn.« Er hob das Buch auf und knallte es auf den Tisch. Kant. »Du bist hysterisch. Das ist reine Panikmache. Man sollte den Sender verklagen, so ein Horrorszenario für Hamburg zu entwerfen.« Er stand auf. Mama legte sofort einen Arm schützend um mich. Das tat sie immer, wenn Papa laut wurde. Aber das sanfte Über-den-Rücken-Streicheln regte mich höllisch auf. Ich schüttelte ihren Arm ab.

»Das sagen Wissenschaftler, Papa!«, schrie ich. »Und es betrifft unseren gesamten Stadtteil, unser Haus, die Schule, alles!« Ich lief weinend aus dem Raum und es fühlte sich an, als würde mich eine riesige Flutwelle verfolgen. Papa fluchte im Wohnzimmer. Ich kroch in mein Bett, zog die Decke über den Kopf, faltete mich zusammen wie einen Stadtplan, der ausgedient hatte, bereit, die neuen Koordinaten zu durchdringen …

Alles geht unter. Ein unheilvoller Gedankenstrudel riss mich mit. Unser Haus geht unter. Wie in einem Horrorfilm. Schon bei zwei Grad Erwärmung. Himmel! Fast der gesamte Hamburger Südosten. Und alle machen weiter wie bisher. Warum tut denn keiner was? Verdammt noch mal! Da streiken wir seit Monaten und keiner tut etwas. Die mutlosen Oberbonzen versauen meine Zukunft. Und ich werde untergehen. Meine vertraute Welt wird untergehen.

Wie bei Omi und Opi, als die Flut kam. Omi hatte es bestimmt hundertmal erzählt. Die große Flut. Sie hatten ihr Schlafzimmer im ersten Stock. Und als Omi am frühen Morgen die Treppe hinunterstieg, stand sie plötzlich im Wasser. In Moorfleet war ein Deich gebrochen. Die Flut hatte alles mitgenommen: das neue Auto, den Familienschmuck, sogar das schwere Biedermeiersofa, das an der Krone der alten Tanne hängen geblieben war wie ein gepolstertes Floß. Das Schrecklichste aber war gewesen, dass die beiden Pferde im Stall ertrunken waren, Gulliver und Liliput. Das hatte Omi das Herz gebrochen und sie war noch mit 80 schreiend aufgewacht, weil sie seitdem immer wieder derselbe Albtraum quälte, in dem die beiden Rappen sie mit großen, angsterfüllten Augen ansahen, während das Wasser sie fortriss.

Eine nasse kalte Nase stupste mich. Poppy. Auch Poppy würde mit mir untergehen. Ich drückte das geliebte Fellknäuel fest an mich. Poppy leckte über meinen Arm. Wo sollten wir hin, wenn das Wasser käme? Von überall würden die Menschen in trockene Gebiete strömen. Ich hatte eine Tante in Freiburg … Aber ich wollte nicht nach Freiburg. Ich weinte und Poppy leckte über meine Wange. Hier war alles, was mir etwas bedeutete. Ich wollte meine Heimat nicht verlassen.

Weit nach Mitternacht schlief ich unruhig ein, träumte davon, mit dem Kopf gegen die Zimmerdecke zu stoßen, gegen die mein Bett von hereinströmenden Wassermassen gedrückt wurde. Mehrmals schreckte ich hoch, tauchte aus den Albträumen auf wie eine Ertrinkende, japste nach Luft und sank nach gefühlten Ewigkeiten wieder zurück in die Kissen.

Als es endlich hell wurde und Poppy mir die Hand leckte, stand ich sofort auf. Ich zog mich an, ging mit ihr aus dem Haus, die vertrauten Wege entlang, vorbei am alten Friedhof, dem kleinen Rasenplatz, der aus Vorzeiten stammenden Litfaßsäule, grüßte den Bäcker durch die Fensterscheibe, gab Mokka ein Leckerli, die mir mit Omma Annegret an der alten Pappel begegnete. Ein beliebter Hundetreffpunkt. Mein normales kleines Leben erschien mir heute so kostbar. Ich atmete tief ein, sah in die Baumkrone der Pappel, gab Omma Annegret die Hand, was ich sonst nie tat, verfolgte den schnellen Lauf eines Eichhörnchens und fühlte dabei einen gigantischen Weltschmerz.

