Meddi Müller
Die Erben des Türmers
Mord in Berkersheim
Impressum:
CharlesVerlag, Mathias Müller & Marcel Dax GbR, Frankfurt am Main, alle Rechte vorbehalten, eine Veröffentlichung, auch in Auszügen, ist nur mit Genehmigung des CharlesVerlag gestattet. www.charlesverlag.de
Druck: Booksfactory
Lektorat: Sonja Rudorf
Umschlaggestaltung: Marcel Dax
ISBN 978-3-940387-87-5
1. Auflage 2018
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.dbb.de abrufbar
Der Autor
Meddi Müller ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch der Gründer und künstlerischer Leiter des CharlesVerlag. Er wohnt im Frankfurter Norden, ist verheiratet und hat zwei Söhne.
Weitere Bücher von Meddi Müller, im CharlesVerlag erhältlich:
Der Gewürzhändler zu Frankfurt
Der Türmer
Glanzgold
Unter Verdacht
Im Schatten der Schwester
Frankfurt muss brennen
Der falsche Fürst
Ihr war kalt. Sie schlotterte am ganzen Leib. Ihre blonden Locken standen wirr von ihrem Kopf ab. Die blauen Augen wirkten durch das schmutzige Gesicht des kleinen Mädchens heller, als sie waren. Sommersprossen zierten die feinen Züge rund um ihre etwas zu spitze Nase. Sie war sehr dünn und trug ein einstmals helles Kleid und alte Schuhe. Zum Schutz gegen die Kälte hatte sie eine löchrige Decke um sich gewickelt. Auf dem Rücken trug sie einen alten Lederrucksack, der sich an den Nähten langsam auflöste. Ihr Anblick zeugte von ihrer seit Monaten andauernden Odyssee. Völlig durchgefroren schlich sie durch die Dämmerung.
Sie entdeckte am Horizont die Lichter eines Dorfes. Vielleicht würde sie dort Unterschlupf finden, um sich ein wenig aufzuwärmen. Aber bis dahin musste sie noch ein Stückchen laufen. Sie schnaufte resigniert und warf einen Blick auf Fipps, den kleinen Hund, der sie seit ein paar Wochen begleitete. Sie hatte ihn irgendwo im Nirgendwo getroffen. Seitdem wich er nicht mehr von ihrer Seite. Der Hund schaute an ihr hoch. Sein Blick ließ sie kurz lächeln. So einen treuen Freund hatte sie noch nie gehabt. Bei seinem Anblick fiel ihr auf, dass sie eigentlich noch nie einen Freund gehabt hatte. Es war so kalt. Sie hatte seit ein paar Tagen kein ordentliches Nachtlager gehabt. Aber das Wetter war gerade noch gut genug, um im Freien zu übernachten, auch wenn der Winter nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Noch kämpfte der Herbst mit ihm um die Vormachtstellung.
Wenn nur ihre Eltern bei ihr wären. Sie fühlte sich so allein. Ihre gesamte Familie wurde bei einem Luftangriff im letzten Monat des Krieges getötet. Es war zwar schon etliche Monate her und der Gedanke daran machte Gretchen immer noch sehr traurig; aber auch sehr wütend. Warum hatte man ihr kleines Dorf im Taunus überhaupt noch angegriffen? Der Krieg war doch schon verloren, so hatte es zumindest ihr Vater immer gesagt. Ein Flugzeug war über sie geflogen und hatte eine Bombe direkt auf ihr Haus geworfen. Sie war gerade am Bach spielen. Ihre Eltern und ihre Großeltern waren im Haus. Es brannte komplett aus. Gretchen stand davor und begriff nicht, was geschehen war. Bis sie ein Gespräch mitbekam, als das Feuer am schlimmsten loderte.
»Der Fred, Liesel und die beiden Alten waren noch da drin«, sagte der Nachbar Heinz tonlos zu seiner Frau, die daraufhin die Hände vor den Mund schlug.
