Elizabeth George
Denn dein ist
die Sünde
Kriminalgeschichten
Ins Deutsche übertragen
von Charlotte Breuer und
Norbert Möllemann
Vorwort, Copyright © by Susan Elizabeth George
»Bitterschokolade« (»Dark Chocolate«), Copyright © 2009 by Nancy Pickard
»Das Angebot« (»The Offer«), Copyright © 2009 by Patricia Smiley
»E-Male«, Copyright © 2009 by Kristine Kathryn Rusch
»Genug, um den Winter über zu bleiben« (»Enough to Stay the Winter«), Copyright © 2009 by Gillian Linscott
»Machtspiele« (»Playing Powerball«), Copyright © 2009 by Elizabeth Engstrom
»Verstehst du mich jetzt?« (»Can You Hear Me Now?«), Copyright © 2009 by Marcia Talley
»Goldfieber« (»Gold Fever«), Copyright © 2009 by Dana Stabenow
»Du bist dran« (»Your Turn«), Copyright © 2009 by Carolyn Hart
»Mord im Kapitol« (»A Capitol Obsession«), Copyright © 2009 by Allison Brennan
»Vorübergehender Wahnsinn« (»Contemporary Insanity«), Copyright © 2009 by Pronzini-Muller Family Trust
»Die Geigerin« (»The Violinist«), Copyright © 2009 by Wendy Hornsby
»Pumaweibchen« (»Cougar«), Copyright © 2009 by Laura Lippman
»Die Gier nach der umgekehrten Jenny« (»Lusting for Jenny, Inverted«), Copyright © 2009 by Susan Elizabeth George
»Anderer Leute Kleider« (»Other People’s Clothing«), Copyright © 2009 by Susan Wiggs
»Poltergeist« (»Bump in the Night«), Copyright © 2009 by Stephanie Bond
»Invasion«, Copyright © 2009 by Julie Barrett
»Nackte, nüchterne Tatsachen« (»Cold, Hard Facts«), Copyright © 2009 by S.J. Rozan
»Hold dir den Tod« (»Catch Your Death«), Copyright © 2009 by Linda Barnes
»Ein Ausbrechendes Kamel« (»The Runaway Camel«), Copyright © 2009 by Barbara Fryer
»Wahnsinn zu zweit« (»A Madness of Two«), Copyright © 2009 by Peggy Hesketh
»Alles hilft« (»Anything Helps«), Copyright © 2009 by Elaine Medosch
»Ferienaufsatz« (»Back to School Essay«), Copyright © 2009 by Patricia Fogarty
»Paddy O’ Gradys Schenkel« (»Paddy O’Grady’s Thigh«), Copyright © 2009 by Lisa Alber
Motiv. Wenn ein Verbrechen begangen oder auch nur in Erwägung gezogen wird, liegt der Tat oder dem Gedanken an die Tat etwas zugrunde, und das ist das Motiv. Bei der Untersuchung einer Gewalttat ist die Polizei nicht verpflichtet, ein Motiv zu ermitteln und der Staatsanwaltschaft zu präsentieren. Die Ermittler müssen lediglich Beweise – oder Indizien – zusammentragen, die belegen oder nahelegen, wer die Schuld an einer strafbaren Handlung trägt. Aber die Geschworenen, beeinflusst von True-Crime-Fernsehsendungen und leidenschaftlichen Plädoyers von Staatsanwälten und Verteidigern, interessieren sich sehr wohl für das Motiv. Auch die Leser von Kriminalromanen interessieren sich für das Motiv, und der Erfolg eines Krimis hängt häufig davon ab, wie glaubwürdig es ist.