Zuhause wäre ich am liebsten wieder ins Bett gekrochen. Hatte eh alles keinen Sinn mehr. Aber Leon klingelte unbarmherzig, also raffte ich mich auf, schnappte meine Tasche, ließ das Frühstück stehen, wuschelte Poppy durchs Fell und verließ mein Zuhause, als wäre es das letzte Mal, während mein Blick über die vertrauten Fotos an der Wand schweifte, die wie ein Tagebuch mein Leben illustrierten: Ava mit dem ersten Zahn, auf ihrem ersten Rad, Ava bei der Einschulung, mit dem Welpen Poppy und immer wieder Ava mit Leon.

»Hey, du Trantüte. Jetzt wird’s knapp.«

»Trantüte? Was ist die männliche Form davon, Tranbeutel?«

Leon grinste.

»Also, du Tranbeutel, hättest ja früher auflaufen können.« Unsere Begrüßungszeremonie folgte: Hände einschlagen, Fäuste aufeinanderdrücken und eine angedeutete Umarmung.

»Also, Ava, normalerweise wartest du ja schon vor der Tür, ne?«

»Bald in Gummistiefeln, dann in so einer Anglerhose mit angenähten Schuhen und irgendwann im Taucheranzug.«

»Hä?«

»Hast du’s nicht gehört? Unser Stadtteil wird komplett untergehen.«

»Ähm, Ava, das bezog sich auf 2050 oder 2100, soweit ich weiß. Kann es sein, dass du da einen Zahlendreher …?«

»Nein. Erstens geht das schneller, als du denkst, und zweitens lebe ich da noch, du Hirni, und drittens haben sie die Nachricht bestimmt beschönigt, damit keine Massenhysterie ausbricht.«

»So ein Blödsinn. Also echt, Ava. Das glaubst du ja wohl selbst nicht.«

»Doch, genau das glaube ich.«

»Ava, du machst dich verrückt. Genau wie damals, als es hieß, wir würden den Köhler zum Klassenlehrer bekommen. Da bist du völlig ausgetickt. Und dann war es die Liebscher. Und schwups war die Welt wieder in Ordnung.«

»Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Jetzt geht es um alles, verstehst du das denn nicht?«

Leon lachte. »Ava, du klingst wie eine durchgeknallte Verschwörungstheoretikerin, die unter Drogen steht. Komm schon. Bis das Wasser wirklich so hoch steigt, haben wir längst tolle neue Erfindungen gemacht, die Hamburgs Untergang aufhalten werden.«

»Weißt du, was, du gigantischer Tranbeutel, du redest wie mein Vater.«

»Ich nehme das mal als Kompliment.« Leon lächelte und seine strahlend blauen Augen glänzten wie kleine Wahrsagekugeln, in denen die Zukunft rosiger nicht aussehen könnte. Und das beruhigte mich tatsächlich. Es war der erste Moment seit der Meldung am Vortag, in dem ich frei atmen konnte und die bleierne Düsternis in mir ein wenig an Gewicht verlor. Wenn ich an Leons Seite war und in diese hellen Augen blickte, konnte mir überhaupt nichts passieren.

Das hatte ich zum ersten Mal gefühlt, als wir sieben gewesen waren. Ich hatte damals dichte schwarze Locken und sah mit meiner roten Schleife im Haar aus wie das Disney-Schneewittchen, als Leon und ich beschlossen abzuhauen. Wir hatten uns zuvor im Schrank versteckt und meine Eltern belauscht, um nicht zu verpassen, wie sie auf unsere Nachricht reagieren würden, die wir auf dem Tisch platziert hatten: ein gezeichneter Koffer, aus dem Quimpi, mein Stoffhund, und Schlumpi, Leons Filzlöwe mit den Märchenwollhaaren, rausguckten. So sollte es zumindest aussehen. Und daneben in krakeliger Schrift: Sint weck nach Panama. Wir hatten uns vorgestellt, dass meine Eltern heulend zusammenbrechen und wir dann aus dem Schrank springen würden, um sie wieder glücklich zu machen. Eine Art Denkzettel sollte das werden, weil sie mich am Morgen fürchterlich angeschrien hatten für etwas, das sie doch eigentlich fröhlich machen sollte.