»Warum haben die das getan?«, fragte die Frau.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Heinz. »Aber du weißt ja, wie es ist …«, er zuckte mit den Schultern. »Wir haben den Krieg verloren und jetzt müssen wir dafür bezahlen.«
Gretchen verstand das alles nicht. Was hatte sie denn mit dem Krieg zu tun? Und was hatten ihre Eltern bloß getan? Woher sollte das kleine Mädchen wissen, dass ein englischer Flieger den Auftrag hatte, die vermeintliche geheime Nazi-Kommandostation in dem Bauernhaus am Rande des Dorfes zu zerstören. Dass dieser Angriff eine Verwechslung war, half niemandem weiter. Als der Flieger zurückkam, um sich zu überzeugen, dass er auch wirklich getroffen hatte, griff Panik um sich. Alle rannten davon, niemand konnte helfen, das Feuer zu löschen, geschweige denn, die Menschen im Haus zu retten. Gretchen lief ebenfalls davon. So weit ihre Füße sie trugen. Irgendwann hatte sie den Wald erreicht, in dem sie sich sicher fühlte. Sie setzte sich auf den weichen Boden und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Sie war jetzt allein.
Umzukehren kam ihr nicht in den Sinn. Sie hatte niemanden, zu dem sie hätte zurückgehen können. Alle waren tot. Irgendwann schlief sie ein.
Als sie aufwachte, ging sie einfach weiter. Sie lief ein paar Tage im Wald herum und aß, was sie fand. Trank aus Bächen und schlief auf dem Boden. Irgendwann wusste sie nicht mehr, woher sie gekommen war. Das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, hatte für sie keinen Namen. Warum auch? Es waren nur ein paar Häuser und sie war schließlich erst zehn Jahre alt. Der Name des Dorfes spielte keine Rolle in ihrem Leben. Sie lief jeden Tag, bis sie keine Lust mehr dazu hatte. Dann legte sie sich hin und schlief. Sie verlor den Bezug zu Raum und Zeit. Sie konzentrierte sich auf die Suche nach Essbarem. Manchmal bekam sie etwas von netten Menschen, die sie traf. Ab und zu durfte sie sogar in einem richtigen Bett schlafen. Diese Momente gaben ihr Hoffnung. Aber immer wieder schickten sie Gretchen weg. Sie konnten sich nicht um sie kümmern. Sie hatten ja kaum genug für sich selbst. Nach ein paar Monaten hatte sie sich damit abgefunden. Und nun hatte sie ja Fipps. So war sie hierher gekommen. In ein kleines Dorf, dessen Namen sie nicht kannte. Ein kleines Dorf, ganz in der Nähe Frankfurts. Am Ende des Oktobers im Jahre 1946.
Walter Schulte war ein Mann, der sich vor allem um eines kümmerte: um sich selbst. Die anderen waren ihm ziemlich egal. Auch was man von ihm dachte, berührte ihn wenig. Der Krieg war lange und hässlich gewesen. Natürlich hatte er bei den Braunen mitgemacht. Er war clever genug zu wissen, in welchen Wind man sein Fähnchen hing, und immer darauf aus, das Beste für sich herauszuschlagen. Auch war er sehr geschickt darin, diese Eigenschaft zu verbergen.
Groß gewachsen, blond und viel zu dünn, erinnerte seine schlaksige Gestalt an eine Fahnenstange, die mit dem Sturm kämpfte. Seine Augen waren grün und viel zu klein für sein Gesicht, was ihm eine autoritäre Ausstrahlung verlieh. Seine Nase stach lang und knochig über seinem schmallippigen Mund. Einzeln für sich gesehen, waren die Komponenten seines Gesichts unansehnlich. In der Kombination allerdings ergaben sie ein durchaus faszinierendes Bild. Dies verlieh ihm einen Vorteil beim anderen Geschlecht. Er hatte das gewisse Etwas.