Es gab eine Zeit, als man in der Literatur ein Tatmotiv irgendwoher nehmen konnte, als die Moral- und Wertvorstellungen noch viel starrer waren als heutzutage, als es noch durchaus vorstellbar war, dass jemand einen Mord begehen würde, um ein uneheliches Kind zu verheimlichen, um seine Alkohol- oder Drogensucht seinem Arbeitgeber oder der Öffentlichkeit gegenüber zu verbergen oder um zu verhindern, dass eine Geliebte ihre Geschichte an die Boulevardpresse verkaufte. Dinge, die heute mit einem Kopfschütteln oder Achselzucken hingenommen oder in mitternächtlichen Talkshows bespöttelt werden, konnten früher ganze Regierungen stürzen, Karrieren ruinieren und Familien zerstören. Viele, die zu anderen Zeiten einen echten Grund gehabt hätten, Informationen über ihre Person zurückzuhalten, gehen heutzutage von sich aus an die Öffentlichkeit und »übernehmen die volle Verantwortung« für ihre Taten, wedeln häufig mit einer Bibel und berichten von einer wundersamen Bekehrung. Oder aber sie begeben sich »in Behandlung«, um das Problem in den Griff zu bekommen, und tauchen später verjüngt, erholt und mit neuem Image wieder auf. Und das gilt für alle – von Popstars bis hin zu Politikern.
Weil die Welt toleranter geworden ist – zumindest in Bezug auf bestimmte Aspekte des alltäglichen Lebens –, ist es kniffliger geworden, sich für einen fiktiven Täter ein glaubwürdiges Motiv auszudenken. Ein uneheliches Kind zu bekommen ist keine Schande mehr, und diejenigen, die von halbseidenen Sternchen in die Welt gesetzt werden, verhelfen diesen oft zu einem Titelfoto in einer Boulevardzeitung. Politiker, die eine außereheliche Affäre haben, geraten vielleicht vorübergehend in die Schusslinie der Kritik, aber den meisten gelingt es, sich wieder reinzuwaschen und wie Phönix aus der Asche aufzusteigen und bei den nächsten Wahlen zu kandidieren oder, noch wahrscheinlicher, einen Vorstandssitz zu ergattern und Aktienanteile einzuheimsen wie Konfetti bei einem Karnevalsumzug. Sportler, die Frauen, Tiere oder ihren eigenen Körper misshandeln, werden nicht nach der Schwere ihrer Tat beurteilt, sondern ob sie ihr Team in die Playoffs führen können.
Wie soll ein Autor da eine Figur entwickeln und ein Motiv konstruieren? Meine Verlegerin hat einmal zu mir gesagt: »Letztlich geht es doch immer um Sex, Macht und Geld«, und vielleicht hatte sie recht. Tatsächlich lassen sich viele Motive der Grande Dame der Kriminalliteratur, Agatha Christie, auf diese Weise interpretieren. Aber ich glaube, die sieben Todsünden bieten einen fruchtbaren Boden, auf dem sich eine Menge Motive finden lassen – schließlich heißen sie nicht umsonst Todsünden.
Zorn, Neid, Völlerei, Faulheit, Wollust, Habgier und Hochmut. Läuft es nicht darauf hinaus, dass jedem schweren Verbrechen eine der Todsünden zugrunde liegt?
In dieser Sammlung geht es um zwei davon: Wollust und Habgier. Als Herausgeberin war das meine Herausforderung an die Autorinnen: eine Geschichte zu schreiben, in der es entweder um Wollust oder Habgier oder um beides geht. Einige derjenigen, die eine Geschichte zu der Sammlung beigetragen haben, sind Autorinnen von Kriminalromanen. Andere nicht. Außerdem enthält diese Sammlung etwas Neues. Der zweite Teil des Buchs trägt die Überschrift: »Darf ich vorstellen …«. Dort sind Geschichten von Autorinnen zu finden, die noch weitgehend unbekannt sind oder bisher noch nie etwas veröffentlicht haben. Diese Frauen kommen aus unterschiedlichen Bereichen – sie sind Journalistinnen, Lehrerinnen, Ingenieurinnen –, und sie alle waren irgendwann einmal meine Schülerinnen. Ich habe sie um einen Beitrag gebeten, weil ich sie meinen Lesern vorstellen und vielleicht auch Verlage auf sie aufmerksam machen möchte. Die Verlagswelt ist ein raues Pflaster geworden, und interessante Autoren werden häufig nicht beachtet.
Alle Autorinnen, die einen Beitrag zu dieser Kurzgeschichtensammlung geleistet haben, beleuchten die Frage, was Wollust und Habgier bedeuten und zu welchen Extremen diese Sünden einen Menschen treiben können, und sie tun das jeweils aus einem anderen Blickwinkel. Unter den Figuren in den Geschichten gibt es Gute, Böse und Gestalten dazwischen. Es geht um Geheimnisse, Fehler, Missverständnisse und Mord, beschrieben von lauter wunderbaren Schriftstellerinnen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!