Leon hatte bei mir übernachtet wie so oft. Wir waren sehr früh aufgewacht und in die Küche geschlichen, um meine Eltern mit einem Kuchen zu überraschen. Was leider schrecklich schiefging. Anstatt Mehl hatte ich Papas teure Flohsamenschalen erwischt und noch dazu war der Boden voller Eiermatsche. Aber hey? War das wirklich so schlimm?

Das mit dem Denkzettel war dann komplett nach hinten losgegangen. Sie hatten sich über unsere Nachricht kaputtgelacht und dann hatte Papa sich auch noch über die falsch geschriebenen Worte ausgelassen. Dabei waren wir sieben! Wir saßen Hand in Hand im dunklen Schrank. Als sie lachten, hörte ich Leon lauter atmen. Wir blieben einfach so sitzen, bis meine Eltern das Zimmer wieder verließen, ohne irgendetwas zu unternehmen. Jetzt machen wir’s, flüsterte Leon. Und dann packten wir tatsächlich unsere Rucksäcke und marschierten los. Bis zur Boberger Düne kamen wir. Leon nahm mich wieder an die Hand und ich fühlte mich sicher. Es war einfach klar: An seiner Hand konnte mir nichts passieren. Das war ein unglaublich tolles Gefühl.

Und während uns die Polizei wenig später bei meinen Eltern ablieferte, ließ er mich nicht einmal dann los, als Mama mich umarmte und dabei weinte wie verrückt. Ich war mir damals sicher gewesen, dass ich Leon niemals verlieren würde. Er war mein Fels in der Brandung, mein bester Freund, mein Ein und Alles.

Jetzt waren meine schwarzen Haare lang und glatt und die rote Schleife bloß noch eine lustige Erinnerung. Wie Schneewittchen sah ich auch nicht mehr aus. Wohl eher wie eine molligere Pocahontas, wobei mollig übertrieben war. Aber Pocahontas! Himmel. Die brach ja fast durch in der Mitte. Meinen Stoffhund Quimpi hatte Poppy abgelöst. Und Leons Löwe Schlumpi war bei unserem Abenteuer verloren gegangen. Das eigentliche Drama des Tages. Dafür bekam er ein LEGO StarWars-Set mit Anakin Skywalker, den er immer in seiner Hosentasche mit sich herumtrug und jedem stolz unter die Nase hielt. Was ziemlich nervte. Doch diese Verbundenheit zwischen uns, dieses Gefühl, irgendwie zusammenzugehören, war geblieben.

Seit ein paar Monaten war da aber etwas Neues, Verwirrendes …. Auf einmal hatte ich Angst, ihn zu verlieren, und wog meine Worte ab, was ich zuvor nie getan hatte. Ich dehnte plötzlich unser Begrüßungsritual aus, um ihn länger berühren zu können. Und wenn ich in diese blauen Wahrsagekugeln blickte, dann wurde mein Herz von einer warmen Welle geflutet. Und das war eine Welle, in der ich gerne untergehen wollte.

4

Hurra, die Welt geht unter donnerte über den Schulhof. Auf der hellen Betonwand des Schulgebäudes brandeten aufgepeitschte Wellen, die ein Beamer aus einem Baum heraus darauf projizierte. Auf den breiteren Ästen saßen Schüler, verkleidet als Froschmänner und -frauen. Sie hatten Flossen an, trugen Taucherbrillen und grölten den Songtext in den frühen Morgen. Am Fuß des Baumes standen zwei Lehrer und reckten ihre Hälse in die Höhe, während überall auf dem Schulhof verstreut Schüler wie tot auf der Erde, beziehungsweise dem Meeresgrund, lagen – ertrunken.

Ich erkannte Fidor, Mayas großen Bruder, der eine Bademütze trug und aus dem Baum heraus laut den Refrain skandierte.

