Das Buch
Hennes Bender ist der inoffizielle Kulturbotschafter des Ruhrgebiets. Seine Ausführungen sind Liebeserklärung und Abrechnung zugleich. Wussten Sie zum Beispiel, dass der Autor elf Jahre lang über Horst Schimanski gewohnt hat? Dass Russell Crowe sich bei der Oscar-Verleihung bei einem Recklinghauser Bodybuilder bedankt hat? Und was macht Arafat eigentlich im Grugabad? Hennes Bender präsentiert die charmanten und bisweilen seltsamen Eigenheiten seiner Landsleute: sprachliche Perlen, kulinarische Hochgenüsse oder eigentümliches Städtemarketing. Ein großes Lesevergnügen mit dem feinen Sprachwitz des Ruhrpotts und Zeichnungen vom Autor. Glückauf.
»The party bomb of German humour«
TimeOut Hongkong
Der Autor
Hennes Bender wurde 1968 in Bochum geboren und ist dort geblieben. Freiwillig. Er studierte in seiner Heimatstadt Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, debütierte im Schauspielhaus Bochum als Hamlet und wurde irgendwann Komiker. 2001 wurde er von der Stadt Herne zu »Tegtmeiers Erbe« gekürt. 2004 und 2007 gewann er den Deutschen Comedypreis. Ab und zu tritt er im Fernsehen auf. Aber am liebsten ist er auf Tour. Seine Auftritte führten ihn nicht nur durch ganz Deutschland, sondern auch in die Schweiz, nach Österreich, Bielefeld, New York und sogar nach Hongkong. Bender ist mit der Komikerin und Autorin Fritzi Bender glücklich verheiratet, hat keine Kinder, dafür aber mehrere Gitarren.
»I’d rather be hated for who I am,
than loved for who I am not.«
Kurt Cobain
Dieses Buch ist meiner Frau Fritzi gewidmet. Danke, dass du es mit mir aushältst!
Außerdem möchte ich mich bei meinen Eltern Lydia und Günther Bender dafür bedanken, dass sie sich damals entschieden haben, nach Bochum zu ziehen. Sonst wäre ich in Rüsselsheim geboren worden. Danke dafür. Ich vermisse euch. Bis die Tage.
Ich weiß nicht, wie viele Menschen mich in den letzten Jahren gefragt haben: »Und wann schreibst DU endlich ein Buch?« Offenbar gehört es zu den Pflichten eines Komikers, nach Bühnenprogrammen, digitalen Ton- und Bildträgern irgendwann auch mal ein gedrucktes Werk auf den Markt zu schmeißen. Was für eine Art Buch konnte ich meiner Leserschaft zumuten? Und konnte ich meine eigenen hohen Ansprüche an ein solches Werk selber erfüllen? Was für ein Buch sollte das überhaupt werden? Ein Gedichtband? Nö! Ein Comedyroman? Davon gibt es ja wohl mehr als genug. Ein Kochbuch? Bitte nicht, denn ich koche höchst ungern und wenn, dann nicht besonders gut.
Mir war schnell klar, dass ich ein Buch mit einem gewissen Gebrauchswert schreiben wollte, es sollte für irgendwas hilfreich sein und zu einem Thema, mit dem ich mich wirklich gut auskenne. Was läge also näher, als über das Ruhrgebiet zu schreiben? Immerhin lebe ich seit über vierzig Jahren im Pott und habe damit den wohl größten Teil meines Lebens hier verbracht. Ein guter Zeitpunkt also für eine persönliche Zwischenbilanz, bei der ich nebenbei auch gleich noch mit ein paar Klischees aufräumen kann, mit denen wir Ruhrgebietsmenschen immer wieder konfrontiert werden. Ein persönlicher Reiseführer ins Land der Kohle und der Kultur. Und da sich das Ruhrgebiet eifrig auf das »Europäische Kulturhauptstadtjahr 2010« vorbereitet, passt das Buch perfekt in die Zeit. Grund genug also, um mal ein paar Fragen zu stellen und ein paar Dinge ins rechte Licht zu rücken. Ich bin ja dafür bekannt, verbal immer sehr direkt und ohne Umschweife ans Werk zu gehen, eine Tugend, die dem Ruhrgebietsmensch generell nachgesagt wird. Damit trete ich meinen Mitmenschen gelegentlich auf die Füße. Ich möchte mich an dieser Stelle NICHT dafür entschuldigen. Manchmal tut die Wahrheit eben weh. Und ich bin hier auch nur der Überbringer der schlechten Botschaften, verbockt haben den Salat andere. Wenn ich Ihnen mit meiner Art zu laut bin, dann lesen Sie eben etwas leiser.