Elizabeth George
Whidbey Island, Washington
In der Mitte achtzehn Zentimeter dick und zum Rand hin rundherum abfallend, das war ihr Kuchen.
»Mein Kuchen«, flüsterte Marcie, allein in ihrer Küche.
Er gehörte ihr. Der ganze Kuchen. Jeder. Einzelne. Bissen.
»Meiner.«
Fehlte nur noch die Glasur. An der Seite zog sich rundum ein filigranes weißes Muster, Spuren von dem Mehl, mit dem sie die Form nach dem Einfetten eingepudert hatte. Kuchen back ich, Nüsse hack ich. Sie reimte, sie sang, während sie den Küchenspachtel kreisen ließ und reichlich Schokoladenguss an den Rändern und auf der Oberseite ihres dicken, dunklen, köstlichen Prachtstücks verteilte.
Nachdem die Glasur aufgetragen war, trat Marcie einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk.
Hinter ihr summte der Kühlschrank zur Begleitung ihres Singsangs.
Schokoguss, Haselnuss, Schokoguss, Haselnuss.
»Perfekt«, flüsterte sie so leise, als fürchtete sie, die Toten zu wecken.
Perfekt, perfekt, perfekt, summte der Kühlschrank.
Jetzt hineinschneiden. Das war immer knifflig. Immer eine Herausforderung. Es machte sie nervös. Es konnte so leicht schiefgehen, selbst nach so viel Planung und Arbeit. Nach dem Mischen, Rühren, Backen, Abkühlen, Mit-Schokoladenguss-Bestreichen konnte in allerletzter Minute immer noch alles schiefgehen. Der Kuchen konnte in sich zusammenfallen. Er konnte misslungen sein, zu lange gebacken, zu trocken oder nicht durchgebacken. Sie hatte am Ende der Backzeit, als die Formen noch im Ofen standen, mit Zahnstochern in die Mitte beider Böden gepikst, und es war nichts daran hängengeblieben. Sie war begeistert gewesen, denn das bedeutete, dass sie diesmal den perfekten Kuchen gebacken hatte. Und doch konnte immer noch etwas schiefgehen. Er konnte immer noch zusammenfallen, in der Mitte einsinken, als hätte jemand mit der Faust hineingeschlagen. Sie hoffte, dass das nicht passieren würde. Sie wollte, dass dieser Kuchen, ihr Kuchen, dieser spezielle Kuchen an diesem speziellen Tag perfekt war.
Marcie nahm ihr Kuchenmesser.
Ein versilbertes Hochzeitsgeschenk, von wem, wusste sie nicht mehr.
Irgendein Gast,
geliebt oder gehasst.
Sie hielt das Messer über den Kuchen, zögernd, ängstlich, aus Furcht, etwas falsch zu machen. Es war schwer, es richtig zu machen. Leicht, es zu vermasseln. Schwer, ein perfektes Dreieck auf einen blitzblanken Teller zu befördern. Teller, Teller, Mäuse im Keller.
Mit angehaltenem Atem senkte sie das Messer.
Es tat weh. Es tat regelrecht weh, das zu tun, den Schokoguss einzuritzen, das Messer hindurchgleiten zu lassen und die festere Masse darunter, den Kuchen, zu durchschneiden. Sie wollte sich beeilen, es schnell hinter sich bringen, damit sie es nicht spüren musste, den Schmerz, in ihren Kuchen zu schneiden. Nicht drücken, nicht pressen, das reimt sich auf Essen. Wenn sie den ersten Schnitt gemacht hatte, gab es kein Zurück mehr. Sie konnte ihn nicht ungeschehen machen, sie konnte es sich nicht mehr anders überlegen.
Das Messer glitt durch den Kuchen, bis es auf die Glasplatte darunter traf.
So weit, so gut, dachte Marcie und begann wieder zu atmen.
