Der Beginn einer neuen Ära!
Das G-Team droht zu zerbrechen: Mr. High wurde suspendiert, Philippa Decker sitzt in der Todeszelle, und im Verborgenen lauert ein mächtiger Feind. Um zu überleben und sein Team zu retten, muss Cotton jede Regel brechen. Aber welchen Preis wird er dafür zahlen?
Härter, schneller, explosiver: So haben Sie Cotton noch nie gelesen!
COTTON RELOADED – NEMESIS besteht aus sechs Folgen. Die Serie erscheint als eBook und Audio-Download (ungekürztes Hörbuch). COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichsten deutschen Romanserie JERRY COTTON.
Die Schlinge um Cottons Hals zieht sich immer weiter zu: Der letzte Zeuge, der Deckers Unschuld hätte beweisen können, ist tot. Das G-Team ist den fliehenden Agents weiter dicht auf den Fersen – und der mysteriöse Dale Bancroft will sie töten! Da finden die Gejagten eine neue Spur. Diese führt nach Berlin und tief in die Vergangenheit von John High …
Das G-Team ist eine Spezialeinheit des FBI, die bei besonders schwierigen Fällen eingesetzt wird. Offiziell existiert die Einheit nicht. Sollte einer der Agenten gefangen oder getötet werden, werden FBI und Regierung jegliche Kenntnis bestreiten.
Die wichtigsten Mitglieder des G-Teams:
Jeremiah Cotton ist Mitte dreißig und stammt aus einem Kaff namens Grinnell, Iowa. Als er seine Familie bei den Anschlägen am 11. September 2001 im World Trade Center verliert, entschließt er sich, Polizist zu werden. Er fängt als Streifenpolizist beim NYPD an, doch schon bald wird er als Quereinsteiger ins G-Team berufen – was nicht allen gefällt.
Philippa Decker ist Cottons Senior-Partnerin und in vielem sein genaues Gegenteil. Sie ist etwas älter als Cotton, kühler und berechnender als er. Ihr Vater ist der schwerreiche Rüstungsunternehmer Graham Decker, doch man sollte nicht den Fehler begehen, Philippa für ein verwöhntes Töchterchen zu halten.
John D. High ist der ehemalige Special Agent in Charge (SAC) und Chef des G-Teams. In Folge 50 (»Tödliches Finale«) wird er suspendiert, als sein Team der mächtigen Geheimorganisation »Die Hand Gottes« zu nahe kommt.
Deborah Kleinman: Die neue Special Agent in Charge des G-Teams. Eine eiskalte Karrieristin – was nicht heißt, dass sie ihren Job nicht gut macht.
Steve Dillagio ist Agent des G-Teams. Ein raubeiniger Ex-Soldat – schlagfertig, manchmal gewalttätig, doch stets loyal seinem Team gegenüber.
Zeerookah: Der ehemalige Hacker mit indianischen Wurzeln ist der IT-Spezialist des G-Teams.
Joe Brandenburg ist kein Mitglied des G-Teams, sondern Detective beim NYPD. Dort war er Cottons erster Partner als Streifenpolizist.
Gabriel Conroy ist das Pseudonym eines in Los Angeles lebenden Autors. Er studierte in Kalifornien Film und Journalismus und arbeitete lange in der Filmbranche. Unter seinem echten Namen schreibt er Romane und Artikel, übersetzt Bücher und unterrichtet Deutsch. Als Gabriel Conroy lebt er seine Vorliebe für Pulp, Thriller, Horror und Heftroman-Stories aus.
Timothy Stahl, in den USA geboren, wuchs in Deutschland auf, wo er beruflich als Redakteur für Tageszeitungen und als Chefredakteur eines Wochenmagazins tätig war. 1999 kehrte er in die USA zurück und arbeitet seitdem als Autor und Übersetzer. Timothy Stahl lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Las Vegas, Nevada.
Folge 4: Geister der Vergangenheit
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: hxdbzxy | Miloje | faestock | TTstudio | lassedesignen
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3897-3
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Larchmont, Upstate New York, 9:15 Uhr. Jetzt.
Er musste in letzter Zeit immer wieder an David Benton denken. Besonders dann, wenn er Irenes Grab besuchte …
John D. High spazierte gemessenen Schrittes die kleine Anhöhe hoch. Er trug einen dunklen Wintermantel und hatte einen Blumenstrauß dabei. Eigentlich hatte es keinen Sinn, ihr frische Blumen zu bringen. Es war ein schwerer Sturm gemeldet, und dann würden die Blumen sowieso unter einer Schicht aus Eis und Schnee begraben werden. Aber John High konnte nun einmal nicht anders. Sie fehlte ihm. Immer noch. Ganz gleich, wie lange ihr Tod schon zurücklag.