»Wir brauchen EUCH.« Ein blasses Mädchen mit schillernden Plastikschuppen auf ihrem T-Shirt gab Leon und mir Flyer. Sie klang sirenenhaft. Ein weiteres Paillettenmädchen pustete Seifenblasen in die Morgenluft. Ich las: Du hast keine Zeit mehr, also nutze sie. Komm in unsere Aktionsgruppe zur Rettung der Welt. Sei cool und lass dich nicht kaltstellen. Lieber überleben, statt Vorzeit-Bio lernen. Darunter ein Wal mit Flügeln. Lass uns das Unmögliche möglich machen!, stand auf seinem Bauch.

»Genial!«, rief ich dem Mädchen zu.

»Ihr beide könnt sofort mitmachen.« Das Paillettenmädchen zeigte auf die Toten, die nach Luft japsend auf dem Schulhof verendet waren.

»Komm!«, schrie ich Leon zu und zerrte ihn hinter mir her zum Unterwasserfriedhof.

»Nee, das ist mir echt zu blöd.«

»Was? Ist doch eine coole Aktion.« Ich ließ mich zwischen zwei Ertrinkende sinken und zog Leon herunter, der sich murrend neben mich setzte. »Es geht um alles, schon vergessen?«

»Ava, das ist doch nicht dein Ernst!« Er stand auf und blickte sich um. »Gibt’s hier irgendwo eine versteckte Kamera? Ich glaub’s echt nicht.«

Frau Liebscher lief über den Schulhof.

»Hey, die haben wir jetzt. Komm!« Er zog an meiner Hand.

»Nein. Das hier ist wichtiger!« Ich riss mich los.

»Okay, dann geh ich allein.« Und schon war er verschwunden.

Ich spürte den kühlen Boden unter mir. Die Musik wogte über mich hinweg, die Wellen mit ihren Silberkämmen schäumten über die Schulwand. Ich blickte in die Baumkronen, sah den blauen Himmel hindurchschimmern, einen Vogel, der seine Kreise drehte. Ein paar Seifenblasen in Regenbogenfarben. Meine Welt, dachte ich. Meine berauschend schöne Welt. Eine tiefe Traurigkeit überschwemmte mich und nährte einen Schluchzer, der meine Seele flutete wie der steigende Meeresspiegel. Es durfte einfach nicht sein.

»Kommst du nachher zum Planungstreffen bei Alice?« Ein Mädchen neben mir schob die Taucherbrille hoch. Ihre Augen waren so bernsteinfarben wie ihre Haut und die kleinen Perlen in ihren Dreadlocks. Sie hatte nicht nur Flossen an den Füßen, sondern auch an den Händen. Eine reichte sie mir. »Yoda.«

Ich schüttelte eine Flosse und grinste. »Bist du so weise, oder was?«

»Klar. Kommen du musst.« Sie wackelte mit den Flossen, die sie sich neben den Kopf hielt wie übergroße Ohren. Ich lachte und der Schluchzer löste sich auf wie Wachs in der Sonne.

»Ich komme natürlich, Ehrensache.«

Yoda nahm eine Flosse ab und legte mir etwas in die geöffnete Hand. Eine kleine Muschel, rau und betongrau. Dann ließ sie sich zurücksinken und regte sich nicht mehr. Ich schloss meine Hand um die Muschel und blickte wieder in die Baumkrone. Plötzlich war da eine kleine Hoffnung. Ein Zeichen. Ein Anfang gegen das Ende. Ein Wegweiser. Yoda mit den Bernsteinaugen.

5

Als ich den Klassenraum betrat, war Frau Liebscher schon dabei, ihre Sachen einzupacken.

»Ah, Ava, schön, dass du auch noch kommst. Bei der nächsten Aktion reichst du bitte vorher eine Entschuldigung ein.« Ein paar Mitschüler kicherten. Frau Liebscher kramte in ihrer Tasche, zog eine Karte heraus und reichte sie mir. »Wir haben gerade Referatsthemen zur Klimawoche verteilt. Das hier ist übrig.« Ich blickte auf die Karte. Ein Weizenfeld. Mehr war darauf nicht zu sehen. »Ackerbau. Landwirtschaft. Ein tolles Thema.« Frau Liebscher lächelte mich an.

»Aber …« Ich sah Hilfe suchend zu Leon, der bloß mit den Schultern zuckte.