Mit seiner flexiblen Meinung hätte er es in der NSDAP weit gebracht. Aber er hatte auch ein Gespür dafür, was sich am Ende lohnte und was nicht. Er wusste schon lange bevor die Alliierten in der Normandie an Land gingen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Am Anfang hatte er natürlich so getan, als wäre der Endsieg in greifbarer Nähe und die Judenfrage schnell geklärt. Er hatte aber auch stets gewusst, dass sich die Welt das Treiben der Nazis nicht mehr lange tatenlos anschauen würde. Und sobald sich die Berichte häuften, dass die Wehrmacht mehr und mehr zurückgedrängt wurde, sagte er sich los von der Partei und vom Führer. Er konzentrierte sich schon lange vor Kriegsende darauf, wie er am besten mit den Siegermächten kollaborieren und wie er am meisten für sich dabei herausschlagen könnte. Er hatte viele Ideen, wie er das anstellen würde. Aber leider hatte sich bis jetzt keine Gelegenheit dazu ergeben. Ob legale oder illegale Geschäfte, war ihm dabei einerlei. Und wie der Zufall es immer so will, wurde ihm diese Entscheidung schließlich abgenommen.
Es war bis dahin ein ereignisloser Tag im Oktober 1946 gewesen. Walter Schulte war gerade dabei, den Stall auszumisten, als ein Amerikaner mit seinem Jeep auf den Hof gefahren kam. Mit einem Ruck blieb das Fahrzeug ohne Dach mitten in der Einfahrt stehen. Der Fahrer stellte umständlich den Motor ab und sprang vom Wagen. Dabei landete er mitten in einer Pfütze. Er stieß einen herzhaften Fluch aus und betrachtete seine Stiefel, die nun völlig verdreckt waren. Walter beobachtete das Treiben und musste grinsen.
»Was gibt es da so blöd zu grinsen?«, stieß der Soldat auf Deutsch aus. Er trug die Uniform eines Sergeants. Sein Kopf war unbedeckt, sodass der Blick auf sein braunes, kurz geschorenes Haar frei war. Sein Schiffchen steckte in der rechten Schulterklappe seine Jacke. Der Mann war stämmig, von durchschnittlicher Größe und machte einen gut trainierten Eindruck. Sein Gesicht wies eine gewisse Strenge auf, was wohl an seinen dicht beieinanderstehenden Augenbrauen lag, die sich in einem steilen Winkel an der Nasenwurzel über den dunklen Augen trafen. Sein Kinn war spitz und seine Wangenknochen hoch.
»Sie sprechen deutsch?«, war alles, was Walter als Erwiderung einfiel.
»Natürlich«, sagte der Soldat, versuchte erfolglos, sich den Schmutz von Stiefeln und Hose zu klopfen, und verzog schließlich angewidert das Gesicht. Dann trat er ein paar Schritte auf Walter zu.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Walter und lehnte die Mistgabel an die Stallwand.
»Wenn Sie wissen, wem die Scheune am östlichen Ortsrand gehört, hätten Sie mir schon sehr geholfen«, antwortete der Sergeant, der jetzt wieder seine Haltung gefunden hatte.
Walter zögerte einen Moment, dann entschied er sich für die Wahrheit.
»Die gehört mir«, sagte er zögerlich. »Warum?«
Ein mulmiges Gefühl ergriff ihn. Die Amis wollten ihm doch nicht die Scheune wegnehmen? Dann fiel ihm ein, dass er ja auch Profit daraus schlagen konnte.
»Wollen Sie die Scheune mieten?«, fragte er mit freundlicher Miene und überlegte im Stillen, wie hoch er den Preis treiben konnte, ohne dass er Gefahr lief, zu teuer zu werden.
»So ähnlich«, sagte der Soldat gedehnt. Er musterte Walter eingehend, kniff ein Auge zusammen und sagte dann: »Wie stehen Sie zu den Siegermächten?«
Was war denn das jetzt für eine Frage? Walter war unschlüssig. Das konnte eine Fangfrage sein.
»Keine Angst«, beruhigte ihn der Amerikaner, der Walters Unbehagen bemerkte. »Ich bin privat hier.«
»Aber die Uniform und der Jeep«, wandte Walter ein und deutete auf das geparkte Fahrzeug.