Vor ihrem Grabstein blieb er stehen, ging in die Knie und legte den Blumenstrauß nieder, erhob sich wieder. Faltete die Hände.
Still stand er da. Dann flüsterte er: »Ich liebe dich so sehr.«
John D. Highs Augen brannten. Aber er gab den Tränen nicht nach. Nie. Es war immer ein Fehler, wenn man sich von seinen Gefühlen leiten ließ.
Er löste den Blick von ihrem Gedenkstein, ihrem Namen und schaute in die Ferne.
Von ihrem Grab aus konnte man eine kleine Baumgruppe sehen, dahinter die grauen Wellen des Atlantiks. Es war ein ruhiges, friedliches Eckchen, eine der exklusivsten Stellen, die es auf dem Calvary Cemetery von Larchmont gegeben hatte.
John D. High verweilte noch ein paar Minuten, dann ging er wieder.
Es war Januar. Er fror. Und die Besuche an ihrem Grab verlangten ihm jedes Mal viel ab, rissen immer alte Wunden auf.
Er ging auf sein schwarzes Lincoln Towncar zu, das er unten am Weg geparkt hatte, und nahm hinter dem Steuer Platz. Es dauerte nur zwei, drei Sekunden, bis ihm klar wurde, dass er nicht allein im Wagen war. Doch da war es schon zu spät: Er spürte die Mündung einer Schusswaffe an der Schläfe.
Der Blick seiner dunklen Augen zuckte zum Rückspiegel.
Dort sah er das Abbild von Jeremiah Cotton, der sich hinter den Vordersitzen versteckt hatte.
»Mr Cotton«, sagte High ungerührt. »Ganz Amerika ist hinter Ihnen her.«
»Ich weiß«, erwiderte Cotton, gleichfalls ungerührt.
»Was führt Sie in Ihrer Situation ausgerechnet zu mir?«
»Ich bin auf der Suche nach einem weisen Mann«, antwortete Cotton. »Da kam ich auf Sie.«
Die Beifahrertür wurde geöffnet. Philippa Decker nahm neben John D. High Platz. Sie nickte ihm kurz zu, dann sagte sie zu Cotton: »Alles klar. Ich habe niemanden gesehen. Wir haben freie Fahrt.«
»Entzückend«, knurrte Mr High. »Ein Wiedersehen mit alten Freunden.«
»Ein Mann wie Sie hat keine Freunde«, stellte Cotton fest.
»Was wollen Sie von mir?«, knurrte High.
»Wir brauchen Antworten«, sagte Decker.
Decker sah John D. High von der Seite her an, dann wies sie mit dem Kinn in Richtung des Grabes auf der Anhöhe und fragte:
»Wessen Grab ist das?«
High seufzte. Cotton presste ihm den Lauf härter gegen die Schläfe.
»Reden Sie, verdammt!«, knurrte Cotton.
»Meine Frau«, sagte High, und es fiel ihm sichtlich schwer. Die Worte drangen aus seiner Kehle wie ein schwacher Wüstenwind.
Cotton nickte, dann fragte er: »Und wer ist Dale Bancroft?«
Plötzlich flackerte etwas in Mr Highs Augen auf, eine Art von Schmerz. Doch bereits im nächsten Moment war es wieder verflogen. Mr Highs Hände umklammerten das Lenkrad des geparkten Wagens, und allein die hervortretenden Fingerknöchel verrieten seine Anspannung.
»Reden Sie«, sagte Decker.
»Es gibt keinen Dale Bancroft«, sagte High mit einem heiseren Flüstern.
»O doch«, erwiderte Cotton. »Es gibt ihn.«
Mr High schüttelte den Kopf. Er öffnete den Mund, als müsse er um Atem ringen. Sein Blick huschte durch den Wagen, hilflos, verwirrt.
»Es ist unmöglich«, sagte Mr High, »unmöglich!« Seine Hände schlossen sich noch eine Spur fester um das Lenkrad.
Cotton ließ nicht locker. »Warum?«
»Weil der Mann, an den ich denke«, antwortete John D. High, und sein Blick wanderte die Anhöhe hinauf zum Grab seiner Frau, »seit gut dreißig Jahren tot ist.«
Cotton und Decker tauschten einen erstaunten Blick aus.
»Na, los«, knurrte Cotton. »Reden Sie weiter.«
Mr High nickte.