Ich habe bei der Arbeit an diesem Buch viel gelernt, über mich selbst, aber natürlich vor allem über die Gegend, in der ich lebe. Und mir wurde klar, dass dieses Buch eigentlich niemals fertig werden kann und nur eine Momentaufnahme ist, denn das Ruhrgebiet verändert sich in einer so rasenden Geschwindigkeit, dass selbst wir Bewohner kaum mitkommen. Eines wurde mir aber sehr bewusst: Für mich ist das Revier die lebenswerteste Region, die ich kenne. Das Ruhrgebiet ist vielleicht nicht immer schön. Aber interessant.
Der Titel des Buches ist übrigens ein geflügeltes Wort bei uns im Pott. Es fordert dazu auf, sich dem Protagonisten zu nähern. Im Falle dieser Publikation sind damit sowohl der Autor selbst als auch das Ruhrgebiet gemeint. Dieser Satz ist also keine plumpe Anmache, sondern eine ernstgemeinte Einladung, sich das Ruhrgebiet mal aus meinem Blickwinkel etwas näher anzuschauen. Und eins kann ich versprechen: Es lohnt sich!
Die Autobahn A40, die von Dortmund bis nach Venlo führt, wird auch gerne Ruhrschnellweg genannt – eine nach meiner Ansicht höchst zynische Bezeichnung. Schnell geht hier nämlich gar nichts. Wenn man dort ohnehin (mal wieder) im Stau steht, lohnt es sich, nach rechts und links zu schauen. Bei Kray im Essener Osten kann man den Anliegern direkt ins Schlafzimmer glotzen. Immerhin können die Bewohner sich nicht über eine mangelnde Verkehrsanbindung beklagen.
Ach ja, was wären wir ohne unsere schöne A40? Im Ernst: Wir hätten gar nichts mehr zum Schimpfen! Wie langweilig wäre DAS denn? So kann man wenigstens über Verstopfungen motzen oder sich darüber aufregen, dass der Ausbau auf drei Spuren nicht vorankommt.
Neulich habe ich eine Durchsage im Verkehrsfunk gehört: »Achtung: Auf der A40 zwischen Bochum-Stahlhausen und Essen-Kray ist ein Stau! Dank an unseren Verkehrsmelder Guido aus Wermelskirchen!« Jetzt mal ehrlich: Auf der A40 zwischen Stahlhausen und Kray ist immer Stau. Da war immer Stau und da wird auch immer Stau sein. Schon bevor es diese Autobahn gab, war da Stau. Ich glaube manchmal, die haben die A40 unter die parkenden Autos geteert!
Und was sind das überhaupt für Menschen, die beim Radio anrufen, um Staus zu melden? Was für ein Mitteilungsbedürfnis haben diese Leute? Die fahren in einen Stau, und das Erste, was sie tun, ist, zum Handy zu greifen, um heulend beim Radio anzurufen: »Hallo? Ist da das Radio? Ich steh im Stau! Zwischen Bochum-Stahlhausen und Essen-Kray! Mein Name ist Guido, ich komme aus Wermelskirchen! Sagt den anderen Bescheid! Für mich ist es zu spät!« Wissen Sie, wie wir solche Menschen früher genannt haben? Petze!
Aber ich will mich nicht aufregen, denn dank der A40 hat man bei Verspätungen jederzeit eine perfekte Ausrede. Dann hebt man einfach nur die Achseln und seufzt: »A40.« Und dann hat jeder im Ruhrgebiet Verständnis.
Das Ruhrgebiet ist nicht nur der landschaftliche Übergang zwischen Rheinland und Westfalen und damit die ideologische Schnittmenge zwischen rheinischer Frohnatur und westfälischer Sturheit. Es steht auch für eine viel bedeutendere Teilung Deutschlands: die von Aldi-Nord und Aldi-Süd! Und dieser wirtschaftliche Bruch geht genau und mitten durch Mülheim an der Ruhr – denn dort wohnen die Gebrüder Albrecht, die reichsten Brüder der Welt und Herren über achttausend Discountmärkte weltweit.
Für viele ist der geographische Standort dieses Discountunternehmens eine Statusfrage. Als ich Ende der neunziger Jahre in Frankfurt bei einem Radiosender arbeitete, sorgte meine mitgebrachte Aldi-NORD-Plastiktüte für Aufsehen und neidische Blicke bei meinen Kollegen: »Wo hast du DIE denn her?« – »Aus Gelsenkirchen!«, sagte ich. Diesen Satz sagt man nicht oft mit Stolz! Zumindest als Bochumer.