»Ja, Sie haben recht«, gab der Mann zu. »Aber vergessen Sie das mal.« Er machte eine Handbewegung, als würde er etwas wegwischen. Dann trat er an Walter heran und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin unhöflich. Mein Name ist Sergeant Frank Delany.« Er machte eine kurze Pause, in der Walter die dargebotene Hand schüttelte. »Aber vergessen wir den Sergeant. Nennen Sie mich Frank. Wie ist denn Ihr Name?«
»Walter Schulte.«
»Walter«, der Amerikaner zögerte und fragte dann: »Ich darf Sie doch so nennen?« Walter nickte kurz. »Also, Walter. Ich habe Ihnen ein Geschäft vorzuschlagen.«
Jetzt hatte er Walters volle Aufmerksamkeit.
Zu Hause
Emil Schuhmann war flau im Magen, als er aus dem Zug stieg. Er empfand eine Mischung aus Dankbarkeit und Erleichterung. Berlin! Deutscher Boden unter den Füßen.
Endlich!
Er hatte sich schon bis an sein Lebensende in diesem schrecklichen Lager gesehen. Aber vor ein paar Wochen hatte man ihn überraschend freigelassen.
Einfach so.
Am Tag zuvor hatte er den letzten von ungezählten Zügen bestiegen, die ihn in die deutsche Hauptstadt gebracht hatten. Auf diesem langen Weg hatte er viel Zeit gehabt. Zeit, die er zum Nachdenken genutzt hatte. Mehr als einmal musste er tagelang auf seine Weiterreise warten. Kurz vor der polnischen Grenze hatte er in einem russischen Nest über zwei Wochen festgesessen. Er hatte schon gedacht, dass er dort für alle Zeit hängenbleiben würde, als endlich ein Zug kam, der ihn ein Stück näher Richtung Heimat gebracht hatte. Oft musste er an sein Zuhause denken. Dort, wo seine Frau und seine Tochter auf ihn warteten.
Emils Ehe mit Anneliese war gegen viele Widerstände geschlossen worden. Seine Familie und seine Freunde mochten sie nicht. Emil musste zugeben, dass Anneliese nicht einfach im Umgang war. Aber sie hatte ein Auge auf ihn geworfen. Und eine Frau wie Anneliese ließ man sich nicht entgehen. Sie war ausgesprochen hübsch. Sie trug ihr strohblondes Haar immer zu einem dicken Zopf geflochten, der über eine ihrer Schultern hing. Ihre grauen Augen waren von vollendeter Form und umrahmt von feinen Brauen, die ihrem Gesicht zu einem Anblick machten, dem man sich nicht entziehen konnte. Sie war sehr schlank, ohne dabei dünn zu wirken, da sie an den richtigen Stellen die richtige Fülle besaß. Es war keine Überraschung, dass sie auf Männer eine sirenische Wirkung hatte.
Emil stand nun inmitten von Trümmern in der Hauptstadt und schloss die Augen, damit er sich Frankfurt ins Gedächtnis rufen konnte. Räumlich war er der Stadt so nah wie seit Jahren nicht mehr, und doch war sie im Moment unerreichbar. Viel mehr als seine Stadt und seine Frau vermisste er allerdings seine kleine Tochter Lilly. Als er in den Krieg gezogen war, war sie noch so klein gewesen. Sie hatte sich bestimmt komplett verändert.
Emils Vater, Gerhard Schuhmann, war ein berühmter Polizist in Frankfurt, der einige spektakuläre Fälle gelöst hatte. Mittlerweile jedoch war er im Ruhestand. Bei den Kriminalfällen wurde er seinerzeit tatkräftig von seinem Freund, dem Domtürmer Heinrich Niemann unterstützt. Die beiden waren heute noch unzertrennlich. Der Türmer war wie ein Onkel für Emil gewesen.