»Es fing in Berlin an. Ich war damals mit der Leitung der Analyseabteilung des CIA beauftragt, in der West-Berliner US-Mission. Einer meiner Leute, David Benton, hatte eine Informantin im Ostteil der Stadt aufgetan. Er arbeitete dort unter dem Tarnnamen Dale Bancroft. Und der Codename seiner Kontaktperson war Ofelia.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Cotton tonlos und deutete mit einem Kopfnicken zu dem Grab auf der Anhöhe. »Ofelia ist die Dame … na ja, die Dame da oben.«
Mr High nickte und schluckte trocken, als würde er etwas Schmerzhaftes hinabwürgen.
Und dann fing er an zu erzählen. »Das alles ist lange her. Es war 1987. In Wirklichkeit hieß sie Irene Sommer …«
*
Behrenstraße, Ost-Berlin, 14:27 Uhr. Mai 1987.
Irene Sommer atmete tief ein, versuchte, sich zu entspannen, aber es war unmöglich. Ihr Körper war verkrampft, und ihre Gedanken rasten auf Hochtouren. Ihre Bluse klebte an der Haut. Auch auf ihrer Stirn stand Schweiß. Es lag an der drückenden Hitze. Obwohl es erst Mai war, obwohl der Sommer noch gar nicht richtig angefangen hatte.
Die Bürofenster standen offen, doch draußen wehte kein Wind. Die Luft war abgestanden. Es roch nach Schweiß und Desinfektionsmittel, ein beißender, süßlicher Geruch.
»Mensch,« stöhnte Ursula Kieslowski. »Wird immer schlimmer, wa?«
Irene nickte ihrer Kollegin geistesabwesend zu. Sie starrte auf ein Dokument, das vor ihr lag – ein Bericht über »revolutionäre Gruppen« im Westen, die heimlich von der DDR Schwarzgelder erhielten. Irene war sicher, dass das Dokument für Dale Bancroft von großem Interesse wäre.
Sie schaute zu ihrer Kollegin auf. Hoffte, dass Ursula ihr Zittern nicht bemerkte. Ihre Angst.
Irene Sommer war eine von drei Sekretärinnen in einem Großraumbüro mit Blick auf den Hinterhof des Ministeriums des Inneren. Ein bedrückender, schmuckloser Bau. Doch hinter der tristen Fassade verbarg sich eine gewaltige Maschinerie. Hier wurden die wichtigsten Entscheidungen des Staates gefällt.
Irene Sommer war hier nur ein Rädchen im Getriebe. Sie tippte Dokumente ab. Tagein, tagaus. Auf ihrem Schreibtisch standen ein Aschenbecher und ein Kaktus. Über der Tür hingen Schwarz-Weiß-Porträts von Walter Ulbricht und Erich Honecker. Irene kam es immer so vor, als würden die Männer auf den Fotos ihr auf die Finger schauen. Besonders jetzt.
Es war vermutlich ihre stets misstrauische Kollegin Heike Martens, die für Irene die größte Gefahr darstellte. Die ewig fröhliche Ursula Kieslowski, die ihr gegenüber am selben Schreibtisch saß, war wohl eher harmlos. Wobei auch das nicht zwangsläufig gegeben war. Gut möglich, dass beide etwas ahnten.
In den letzten Monaten hatte Irene öfter mit wichtigen Akten das Büro verlassen. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, schließlich musste man immer wieder einmal Papiere und Akten in Sitzungen oder ins Büro des Chefs bringen. Aber ab und zu, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, ging sie zuerst auf die Damentoilette im dritten Stock, klappte den Toilettendeckel zu, legte die Papiere darauf und machte dann Fotos. Sie benutzte dazu eine Brille, die ihr dieser Mr Bancroft gegeben hatte. Mikrofilm, hatte er gesagt. Sie müsse lediglich die Brille tragen, hatte er gesagt, sich die Dokumente anschauen und auf einen winzigen Kopf drücken, der im Bügel eingelassen war. Die Brille war dunkelblau und schmucklos, aber dennoch hatte Irene von den beiden Kolleginnen deswegen alle möglichen Kommentare zu hören bekommen: »Gut siehst du aus!«, hatte Heike gesagt.
»Man gönnt sich ja sonst nix«, hatte Irene nur ausweichend geantwortet. Den fragenden Blick ihrer Kollegin hatte sie ignoriert und dann über etwas anderes geplaudert. Aber sie war überzeugt, dass Heike etwas vermutete. Die Art, wie sie guckte. Da war irgendetwas in ihrem Blick.