Ich kann mich sogar noch an den Tag erinnern, als ich diese Tüte erstanden habe. Ich kaufte auf dem Heimweg bei der Aldi-Filiale in Gelsenkirchen-Ückendorf ein. In der Mitte des Geschäfts stand eine Kühltruhe, in die gerade ein etwas älterer Vertreter der Vokuhila-Frisur-Fraktion seinen Kopf steckte und in voller Lautstärke durch den Laden brüllte: »Hömma, sind die eingeschweißten Frikadellen eigentlich noch gut?« Worauf die Kassiererin mit gleicher Dezibelzahl erwiderte: »Probier se doch aus, Klaus. Wenn du morgen nicht wiederkommst, wissen wir alle, ob se noch gut waren!« Kundendienst bei Feinkost Albrecht.
Anders ist es mir mal in einem Aldi in Bochum-Weitmar ergangen. Dort lag ein Stapel eingepackter Badmintonsets (wir nannten diesen Sport damals auch unenglisch: Federball). Zwei Schläger und ein paar Bälle für unter zehn Mark. Wohl kein High-End-Qualitätsprodukt, aber da kann man ja mal zuschlagen, dachte ich. Ein bisschen Sport oder zumindest die gute Absicht, sich zu bewegen, kann ja nicht schaden. Also packte ich eines dieser Sets in meinen Einkaufswagen, ließ ihn stehen und begab mich zur Tiefkühlabteilung, um meine sportliche Motivation mit ein paar gesunden Fertigpizzen zu belohnen. Als ich zu meinem Wagen zurückkam, waren die Federballschläger weg. Verschwunden. Perdu. Anstatt mich über diesen Fast-Diebstahl zu ärgern (ich hatte die Packung ja noch nicht gekauft), griff ich mir im Vorbeigehen ein neues Set vom Stapel und ging zur Kasse. Damals gab es noch keine Scanner bei Aldi, und die Kassiererin tippte in rekordverdächtiger Geschwindigkeit meine Waren ein. Ich spielte das beliebte Spiel: Schaffe ich es, meine Lebensmittel schneller in den Einkaufswagen zu bugsieren, als sie die Preise eingibt? Als Kunde verlor man diesen Wettbewerb meistens. Allerdings tippte die Dame mein Federballset nicht ein, sondern legte es einfach neben ihre Kasse. »Nein, nein, DAS auch!«, wies ich freundlich, aber bestimmt darauf hin. Sie antwortete seelenruhig: »Das gibt’s noch nicht!«
»Wie, das gibt’s noch nicht?«
»Das gibt’s erst morgen!«
»Häh, aber ich SEH das doch vor mir, wie kann es das denn erst morgen geben?«
»Das wird erst morgen verkauft!«
»Und wieso liegt das schon hier rum?«
»Das liegt jetzt schon hier, aber das gibt’s erst morgen!«
Der Aldi-Markt in der Hattinger Straße in Bochum ist also der einzige mir bekannte Ort im Universum, wo man Gegenstände bereits visuell erkennen kann, die erst 24 Stunden später räumlich existent werden. Ob es sich um ein temporäres Wurmloch oder ein anderes Paradoxon im Raum-Zeit-Gefüge handelt, muss ich Stephen Hawking fragen, wenn ich demnächst mal wieder mit ihm Badminton spielen gehe.
Am nächsten Tag war das Federballset auf jeden Fall nicht nur sichtbar, sondern auch in feststofflicher Form käuflich zu erwerben. Ich habe es genau zweimal benutzt. Den Aldi-Markt in der Hattinger Straße in Bochum gibt es übrigens nicht mehr. Aber wer weiß, vielleicht ist er ja doch noch da, und man kann ihn nur in der Zeit von 15 Uhr bis 15:12 Uhr sehen. So wie in dem Film Brigadoon, in dem ein schottisches Dorf nur alle hundert Jahre auftaucht. Wer weiß? Ich nicht!
Ab und zu stehen im Ruhrgebiet Schilder mit der Aufschrift »Altstadt«. Der Begriff Stadt ist in diesem Kontext oft übertrieben, meistens handelt es sich einfach um Gebäude von vor 1945, die nicht weggebombt worden sind. Schrauben Sie also Ihre Erwartungen zurück, und falls Sie jemals in einer wirklichen Altstadt wie Tübingen oder Schwäbisch-Hall waren, seien Sie bitte nicht zu enttäuscht von den Altstädten im Ruhrgebiet.
