Lust
Ein Anstandsbuch
Ein Anstandsbuch
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1. Auflage 2015
© 2015 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-137-8
ISBN E-Book: 978-3-99200-138-5
In Erinnerung an Carlos Büchler,
das liebenswerte „Nicht-Ich“
Lektion 1: Alle Lust will Ewigkeit
Lektion 2: Sündenfall im Garten Eden
Lektion 3: Frühaufsteherlebenslusttraining
Lektion 4: Lob des Ganzkörperkondoms
Lektion 5: Perpetuum Sexmobile
Lektion 6: Geschlechtsverkehrshäuslichkeit
Lektion 7: Lolitas Luststäubchen
Lektion 8: Zur Anbandelmetaphysik
Lektion 9: Die Heilige Dreisteifigkeit
Lektion 10: Im Globuligarten der Lüste
Lektion 11: Pränatalgeborgenheitssex
Lektion 12: Doch das Größte ist die Liebe
Wir befinden uns im Jahr 2015 n. Chr. Das Universum rast auseinander, schnell und schneller hinein ins Nichts, alle Dinge werden vom Fortschritt mit- und weggerissen. Alle? Nein! In einem stillen Beamtenwohnwinkel unserer Galaxie (Welt, Europa, Österreich, Graz) hört eine Häuslichkeitsgemeinschaft nicht auf, dem Zeitgeist Widerstand zu leisten.
Meine Hauptvorlesung im transfakultären Schwerpunktfach „Metaphysik und Lebenskunst“, Spezialgebiet: „Existenzialontologie der Lust“, lautet dieses Semester ein wenig auftrumpfend: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Zu Nietzsches Diktum: Doch alle Lust will tiefe, tiefe Ewigkeit.
Als ich nach regelrecht kosmischem Morgengrausen den Hörsaal lustlos betrete, in der Erwartung, dass ich wie üblich ein halbes Dutzend ebenso lustloser Studenten (davon zwei Drittel Studentinnen) antreffen werde, pralle ich zurück. Meine Nerven! Der Hörsaal platzt aus den Nähten, sozusagen, Hundertschaften sind gekommen, begierig zu erfahren, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, obwohl – da bin ich mir tausendprozentig sicher – die jungen Lustmolche da vor mir und rund um mich herum es ohnehin schon wissen: weil nämlich alle Lust Ewigkeit will!
Na schön, da ich kein besonders lustmolchiger Mensch bin, habe ich mir im Recherchevorfeld von meiner Wohnungsnachbarin – ihres Zeichens Beamtengattin, früh verwitwet, im Lustgeschäft tätig, um ihre Pension aufzubessern (Telefonsex, aber bitte, in Ehren!) – eine Liste darüber anfertigen lassen, welche Themen in einer Vorlesung zur Existenzialontologie der Lust obligatorisch abgehandelt werden müssten. Auf dem Zettel, den sie mir dann heute Morgen unter meiner Türe durchgeschoben hat, stand zu lesen: Gepiercte Zungenküsse. Austausch von intimen Körperflüssigkeiten. Multiple Oralorgasmen. Latexverzückungen & Bondage quickies. One-Night-Ständer. Vaginalwellnesspackungen. Analwellnesspackungen. Härtere Sachen: Brustklemmen, Hodenzangen, Schamlippentaser … An dieser Stelle habe ich zu lesen aufgehört – mir wurde bereits schwarz vor Augen –, aber nicht ohne mir eine mentale Notiz zu machen: Herzlichen Dank an meine Nachbarin in Form eines kleinen Geschenks, vielleicht ein Strickset für norwegische Winterpullover mit Rentiermotiven (meine Nachbarin strickt beim Telefonsex leidenschaftlich gerne komplizierte Muster).
Was tun? Während ich mich durch die brikettartig zusammengepresste Masse der Lustmolche rundum quetsche, fasse ich den Entschluss, mein hochmetaphysisches Lustthema transfakultär locker anzugehen, am besten von Anfang an und mit buddhistischer Heiterkeit (das musste naturgemäß schiefgehen, und zwar wegen meines katholischen Ernstes, mit dem man den jungen Leuten gar nicht erst zu kommen braucht).
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor etwa 13,4 Milliarden Jahren, sagt uns die Wissenschaft, ist etwas passiert, das, hätte es jemand hören können, an eine Explosion gemahnt hätte, sagen wir, an die eines superbamstigen Feuerwerkskörpers: Rawumm! Dieses Ereignis, das eigentlich ein Nichtereignis war – es gab ja nichts, in dem sich schon etwas hätte ereignen können, nicht wahr? –, wurde von der Wissenschaft „Urknall“ oder „Big Bang“ getauft. Was im Moment dieses Knalls geschah, vermag niemand zu sagen, weil ja der Knall gar keiner gewesen sein kann, war doch niemand da, ihn zu hören, es sei denn der liebe Gott höchstpersönlich, von dem anzunehmen, er habe Ohren, heute allerdings ein wenig altmodisch anmutet.
