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Buch

Das Barbizon Hotel in Manhattan: Hierhin zieht es sie, die jungen Frauen mit den großen Träumen, die im New York der 1950er ihr Glück suchen. So auch Darby McLaughlin, die in die Stadt gekommen ist, um Sekretärin zu werden. Unverhofft lernt sie auch eine ganz andere Welt kennen. Eine Welt, in der Jazz und ein ungeahntes Gefühl von Freiheit in der Luft liegen. Doch als Darby an die engen Grenzen stößt, die einer jungen Frau gesteckt sind, endet dies in einer Tragödie.

2016: Die junge Journalistin Rose Lewin ist erst vor Kurzem mit ihrem Lebensgefährten ins Barbizon, nun ein schickes Apartmenthaus, eingezogen. Doch sie plagen Zweifel, ob ihr Traum vom Glück hier wahr werden kann. Im Lift des prächtigen Gebäudes trifft Rose auf Darby, eine alte Dame, die ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllt. Eine zufällige Begegnung, die für die beiden so unterschiedlichen Frauen zum Schicksalsmoment wird …

Autorin

Die gebürtige Kanadierin Fiona Davis wuchs in New Jersey, Utah und Texas auf. Ihre Karriere als Schauspielerin führte sie nach New York, wo sie in zahlreichen Broadway-Produktionen zu sehen war. Nach 10 Jahren schlug sie erfolgreich einen neuen Karriereweg als Journalistin ein. Mit »Wovon sie träumten« hat sie ihr Romandebüt vorgelegt, das von Presse und Lesern gleichermaßen begeistert aufgenommen wurde. In ihrer Freizeit gibt es für Fiona Davis nichts Schöneres als über Wochenmärkte zu bummeln oder in geschichtsträchtige Städte zu reisen.

FIONA DAVIS

Wovon
sie
träumten

Roman

Deutsch von
Ann-Catherine Geuder

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel »The Dollhouse« bei Dutton,
an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung November 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Fiona Davis

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Elisabeth Ansley / Trevillion Images;

FinePic®, München

Innenseiten/U4: gettyimages/ATU Images; FinePic®, München

Redaktion: Gabriele Zigldrum

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-19893-0
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Eltern

Kapitel 1

New York City, 2016

Sie hatte die Zwiebeln vergessen.

Nach all den Vorbereitungen und Listen, und nachdem sie sogar extra früh aus der Arbeit gegangen war, um rasch noch alles einzukaufen, was sie für dieses besondere Abendessen brauchte, hatte Rose diese wichtige Risotto-Zutat vergessen. Sie sah in der Speisekammer nach, aber der Korb war leer, abgesehen von ein paar pergamentenen Zwiebelschalen.

Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Griff einmal begeistert ihr Risotto gelobt, und sie erinnerte sich, wie stolz sie ihm die ungewöhnlicheren Zutaten aufgezählt hatte.

»Das eigentliche Geheimnis ist die Kokosmilch«, verriet sie ihm.

»Warum Kokosmilch?« Er lehnte sich auf dem wackeligen Stuhl zurück, den sie in einem Secondhandladen auf der Bleeker Street gekauft hatte. Griffs Arme und Beine waren viel zu lang und ungelenk für ihr kleines Studio-Apartment.

»Ich finde, dass sie dem Risotto eine besonders cremige Konsistenz verleiht.« Sie sagte das ganz nebenbei, während sie die Teller einsammelte, als würde ihr das Kochen leichtfallen wie so vieles andere auch, obwohl es sich für sie anfühlte wie ein panischer Wettlauf auf die Ziellinie zu. »Zu dem Reis und den Gewürzen füge ich peu à peu Hühnerfond und Kokosmilch hinzu, bis alle Aromen miteinander verschmelzen.«

»Es gefällt mir, wie du das sagst. Verschmelzen. Sag das noch mal.«

Das tat sie, so wie sie es vor der Kamera sagen würde, ihre Stimme leicht tiefer als sonst, klarer und sicherer.

Dann hob er sie hoch und trug sie auf ihr Bett mit dem hübschen Überwurf, um sie dort zu lieben. Sie unterdrückte den Impuls, die handgefertigte Decke zur Seite zu schieben, damit sie sie nicht morgen in die chemische Reinigung bringen musste, und gab sich stattdessen seinem überwältigenden Körper hin, nur Muskeln und Sehnen, athletisch auch noch mit fünfundvierzig.

Rose vermisste die Leichtigkeit und das Feuer ihrer gemeinsamen Zeit damals, als die wütende Exfrau und die mürrischen Kinder noch nicht ihren Kokon der Glückseligkeit durchlöchert hatten. Als sie noch nicht ihr Apartment aufgegeben und mit Griff in seine Eigentumswohnung im Barbizon an der Upper East Side gezogen war.

Natürlich würden seine Exfrau und die Kinder ihre Ansicht nicht teilen. Für sie war sie der Eindringling, der Griffs Aufmerksamkeit und Liebe beanspruchte. Rose sah auf die Ofenuhr. Kurz vor sechs. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch zum Laden laufen und weiße Zwiebeln kaufen, bevor Griff vom Rathaus heimkehrte.

Ihr Handy klingelte. Schon wieder Maddy. Der vierte Anruf in einer Stunde.

»Was ist, Maddy?« Sie versuchte, genervt zu klingen, musste aber sofort loslachen.

»Ich weiß, ich weiß. Du hast gerade so gar keine Zeit, mit deiner besten Freundin zu telefonieren. Du bist viel zu sehr damit beschäftigt, die pflichtbewusste Hausfrau zu spielen, stimmt’s?«

»Jep. Und du gehst gleich zu den Soapies?«

»Daytime Emmys, bitte. Ich wünschte, du würdest mitkommen, Ro. Welche Schuhe passen zu dem Michael-Kors-Kleid? Nude oder golden?« Seit ihrer gemeinsamen Zeit im College hatte Maddys Schauspielkarriere gewaltig an Fahrt aufgenommen. Sie hatte direkt nach dem Abschluss eine feste Rolle in einer Daily Soap ergattert, und das hier war ihre erste Nominierung.