Nach der Hochzeit zogen Emil und Anneliese nach Berkersheim, ein Dorf einige Kilometer im Norden Frankfurts, auf den elterlichen Hof der Frau, den er gemeinsam mit seinen Schwiegereltern bewirtschaftete. Emil arbeitete den ganzen Tag auf dem Hof und dem Felde. Er war den anstrengenden Alltag eines Bauern nicht gewohnt, sodass er am Abend müde ins Bett fiel und sich so gut wie gar nicht um Anneliese kümmern konnte. Sie machte ihm natürlich Vorwürfe, weil sie von ihm erwartet hatte, dass er sie in die Stadt nach Frankfurt holte und ihr ein feines Leben finanzierte. Doch wovon hätten sie dort leben sollen? Emil hatte kein Glück bei der Berufswahl gehabt. Zwar konnten seine Eltern eine Ausbildung zum Buchhändler finanzieren, aber sein Ausbildungsbetrieb konnte ihn nicht beschäftigten. Er fand ein Auskommen bei gelegentlichen Arbeiten. Aber als Tagelöhner wuchsen einem die Trauben nicht in den Mund. Er musste sich strecken, um seiner Anneliese etwas zu bieten. Sie nahm es wie selbstverständlich, dass er sie hofierte. Was immer wieder zum Disput mit seinem Vater führte und letztendlich dazu, dass er nach Berkersheim zog. Dort war er willkommen und seine Schwiegereltern freuten sich über seine Hilfe. Als nach kurzer Zeit Lilly auf die Welt kam und im Jahr darauf Annelieses Eltern starben, wurde es immer schwieriger, die Ehe harmonisch zu gestalten.
Emil erinnerte sich an eine Szene, die das ganze Dilemma seiner Ehe auf den Punkt gebracht hatte. Es geschah kurz, bevor er eingezogen wurde.
»Jetzt sitze ich hier in diesem Kaff fest«, hatte sie ihm eines Tages vorgeworfen, nachdem es mal wieder zum Streit gekommen war. »Zusammen mit diesem schreienden Balg.« Sie deutete auf die kleine Lilly.
»Ich weiß nicht, was du hast«, antwortete Emil und versuchte, das Mädchen auf seinem Arm zu beruhigen. Sie schrie nach Leibeskräften. »Uns geht es doch gut hier. Wo ist dein Problem?«
Anneliese schnappte nach Luft und warf die Hände in den Himmel. »Schau dich doch um. Hier ist nichts. Gar nichts!«, schrie sie. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Wir sind hier«, sagte Emil trotzig.
»Na und? Ihr seid euch doch selbst genug, ihr braucht mich nicht.«
Emil sagte nichts. Er war zu entsetzt, um eine Antwort zu geben, die nicht gleichzeitig das Ende ihrer Ehe bedeuten würde. Er schaute sie nur traurig an, schaukelte Lilly, die sich mittlerweile ein wenig beruhigt hatte und kurz darauf in seinem Arm einschlief. Er stand auf und verließ das Zimmer.
Die Ehe wurde nicht besser im Laufe der Zeit. Sie lebten beide ein eigenes Leben. Emil gab sich der Arbeit am Hof hin und Anneliese kümmerte sich um den Haushalt. Die einzige Freude fand Emil in Lilly.
Es dauerte nicht lange und Emil musste in den Krieg ziehen. Er wurde in den Osten geschickt, wo er im Herbst 1941 in Gefangenschaft geriet und in ein Arbeitslager am Ende der Welt gebracht wurde. Seit dieser Zeit gab es keinen Kontakt mehr zur Heimat, bis er vor einigen Wochen freigelassen worden war.
»Nur noch eine Zugfahrt«, sagte sich Emil und öffnete die Augen. Er sah das Brandenburger Tor, dahinter das Hotel Adlon. Beides immer noch schwer vom Krieg gezeichnet. Sein Blick ging hinüber zum ausgebrannten Reichstag. Es sah ganz so aus, als interessiere sich niemand für den Wiederaufbau des Gebäudes. Einige Berliner hatten sich direkt neben dem einstigen Zentrum der Republik einen Gemüsegarten angelegt,
Er musste eine ganze Woche warten, bis er endlich eine Zugverbindung nach Frankfurt bekam. Jetzt schaute er aus dem Abteilfenster und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. Emil wollte sich so gerne auf sein Zuhause freuen und darauf, seine kleine Lilly wieder zu sehen. Aber durch seine jahrelange Abwesenheit musste er für sie ein Fremder sein. Wie würde sie auf ihn reagieren?