Der nächste kritische Moment würde kommen, wenn sie das Messer herauszog, und sie zögerte erneut. Sie stand in der Küche, die Hand um den versilberten Messergriff, die Schneide immer noch bis zum Schaft im Kuchen. Tot, tot, Morgenrot. Wenn sie das Messer aus dem Kuchen zog, konnte es passieren, dass zu viel Teig und Schokoladenguss daran klebten und ein unsauberer Schnitt zurückblieb.
Langsam, ganz vorsichtig, löste sie das Messer heraus.
Ein sauberer Schnitt. Nur ein paar Kuchenkrümel und etwas Guss klebten an der Klinge.
Marcie atmete erleichtert auf. Das konnte ein perfektes Stück werden.
Der zweite Schnitt war noch kniffliger als der erste, aber sie hatte alles genau geplant. Sie hatte ein Glas Wasser bereitgestellt. Sie tauchte die klebrige Klinge in das Wasser und streifte erst die eine, dann die andere Seite sorgfältig am Glasrand ab. Dann wischte sie die Klinge mit einem frischen Geschirrtuch ab, damit sie für den nächsten Schnitt ganz sauber war.
Blitzeblank, tausend Dank, wer ist nett, und wer macht Zank?
Ich könnte Kinderreime schreiben, dachte sie.
Sie hatte weiß Gott genug davon gelesen.
Schließlich lag das erste Kuchenstück auf ihrem perfekten Teller.
Marcie nahm ihre Gabel.
Sie aß den ersten Bissen, den sie von der vorderen Spitze nahm.
Wie köstlich! Es war der beste Kuchen, den sie je gebacken oder gegessen hatte.
Braves Kind spurt geschwind.
Während sie den Bissen noch eine Weile genüsslich im Mund hielt, dachte sie an den Zeitungsartikel, den sie neulich gelesen hatte. Wissenschaftler hatten angeblich nachgewiesen, dass der erste Bissen von etwas immer der beste war. Sie behaupteten, danach sei jeder weitere Bissen weniger schmackhaft. Marcie konnte sich nicht erinnern, wie sie das begründet hatten, aber sie glaubte es sowieso nicht. Als sie den zweiten Bissen von ihrem Kuchen aß, schmeckte er genauso gut wie der erste, vielleicht sogar noch besser. Er war so köstlich, dass sie vor Wonne feuchte Augen bekam. Es war ein unglaublich gutes Gefühl an den Zähnen, am Gaumen und in der Kehle.
»Ach«, flüsterte sie mit einem Stöhnen. »Ist das gut.«
Jeder weitere Bissen war ebenso lecker.
Lecker, lecker,
die Menschen und ihr Gemecker.
Das zweite Stück schnitt sie nicht größer als das erste. Sie hatte keine Eile. Kein Grund, was die Familie übrig gelassen hatte herunterzuschlingen, so wie sie es immer tat, wenn sie nach dem Essen die Teller in die Spülmaschine räumte. An diesem Nachmittag hatte sie alle Zeit der Welt, oder zumindest bis sechs Uhr, wenn Mark von der Arbeit kam. In diesen zweieinhalb Stunden war Platz für eine ganze Welt, ein ganzes Leben. Und sie wollte jeden Bissen davon genießen.
Das zweite Stück war noch besser als das erste, und nachdem sie es aufgegessen hatte, hatte sie immer noch Hunger. Heißhunger. Nur ein großes Stück konnte ihren Hunger stillen, sagte sie sich, aber das dritte, größere Stück schien sie nur noch hungriger zu machen. Gut, gut, Übermut. Sie war froh, dass sie längst noch nicht satt war. Das war ihr Kuchen, und sie wollte ihn ganz.
Marcie genoss ihr viertes Stück.
Das Telefon schwieg und störte sie nicht.
Natürlich störte es sie nicht, dachte Marcie, schließlich hatte sie den Stecker herausgezogen. An einem Apparat. Aber das reichte, um sie alle stillzulegen.
Ein Geräusch, vielleicht ein Lachen, vielleicht auch ein Schluchzen, drängte in ihren Mund.
Sie musste husten, woraufhin sie sich an dem Bissen verschluckte, den sie gerade hatte herunterschlucken wollen, als das Lachen oder Schluchzen hochgekommen war und herausgewollt hatte. Marcie geriet in Panik, fürchtete, sie könnte an ihrem eigenen Kuchen ersticken, so dass jemand anders die Reste vorfinden und womöglich sogar essen würde.