Rose schob die Gewissensbisse beiseite, weil sie ihre Freundin nicht begleitete. »Definitiv nude. Schick mir ein Foto, okay?«

»Hast du schon eine Ahnung, was Griffs große Neuigkeit sein könnte?«

Rose lehnte sich lächelnd gegen den Küchentresen. »Vermutlich ist es gar keine große Sache«, log sie. »Vielleicht ist er erneut befördert worden? Griff ist so ein Streber.«

»Quatsch. Man muss doch nur eins und eins zusammenzählen: Es ist jetzt ein Jahr her, dass seine Scheidung durch ist, ihr lebt seit drei Monaten zusammen, und so langsam könntet ihr euch mal einen Termin überlegen.«

»Er hat sich in letzter Zeit tatsächlich etwas merkwürdig benommen. Aber was, wenn ich voreilige Schlüsse ziehe?«

»Vertrau auf dein Bauchgefühl.«

»Mein Bauchgefühl sagt, dass da was im Busch ist. Auch wenn es sich manchmal anfühlt, als stünden wir noch ganz am Anfang. Ich meine, wir haben die Wohnung noch nicht mal fertig eingerichtet.«

Diese Wohnung, die sie zugleich liebte und hasste. Sie liebte sie wegen der großen Flügelfenster, des Wolf-Gasherds und der geräumigen Wandschränke. Wegen der Verheißung, die den stuckverzierten Wänden und den Parkettböden aus dunklem Palisander innewohnte.

Aber sie hasste sie auch für ihre Leere. Rose und Griff arbeiteten unter der Woche beide zu viel, um mit der Einrichtung wesentlich voranzukommen, und die Wochenenden verbrachte Griff bei seinen Kindern in seinem Haus in Litchfield, während seine Frau mit ihren anderen geschiedenen Freundinnen um die Häuser zog. Seine Exfrau, korrigierte sie sich.

Es war noch so viel zu tun, um es hier wohnlich zu gestalten. Die Tapete im kleinsten Zimmer war mit kletternden Äffchen gemustert. Wunderbar geeignet für ein Baby, aber absolut nicht das Richtige für Griffs Teenager-Töchter. Und der Fußboden im Esszimmer war vollkommen nackt, abgesehen von dem geisterhaften Umriss des orientalischen Teppichs der Vorbesitzer.

Rose kam sich an den Wochenenden oft selbst wie ein Geist vor, wenn sie auf dem Fenstersims saß und auf den Verkehr hinunterstarrte und auf die Pärchen, die unten entlangliefen. Das Geräusch von Autohupen und Lachen drang zu ihrer Wohnung im vierten Stock hinauf, selbst bei geschlossenen Fenstern. Das Viertel, 63rd Street Ecke Lexington, war nicht so charmant wie ihre alte West-Village-Umgebung, wo die Bäume einen Baldachin über den Pflastersteinen formten. Hier waren die Bürgersteige kahl, und in der Lexington Avenue reihten sich schicke Läden an exklusive Boutiquen, in denen man weiße Babykleidchen aus Leinen oder antiquarische Stadtpläne von Paris erstehen konnte.

Rose wartete, während Maddy sich schnaubend in ihr Kleid kämpfte. »Gott, der Reißverschluss ist echt unerreichbar. Ich bräuchte ein zweites Paar Hände.«

»Wo ist Billy nochmal?«

»Auf einem Elternabend. Er und seine Ex gehen danach essen, um die Schulfrage fürs nächste Jahr zu besprechen. Und falls ich es noch nicht erwähnt habe: Ich bin echt froh, dass ich für den heutigen Abend eine ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte besitze.«

»Wenn ich könnte, würde ich dir beim Schickmachen helfen, das weißt du.«

»Ja, ich weiß, Süße, mach dir keine Gedanken. Ich schick dir später ein Bild – und du mir, sobald ein Ring an deinem Finger steckt.«

Rose legte lachend auf und tappte durch den langen Flur zum Schlafzimmer, wo sie aus dem Etuikleid schlüpfte, das sie den ganzen Tag über getragen hatte. Wie immer war sie zu schick angezogen gewesen. Der Rest ihrer Kollegen bei dem Medien-Start-up, alle mindestens zehn Jahre jünger, bevorzugte Jeans und Kapuzenpullis. Sie zog sich eine Leggins und einen weichen Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt an, dann malte sie sich vor dem Spiegel die Lippen nach.

Griff nannte sie gern sein Pin-up-Girl, ein Bild, das sie, wenn sie zusammen ausgingen, mit einem karmesinroten Lippenstift befeuerte, der gut zu ihrer blassen Haut und ihrem dunklen, glatten Bob passte. Aber in letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, ob die Farbe nicht zu grell für eine Frau Mitte dreißig war. Ob es zu bemüht aussah.

Wann fragte sich eigentlich ein Mann, ob sein Gesicht zu sehr glänzte, sein Haar sich übermäßig kräuselte oder ob seine Augenfältchen sich über Nacht vertieft hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Griff jemals über sowas nachdachte. Er betrat einen Raum als ein Mann der Tat, ein Mann, der Schlagzeilen machte. Im Gegensatz zu der hübschen jungen Frau, die nur über sie berichtete. Als Rose beim Fernsehen gearbeitet hatte, war es ihr wichtig gewesen, dass man sie ernst nahm, und sie hatte sich entsprechend seriös gekleidet, auch wenn ihr Produzent lieber tiefe Dekolletés sehen wollte. Trotz ihrer dezenten Kleidung war Rose von einem Großteil ihres Stammpublikums als reiner Blickfang abgetan worden – und es hatte auf Twitter immer wieder gemeine Kommentare über ihre Brüste und Beine gegeben. Zumindest bewahrte sie ihr neuer Job vor dem Rampenlicht.

Durch das offene Schlafzimmerfenster drang Musik herein. Eine leise, schwermütige Melodie, gefolgt von dem Schnarren eines Schlagzeugs. Sie war sich nicht sicher, wer da spielte: Außer Miles Davis kannte sie keinen Trompeter. Als sie noch klein war, hatte ihr Vater gerne Platten von Dave Brubeck aufgelegt, und bei dem Gedanken daran musste sie lächeln. Sie würde etwas von Brubeck auf ihr iPhone herunterladen und es ihrem Vater vorspielen, wenn sie ihn am Wochenende besuchte. Das würde ihm gefallen. Oder er würde das Handy quer durch das Zimmer werfen. So genau wusste man das dieser Tage nicht.

Sie sollte losgehen, doch die Melodie zog sie wie magisch zum offenen Fenster. Sie stützte sich auf das Fensterbrett, steckte den Kopf hinaus und lauschte. Der Klang schwebte von der Wohnung unter ihrer herauf, doch dann endete das Stück abrupt und wurde von einem Frauenduett abgelöst. Die eine hatte einen kratzigen Alt, wie Lucinda Williams. Die andere war sanft, hoch, beinahe engelsgleich. Das Zusammenspiel der Stimmen war unerträglich schön: Schmerz und Hoffnung, miteinander verbunden. Das Lied endete mit einem Geräusch, das wie ein Kichern klang, was ziemlich merkwürdig war.

Zeit, in die Gänge zu kommen. Sie brauchte Zwiebeln.