Sollte er mit diesem Sergeant Geschäfte machen? Oder sollte er ihn vom Hof jagen? Eines war sicher, der Mann konnte eine Menge Ärger bedeuten, aber auch eine Menge Geld.
»Keine Angst, mein Freund«, sagte der Soldat freundlich und lächelte. Dabei zeigte er eine makellose Zahnreihe. »Wissen Sie eigentlich, gegen wie viele Befehle ich gerade verstoße, nur weil ich mit Ihnen rede?« Er zog geräuschvoll die Nase hoch und trat einen Schritt zurück. »Aber es ist ok. Ich suche mir eine andere Scheune.« Er lachte. »Davon gibt es ja hier genug.«
Walter schaute skeptisch.
»Was wollen Sie denn mit der Scheune?«
»Was für eine Frage«, sagte der Soldat abschätzig. »Als Lager benutzen natürlich.«
»Und was wollen Sie einlagern?«
Der Amerikaner wurde schmallippig. »Ich glaube, das muss ich Ihnen nicht sagen.«
»Ich würde aber schon gerne wissen, was da in meiner Scheune liegen soll.«
»Das ist verständlich, Walter.«
»Also?«
»Was soll sie denn kosten?«
»Kommt darauf an, wie lange Sie sie benötigen«, sagte Walter und überlegte gleichzeitig, wie weit er gehen konnte, ohne es zu vermasseln.
»Auf unbestimmte Zeit.«
»Hmm. Das ist mir zu vage.« Er kratzte sich am Kinn und tat so, als überlege er. »Ich sage Ihnen was ... es wird bald Winter, und da brauche ich die Geräte in der Scheune nicht wirklich. Aber ich kann sie sonst nirgends unterbringen.« Walter verschwieg dem Amerikaner, dass er weiter außerhalb des Dorfes, beinahe in Vilbel, eine weitere Scheune besaß, die mehr als genug Platz für all seine Gerätschaften bot. Er scheute den Aufwand, die Gerätschaften umzuziehen. »Bis zum Frühjahr gehört die Scheune Ihnen. Ich räume Ihnen ein wenig Platz frei, da können Sie dann Ihre Sachen einlagern. Aber im Frühjahr muss ich wieder drankommen.«
Der Sergeant verzog das Gesicht. »Eigentlich hätte ich die Scheune gerne für mich alleine.«
»Das kostet aber extra.«
»Der Preis spielt keine Rolle.«
»In Ordnung. Bis zum Frühjahr gehört die Scheune Ihnen. Danach sehen wir weiter.«
»Abgemacht. Wie ist Ihr Preis?«
»Zwei Päckchen Lucky Strikes pro Woche.«
Der Soldat pfiff durch die Zähne.
»Das ist teuer, mein Freund.«
»So wie ich die Sache sehe, Sergeant Delany, haben Sie ein krummes Geschäft vor. Und ich nehme an, es ist ein lukratives Geschäft. Und ich will meinen Anteil daran haben. Sehen Sie es auch als Schweigegeld.«
Delany musterte Schulte skeptisch. In seinem Gesicht arbeitete es. Man sah ihm förmlich an, wie er abwog. Dann reichte er ihm die Hand erneut. Diesmal, um das Geschäft zu besiegeln.
»Einverstanden«, sagte er.
Walter ergriff die Hand, und das Geschäft war besiegelt. Er musste ein Grinsen unterdrücken. Delay bemerkte die Zufriedenheit des Deutschen. Er zog Walter an sich heran und sagte leise: »Und wenn du mich verpfeifst, mein Freund … töte ich dich.«
In den Augen des Soldaten konnte Walter sehen, dass dies kein Scherz war.
