Andreas Eschbach, 1959 in Ulm geboren, studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Softwareentwickler. Als Stipendiat der Arno-Schmidt-Stiftung »für schriftstellerisch hoch begabten Nachwuchs« schrieb er seinen ersten Roman DIE HAARTEPPICHKNÜPFER. Bekannt wurde er durch den Thriller DAS JESUS VIDEO. Mit EINE BILLION DOLLAR (2001), DER LETZTE SEINER ART (2003), DER NOBELPREIS (2005) und zuletzt AUSGEBRANNT stieg er endgültig in die Riege der deutschen Top-Autoren auf. Andreas Eschbach lebt heute als freier Schriftsteller in der Bretagne.
Eine unberührte Welt
Band 3
BASTEI ENTERTAINMENT
eBook-Teilausgabe Band 3
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© 2008 by Andreas Eschbach
und by Bastei Lübbe AG, Köln
Copyright-Einzelnachweis am Ende der jeweiligen Geschichte
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0395-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Bleiben wir noch einen Moment im Hindukusch.
Die folgende Kurzgeschichte ist erstmals im Dezember 2002 erschienen, in der von Michael Nagula herausgegebenen Anthologie Feueratem, die lauter Drachengeschichten enthielt, u. a. von Gisbert Haefs, Bernhard Kegel, Tanja Kinkel, Hanns Kneifel, Kai Meyer und vielen anderen.
Als Michael Nagula mich um einen Beitrag zu dieser Sammlung bat, kam mir zupass, dass ich kurz zuvor die Bekanntschaft eines bekannten Auslandsjournalisten gemacht hatte, der mir eine ungeheuerliche Geschichte anvertraut, ja, mich darum gebeten hatte, sie publik zu machen: die Begegnung mit einem wirklichen Drachen – hier, heute, im 20. Jahrhundert.
Aber bitte glauben Sie jetzt bloß nichts von dem, was ich im vorigen Absatz behauptet habe. Das habe ich nur erfunden. Alles. Ehrlich.
»Drachen?«, wiederholte ich, nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört oder plötzlich angefangen hatte, an akustischen Halluzinationen zu leiden.
Mein Gegenüber lachte. »Merken Sie es? An Ihrer eigenen Reaktion? Das ist es, was ich gemeint habe, als ich sagte, dass es Grenzen dafür gibt, was einem als Wahrheit abgenommen wird, und mag es hundertmal wahr sein. Was nicht sein kann, das darf auch nicht sein. Überschreiten Sie diese Grenze, hört man Ihnen nicht mehr zu. Was Sie sagen, wird einfach ausgeblendet, weil es nicht in das Weltbild passt, auf das wir uns stillschweigend geeinigt haben.«
Ich griff nach dem Weinglas vor mir auf dem Tisch, nur um etwas zu tun, solange meine Gedanken sich zu ordnen versuchten. »Na ja, gut und schön …«, sagte ich, oder so was Ähnliches. »Skandale werden unter den Teppich gekehrt, man redet nicht über Korruption, Konflikte in Gegenden, die keinen Nachrichtenwert haben, bleiben unerwähnt … Aber Drachen, ich bitte Sie!«
Mein Gesprächspartner war ein weitgereister, lebenserfahrener Journalist, den man öfters im Fernsehen sieht und dessen Artikel in den renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt werden. Wenn ich seinen Namen nennen dürfte, wäre das hier nicht einfach eine nette Geschichte, die dem Amüsement des Lesers dienen mag, sondern eine Sensation. Aber er hat mich gebeten, es nicht zu tun, und natürlich halte ich mich daran und erkläre also, dass alles, was ich hier erzähle, reine Fiktion ist, selbstverständlich, nichts als meine pure Erfindung. Womit das hoffentlich abgehakt wäre.
Er lächelte sphinxhaft und winkte dann ab, mit einer jener sparsamen Gesten, an denen man ihn sofort erkennt. »Gerade darauf will ich doch hinaus, verstehen Sie? Skandale, Bestechung, Kriege – das kennen wir alles. Was im Einzelnen los ist, spielt für unser Weltbild keine Rolle. Die Begriffe sind uns vertraut. Es ist etwas, das es unserer Vorstellung nach wirklich gibt. Und das glauben wir auch, wenn wir noch nie in einen Skandal verwickelt worden sind. Auch, wenn wir noch nie bestochen worden sind. Ihre Generation hat auch einen Krieg nie am eigenen Leib erfahren müssen. Gott sei Dank, nicht wahr. Aber Drachen …« Er hielt schmunzelnd inne, und sein Blick wanderte über seine Sammlung von Erinnerungsstücken an seine Reisen, reichverzierte Krummsäbel und zerschlissene Gebetsfahnen an den Wänden, tönerne Gefäße und kleine Jade-Statuetten auf schmalen Borden. »Bei Drachen, da sind wir uns absolut sicher, dass die ins Reich der Märchen gehören. Vielleicht gehören sie da auch hin, das will ich gar nicht in Abrede stellen, aber es gibt sie jedenfalls. Hier. Heute. In unserer Welt. Nicht viele, man muss schon danach suchen, aber es gibt sie. Und das Irrsinnige ist, das ist nicht mal ein großes Geheimnis. Sie würden sich wundern, wie viele Journalisten Ihnen das im vertraulichen Gespräch bestätigen, auch wenn sie den Teufel tun und jemals auch nur ein Wort darüber schreiben würden.«
Kennengelernt hatten wir uns auf einem Verlagsempfang während der Frankfurter Buchmesse. Normalerweise nicht die geeignete Umgebung, um über ein mehr oder weniger beeindrucktes Händeschütteln und einen Small-Talk, mit dem man beweisen will, wie unbeeindruckt man ist, hinauszugelangen, aber trotz all dem und trotz des nicht unbeträchtlichen Unterschieds an Lebensalter und Erfahrungshintergrund war zwischen uns ein Draht da gewesen, der in der Folge zu Briefwechseln, Telefonaten und schließlich dazu geführt hatte, dass ich an diesem Abend, nach einem beeindruckend guten Essen in einem Restaurant, das eigentlich auch ins Reich der Märchen gehört, in seiner beeindruckenden Bibliothek saß und das Gespräch über Gott und die Welt irgendwie auf Drachen gelangt war.