Das Festnetztelefon klingelte. Hoffentlich war das Griff, um zu sagen, dass er sich etwas verspäten würde.

»Ist mein Dad da?«

Rose konnte noch immer nicht die Stimmen seiner Töchter auseinanderhalten.

»Isabelle?«

»Nein, hier ist Miranda.« Das Mädchen schnaubte ungeduldig. »Ist mein Dad da?«

Keines der Mädchen würde Roses Namen jemals laut aussprechen. Zum Verrücktwerden. Andererseits waren sie jung und mussten mit einer komplizierten Situation klarkommen. Auch wenn Griff und seine Frau sich bereits vor drei Jahren getrennt hatten und seit einem Jahr geschieden waren, war in den Augen der Töchter trotzdem Rose an allem schuld, was zwischen ihren Eltern schiefgelaufen war. Maddy hatte da mehr Glück gehabt; sie hatte sich einen Mann geangelt, dessen Kinder vier und sieben waren, ein magisches Alter. Für die beiden stellte Maddy keine Bedrohung dar, sondern einfach eine weitere Person, mit der man spielen konnte und die einem Aufmerksamkeit schenkte.

Rose bemühte sich um einen besonders freundlichen Ton. »Hallo, Miranda. Er ist noch nicht von der Arbeit zurück. Hast du’s auf seinem Handy versucht?«

»Ja. Da ging sofort die Voice Mail dran. Deshalb rufe ich ja hier an.«

»Tja, dann muss er in der U-Bahn sein. Ich richte ihm aus, dass du angerufen hast.«

Kein Tschüss, kein Auf Wiedersehen, nur ein Klick, gefolgt von einem Freizeichen. Vielleicht würde sie die Affentapete doch hängen lassen.

Wenn Griff tatsächlich in der U-Bahn war, dann hatte sie nicht mehr viel Zeit. Sie schnappte sich ihre Tasche und ging den Flur hinunter, betrat den Fahrstuhl. Nach einem endlosen Moment schlossen sich die Türen, nur um sich ein Stockwerk tiefer wieder zu öffnen.

Eine Frau stieg ein, mit weißen Handschuhen und einem wunderschönen dunkelblauen Strohhut, dessen elfenbeinfarbener Schleier Augen und Nase verdeckte. Ihr dazu passender Mantel, viel zu warm für diese Jahreszeit, bauschte sich unter der schmal geschnittenen Taille. Nur ihre zögernden Bewegungen, als ob der Boden jederzeit unter ihren elfenbeinfarbenen Schuhen nachgeben könnte, und die Falten um ihren Mund und an ihrem Hals verrieten ihr fortgeschrittenes Alter. Sie umklammerte die Leine eines kleinen Hundes. Augenblicklich wandte sie sich der Tür zu. Roses fröhlicher Gruß blieb unbeantwortet.

Der dritte Stock. Als Griff und Rose sich damals das Gebäude angesehen hatten, hatte der Makler im Flüsterton erwähnt, dass rund ein Dutzend der Mieter »Relikte« waren, Damen, die bereits im Barbizon gewohnt hatten, als es noch ein Hotel für junge Frauen gewesen war. Anstatt die Langzeitbewohnerinnen rauszuwerfen, als das Gebäude in Eigentumswohnungen aufgeteilt wurde, hatte man sie alle in mietpreisgebundene Apartments im dritten Stock einziehen lassen.

Der Hund bellte Rose an, und sie beugte sich vor und ließ ihn an ihrer Hand schnuppern. Die verschleierte Dame bewegte sich keinen Zentimeter. Die anderen Bewohner schimpften manchmal über die Mieterinnen aus dem dritten Stock, Frauen, die in einer wertvollen Immobilie wohnten, ohne Tausende von Dollars an monatlichen Nebenkosten zu zahlen wie der Rest von ihnen, aber Rose sah das nicht so. Sie waren zuerst hier gewesen, und sie faszinierten sie.

Wie es wohl gewesen war, als diese exklusive Adresse Hunderte von hübschen jungen Frauen beherbergte? Einige von ihnen hatten Weltruhm erlangt: Grace Kelly, Sylvia Plath, Candice Bergen …

»Ich bin Rose Lewin.« Sie konnte nicht anders. Die Frau wollte eindeutig in Ruhe gelassen werden, aber Roses Neugier hatte die Oberhand gewonnen. »Ich bin erst vor ein paar Monaten hier eingezogen. Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt.«

Die Frau drehte sich langsam um, ihre Lippen zu einer harten pinkfarbenen Linie zusammengepresst. »Willkommen.« Ihre Stimme vibrierte altersschwach.

Endlich öffneten sich die Fahrstuhltüren, und Rose wartete, bis ihre geheimnisvolle Nachbarin die Füße auf den Marmorboden der Lobby gesetzt hatte. Sie ging vorsichtig, machte kleine, wacklige Schritte, hielt aber Rücken und Kopf kerzengerade. Der Hund, irgendeine Art Terrier, tänzelte mit einem ungleichmäßigen Stakkato über den Boden, als ob die Kühle des Steins seine fingerhutgroßen Pfoten schmerzte. Rose folgte ihnen zögernd.

Der Pförtner öffnete galant die schwere Haustür. »Miss McLaughlin, ich grüße Sie. Wie geht es Bird denn heute?«

»Gut, danke, Patrick.«

Nachdem sie durch die Tür gegangen waren, wandte sich Patrick mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung Rose zu. »Miss Lewin. Wie geht es Ihnen heute?«

»Gut, danke. Ich gehe nur rasch zum Laden, bin gleich zurück.«

Sie musste sich immer noch an den Pförtner gewöhnen. Es war nicht notwendig, ihm zu erzählen, warum sie rausging, oder über das Wetter zu plaudern. Ihr Hang dazu machte Griff verrückt. Für ihn war das Verlassen der Lobby nur ein winziger Punkt unter Millionen von Punkten, die innerhalb eines langen, umtriebigen Tages abzuhaken waren.

Die Frau und der Hund gingen in Richtung Park Avenue, und Rose marschierte zur Second. Obwohl der Laden brechend voll war, schnappte sie sich zwei Zwiebeln und einen Strauß weißer Pfingstrosen und schaffte es in Rekordzeit durch die Schnellkasse.

Als sie zurückkehrte, stand Patrick auf dem Bürgersteig, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und sah zu dem neuen Gebäude hinauf, das auf der anderen Straßenseite errichtet wurde. Sein Bauch lugte über seinem Gürtel hervor, und sein graues Haar bewegte sich in der Brise. Rose blieb stehen und sah ebenfalls hinauf.

»Wie hoch wird es werden?«, fragte sie.