Anfangs, vor ein paar Monaten, da hatte ihr das alles noch irgendwie Spaß gemacht. Ihr Herz hatte immer wild geklopft, und sie hatte das Gefühl gehabt, den Bonzen da oben so richtig eine reinzuwürgen. Da war ihr das alles noch wie ein Spiel vorgekommen.
Im Herbst vorigen Jahres hatte sie im Café Moskau an der Stalinallee einen Mann kennengelernt. Dunkle Augen, braunes Haar, drahtig, Schnauzbart. Er hatte den arroganten Blick eines Westlers, war einer von jenen Leuten, die vor nichts Angst haben müssen. Einer von jenen Leuten, zu denen sie auch so gerne gehören wollte. Er hatte sie gefragt, ob sie ihm bei der Speisekarte helfen könne, sein Deutsch sei nicht so gut. Er hatte einen englischen Akzent gehabt, oder einen amerikanischen. So genau wusste sie das nicht. Wie er heiße? Bancroft, hatte er gesagt. Dale Bancroft. Angenehm. Sommer, Irene Sommer. So hatte es angefangen.
Bancroft hatte ihr erzählt, dass er für die australische Botschaft hier in der Hauptstadt arbeitete. Ob er sie noch nach Hause begleiten dürfe? Nee, ganz bis nach Hause lieber nicht, sie wollte nicht, dass ihre Mutter … Aber vielleicht bis zur U-Bahn-Station?
Nur bis zur U-Bahn? Er hatte gelächelt und gesagt: Gerne auch bis ans Ende der Welt.
Da hatte sie gelacht. Und bald hatten sie sich ein zweites Mal getroffen. Dann ein drittes Mal. Dabei hatte Bancroft sich nie irgendwelche Freiheiten herausgenommen, hatte sie immer mit Respekt behandelt. Immer mit Respekt. Und doch … die ganze Zeit über hatte Irene sich gefragt, was genau er eigentlich von ihr wollte. Anders kannte sie es nicht, immerhin lebte sie in einem System, in dem man geradezu gezwungen war, sich irgendwie durchzumogeln. Daher war sie gar nicht sonderlich überrascht gewesen, als der nette Mr Bancroft sie so nebenbei gefragt hatte, ob sie ihm vielleicht einen Gefallen tun könne …
Anfangs hatte sie ihm nur Kleinigkeiten verraten, irgendwelche Gesprächsfetzen, die sie im Büro aufgeschnappt hatte. Und Bancroft hatte sich erkenntlich gezeigt. Hatte ihr unauffällig ein paar Geldscheine zugesteckt. Manchmal sogar Westmark. Damit konnte sie ihrer Mama eine neue Bluse kaufen. Im Konsum an der Ecke mal eine Flasche Krimsekt. Und es hatte ihr Spaß gemacht. Es war ihre kleine Rache am System.
Sie erzählte ihm von sich. Es war, als wäre ein Damm gebrochen. Bei den Genossen musste sie sich immer zurückhalten, da wollte sie nichts von sich preisgeben, nur das Allernötigste. Aber mit irgendjemandem musste man ja reden! Und dieser Mr Bancroft? Charmant, gebildet, gut aussehend … und eben von drüben, von außerhalb der Zone.
Sie trafen sich immer heimlich. Anfangs in Cafés, später in kleinen Hotels und Herbergen, wo sie die Besitzer kannte und diese sich bereit erklärten, gegen ein paar Westmark darauf zu verzichten, ihre Personalien aufzunehmen. Bancroft hatte ihr ab und zu ein Päckchen Marlboro mitgebracht. Nicht das Imitat aus Rumänien, sondern die echten. Die schmeckten ganz anders, viel besser, die kratzten auch nicht so in der Kehle. Dass er dafür etwas erwartete, war klar. So hatte es angefangen. Mit einer Zigarette und einem Kuss. Bald waren sie schwer atmend auf das Hotelbett gefallen, doch im letzten Moment hatte Irene es sich anders überlegt, hatte ihn von sich gestoßen.
»Noch nicht«, hatte sie keuchend gesagt. »Bitte, noch nicht.«
Sie mochte ihn, das ließ sich nicht leugnen. Aber sie war auch nervös. Sie musste an ihren Vater denken, der ihre Mutter damals einfach so sitzen gelassen hat. Sie war aufgestanden, hatte sich den Rock glatt gestrichen und sich eine neue Zigarette angezündet. Bancroft hatte jede Bewegung mit hungrigen Augen verfolgt.