»Tut mir leid«, sagte Frau Liebscher und ließ die Schnalle ihrer Tasche einschnappen. »Es ist auch nur noch ein Termin übrig.« Die Schulglocke läutete. Sie ging zur Tür und drehte sich um. »Montag nächste Woche.«

»Oh, das tut mir nun aber gar nicht leid.« Ben lief an mir vorbei und wedelte mit seiner Karte vor meiner Nase herum, auf der ein Eisbär auf einer Scholle abgebildet war. Der Arsch. Ich ignorierte ihn und ließ mich neben Leon fallen.

»O Mann. Ausgerechnet Landwirtschaft. Warum hast du das nicht genommen? Du wohnst doch auf einem Bauernhof.«

»Weil mich das hier mehr interessiert.« Er zeigte mir seine Karte. Eine Insel im Ozean, auf der die Hütten halb im Wasser standen.

»Aber das ist doch mein Wunschthema!«

»Ja, meins auch.« Leon grinste.

»Das stimmt doch gar nicht.« Ich wollte ihm die Karte aus der Hand nehmen, aber er zog sie schnell weg.

»Sagen wir mal so: Ich wollte dich schützen, damit du dich nicht noch mehr in die Sache reinsteigerst und gar nichts Spaßiges mehr mit mir machst.« Er zog einen Mundwinkel hoch.

»LEON! Das ist soo …« Eigentlich wollte ich egoistisch sagen, aber ich brachte das Wort nicht über die Lippen. Er sah mich einfach so verdammt süß an.

»Vielleicht tauscht Kruso mit dir.« Kruso. Dass er auf einem Hof lebte, war nicht zu übersehen. Kruso sah aus wie ein Klischee-Bauernsohn, hatte zerschlissene Jeans an, schwere Stiefel, an denen Erde klebte, und ein viel zu großes kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Seine Haare waren etwas zu lang und etwas zu zerzaust. Er saß allein an seinem Tisch in der letzten Reihe und soweit ich mich erinnerte, sprach er fast nie mit jemandem. Ich vermutete, er träumte sein Leben eher, als dass er es wirklich lebte. Es dauerte auch immer ein wenig länger als bei anderen, bis er reagierte, wenn ein Lehrer ihn ansprach. Gerade kratzte er sich mit einer Ecke seines Lineals Erde unter den Fingernägeln heraus.

»Hey.« Kruso zuckte zusammen. »Erde an fernen Planeten.« Ich ließ mein Ackerfoto auf seinem Tisch landen. »Kannst du mir mal deine Karte zeigen?« Kruso blickte so langsam zu mir, als würde seine Welt sich in Zeitlupe drehen. Dann kramte er zwischen den Seiten eines zerfledderten Collegeblocks die Karte hervor. Eine Schale mit Zitrusfrüchten, Mangos und Avocados war darauf zu sehen.

»Baut ihr das auf eurem Hof an?«

Er lächelte wie jemand, dem gerade ein Kompliment in einer fremden Sprache gemacht wurde, und wandte sich dann wieder seinen Fingernägeln zu. »Noch nicht«, sagte er nach einer Ewigkeit.

»Warum hast du nicht Ackerbau genommen? Da kennst du dich doch gut aus.« Er zuckte mit den Schultern. »Tauschst du mit mir?« Er schüttelte den Kopf. »Bitte.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Wieso denn nicht?«

»Ich bin gespannt, was du dazu zu sagen hast.« Er lächelte und mir fiel auf, dass er einen Button am Hemd trug mit der krakeligen Aufschrift Wir sind die Flut. Darunter eine Insel mit einer Palme. Er bemerkte meinen Blick. »Leon war schneller. Das Thema hätte mich am meisten interessiert.«

»Mich auch. Hast du den Bericht gestern gesehen über Hamburg …?«

»Ist nichts Neues.«

»Nein?«

»Nein. Ich bau ein Boot. Eine Arche.«

»Was?« Er hatte einen an der Waffel, ganz eindeutig. »Und dann packst du zwei Heidschnucken, zwei Milchkühe und zwei Säue drauf?«

»Das wäre Blödsinn. Es müssten schon eine Kuh und ein Bulle sein. Und eine Sau und ein Eber. Sonst macht es keinen Sinn.«