Als sie die Scheune erreichten, dämmerte es bereits. Aber das Licht war noch ausreichend, sodass Delany die Scheune inspizieren konnte. Der Amerikaner hatte die Fäuste in die Hüften gestützt und schaute sich im Inneren des Holzgebäudes um.
»Könnte reichen«, sagte er abschätzend. Dann deutete er auf ein paar Erntegeräte und sagte: »Wenn wir da hinten ein wenig aufräumen und das ein oder andere stapeln, müsste es passen.«
Walter sagte nichts. Er wusste ja nicht, was der Amerikaner vor hatte. Dieser vermaß mit Schritten das Gebäude und inspizierte jede Ecke.
»Yes«, sagte er schließlich, nickte zufrieden und ging zurück zu Walter, der die ganze Zeit über am Eingang gewartet hatte.
»Ich nehme sie.«
»Ab wann?«
»Passt Ihnen nächster Montag?«
»Der nächste Montag passt mir ausgezeichnet«, sagte Walter und grinste breit, als er an seinen künftigen Reichtum denken musste. Zwei Päckchen Lucky Strikes pro Woche waren ein kleines Vermögen.
»Ich räume Ihnen bis dahin so viel Platz frei, wie ich kann«, versprach Walter seinem Mieter. »Nur eine Frage hätte ich da noch. Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?« Der Sergeant entspannte sich und lachte kurz auf.
»Mein Großvater ist vor vielen Jahren in die Staaten ausgewandert. Er kam aus Braunschweig und hat darauf bestanden, dass wir alle Deutsch lernen. Wir haben mit ihm nur Deutsch gesprochen. Damals fand ich das sinnlos. Aber heute macht es mich unentbehrlich bei der Air Force.«
»Darf ich Sie fragen, warum sie gegen das Vaterland Ihres Großvaters kämpfen und was er darüber denken würde.«
Der Amerikaner lachte viel zu laut, dann hieb er Walter auf die Schulter und sagte: »Er war Jude, mein Freund. Genau wie ich.«
Wie verabredet überließ Walter dem Sergeant die Scheune und versprach hoch und heilig, sie bis zum Frühling nicht mehr zu betreten. Am darauffolgenden Montag überzeugte sich der Amerikaner, ob Walter ihm genug Stauraum freigeräumt hatte.
»Perfekt«, sagte er, nachdem er sich umgeschaut hatte. Er nickte zufrieden, drehte sich noch einmal um die eigene Achse und sagte dann zu Walter, der etwas verloren neben ihm stand: »Besten Dank, mein Freund. Hier ist die Bezahlung für zwei Monate.« Er reichte ihm einen Beutel mit sechszehn Päckchen Lucky Strikes. Walter hatte Mühe, nicht in Jubel auszubrechen. Mühsam beherrscht nahm er den Beutel, als wäre es die Bundeslade, in Empfang. Mit diesem Schatz könnte er sich alles auf dem Schwarzmarkt leisten, was er wollte, und er wusste auch schon, wen er damit beeindrucken würde.
»Ab sofort ist diese Scheune Sperrgebiet«, verkündete Sergeant Delany eindringlich. Er bat Walter mit einer Geste vor die Tür, schloss die beiden Holztore, die krachend zufielen, und montierte ein mitgebrachtes Schloss.
»Und wie komme ich jetzt an mein Werkzeug?«, wollte Walter wissen.
»Nur in meiner Begleitung.«
»Aber …«
»Wir haben einen Deal«, sagte Delany. Dann deutete er auf den Beutel mit den Zigaretten und sagte: »In nächster Zeit musst du nicht arbeiten, mein Freund.«
Er lachte wieder zu laut und schlug Walter auf die Schulter, der diese Kumpanei mit dem ehemaligen Feind wortlos ertrug, wohlwissend, dass er sich an die Abmachung nicht halten würde.