Die kleine Stadt Hattingen wird immer als Vorzeigealtstadt des Ruhrgebiets bemüht. Klar, die Hattinger Altstadt ist knuffig. Aber: Hattingen ist nicht Heidelberg, wo man sich in schmalen Altstadtgässchen regelrecht verlaufen kann und Touristen aus dem entfernten asiatischen Ausland sich gegenseitig grinsend vor die Objektive laufen. In Hattingen habe ich jedenfalls noch keinen Japaner in der Altstadt gesehen. Warum auch? Was soll man hier schon fotografieren? Tschibo? Den T-Punkt? Denn kaum hat man diese Außenposten der kommerziellen Zivilisation erreicht, ist die Altstadt auch schon zu Ende, und man bewegt sich in einer stinknormalen Fußgängerzone. Natürlich gibt es in Hattingen auch verwinkelte Ecken und Gässchen und kleine schiefe Häuser, deren dunkelgrau geschieferte Fassaden von der Nähe zum Bergischen Land zeugen und selbst im Hochsommer depressiv machen. Das ist alles pittoresk anzusehen, aber leider auch so übersichtlich wie ein Pennymarkt-Parkplatz – und wenn man sich RICHTIG Zeit lässt, hat man in weniger als einer Viertelstunde die ganze Mittelalterpracht gesehen.
Wahrscheinlich heißt es in Hattingen auch ALT-Stadt, weil hier fast ausschließlich Ommas (Ruhrdeutsch für den Plural von Seniorin) rumlaufen – und natürlich die wenigen männlichen Exemplare unserer Gattung, die es bis in dieses hohe Alter geschafft haben. Tatsächlich sieht man im Ruhrgebiet nirgendwo so viele Senioren wie in Hattingen. Aber halt, es gibt hier natürlich auch junge Menschen. Sehr junge Menschen, nämlich Neugeborene, die sich von ihren nur unmerklich älteren Eltern durch die Gegend schieben lassen. Der Generationenkontrast in Hattingen ist schon extrem: Zwischen Kita und Seniorenstift findet sich in Hattingen kaum eine andere Altersgruppe. Eine Mittelalterstadt ohne Mittelalter. Und überall das Geräusch von Rollen. Denn entweder sind es Kinderwagen oder Rollatoren, die über die Wege der gepflasterten Altstadt juckeln.
Hattingen ist zwar die schönste, aber bei Weitem nicht die einzige Altstadt im Revier. Doch während man hier tatsächlich von einem zu Recht touristisch beworbenen historischen Stadtkern sprechen kann, sind die anderen Altstädte eher übersichtlicher Natur. Die Altstädte von Unna und Herdecke können sich sogar noch sehen lassen, doch die von Recklinghausen ist so gut versteckt, dass ich sie auch nach mehrmaliger Suche nicht gefunden habe. In Mülheim an der Ruhr muss man die Altstadt regelrecht suchen. Doch wenn man die wenigen putzigen Häuser, die aus alten Tagen übriggeblieben sind, entdeckt hat, dann fühlt man sich ein bisschen wie ein kleiner Entdecker, der zu Hause erzählen kann:
»Ich war in Mülheim an der Ruhr und ich habe die ALTSTADT gefunden!« – »Ach, die gibt’s wirklich?«
Aber auch wenn wir im Ruhrgebiet mit anderen historischen Stadtkernen in Deutschland nicht immer mithalten können: Hübscher als in der Düsseldorfer Altstadt ist es bei uns allemal!
Es gibt viele Möglichkeiten, in das Ruhrgebiet einzureisen. Eigentlich liegt es so zentral in Deutschland, dass man hier sowieso zwangsläufig durchmuss. Viele fahren leider am liebsten am Pott vorbei. Aber es soll auch Menschen geben, die uns absichtlich besuchen.
Man merkt eigentlich sofort, wenn man den Pott erreicht hat. Wenn Sie zum Beispiel im Zug sitzen und unter Ihrem Hintern ein deutliches »Rumms« verspüren, wurde sehr wahrscheinlich gerade der ICE geteilt, und Sie sind in Hamm. Willkommen im Ruhrgebiet. Von Süden aus auf der A45 ist der Übergang vom Sauerland ins ruhrgebietliche Hagen landschaftlich eher fließend. Wenn dort nicht braune Schilder davon künden würden, dass man jetzt im Ruhrgebiet weilt, würde man glauben, man wäre immer noch im Wald. Richtig zu Hause fühle ich mich persönlich allerdings erst, wenn ich die Ruhr bei Schwerte-Ergste überquert habe. Wie sagte mein Vater immer so schön, wenn wir aus dem Urlaub kamen: »Ist man in Schwerte, hat man das Ergste hinter sich!«
Dieses Wortspiel ist in Schwerte ungefähr genauso beliebt wie der Spruch: »Schwerter zu Pflugscharen!«
Von Osten kündigt sich die Gegend schon deutlicher an. Hier erspäht man das, was allgemein »Industriekultur« genannt wird. Auf der A2 kann man schon von weitem die Kühltürme von Hamm-Uentrop erblicken. Diesen Ausblick kann man durchaus länger genießen, da man dort erfahrungsgemäß sowieso im Stau steht.