»Schlaumeier.«

»Nein, das Boot ist für meine Familie. Damit wir noch ans Festland kommen.«

»Festland?«

Er schob sein Heft zur Seite und zeigte mir einen abgerissenen Fetzen aus einem Stadtplan. »Unser Hof liegt auf einem Plateau.« Er flüsterte verschwörerisch, als würde er mir eine Schatzkarte präsentieren, und zeigte auf eine Stelle, die rot eingekreist war. »Das wird mal eine Insel.«

»Und da baust du jetzt schon ein Boot?«

»Hm.« Sein Blick suchte wieder die Unschärfe und er versank in einer Düsternis, die ich fühlen konnte. Die ich selbst kannte. Einer Düsternis, die auch mich lähmte und herunterzog. Dieses vertraute Gefühl knüpfte in Windeseile ein tröstendes Band zwischen uns, einen stillen Pakt.

»… gegen die Angst«, flüsterte ich mehr zu mir. Da blickte Kruso auf und in seinen traurigen grünen Augen flackerten helle Punkte wie Lotusblüten, die sich im Sumpf entfalteten.

»Ja«, sagte er, »gegen die Angst.«

6

Schultage waren Avocadotage. Ich hatte immer eine dabei, natürlich bio. Maya sagte sogar Avacado dazu, weil ich sie so sehr liebte. Seit ich vegan aß, war ich Avocadierin, denn da war vieles drin, was ich an gesunden Fetten und Vitaminen brauchte. Ben, der Depp, nannte mich immer Biotönnchen de luxe, dabei war ich nun wirklich kein Tönnchen. Und das Bio zeigte doch, dass ich etwas bewusster mit der Umwelt und meinem Körper umging als so manch anderer. Ben schob auch immer demonstrativ seine Bifi vor meiner Nase aus der Verpackung und machte dabei Geräusche wie kurz vor einem Orgasmus. Das war echt völlig daneben. Unsere Väter hatten zusammen studiert und waren beide erfolgreiche Anwälte. Aber Bens Vater hatte oft echte Kriminelle als Klienten: Großkonzerne, Autobauer, Steuerbetrüger und Banken. Papa war zwar auch kein Engel, aber VW hätte er niemals vertreten, auch Bayer-Monsanto nicht und diese Cum-Ex-Verbrecher. Auf Instagram hatte ich mal gepostet, dass die Bahn haufenweise Glyphosat auf die Gleise sprüht, um sie von Unkraut frei zu halten. Da kommentierte Ben, sein Vater hätte gerade durchgeboxt, dass das Gift noch länger zulässig bleiben würde und daher zum Glück weiterhin jeder siebte Zug pünktlich ankomme. Mit Zwinkersmiley. Echt ein Riesenarsch. Was mich jetzt auf die Barrikaden brachte, war diese blödsinnige Themenverteilung für die Referate zu unserer Klimawoche, für die ich mich bei Frau Liebscher enorm eingesetzt hatte. Ben und sein Eisbär auf der Scholle. O Mann. So ein wichtiges Thema bei diesem Vollidioten. Dem fiel wahrscheinlich die Titanic dazu ein oder Langnese. Echt verschenkt! Und Leon hatte das Pendant zu Bens Karte: An den Polen wird die Eisfläche kleiner, weil sie schmilzt, während einige Südseeinseln langsam untergehen, weil das Wasser steigt. Dazu hatte ich gleich tausend Ideen, vor allem jetzt, wo sogar meine Heimat betroffen sein würde. Aber zu einem Weizenfeld?

Die Schulstunden plätscherten so vor sich hin, während ich darüber nachdachte, was man tun könnte, um unseren Untergang aufzuhalten, und dabei immer mehr resignierte. Ein anderer Text auf dem Demoschild? Ein Aufruf über Instagram? Pfff. Ich hatte gerade mal 47 Follower, die meisten waren aus meiner Klasse. Mal sehen, was das Planungstreffen am Nachmittag bringen würde.

»Nicht vergessen: Morgen ist Demo!«, rief ich in den Raum, als es zur Pause läutete – was mit einem kollektiven Aufstöhnen kommentiert wurde.