»Zu hoch«, erwiderte er mit starkem irischem Akzent. Er arbeitete für das Barbizon, seit er vor vierzig Jahren nach Amerika gekommen war, und Rose war sich ziemlich sicher, dass er seinen Akzent bewusst betonte, um die Damen zu verzücken. »Ich dachte gerade daran, wie es wohl war, als unser Gebäude noch das höchste im Viertel war. Können Sie sich das vorstellen? Hab ein Foto davon gesehen, wie es über den Stadthäusern thronte. Jetzt wird dieses Monstrum auf der anderen Straßenseite doppelt so hoch werden. Da ist nichts zu machen.«

»Alles ist heutzutage groß«, meinte Rose. »Aber das haben sie vermutlich auch gesagt, als das Barbizon gebaut wurde.« Sie hatte dessen Architektur bewundert, als sie das erste Mal gekommen waren, um sich die Wohnung anzusehen. Es war ein massiver, ungewöhnlicher Bau, der sich nach oben hin verjüngte, wie eine Hochzeitstorte aus Ziegel und Sandstein, und die Terrassen waren mit großen maurischen Bögen verziert.

»Patrick, wann haben Sie hier angefangen zu arbeiten?«

Er drehte sich zu ihr um, die Augenbrauen überrascht in die Höhe gezogen. Sie vermutete, dass nur wenige Bewohner ihn persönliche Dinge fragten. »In den Siebzigern. Damals war alles anders.«

»Kennen Sie viele der älteren Bewohner?«

»Die Ladys? Natürlich. Ich kenne sie alle.«

»Was ist mit der Frau, die vorhin rausgegangen ist? Die mit dem Hund.«

Er lächelte. »Miss McLaughlin. Und Bird. Merkwürdige Frau.«

Eine Blondine trippelte auf sie zu, mehrere Pakete im Arm. Patrick eilte ihr entgegen. Rose sah auf die Uhr. Sie sollte wirklich nach oben gehen, anstatt hier plaudernd rumzustehen, aber schon war Patrick wieder zurück. »Kann ich Ihnen ein Taxi bestellen, Miss Lewin?«

»Nein, nein.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich hatte gehofft, Sie würden mir mehr über Mrs McLaughlin erzählen.«

»Miss McLaughlin.« Er war zehn Zentimeter kleiner als sie, und jetzt hob er sein rötliches rundes Gesicht ihr entgegen, um sie anzusehen. »Ich rede nicht gern über die anderen Bewohner, wissen Sie.«

Patrick liebte es, über sie zu reden, aber Rose setzte ein ernstes Gesicht auf und nickte.

»Sie stammt noch von damals, aus den Fünfzigern, da ist sie eingezogen. Ist hierhergekommen, um auf die Sekretärinnenschule zu gehen.«

»Sie scheint mir eine interessante Frau zu sein, die Art, wie sie sich kleidet, und all das.«

»Hat nicht viele Freunde im Haus. Die vom Management können sie nicht ausstehen. Sie hat einen Aufstand gemacht, als sie ihr gesagt haben, dass sie von ihrer Wohnung runter nach 3B ziehen muss, zusammen mit den anderen Langzeitbewohnerinnen. Hat gedroht, ihren Anwalt anzurufen. Hat’s aber nie getan. Am Ende hab ich ihr geholfen, alles einzupacken und runterzuschaffen. Sie ist bereits in Rente, konnte sich keine richtige Umzugsfirma leisten, und ich hab’s gern getan. An Weihnachten denkt sie immer an mich, mit einer Karte und einem kleinen Geschenk.«

Wohnung 3B war genau unter ihrer. Die mit der Musik. »Das war sehr nett von Ihnen, ihr beim Umzug zu helfen.«

»Schreckliche Geschichte, was damals passiert ist.«

Patrick hatte sich anscheinend das Wichtigste für den Schluss aufgehoben. «Was ist denn passiert?«

»Oben auf der Terrasse hat es ein Handgemenge gegeben.«

»Ein Handgemenge?«

»Ja. Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Sie war dort oben mit einem der Zimmermädchen. Es war damals ja ein Hotel, nicht wie heute, und hier hat eine Menge Personal gearbeitet. Jedenfalls haben die beiden Frauen angefangen zu streiten, und das Zimmermädchen ist in den Tod gestürzt.«

»Grundgütiger. Das ist ja furchtbar.«

»Das ist es. Ich erinnere mich, dass ich mit einem der älteren Pförtner gesprochen hab, als ich noch neu hier war. Mir war aufgefallen, dass sie immer einen Schleier trug, hab sie nie ohne gesehen. Ich sagte, ›Warum verbirgt diese Frau immer ihr Gesicht?‹ Er antwortete, dass sie es seit jenem Tage nicht erträgt, gesehen zu werden.«

»Warum das?«

Eine Touristenfamilie unterbrach sie, fragte nach dem Weg zu Bloomingdale’s. Als wüsste er genau, dass Rose die Spannung kaum noch aushielt, nahm Patrick sich ausgiebig Zeit, um die beste Route zu erklären und ein anständiges Bistro in der Nähe zu empfehlen. Sie musste wirklich nach oben gehen. Wenn sie am Ende noch das Essen auswärts bestellen mussten, wäre die Stimmung dahin.

Rose wartete darauf, dass der Fahrstuhl von einem der oberen Stockwerke wieder herunterkam, als Patrick neben ihr auftauchte.

»Jedenfalls, wie gesagt. Die arme Miss McLaughlin. Der alte Pförtner, wissen Sie, mit dem ich mich damals unterhalten hab, der sagte, dass sie zur Sekretärinnenschule gegangen ist. Soll eines dieser Unschuldslämmer gewesen sein, die aus der Provinz nach New York kamen, und ist dann hier in allen möglichen Ärger verwickelt worden.«

»Was für Ärger?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Er rieb sich die Schläfe. »Aber in dem sogenannten Handgemenge wurde sie verletzt.«

»Verletzt?«

Er deutete vom oberen Ende der Stirn quer nach unten, über das Auge hinweg. »Schnittwunde. Mit einem Messer.«

Rose wurde es flau im Magen.

»Sie blieb entstellt zurück, schrecklich vernarbt. Die arme, arme Miss McLaughlin.« Er schloss die Augen. »Hat der Welt seitdem nie wieder ihr Gesicht gezeigt.«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und Rose trat hinein, ein Schaudern unterdrückend.

Sie hätte nicht fragen sollen.