Nördlich auf der A43 zeigt das Kraftwerk von Herne eindeutig, dass jetzt Schluss ist mit der schönen Natur des Münsterlandes, und auch von Westen zeugen die Fabriken und Schlote Duisburgs davon, dass man hier nicht unbedingt mit Luftkurorten rechnen sollte. Früher hat man das Autofenster runtergekurbelt, tief eingeatmet, abgehustet und gewusst: Hier ist dat Ruhrgebiet. Das ist heutzutage zum Glück vorbei, denn die Luft ist bei uns mittlerweile genauso gut oder schlecht wie in anderen Großstädten, und unsere Feinstaubwerte können sich auch mit denen anderer Metropolen messen.
Also: Viele Wege führen nach Rom, aber die meisten davon ins Ruhrgebiet. Egal für welchen Sie sich entscheiden: Herzlich willkommen!
Die Bergarbeitersiedlungen im Pott würde man in Amerika »Reservate« nennen. Denn auch bei uns wurden damals die Ureinwohner (also die Werktätigen) in eigens für sie gebauten Quartieren untergebracht, um ihnen zumindest ein kleines eigenes Heim zu bieten, wo sie nach ihren eigenen Sitten und Gebräuchen leben konnten. Natürlich gibt es immense Unterschiede, was die Ansehnlichkeit und Besichtigungswürdigkeit dieser Siedlungen angeht. Aushängeschild ist immer noch die Margarethenhöhe im Essener Süden, die ganz unbescheiden und gönnerhaft nach ihrer Stifterin, der Industriellengattin Margarethe Krupp, benannt wurde. Und auch wenn diese in sich geschlossene Gartenstadt mit ihren süßen Mäuerchen, Türmchen und Erkern noch heute Vorzeigecharakter hat, so kommt sie einem auf den zweiten Blick doch eher eng als gemütlich vor.
Und da wären wir dann auch schon beim Problem: Anzusehen sind diese Siedlungen alle recht hübsch, nur scheint man die arbeitende Bevölkerung damals mit Pygmäen oder zumindest mit Hobbits verwechselt zu haben, denn die Flure und Räume sind überall extrem eng. Zu viel Platz wollten die Bauherren ihren Angestellten wohl nicht zumuten – oder vielleicht sollte sich der Bergmann nach der Schicht im Schacht gar nicht erst an mehr Raum gewöhnen müssen. Wenn da in einem Haus zwei Leute nebeneinanderstehen, ist die Hütte voll. Aber so was von picke-packe-voll! Großraumparty ist hier nicht. Hier wohnt Klaus – Klaus Trophobie. Trotzdem oder vielleicht gerade wegen dieser Kuscheligkeit sind diese Wohnungen und Häuser heute immer noch so beliebt, dass man da als normalsterblicher Mietinteressent gar nicht erst rankommt. So ein Häusken wird entweder vererbt oder für teuer Geld verkauft. Ätschi bätschi!
Die zahlreichen Arbeiterviertel prägen den Pott nicht nur architektonisch, sondern auch ideell. So wurde in Oberhausen die wunderschön rotbebacktgesteinte Siedlung Eisenheim nur durch große Protestaktionen der Bevölkerung vor dem Abriss gerettet. Völker, hört die Signale!
Die Arbeitersiedlungen im Revier erinnern mich persönlich immer an kleine Disneylands, so schön sauber, so unwirklich und irgendwie der Realität entrückt. Ich war als Kind immer neidisch auf meine Mitschüler, die mit ihren Eltern solche Häuser bewohnen durften. Ich bin oft mit dem Bus 368 nach Bochum-Hordel gefahren, was für einen Jungen aus Laer eine kleine Weltreise war. Dort wohnten viele meiner Schulkameraden. Daran merkt man auch, dass man alt wird, wenn man schon das Wort »Schulkameraden« benutzt. Ich grüße an dieser Stelle mal alle, die ich damals oft dort in der Dahlhauser Siedlung besucht habe, vor allem Thomas Schremmer, Andreas Brozio, Roland Simon und Thorsten Molter aus der 5b des Goethe-Gymnasiums in Bochum. Wie bitte? Sie finden das jetzt unangemessen, dass ich hier einfach so persönlich werde und wertvolles Rohmaterial wie Papier und Druckerschwärze für Grüße verwende, die ich auch bei Webseiten wie StayFriends, Wer-kennt-wen oder Wer-hat-mir-damals-auf-dem-Schulhof-in-der-Pause-aufs-Maul-gehauen.de loswerden könnte? Ich sage Ihnen jetzt mal was: Dat is MEIN Buch, und das sind meine Gefühle und Erinnerungen. Und da kann ich so sentimental werden, wie ICH will! Und schließlich gibt es im Pott kaum etwas Sentimentaleres als Arbeitersiedlungen. Woll?!