»Das bringt doch eh nix.« Saskia klopfte auf ihre Karte, die auf dem Tisch lag. Die rauchenden Schlote eines Kohlekraftwerks waren darauf abgebildet. »Es ist kaum etwas passiert seit Beginn der Demos.«

»Genau«, sagte Sally, »hier ein Entschlüsschen, da ein Kompromisschen. Vergiss es! Und wir sind auch nicht Greta. Der hört man immerhin zu.«

»Dabei hast du so schöne Greta-Zöpfe«, höhnte Ben in Fistelstimme und legte sich imaginäre Zöpfe über die Schultern. Besat lachte und schlug mit ihm ein.

»Du Lauch.« Sally boxte ihm auf den Rücken.

»Wir sind doch alle ein bisschen Greta, wenn wir da hingehen«, warf ich ein. »Die hat sich einfach jeden Freitag mit ihrem Schild vors Parlament gesetzt und demonstriert. Fertig. Und irgendwann ging es durch die Medien und es kamen immer mehr von uns dazu. Der Rest ist Geschichte.«

»Und was hat’s gebracht?« Saskia blickte auf ihr Handy, während sie sprach.

»Na, immerhin reden alle übers Klima und die Wissenschaftler werden mehr beachtet. Wenn nicht gerade ein Virus wütet und alles lahmlegt.«

»Von wem beachtet? Trump? Bolsonaro? Die Brasilianer wollen sogar noch mehr Regenwald abholzen, vor allem für Soja und Rindfleisch. Damit wir auch weiterhin dreimal am Tag Fleischlappen in uns reinschaufeln können. Und hier bei uns traut sich ohnehin keiner was Großes. Es könnte ja Wählerstimmen kosten und der AfD in die Hände spielen.« Saskia nahm ihre Tasche und machte Jonas ein Zeichen, der an der Tür stand und wartete.

»Und deshalb schauen wir lieber tatenlos zu, bis uns das Wasser bis zum Hals steht, oder was?« Ich sah Hilfe suchend zu Leon, der nur zaghaft nickte. »Wollt ihr einfach aufgeben?«

Saskia zog die Schultern hoch. Ben, Besat und Lela verließen murmelnd den Raum. Sally blickte schweigend auf ihr Handy. Leon suchte etwas in seinen Hosentaschen und Maya legte mir eine Hand auf den Rücken.

»Du solltest mal wieder mit zum Tanzen kommen. Das bringt dich auf andere Gedanken.«

Ich blickte sie an. »Maya, nee jetzt. Du auch?«

»Ich hab ehrlich gesagt keinen Bock mehr, immer am Wochenende den Stoff nachzuholen und dafür jedes Mal Tanzen sausen zu lassen.« Sie sah mich traurig an und packte ihre Sachen ein.

Hinter ihr, an die Wand gelehnt, stand Kruso und blickte aus dem Fenster.

»Und du?«

Er drehte sich langsam zu mir um und schien zu rätseln, ob ich tatsächlich ihn meinte. »Ich kann nicht, werde auf dem Hof gebraucht.«

»Ach ja, ich vergaß«, sagte ich grimmig, »der geht ja auch nicht unter, stimmt’s?« Kruso sah mich mit großen runden Augen an.

Ich gab es auf und wandte mich Leon zu. »Aber wir treffen uns doch morgen, oder?«

»Klar. Ich erzähl dir was über die Landwirtschaft und du …« Er schwenkte seine Karte vor meinen Augen.

»Abgemacht. Aber nach der Demo.« Er rollte mit den Augen. »Du kommst doch mit, oder?«

»Zu deinem persönlichen Schutz.«

»Sehr witzig.«

»Aber Schwimmflügel ziehe ich nicht an.« Er wedelte mit angewinkelten Armen wie ein flatterndes Entchen. »Vielleicht lieber einen Rettungsring, in den wir beide reinpassen.« Er legte seine Arme um mich wie einen Ring, ließ sie aber gleich wieder auseinanderschnellen und wich einen Schritt zurück. In seinen Wahrsagekugeln peitschte die See, genau wie in meinem Herzen. »Wie wär’s nachher mit einem Eis?«

»Oh ja, was Kühles kann ich gut gebrauchen.« Ich blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Ach nein, nach der Schule ist gleich unser Planungstreffen. Komm doch einfach mit.«