»Wir verstehen uns richtig?«, setzte ich noch einmal an, während ich mein Weinglas wieder absetzte, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Das schien mir jetzt doch zu riskant. »Wenn wir von Drachen reden, meinen wir nicht die, die kleine Jungs im Herbst in den Himmel steigen lassen, sondern die anderen? Die Jungfrauen entführen und denen sieben Köpfe nachwachsen, wenn man ihnen einen abschlägt?«
»Was für Eigenschaften sie tatsächlich haben, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Aber es muss doch etwas bedeuten, dass Sie zu allen Zeiten und bei jedem Volk auf diesem Planeten Legenden über Drachen finden und dass sich alle Beschreibungen ähneln.«
»Mit anderen Worten, in Loch Ness haust wirklich ein Drache.«
»Wer weiß. Vielleicht war es sogar ein Drache, der die ganzen Schiffe im Bermudadreieck hat spurlos verschwinden lassen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Das werden wir niemals erfahren.«
»Weil niemand dabei war«, nickte ich. »Weil es zwar massenhaft Legenden gibt, aber keine Fotos.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich würde mich wirklich besser fühlen mit ein paar Fotos. Oder mit einem anderen Beweis.«
»Vielleicht hat es einen Grund, warum keine Fotos existieren. Es heißt ja, Drachen seien magische Lebewesen.« Er hob die Hand, als befürchte er einen Aufschrei der Entrüstung; übrigens zu Recht. »Was immer das im Lichte unserer naturwissenschaftlichen Weltsicht bedeuten mag, wohlgemerkt. Vielleicht findet eines Tages jemand, dass die psychologische Deutung von Magie nicht die einzig mögliche ist.«
»Ich fürchte, auch dafür wird er irgendwelche Beweise haben wollen«, beharrte ich.
Mein Gegenüber nickte verständnisvoll und erhob sich aus seinem wunderbaren alten ledernen Ohrensessel – um den ich ihn inbrünstig beneide, anbei bemerkt. Er ging die Regale seiner Memorabilien ab und blieb vor einem Stück Marmor stehen, das eiförmig und so lang wie ein Unterarm war und von einer darüber hängenden Rotlichtlampe angestrahlt wurde, deren Licht die feinen, archaischen Kratzmuster darauf zur Geltung brachte. Jetzt erst fiel mir auf, dass dahinter eine gerahmte Karte an der Wand hing, und als er sie abnahm und vor mir auf den Tisch legte, sah ich, dass es eine uralte Karte von Afghanistan war.
Mittlerweile hat man die Umrisse dieses Landes, weiß der Himmel, oft genug in der Tagesschau gesehen. Mich erinnert es immer an ein breitgeklopftes paniertes Schnitzel aus der Dorfgaststätte, mit einem knubbeligen schmalen Fortsatz am rechten oberen Eck. Auf genau dieses Anhängsel legte er den Finger und erklärte: »Der Hindukusch. Eine achthundert Kilometer lange Hochgebirgsregion, dem Pamir-Gebirge und der Himalaya-Hochebene vorgelagert, Wasserscheide zwischen dem Amu Darya Tal und dem Einzugsgebiet des Indus, und im Altertum ein militärisch höchst bedeutsames Hindernis auf dem Weg nach Indien.«
»Ah ja«, machte ich mit dem schlechten Gewissen, das mich in solchen Momenten immer befällt, weil ich dann merke, wie wenig ich in Geografie und Geschichte bewandert bin.
»Wussten Sie eigentlich«, fuhr er mit feinem Schmunzeln fort, »dass der Hindukusch niemals erobert wurde, seit es Afghanistan gibt? Die Russen haben sich die Zähne an diesem Gebiet ausgebissen, und die Taliban haben es erst gar nicht versucht. Und als die Amerikaner hinkamen …« Er zögerte einen Moment, aber doch lange genug, dass ich merkte, wie er sich überwinden musste. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die ich aus den Gründen, die ich vorhin genannt habe, nicht selber schreiben kann. Aber Sie könnten es. Sie könnten mir Ihre Stimme leihen und es klingen lassen wie etwas Ausgedachtes.«
Natürlich war ich neugierig. Natürlich konnte ich nicht widerstehen. Natürlich sagte ich: »Einverstanden.«
»Indscha chub nist«