Diese kleine, schnuckelige Stadt liegt gar nicht im Ruhrgebiet, sondern im Sauerland. Was hat sie also in diesem Buch zu suchen? Ganz einfach: Arnsberg ist der Sitz des Regierungsbezirks, der für insgesamt sieben östliche Ruhrgebietsstädte zuständig ist. Der nördliche Teil des Potts wird von Münster aus verwaltet, und der Westen unterliegt Düsseldorf – das Revier wird also von Sauerländern, Münsteranern und Rheinländern regiert. Wir sind aufgeteilt wie die besetzten Länder beim Risko-Spiel.
Wie soll eigentlich ein gemeinsames Ruhrgebiet entstehen, wenn sich erst mal drei ganz unterschiedliche Verwaltungsstädte untereinander koordinieren müssen? Ich bin wirklich kein Nationalist, und das mag jetzt alles sehr provinziell-patriotisch klingen, aber solange eine einheitliche Verwaltung fehlt, gibt es auch keine Unabhängigkeit und eigene Identität für das Ruhrgebiet. Was nutzen uns die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010 und das ganze Ruhrstadt-Getue, wenn in einem sauerländischen Kaff entschieden wird, ob in Dortmund was gebaut werden darf oder nicht. Und wenn wir schon dabei sind: Eine eigene Währung wäre auch ganz nett. Meinetwegen zahlen wir in Briketts. Man sagt ja nicht umsonst: »Rück mal mit der Kohle rüber!«
Kinofilme wie Manta Manta oder Bang Boom Bang haben den Ruhrgebietler in den letzten Jahrzehnten immer als autoverliebten Spritverschwender dargestellt, als Prototypen des Motorsportgeschädigten, der, bevor er zum Bierholen die zehn Meter zu Fuß zur Bude läuft, lieber eine halbe Stunde um den Block brettert, um in zweiter Reihe zu parken. Und in seiner Freizeit schraubt er lieber in der Garage an seiner geliebten Karre als an seiner Freundin. Seine Welt riecht nach Öl, Schweiß und Wunderbäumen mit der Duftnote Vanille.
Prinzipiell stimmt dieses Klischee, denn ursprünglich war das Ruhrgebiet mal autofreundlich konzipiert. Nachdem uns der Herr Führer die Autobahnen geschenkt hatte, haben wir brav weitergeteert, um Zufahrtsund Pendlerstraßen zu bauen, und sogar ganze Fahr-Unis konzipiert, die genau wie die Einkaufszentren vor der Stadt nur mit dem Auto zu erreichen sind (siehe: Uni). Gefühlte drei Milliarden Autobahnen fräsen, kreuzen und teilen sich kreuz und quer durch den Pott. Wenn die Straßen frei sind, kommt man auch schön schnell von A nach B. Das Problem ist nur: Sie sind es nicht. Nie!
Vor allem die Schlagader des Reviers, die vielgepriesene A40 (siehe: A40), die vom Niederrhein bis nach Ostwestfalen führt (da heißt sie dann zwar B1, aber Straße ist Straße), kollabiert unter der schieren Masse von Blechvehikeln. Deshalb gibt es nicht enden wollende Ausbauarbeiten für noch mehr und noch breitere Spuren. Die haben die ganze Misere nur noch schlimmer gemacht: Statt Streckenausbau und schön fließendem Verkehr gibt es überall Fahrbahnverengungen, Baustellen und Staus. Dann braucht man an Werktagen für die zwanzig Kilometer von Bochum nach Essen schon mal anderthalb Stunden. Die S-Bahn schafft die Strecke übrigens in zehn bis fünfzehn Minuten. Wie gesagt: Sind die Straßen ausnahmsweise mal frei, kommt man ganz gut durch. Aber es kann sich ja nicht jeder leisten, um drei Uhr nachts zur Arbeit zu fahren.