»Was bin ich für dich?«, hatte sie ihn dann gefragt. Sie war ans Fenster getreten, hatte ihre West-Marlboro geraucht und hinausgeschaut. Es hatte zuvor geregnet, und die Straßen waren noch immer nass gewesen, die Straßenlaternen hatten sich in den Pfützen gespiegelt.
»Wie bitte?«, hatte Bancroft gefragt. Er hatte sich jetzt auf die Bettkante gesetzt, wie ein Pennäler, ganz nervös. Sie wusste, dass er sie wollte. Vielleicht liebte er sie sogar. Aber trotzdem, in ihrem Inneren war eine Grenze, die sie sich nicht zu überschreiten traute.
Irene Sommer hatte Angst, und die ließ sie nun an Bancroft aus. Warf ihm vor, dass sie für ihn doch nur irgendein dummes Püppchen sei, das er und seine Chefs nach Belieben tanzen ließen. Aber Bancroft hatte ihr versichert, dass sie mehr sei als das. Viel mehr. Hatte ihr versprochen, dass »seine Leute« sie eines Tages hier rausholen würden. Und so hatte sie ihm, im Laufe ihrer heimlichen Begegnungen, immer mehr von sich preisgegeben.
Sie erzählte Bancroft, dass ihre Mutter, Magdalene Sommer, alleinstehend war, dass die beiden Frauen in einem Plattenbau an der Neuen Blumenstraße lebten, im achten Stock. Sie erzählte ihm, dass ihr Vater die Familie schon in frühen Jahren verlassen hatte. Und sie verriet ihm, dass sie sich für Eiskunstlauf interessierte, dass sie sogar daran gedacht hatte, Profi-Sportlerin zu werden. In ihrer Jugend hatte sie pausenlos geübt. Nur auf dem Eis fühlte sie sich wirklich frei, wenn sie über die kalte Fläche glitt, wenn sie das Rauschen in ihren Ohren und das Hämmern ihres Herzens hörte, das Kratzen der Kufen auf dem Eis.
Mit dreizehn war sie in den Sportklub Dynamo Berlin aufgenommen worden, bei den Besten der Besten. Ihr Ausbilder, Jens Burkhart, war auch im Paarlauf ihr Partner gewesen. Allerdings war ihr schnell klar geworden, dass sein Interesse nicht nur ihren sportlichen Fähigkeiten gegolten hatte. Aber sie hatte nicht gewollt. Jens Burkhart war mehr als zehn Jahre älter als sie. Sie hatte ihn abgewiesen, doch er ließ sich nicht beirren. Sie war nun mal seine »Kleine«, sein Mündel, sein Zögling.
Und er hatte ihr die Pillen gegeben. Die kleinen blauen Vitaminpillen, jeden Tag zwei, bei einer Dosis von je fünf Milligramm. Die Pillen halfen ihr. Sehr bald schon merkte sie, wie ihre Muskeln größer wurden, wie sie mehr Kraft entwickelte. So konnte sie länger auf dem Eis sein. Und auf dem Eis war sie frei. Schwerelos. Flog wie ein Engel.
Die Pillen nahm sie noch heute.
Doch dann war der Unfall passiert. Bei einem Wettkampf hatte sie sich den Fuß gebrochen, und so war – im Alter von sechzehn – der Traum bereits ausgeträumt gewesen. Alles vorbei. Sie hatte nächtelang geweint, in den Armen ihrer Mama.
Jetzt war sie seit über zehn Jahren im Ministerium des Inneren. Als Tippse. Es war nicht viel, aber es war besser als nichts und mehr als die meisten anderen hatten. Sie war ein Steinchen im Mosaik des Ganzen. Hätte es gefehlt, wäre es niemandem aufgefallen.
Dann hatte sie Dale Bancroft kennengelernt, der ihr klarmachte, dass sie noch mehr sein könnte. Sehr viel mehr.
Bald schon hatte Bancroft Kopien von Dokumenten gewollt. Und zwar gezielte Informationen, bestimmte Akten.
Es hatte nicht lange gedauert, da konnte sie nachts nicht mehr so gut schlafen. Und bald war die Angst gekommen. Dieser Druck lastete noch immer auf ihr. Immer deutlicher war ihr bewusst geworden, dass es ein gefährliches Spiel war, auf das sie sich hier eingelassen hatte. Und nun gab es kein Zurück mehr. Aber Bancroft hatte ihr schließlich versprochen, sie rauszuholen, sollte irgendetwas schiefgehen. Sie und Mama.
Und dann war plötzlich das Schlimmste passiert …
Behrenstraße, Ost-Berlin, 11:27 Uhr. Mai 1987.