Kapitel 2

New York City, 1952

Die Dame hinter dem Empfangstresen im Barbizon Hotel für junge Frauen sah verwirrt auf. »McLaughlin? Ich fürchte, wir haben hier niemanden mit diesem Namen.«

»Aber ich wohne ja auch noch gar nicht hier, ich bin gerade erst angereist.« Darby biss sich auf die Lippe. Wäre doch nur Mutter mitgekommen, dann befände sie sich nicht in dieser Lage. Wenn Mutter jetzt hier wäre, dann würde sie die Angestellte anweisen, nach hinten zu gehen und ihre Unterlagen noch einmal zu prüfen, da sie letzten Monat in einem Brief einschließlich dreier Empfehlungsschreiben mitgeteilt habe, dass Darby McLaughlin am fünften September ankommen würde. Und dann würde sie sich zu Darby umdrehen und ihr sagen, sie solle aufhören, sich auf die Lippe zu beißen.

Darby biss fester zu und schmeckte Blut.

Die Empfangsdame trug eine Brille, die ihre Augen ungewöhnlich rund wirken ließ. Voller Mitgefühl riss Darby ihre ebenfalls weit auf.

Eine Gruppe von fünf oder sechs Mädchen ihres Alters stolzierte durch die Lobby. Darby hätte schwören können, dass eines von ihnen höhnisch lachte. Aber die Dame hinter dem Tresen schien es nicht zu bemerken.

»Sie sind gerade erst angekommen, sagen Sie?«

»Ja, ich bin heute aus Ohio angereist, und meine Mutter, Mrs Saunders, hat die Reservierung bereits vor langer Zeit getätigt. Ich werde bis Juni kommenden Jahres hier sein.«

Bei der Vorstellung, wieder in einen Zug steigen und nach Ohio zurückkehren zu müssen, verließ sie beinahe der Mut. Grand Central Station hatte ihr eine schreckliche Angst eingejagt, diese Menschenmassen, die in alle Richtungen strömten und dabei genau wussten, wohin sie wollten und warum. Sie hatte in der Nähe einer großen Uhr gestanden und den Griff ihres Koffers fest umklammert, hatte versucht, sich zu orientieren, als ob sie auf dem Deck eines riesigen Schiffs stünde. Der Boden unter ihren schwarzen Lacklederschuhen schien sogar ein wenig zu schwanken.

Dann hatte sie das Taxischild entdeckt und war darauf zugestürmt, dabei rempelte sie allerdings mehrere Leute an, wofür sie sich wie verrückt entschuldigte. Und noch bevor sie einen Moment Zeit hatte, vom Taxi aus die vorbeirauschende Stadt zu betrachten, wurde sie schon vor dem Barbizon Hotel abgesetzt. Und jetzt befand sie sich also in dieser kühlen, saalgroßen Lobby. Auf drei Seiten ragte eine Galerie aus dunklem, kunstvoll geschnitztem Holz empor, zu dem die strahlend weißen Wände einen klaren Kontrast bildeten. Vor den Säulen standen üppige Palmengewächse Wache.

Nach der Fahrt im Nachtzug mit seinem schicken Speisewagen und den Leinentischtüchern wünschte sie sich nichts sehnlicher, als auf ihr Zimmer zu gehen und sich für einen Moment hinzulegen. Sich etwas zu sammeln nach diesem Bombardement an Sinneseindrücken. Und jetzt hieß es, sie habe nicht einmal ein Zimmer.

Sie kannte niemanden in der Stadt. Nicht einen einzigen Menschen. Das Barbizon Hotel für junge Frauen war ihre einzige Hoffnung.

Die Angestellte kehrte aus einem Hinterzimmer zurück, in der Hand ein Blatt Papier. »Es war unter dem Namen Saunders abgelegt.«

Sie atmete erleichtert aus. »Ja, das ist mein Stiefvater. Mutter hat seinen Namen angenommen, als sie ihn geheiratet hat. Aber meiner lautet weiterhin McLaughlin.«

Die eulenäugige Empfangsdame sah Darby teilnahmslos an. »Nun, ich habe hier Saunders stehen, Miss. Möchten Sie, dass ich das ändere?«

»Ja, bitte.«

»Also schön. Warten Sie hier, Mrs Eustis wird gleich bei Ihnen sein.«

Sie hatte sich kaum auf der harten Bank niedergelassen, als besagte Mrs Eustis bereits auftauchte. Darbys Mutter hätte gesagt, sie gleiche einem Pferd: eine große, robuste Frau mit einem scharfen Profil. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit Ansteckblume. Darby stand auf und schüttelte ihr die Hand.

»Sie sehen erschöpft aus, Miss McLaughlin. Ich hoffe, die Reise war nicht zu anstrengend.«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich habe sie ungemein genossen«, log Darby. »Züge sind etwas Wunderbares.« Mutter hatte ihr am Bahnhof ein Buch überreicht mit dem Titel Die Kunst der Konversation, und sie hatte es pflichtbewusst gelesen, weil der Umschlag einen »faszinierenden neuen Weg« versprach, »um mehr Selbstvertrauen, innere Stärke und Persönlichkeit zu gewinnen«. Formulieren Sie Ihre Antworten positiv!, hatte es dort geheißen.

Mrs Eutis nickte kurz. »Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Sie wohnen im vierzehnten Stock. Ich bin mir sicher, dass es Ihnen zusagen wird.«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Darby versuchte, nicht zu offensichtlich hinzustarren, als ein junges Mädchen in Uniform die inneren Gitter öffnete, damit sie eintreten konnten. Mrs Eutis bedeutete Darby einzusteigen. »Männliche Besucher müssen sich schriftlich anmelden und sind nur in den öffentlichen Salons erlaubt. Die Sicherheit unserer Mädchen hat Vorrang.«

Das Fahrstuhlmädchen verdrehte die Augen, und Darby unterdrückte ein Lächeln. Während sie hinauffuhren, ratterte Mrs Eustis die Hausordnung so rasch herunter, dass Darby sich davon sicher nichts würde merken können. »Mahlzeiten werden im Speiseraum im ersten Stock serviert. Die Uhrzeiten sind in der Lobby ausgehängt, aber Sie können jederzeit vorbeischauen, um sich eine Tasse Tee oder Kaffee zu nehmen. Gesellige Abende finden jeden Donnerstag im westlichen Salon statt. Sollte ein Mädchen dabei erwischt werden, einen Mann in die privaten Räume zu schmuggeln, droht der Rauswurf. Sie können das Schwimmbad, den Gymnastikraum und den Tennisplatz im Souterrain von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends benutzen. Im obersten Stock finden Sie die Dachterrasse und das Solarium, zugänglich über das Treppenhaus. Sie sind am Katharine-Gibbs-Insititut eingeschrieben, stimmt das, Miss McLaughlin?«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und sie traten in einen schmalen Flur. »Ja, richtig. Ich werde am Montag mit dem Unterricht beginnen.«

»Sehr schön. Es tut mir leid, aber die Zimmer auf den Stockwerken, auf denen die Gibbs-Mädchen für gewöhnlich unterkommen, waren bereits alle besetzt. Sie werden hier wohnen, mit den Mädchen, die für Eileen Ford arbeiten.«

»Ford wie die Automobile?«, fragte Darby. Sie stellte sich die angehenden Sekretärinnen vor, die die Namen von Autoteilen lernten.