Zum Glück sind die meisten Orte im Ruhrgebiet mit der Bahn und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen – und bei allen anderen lohnt sich auch kein Besuch. Falls Sie Ihre Karre trotzdem nicht stehen lassen können, bringen Sie Geduld mit. Aber bleiben Sie ruhig und gelassen – gerade im Stau. Machen Sie es wie wir Ruhrgebietsmenschen, denn Aggressivität im Straßenverkehr ist uns fremd. Wenn wir das mal erleben wollen, fahren wir einfach nach Berlin!
Wenn man sich das musikalische Frühwerk von Herbert Grönemeyer anhört, dann stellt man erstaunt fest: Der Mann konnte ja mal richtig singen. Selbsternannte Musikästheten werfen ihm noch heute oft Vokalgeknödel und Stimmbandgedrücke vor, gerade wenn er seine Lieder live und vor großem Publikum darbietet. Womit diese Kritiker nicht ganz unrecht haben, denn genau genommen sind seine öffentlichen Gesangsdarbietungen eigentlich ein Albtraum für jeden ausgebildeten Logopäden. Früher war das anders. Für eine Platte wie Total egal von 1982 braucht man kein Textblatt, um den Inhalt der Songs zu verstehen. Nicht so wie bei BAP, die ja neben den kölschen Texten dankenswerterweise noch die hochdeutsche Übersetzung ihrer teils komplett unverständlichen Lieder beilegen.
Allerdings war Herbert Grönemeyer am Anfang seiner Sangeskarriere auch nicht besonders erfolgreich, denn damals hatte sein Gesang noch wenig Wiedererkennungswert und schwankte stilistisch unentschlossen irgendwo zwischen Klaus Hofmann und Stephan Sulke. Richtig startete Grönemeyer eigentlich erst durch, als er mit dem Knödeln anfing. Ähnlich wie Bob Dylans Genöle entwickelte Grönemeyer seinen eigenen, unverwechselbaren Gesangsstil, der noch heute gerne von mittelmäßigen Komikern (so wie mir) parodiert wird. Herbert nachzumachen ist gar nicht so schwer. Eigentlich kann das jeder, der eine mittelschwere Verstopfung simulieren kann. Schön ist das zwar nicht, aber eindrucksvoll. Und wer sucht in der Musik schon nach Schönheit? Wer es schön haben will, soll gefälligst Celine Dion hören! Entscheidend ist doch am Ende das Gefühl, das die Lieder erzeugen, und natürlich die Aussage des Künstlers. Allerdings war gerade die bei Herbert nach seiner Stimmwandlung oft nur noch schwer auszumachen.
Nehmen wir zum Beispiel das Lied Bochum, das meiner Heimatstadt 1984 zu einer musikalischen Identität, bundesweiter Aufmerksamkeit und neuem Selbstbewusstsein verhalf (siehe auch: Bochum – Songanalyse). Da singt Herbert Grönemeyer an einer Stelle von ganzem Herzen: »Auuuuf, Glückauuuf: Bochum!« Damit ist natürlich der alte Gruß »Glückauf« gemeint, den die Kumpels sich im Bergwerk unter Tage zuriefen. Grönemeyer verbeugt sich also vor der Vergangenheit seiner Heimat und setzt gleichzeitig der Arbeiterklasse ein gesangliches Denkmal. Einer von uns halt.
Nun haben wir damals aber genau diese besagte Stelle ganz anders verstanden: Statt »Auf, Glückauf, Bochum!« hörten wir »Aaaaafrika: Bochum!« Was natürlich völliger Unsinn ist, denn selbst mit nur rudimentären Geographiekenntnissen müsste man ja wissen, dass es sich hier um zwei völlig verschiedene Kontinente handelt. Einige deuteten es damals so: Das Ruhrgebiet war als eher arme Gegend so was wie das Afrika Deutschlands, und die Bergarbeiter wiesen aufgrund ihrer oft schwarzen Gesichtsfärbung auch Ähnlichkeiten mit der afrikanischen Urbevölkerung auf.
Manche Leute verstanden die Zeile auch ganz anders. Zum Beispiel ein Freund, der damals fest behauptete, Herbert würde »Aaaappelkorn: Bochum!« singen. Eine nicht gerade subtile Aufforderung zum Konsum toxischer Getränke, die thematisch jedoch durch das Lied Alkohol auf der gleichen LP relativiert wurde.
Meine Lieblingsinterpretation ist allerdings: »Aaaatemnot: Bochum!« Damit könnte sowohl die bekanntlich schlechte Luft im Pott gemeint sein (Stichwort: Smog) als auch die unorthodoxe Gesangstechnik des darbietenden Künstlers.