Sie lief an die Spüle, um den Bissen auszuspucken.
Sie trank einen großen Schluck Wasser, um den Hustenreiz loszuwerden.
Das Wasser füllte ihren Magen ein wenig, was der Kuchen bisher nicht vermocht hatte.
Marcie stellte das Glas weg. Mehr wollte sie nicht trinken.
Dann setzte sie sich wieder auf den Küchenhocker vor dem Tresen, auf dem der Kuchen stand, und schnitt das letzte Stück der ersten Kuchenhälfte ab.
Vielleicht war es jetzt an der Zeit, das Telefon wieder einzustöpseln?
Damit niemand sich Sorgen machte, wenn sie nicht erreichbar war. Damit niemand herüberkam, um nach ihr zu sehen, bevor Mark wieder zu Hause war. Man würde sich Sorgen machen, dachte sie, wenn nicht einmal der Anrufbeantworter ansprang.
Sie stand auf und stöpselte das Telefon ein, das mit dem Anrufbeantworter verbunden war.
»Hallo!«, flüsterte sie in gutgelauntem Ton. »Sie sind mit der Familie Barnes verbunden!« Dann sagte sie noch leiser: »Mark!« Dann mit ihrer normalen Stimme: »Marcie!« Und dann ahmte sie die Kinder nach, in der Reihenfolge, in der sie ihre Namen sagten, das älteste zuerst. »Luke!«, er war sechs. »Ruth!«, sie war fünf. Und dann die dreijährigen Zwillinge »Matthew!« und »Mary!«. Dann rief sie fröhlich: »Wir rufen zurück!«, wie sie es auf dem Band alle im Chor taten. Nur John, das Baby, war nicht zu hören. Das Baby war still.
Es erschreckte Marcie, ihre eigene Stimme so laut in dem stillen Haus zu hören.
Ihre Mutter sagte immer, sie sollten keine Ansage auf dem Anrufbeantworter haben, die den Leuten in die Ohren brüllte. Ihr Vater fand, es sei lästig, sich jedes Mal die ganze Nachricht anhören zu müssen. Die Frau des Pfarrers fand sie wunderbar.
Marcie nahm die zweite Kuchenhälfte in Angriff.
Ihr gläserner Teller war jetzt nicht mehr makellos sauber.
Die beiden Badewannen waren nicht mehr sauber.
Einige Betten waren nicht mehr sauber.
»Du solltest dich was schämen«, schalt sie sich mit der Stimme ihrer Mutter.
»Was hast du den ganzen Tag gemacht?«, fragte die Stimme ihres Vaters.
»Du hast so ein Glück, dass du zu Hause bleiben kannst«, sagte ihre Schwester.
»Habt ihr heute was Schönes unternommen?«, wollte Mark wissen.
»Wir haben Sie beim Bibelkreis vermisst«, sagte die Pfarrersfrau.
Ehefrau, grün und blau.
Mutterglück, mich erdrückt.
»Haltet die Klappe«, flüsterte sie. »Haltet die Klappe. Haltet alle die Klappe.«
Mit zitternden Händen tauchte sie das Kuchenmesser in das Wasser, das inzwischen ganz trüb war, und wischte es an dem mit Schokolade verschmierten Geschirrtuch ab. Dann schnitt sie den Rest des Kuchens in gleichgroße Stücke, damit sie parat waren, wenn sie bereit war, sich darüber herzumachen. Die Zeit lief ihr davon. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Mark durch die Tür kam.
Zumindest war das Kuchenmesser wieder sauber.
Sie hielt es hoch, um es im Licht, das durch das Fenster fiel, aufblitzen zu lassen.
Ja, es war blitzblank. Und spitz.
Das Wort »spitz« erinnerte sie an den Hund, der nicht bellte. Hieß nicht so eine Geschichte? Die von einem Hund handelte, der nicht bellte? Es war irgendwie wichtig, dass der Hund nicht bellte. Ein Hinweis. Aber worauf? Vielleicht wüsste sie es, wenn sie ihr Studium abgeschlossen hätte. Marcie fragte sich, ob Mark den Hinweis verstehen würde. Wenn er auf das Haus zuging, wenn er den Schlüssel ins Schloss steckte, würde er es als ein Hinweis verstehen, wenn der Hund nicht bellte?