»Nein, nicht Automobile.« Mrs Eutis seufzte frustriert auf. »Hier sind wir.«

Sie steckte einen Schlüssel in das Türknaufschloss und öffnete die Tür. Der lange, schmale Raum roch nach Muff und Haarspray. Darby berührte die Oberfläche der Kommode und stellte erleichtert fest, dass sie nicht von irgendwelchen Überresten klebrig war.

An der einen Wand stand ein schmales Bett, an dessen Fußende ein kleiner Holztisch und ein Stuhl. Die Tagesdecke auf dem Bett hatte ein grelles Mohnblumendesign, so wie auch die Vorhänge, die beinahe bis zum Boden hingen, wodurch das Fenster höher erschien, als es eigentlich war. Ein abgewetzter Lehnsessel, zu schmal, um es sich in ihm wirklich gemütlich zu machen, war in die Ecke gegenüber dem Schreibtisch gequetscht worden.

»Tiere sind nicht erlaubt, auch keine Fische, Schildkröten oder so etwas.«

Darby war sich nicht sicher, wo sie überhaupt einen lebenden Fisch herbekommen sollte. Gab es in New York etwa Geschäfte für solche Dinge? Natürlich gab es das. Es gab hier alles.

»Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Ich meine, geht es Ihnen gut?«

»Alles bestens, Mrs Eustis.«

»Na schön, dann lasse ich Sie jetzt allein. Die meisten Mädchen auf Ihrem Stock sind heute auf einem Ausflug zum Naturkundemuseum, es wird Ihnen also recht ruhig vorkommen, bis sie zurück sind.«

Darby hängte ihre Kleider in den Wandschrank und sortierte die restlichen Anziehsachen in die vorgesehenen Fächer. Ihre Bürste und ihren Kamm legte sie auf die Kommode. Dann streckte sie sich auf dem Bett aus, unsicher, was sie als Nächstes tun sollte, und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Der Schrei eines Mädchens weckte sie. Ein hoher, Furcht einflößender Ton. Darby setzte sich rasch auf. Ihr wurde bang ums Herz, als ihr wieder einfiel, dass sie sich in einer fremden Stadt befand, mutterseelenallein. Draußen war die Sonne in einem trüben Dunst hinter dem Horizont verschwunden, was den Dächern und Wassertürmen einen jenseitigen Glanz verlieh.

Der Schrei ging in ein haltloses Gegackere über, und der Geräuschpegel vor ihrer Zimmertür nahm deutlich zu. Die Ford-Mädchen mussten von ihrem Ausflug zurück sein.

Darby bürstete sich das Haar, dann zog sie ihr Lieblingskleid an, um sich Mut zu machen. Es war aus cremefarbener Baumwolle mit Knöpfen bis hoch zum Hals und hatte kurze, umgeschlagene Ärmel. Ein Gürtel umschloss die schmal geschnittene Taille, die in einen weit schwingenden plissierten Rock überging, der mit Dutzenden geschlossenen Regen- und Sonnenschirmen bedruckt war. Sie musste jedes Mal lächeln, wenn sie an sich hinunter auf die vielen verschiedenen Formen und Farben sah.

Im Spiegel hatte ihr Gesicht einen bleichen Schimmer, und ihr braunes Haar hing in der Hitze schlapp herunter, sodass ihre Ohren größer wirkten als sonst. Der Ohr-Verschönerer, den Mutter bestellt hatte und den Darby Nacht für Nacht tragen musste, hatte bisher nicht geholfen, sie standen immer noch deutlich hervor. Trotzdem, das Kleid war schrecklich hübsch.

Darby atmete einmal tief durch, dann wagte sie sich in den Flur hinaus.

Ein auffallend hübsches, rothaariges Mädchen blieb mitten im Gehen stehen. »Na, hallo.«

Darby streckte die Hand aus. »Hallo, ich bin Darby McLaughlin.« Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf.

»Darby, ich bin Stella Conover. Dich habe ich hier noch nie gesehen.« Stella war mehrere Zentimeter größer als Darby und besaß die winzigsten Ohren, die Darby je untergekommen waren.

»Nein. Ich bin hier, um auf die Sekretärinnenschule zu gehen. Aus Ohio. Ich bin heute erst angekommen. Einen Moment lang haben sie meine Reservierung nicht gefunden, und ich dachte schon, ich müsste umkehren und wieder heimfahren. Aber dann haben sie sie gefunden. Sie haben sie unter dem Namen meines Stiefvaters abgelegt statt unter meinem. Er heißt Saunders, ich McLaughlin.«

Sie plapperte wie ein Wasserfall. Das entsprach ganz und gar nicht dem, was Die Kunst der Konversation empfahl.

»Nun, ich bin froh, dass sich das geklärt hat.« Stella nahm sie am Arm. Vielleicht hatte sie sich doch nicht so idiotisch angehört. »Mir gefällt übrigens dein Kleid.«

Stella brachte sie zu einer offen stehenden Tür. Im Zimmer hatten es sich sechs oder sieben Mädchen gemütlich gemacht, eines las laut aus einer Modezeitschrift vor. Als Darby auftauchte, starrten sie alle an.

Sie sahen aus, als wären sie den Seiten eben jener Zeitschrift entsprungen. Eines der Mädchen trug einen leuchtend roten Lippenstift, der ihre perfekt geschwungenen Lippen betonte, ein anderes hatte einen goldblonden Lockenkopf. Ihre Kleider saßen wie angegossen: bestickte weiße Blusen über Bleistiftröcken, Kleider aus Kunstseide mit bunten Streifen. Eine Schar Prinzessinnen, die in einem hohen Turm gefangen gehalten wurden. Auch wenn sie in drei Monaten ihren achtzehnten Geburtstag feiern würde, kam sich Darby in der Gegenwart dieser Schönheiten eher wie ein Dreikäsehoch vor.

»Also, das ist Darby, sie ist heute für Katie Gibbs angekommen.« Stella zeigte auf jedes Mädchen, die Namen perlten von ihrer Zunge. »Wir sind alle bei Eileen Ford, der Modelagentur.«

Das erklärte es. Sie kam sich schrecklich fehl am Platz vor, wie ein Panda in einem Raum voller Gazellen.