Je näher er an Frankfurt herankam, desto aufgeregter wurde Emil. Er saß in einem klapprigen Zug, von dem er nie gedacht hätte, dass er es aus Berlin herausschaffen würde. Entlang der Strecke hatte er immer wieder das gesamte Ausmaß des Krieges gesehen. Auf dem Land war es nicht ganz so schlimm. Aber sobald sie eine größere Stadt passierten, waren noch überall die Trümmer zu sehen. Auch ein Jahr nach Kriegsende erkannte man, was die Alliierten aus Deutschland gemacht hatten … ein Trümmerfeld.
Emil war nicht wütend auf sie. Er fühlte eigentlich gar nichts für den Feind. Sie haben einfach gewonnen, weil die deutsche Heeresführung ihnen nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Bei dem Gedanken an diese aufgeblasenen Schreibtischtäter in ihren schicken Uniformen, keimte Wut in Emil auf. Von Arroganz durchnässt und ohne auch nur einen Hauch Ahnung, wie es ist in einem Schützengraben zu liegen und um sein Leben zu bangen.
Emil hatte genug Zeit in der Gefangenschaft und auf seiner langen Reise nach Hause, sich seine eigene Meinung zu bilden, die er endlich wieder haben durfte. Er war sich im Klaren darüber, dass viel Unrecht geschehen war. Insbesondere hatte er nie so ganz verstanden, warum an allem die Juden schuld sein sollten. Was mit ihnen geschehen war, löste Unbehagen in ihm aus. Aber was hätte er schon dagegen machen können? Im Großen und Ganzen war er einfach nur froh, dass dieser Krieg endlich vorüber war und er nach Hause durfte. Und entlang der Strecke keimte auch Hoffnung auf. Überall war man mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Die Menschen wehrten sich nicht gegen ihr Schicksal, sie nahmen es an und machten das Beste daraus.
Nach Hause … was erwartete ihn in seinem Zuhause? Und war es das auch wirklich noch, sein Zuhause?
Seine größte Angst galt Lilly. Wie würde seine Tochter auf ihn reagieren? Natürlich dachte er auch an Anneliese. Er befürchtete, es könnte ihr gar nicht Recht sein, dass er noch lebte. Sie hatte bestimmt nicht vier Jahre in Abstinenz auf ihn gewartet. Wahrscheinlich hatte sie ihn schon längst vergessen und sich einen neuen Mann gesucht, der sich um sie kümmerte. Emil war nicht so naiv zu glauben, dass er an seinen Hof zurückkehrte und alles so war, wie er es sich wünschte.
Endlich hielt der Zug mit quietschenden Bremsen und einem Ruck im Frankfurter Hauptbahnhof.
Widerstrebend und aufgeregt zugleich suchte Emil seine Sachen zusammen, die er in einem Seesack mit sich trug. Er trat auf den Bahnsteig und saugte die Atmosphäre auf. Das Gebäude war noch übersät mit Einschusslöchern, aber man konnte erkennen, dass es bald wieder hergerichtet sein würde. Zu wichtig war der Verkehrsknotenpunkt, als dass man ihn nicht schnell wieder aufbauen musste.
Auf dem Bahnhof herrschte viel Betrieb. Emil wurde unsanft aus seiner Starre gerissen, als ihn jemand anrempelte und rief: „Was stehste‘n da so bleed in de Geschend erum, mach disch vom Acker!“
Willkommen zu Hause, dachte er und grinste.
Erst am nächsten Tag gelang es ihm, jemanden zu finden, der ihn ein Stück des Weges nach Berkersheim mitnahm. Als er von dem Laster sprang, der in Preungesheim hielt, bedankte er sich und setzte zum letzten Marsch an. Es waren nur noch wenige Kilometer. Er hatte es nicht eilig, denn die Angst vor dem Wiedersehen war nun kaum auszuhalten. Erst am Nachmittag lief er den Dachsberg hinunter, an dessen Ende sein Hof zu finden war. Die Dämmerung kam über das kleine Dorf im Ulmenrück und legte einen trüben Schleier über das Land.
unabkömmlich