Aber das ist natürlich alles Quatsch. Denn heute weiß man, wie der Text richtig geht, es ist überliefert. Es heißt: »Auuuuf, Glückauuuf: Bochum!«
Für diese Erkenntnis haben Sprachwissenschaftler zwar sehr lange forschen müssen, aber nun sind wir endlich klüger. Also: Glückauf!
Wer mit dem Auto fährt, hat den Vorteil, dass er mehr von der Gegend sieht und zwischendurch mal anhalten kann. Doch wer die Bahn nimmt, erlebt einfach mehr. Auch bei uns im Pott. Zum Beispiel Zugdurchsagen wie »Glückauf in Bochum« oder »Shortly we arrive Essen«, was übersetzt so viel heißt wie »Nächster Halt wir kommen an Essen«.
Ich fuhr mal frühmorgens mit dem Regionalexpress von Bochum nach Duisburg. Erwähnte ich bereits, dass es früh war? Es war VERDAMMT früh! Und voll! Ich stand also eingezwängt zwischen lauter unglücklichen und übermüdeten Morgenpendlern und blickte in traurige Augen. Kurz hinter Bochum kam die Durchsage vom Schaffner: »Guten Morgen, liebe Fahrgäste. Nächster Halt: Wattenscheid. Wer hier aussteigt, ist selber schuld!« Da gab es plötzlich ein großes Hallo im ganzen Zug, und die Menschen, die gerade noch depressiv wirkten, mussten plötzlich lächeln. Ein magischer Moment des Alltags. Der Tag war gerettet. Sogar die Leute, die den Zug in Wattenscheid verlassen mussten, haben beim Aussteigen noch gelacht, denn sie wussten: Der Schaffner hatte ja recht!
Was dem Hamburger die Reeperbahn und dem Düsseldorfer seine Altstadt, ist dem Ruhrpottler sein Bermudadreieck. Die Kneipenmeile in Bochum mit dem nachgewiesen dichtesten Gastronomieaufkommen Europas trägt aus zwei Gründen diesen Namen: Erstens handelt es sich bei dem Gebiet zwischen südlicher Kortumstraße, Viktoriastraße und Südring tatsächlich geometrisch um ein Dreieck. Zweitens sind dort in den letzten dreißig Jahren mehr Leute versumpft und versackt als im berüchtigten Namensvetter in der Karibik. An sommerlichen Wochenenden hier einen Fuß auf den Boden zu bekommen ist schwierig, während des Musikfestes Bochum Total sogar schier unmöglich. Doch gerade dieses Massenaufkommen scheint auf viele eine hohe Anziehungskraft auszuüben, und so fällt gerne gegen Ende der Woche das halbe Sauerland im Dreieck ein.
Im Bermudadreieck trifft man sich, hier sieht man und will gesehen werden. Den Bochumern sind alle baulichen und gastronomischen Veränderungen ihrer Ausgehmeile erst mal suspekt. In den letzten Jahren sollte das Dreieck zu einem schicken Flanierpflaster gemacht werden, was allerdings schwer nach hinten losging. Die Meile wurde neu asphaltiert und mit dürren Zierbäumchen in zentimetergenauen Abständen bepflanzt und verlor damit jeglichen ursprünglichen Charme. Und dann die neuen Pflastersteine. Ich weiß nicht, welcher bösartige Stadtplaner sich das ausgedacht hat. Am Engelbertbrunnen liegen die wohl schäbigsten und schmutzigsten Steine, die man sich vorstellen kann, und in den Fugen sammeln sich Zigarettenkippen und Unrat jeglicher Herkunft. Na gut, da muss man mal sanieren, immerhin sieht der Bodenbelag so aus, als wäre er ein paar Jahrzehnte alt und hätte die eine oder andere Völkerschlacht überstanden. Das Problem ist nur: Diese Steine wurden im Jahre 2009 verlegt und sahen bereits zwei Wochen später so aus. Sie sind laut Angaben des Bauamtes der Stadt Bochum auch nicht zur Reinigung geeignet und daher in einem Bereich, in dem Kneipen und Imbissbuden dicht an dicht stehen, natürlich besonders sinnvoll, denn nirgendwo fallen mehr Dreck, Lebensmittel und Körperflüssigkeiten auf den Boden als im Bermudadreieck. Es gibt nur ein Wort für dieses Phänomen: böswilliger Pfusch (okay, das waren jetzt zwei Wörter). Das sind die Momente, in denen ich meine Omma verstehe, die immer sagte: »Früher war alles besser!«
Und wo wir gerade bei neu sind: Wie viele Mexico-Tapas-Cocktail-Bars kann eine Straße aushalten? Bei meiner letzten Zählung gab es im Bermudadreieck neun dieser Etablissements. Und überall steht das gleiche Essen auf der Karte