Die Mädchen sagten Hallo, und das mit der Zeitschrift, Candy, lud Stella und Darby ein, sich zu ihnen zu gesellen. Darby setzte sich in eine Ecke, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Ich wollte gerade aus der Mademoiselle die Tipps für Frischvermählte vorlesen. Kennst du die Zeitschrift, Darby?«

»Natürlich.« Na ja, nicht ganz. Mutter kaufte ihr jeden Monat die aktuelle Ausgabe, und Darby tat dann so, als würde sie sie durchblättern. Die gertenschlanken Models mit ihren wissenden Blicken und unglaublich schmalen Taillen schüchterten sie ein.

»Wie dem auch sei, hier kommen die Ratschläge, meine Damen. Nummer eins: ›Kämmen Sie Ihr Haar und waschen Sie sich das Gesicht vor dem Frühstück. Legen Sie Lippenstift auf, bevor Sie den Kaffee aufsetzen.‹ Nummer zwei: ›Fassen Sie nie den Rasierer Ihres Mannes an, und räumen Sie niemals seinen Schreibtisch auf.‹«

»Bäh, ich würde seinen Rasierer auch gar nicht anfassen wollen.« Die Blondine warf ihr Haar zurück und verzog das Gesicht. Selbst wenn sie eine Grimasse schnitt, war sie noch hübsch.

»Nummer drei: ›Wenn Ihr Baby und Ihr Mann das erste Mal gleichzeitig nach Ihnen rufen, gehen Sie zu Ihrem Mann.‹«

Darby stellte sich vor, wie ein Baby sich die Seele aus dem Leib schrie vor Hunger, während der Mann Hilfe dabei brauchte, eine vermisste Socke zu finden. Das schien ihr nicht richtig zu sein.

»Nummer vier: ›Konkurrieren Sie nicht mit Ihrem Mann.‹ Und schließlich Nummer fünf: ›Denken Sie daran, dass eine Ehe Spaß machen soll.‹«

Im Wettstreit darum, als Erste einen Kommentar abzugeben, plapperten die Mädchen alle gleichzeitig drauflos:

»Ich kämme mein Haar sowieso, bevor ich nach unten gehe, also würde das für mich keinen Unterschied machen.«

»Und ich würde ein Kindermädchen haben, das nach dem Baby sieht, weshalb ich Zeit hätte, mich um meinen Mann zu kümmern.«

»Was meinst du, Darby?«, fragte Candy schließlich und starrte sie an. Das hier war ein Test. Sie musste ganz ungezwungen eine kluge, witzige Bemerkung von sich geben. Wenn ihr das gelänge, würde sie Freundinnen fürs Leben gewinnen. Diese Mädchen würden sie bitten, bei ihrer Hochzeit die Brautjungfer zu sein, und sie zu ihren Babypartys einladen, und sie würden sich Briefe schreiben und an die gemeinsame Zeit in New York City denken, als sie noch jung waren und ihr Leben noch vor ihnen lag.

»Ich habe nicht vor zu heiraten«, sagte Darby.

Candy blieb der Mund offen stehen. Sie spielte mit den Perlen ihrer Halskette. »Niemals?«

»Deshalb bin ich hier. Ich will zur Schule gehen und lernen, mein eigenes Geld zu verdienen. Ich will nicht, dass mich ein Mann unterstützt.« Sie erinnerte sich an Mutters Gesichtsausdruck, als Daddy gestorben war, voller Kummer und Triumph zugleich. Die anderen Mädchen starrten Darby sprachlos an, und sie versuchte zu erklären: »Eine Frau sollte nicht von einem Mann abhängig sein müssen.«

»Stimmt. Bevorzugst du es vielleicht, stattdessen von einer Frau abhängig zu sein?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

Candys Augen schimmerten bedrohlich. »Weißt du wirklich nicht, wovon ich rede?«

»Ich sage nur, dass ich vorhabe, genügend Geld zu verdienen, um selbst für meinen Unterhalt zu sorgen. Wollt ihr das etwa nicht? Seid ihr nicht deshalb hier?«

Candy lachte hämisch auf. »Nein, Süße. Ich will mir den reichsten Mann schnappen, den ich finden kann. Was denkst denn du.«

Bevor sie etwas entgegnen konnte, verkündete Stella, es sei Zeit fürs Abendessen, und die Gruppe sprang auf und eilte aus der Tür. Die Zeitschrift fiel auf den Boden; Darby hob sie sorgsam auf und legte sie wieder aufs Bett.

Sie hatte das Falsche gesagt. Sie strich ihr Schirmkleid glatt und folgte ihnen den Flur hinunter.

Geschirrklappern und lebhaftes Geschnatter hallten von den Wänden des Speiseraums wider, der so schick war wie die Restaurants, die Darby bisher besucht hatte, mit frisch gestärkten weißen Tischdecken und Artdéco-Kronleuchtern aus Odeon-Glas. Wie ein junges Hündchen tapste Darby Stella hinterher, folgte der einen Person, die freundlich zu ihr gewesen war. Stella tat sich Brokkoli und einen Löffel Kartoffelbrei auf den Teller, doch Darby war kurz vorm Verhungern und fragte nach einem zusätzlichen Hühnerfilet. Ihr Gürtel würde danach eng sitzen, aber das kümmerte sie nicht.

»Also, erzähl mal, von wo genau in Ohio kommst du?«, fragte Stella, sobald sie sich an den Tisch gesetzt hatten, an dem auch die anderen Mädchen aus ihrem Stockwerk saßen.

»Defiance.« Achten Sie darauf, dass Ihre Antworten knapp und freundlich ausfallen, werden Sie nicht ausschweifend.

»Was für ein origineller Name für eine Stadt. Defiance – Widerstand. Jedenfalls wesentlich besser als Granite Falls. Da komm ich her, aus North Carolina.« Stella aß einen winzigen Happen Kartoffelbrei und fuhr fort: »Es ist allerdings merkwürdig, dass sie dir ein Zimmer auf dem gleichen Stockwerk wie den Models gegeben haben. Die Gibbs-Mädchen sind auf fünfzehn und sechzehn.« Sie legte Darby eine Hand auf den Arm. »Wir freuen uns natürlich, dich bei uns zu haben.«

»Ach, danke. Die Freude ist ganz meinerseits.« Falsch. Dumm. Stella warf ihr einen schrägen Blick zu.

Darby wünschte, sie wäre zu Hause, würde ihre Hunde knuddeln, während Mutter kochte, und die wenigen ruhigen Stunden genießen, bis Mr Saunders nach Hause kam. Sie hatte mehrere Bücher im Gepäck, unter anderem ihre geliebte Sammlung von Shakespeare-Dramen, und am liebsten wäre sie nach oben auf ihr Zimmer gelaufen und hätte sich in Was ihr wollt oder Cymbeline vertieft.