Mark war klug, aber für ganz so klug hielt sie ihn doch nicht.
Wahrscheinlich würde es weiterer Hinweise bedürfen, ehe er merkte, dass etwas nicht stimmte.
Marcie aß das erste Stück der zweiten Kuchenhälfte auf und tat sich das nächste auf den Teller.
Sie schätzte, dass jetzt noch etwas mehr als ein Viertel von ihrem Kuchen übrig war. Wenn es mehr als ein Viertel war, war es dann ein Drittel? Sie war sich nicht ganz sicher. Sie war noch nie gut in Mathe gewesen oder darin, etwas über den Daumen zu peilen.
Warst nie brav,
wirst bestraft.
Sie hatte viel zu früh geheiratet.
Hatte früher Kinder bekommen, als man ihr geraten hatte – aber nicht so viele, wie man ihr geraten hatte. (»Glaubst du, unsere Babysachen halten noch für eins mehr?«, hatte Mark sie am Abend zuvor gefragt.)
Hatte zu viel geputzt.
Rein, rein, Fensterlein.
Hatte es nicht genug geputzt.
Dein Vergehen musst gestehen.
Zu viel Geld ausgegeben.
Nie genug Geld gehabt.
Zu laut gesungen. Zu viel geredet.
Die falschen Dinge gesagt.
Die falschen Kleider angezogen.
Konnte es niemandem recht machen.
Eine Freude machen. »Please«, flüsterte Marcie, als ihr der Beatles-Song einfiel. »Please, please, please me.«Jemand sollte mir mal eine Freude machen.
Sie glaubte nicht, dass es jemand anderen freuen würde festzustellen, dass sie einen kompletten Kuchen aufgegessen hatte, aber es machte sie glücklich. Es war einfach wunderbar, den letzten Bissen zu essen. Zu ihrer Überraschung verlangte es sie immer noch nach mehr.
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr.
Noch Zeit genug, einen zweiten anzurühren. Wenn sie nicht mehr dazukam, ihn zu backen, konnte sie vielleicht den Teig essen, die Schüssel auslecken, die ganze Schüssel, ganz allein.
Wenn Mark nach Hause kam, konnte sie ihm einen Schokoladenkuss geben.
Sie wollte eine Schachtel Backmischung aus dem Schrank nehmen, stellte jedoch bestürzt fest, dass kein Schokoladenkuchenmix mehr da war. Nur Vanille. Sie war zutiefst enttäuscht, vollkommen am Boden zerstört. Kein Schokoladenkuchen! Nur Vanille! Aber dann dachte sie: Nein! Das ist in Ordnung. Das ist prima. Das ist sogar großartig! Sie war die Einzige in der Familie, die hellen Kuchen mochte. Sie war die Einzige, die übrig war, die ihn mochte …
Marcie griff nach der Schachtel.
Vanille hatte ihren eigenen Reiz, fand sie. Vanille war würzig, duftete herrlich, sah so rein aus. Und man konnte alles Mögliche damit machen. Einem Vanillekuchen konnte man jeden beliebigen Geschmack beifügen, man konnte jede beliebige Glasur auftragen. Man konnte ihn mit Liebesperlen bestreuen. Mit Rosen aus Zuckerguss garnieren. Ein Vanillekuchen passte zu einer Hochzeit, einem Geburtstag und zu besonderen Tagen wie diesem.
Bei dem Gedanken an den Teig, der ganz ihr allein gehören würde, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich überkam sie ein Heißhunger, als hätte sie ein riesiges Loch im Bauch. Einen gigantischen Hohlraum. Ihr war, als fiele sie in diesen Hohlraum, als könnte sie ewig weiterfallen, ohne ein Geräusch zu hören, während der Raum immer größer und weiter wurde, bis nichts mehr existierte außer ihr und dem Raum.
Vielleicht konnte ein zweiter Kuchen den Hohlraum füllen, wenn es ihr nur gelang, ihn aufzuessen, bevor Mark in ihr stilles Haus zurückkehrte.