»Tut mir leid, aber ich fühle mich hier etwas fehl am Platz.« Darby fingerte an ihrem Besteck herum, während ihr Tränen in den Augen stachen.

»Schsch, schon gut.« Stella senkte die Stimme. »Mir ging’s genauso, bevor ich mich eingelebt hatte. In Granite Falls gibt es noch nicht mal einen Busbahnhof, du kannst dir also vorstellen, wie überwältigend das hier bei meiner Ankunft für mich war.«

Zum ersten Mal bemerkte Darby, dass das andere Mädchen mit einem weichen Südstaaten-Singsang sprach. Sie hatte eine melodische Stimme.

»Ich mag deinen Akzent.«

»Danke. Allerdings versuche ich, ihn zu unterdrücken – die Modelagentur findet, dass ich damit dumm wirke.«

»Wie können die sowas sagen? Er ist wunderschön, wie eine Melodie.«

Stella lehnte sich erfreut zurück. »Das hast du sehr schön ausgedrückt. Du solltest Schriftstellerin werden.«

»Das ist nett von dir, aber ich kann meine Zeit nicht mit Tagträumen vergeuden. Ich bin hier, um mich zur Sekretärin ausbilden zu lassen. Mutter hat das gesamte Geld der Lebensversicherung ausgegeben, das sie nach Daddys Tod bekommen hat, um mich hierher zu schicken. Es gibt für mich nur diese eine Chance.«

»Verstehe«, sagte Stella. »Also, mein ernstes Fräulein, wo willst du arbeiten, wenn du fertig bist bei Katie Gibbs?«

Darby lächelte. »Komisch, aber so weit habe ich noch gar nicht gedacht.« Der Lärmpegel im Raum war angenehm, er bot ihnen etwas Intimsphäre.

»Nun, ich denke, du solltest dir hohe Ziele stecken. Du könntest die Sekretärin eines erfolgreichen Geschäftsmannes werden, jemand, der für einen Verlag oder eine Modelinie verantwortlich ist. Jemand, der ein Mädchen wertschätzen würde, das mit Worten umgehen kann.«

»Das hört sich an wie ein Traum. Aber solche Leute gibt es bei uns in Defiance nicht.«

»Dann geh nicht zurück nach Ohio. Du kannst doch hier in New York City bleiben.«

»Oh nein, das könnte ich nicht.«

»Aber warum nicht?«

Darby wagte nicht zu erklären, warum. Dass sie ihre Hunde zu sehr vermissen würde, und Mutter wäre allein mit Mr Saunders, seinen Launen und seinem Jähzorn.

»Habt ihr gehört, was letztes Jahr passiert ist?«, wandte Candy sich an den gesamten Tisch und unterbrach damit die Unterhaltung von Darby und Stella.

»Nein, was?«, fragte Stella.

»Eins der Mädchen vom dreizehnten Stock soll gesprungen sein.«

»Still, Candy. Das ist nur ein Gerücht, und das weißt du.«

»Nein, es ist wahr.« Candy sah Darby unverwandt an. »Einer der Pförtner hat mir alles darüber erzählt. Sagte, sie hätten es vertuscht, damit die Zeitungsleute nichts davon mitbekommen. Sie haben nur ihren Leichnam eingesammelt und ihn dorthin geschickt, wo sie hergekommen ist.«

»Wie schrecklich!«, riefen die Mädchen aus.

»Wir sollen es eigentlich nicht wissen. Und anscheinend hat sich ein anderes Mädchen vor ein paar Jahren in ihrem Zimmer mit einer Pistole erschossen. Ihr Geist wandert noch über die Flure, mit der übrig gebliebenen Hälfte ihres Gesichts.«

Stella schob ihren Teller von sich. »Du meine Güte, Candy. Ich esse noch. Du könntest mit solchen Schauergeschichten wenigstens bis zur Schlafenszeit warten.«

»Sie war kein Gastredakteur oder ein Model, so viel weiß ich. Vermutlich ein Katie-Gibbs-Mädchen, also pass besser auf, Darby.«

Der Raum begann sich zu drehen.

»Du siehst nicht besonders gut aus«, meinte Stella.

»Es geht mir gut.« Darby wischte sich den Mund mit der Serviette ab und versuchte ein schwaches Lächeln.

»Weißt du, ich habe einen Puder, der perfekt wäre gegen den Glanz auf deiner Nase.« Stella rettete mal wieder die Situation. Gelangweilt von dem Kurs, den die Unterhaltung einzuschlagen drohte, wandten sich die anderen Mädchen ab. »Ich gebe ihn dir, wenn wir zurück auf unsere Zimmer gehen. Was hältst du davon?«

»Das fände ich sehr nett. Danke.« Beschämt tupfte sich Darby die Wangen mit der Serviette ab, in der Hoffnung, damit den öligen Schimmer abzumildern, der sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr plagte. Sie konnte sich bei Weitem nicht mit den anderen Mädchen messen; hässlich, unwissend, begriffsstutzig. Wie viele Abendessen musste sie überstehen, bis sie nach Defiance zurückkehren durfte? September bis Juni, zehn Monate, sieben Abendessen pro Woche, vier Wochen pro Monat: zweihundertachtzig, abzüglich der Weihnachtsferien.

Zurück in ihrem Zimmer warf sich Darby bäuchlings auf ihr Bett und weinte stumm in ihr Kissen. Sie hatte sich gerade etwas beruhigt, als es an der Tür klopfte.

»Darby, ich bringe dir deinen Puder. Pond’s Angel Face, einfach göttlich.« Stella schloss die Tür hinter sich. »Warum machst du denn kein Licht an?«

Darby setzte sich auf und wischte sich die Augen. »Ich will nach Hause, Stella. Ich will nicht hier sein.«

Stella gesellte sich zu ihr aufs Bett und legte einen Arm um sie. Sie duftete nach Vanille, und Darby lehnte unwillkürlich den Kopf an ihre Schulter. Stella zuckte nicht zurück, wie sie es hätte tun können, und diese kleine Freundlichkeit brachte Darby beinahe erneut zum Weinen.

»Ruhig, ganz ruhig.« Stella strich Darby mit der freien Hand eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du wirst dich schon rasch eingewöhnen.«

»Denkst du, es gibt wirklich einen Geist?«

»Nein, ich denke, Candy ist ein Miststück ersten Ranges. Lass dich von ihr nicht ärgern. Du bist jetzt ein Barbizon-Mädchen, du bist eine von uns.«

Das dumpfe Gefühl der Panik, das ihr Herz seit ihrer Abreise aus Ohio in eisernem Griff gehabt hatte, löste sich, wenn auch nur ein wenig, und Darby stieß einen tiefen, traurigen Seufzer aus.