Sicher ist freilich eines: Nach dem Knall, der keiner war, hat die Welt zu existieren begonnen, und alles war wahnsinnig heiß und flog rasend schnell auseinander. Und das ganze heiße Gebräu hörte nicht auf, immer schneller zu werden.
Und so ging’s dahin, es kühlte dann auch ab. Könnte sein, die Lust des Anfangs war unbeschreiblich heiß, heiß, heiß, und was uns heute noch heißmacht, das ist dagegen bloß – das lässt sich gar nicht anders sagen – ein armselig laues Frühlingslüftchen.
Egal, alles ist, wie es ist, und es ist schon einigermaßen deprimierend. Es gibt laut neuestem Forschungsstand Milliarden Galaxien, womöglich vollgepackt mit Lust, aber je weiter entfernt sie von uns sind, umso schneller rasen sie von uns weg, weiß der Teufel, wohin und wohinein! Und so werden wir immer einsamer, und was am Ende sein wird, weiß niemand. Vermutlich eine Art von Nichts aus allem. Alles ausgebrannt. Kältetod.
Am Ende wird es keine Lust mehr geben, und auch keine Unlust mehr. Und darin liegt dann wieder ein Quäntchen Trost, nicht wahr? Jedenfalls, wenn man an die Sache buddhistisch herangeht: die Heiterkeit des Nichts etc. pp. Aber es hilft nichts. Den Kältetod überlebt niemand; ihn überlebt kein Leidensatom, kein Schmerzzucker, kein Liebeskummer.
Gewiss, bis dahin ist es noch weit, doch schon jetzt stellt sich die Frage für diejenigen, die bis hierher aufgemerkt haben: „Und woher kam die Lust?“ Aus dem Leben, sagt die Wissenschaft. „Und woher kam das Leben?“, fragt der naive Verstand, der gar nicht naiv ist, geschweige denn dumm. (Allerlei wissenschaftliches Erklärungsgemurkse über die Fakultäten hinweg.) Vielleicht ist es ja so, dass gewisse Dinge aus sich selbst entstehen …
Irgendwo muss das Leben seinen Ursprung haben, ich finde, am besten im lieben Gott, der aus sich selbst entstanden ist, und irgendwie kam auch die Lust dazu, und wo wäre der Anfang der Lust besser zu suchen als dort, wo alles anfängt, nämlich beim Anfang.
Ergo: Gott ist die Lust, und die Lust ist Gott.
Jedenfalls lehren uns das die romantischen Philosophen seit eh und je: Die Lust war schon immer da, sie ist der Grund des Grundes dafür, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Ohne Lust kein Sein, ohne Sein kein Seiendes, und ohne Seiendes nur lustlos ödes Nichts. Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, nicht wahr? Und das Wort, das Gott war, war reine, schattenlose, unschuldige Lust, weder gut noch böse, nur – GÖTTLICH.
Alles andere, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist abgeleitet, die Macht, die Energie, das Atom, der Geist, der auseinanderfällt und sich in sich selbst zu spiegeln beginnt. Daher Nietzsches großes Wort: „Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“
Und die Zeit? Die Zeit ist eine Tochter der Lust. Es gefällt der Lust, sich zu vervielfältigen, sie legt sich ihren eigenen Garten an, den Garten der Lüste, in dem die ersten Menschen wandeln. Adam und Eva sind zeitlose Geschöpfe und dabei in die Zeit gefallene Wesen der Lust. Das ist ihr Verhängnis: ihr Elend und ihre Größe.
Alles, was Lust ist, lebt den Zwiespalt, lebt ihn aus und stirbt daran. So entsteht das Leid, als Wunde der Zeit, welche die Endlichkeit, den Krieg der Interessen und die Sterblichkeit mit sich führt. Die Lust indes will zurück ins Paradies. Immer wieder zurück. Am Ende, wenn die Lust weise geworden ist, will sie immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues.
Und der Fortschritt? Er ist ewiger Mangel und Makel einer Schöpfung, die in die Zeit gefallen ist und sich nun, als das in die Zeit gefallene Ewige, immerfort – und immerfort vergeblich – vollenden möchte. Alle Lust, die unter dem Zeichen des Fortschritts gedeiht, hat sich dem Tod verschwistert. Darin gründet ihr Böses. Der Fortschritt ist, je länger er dauert, umso mehr des Teufels Beitrag zu Gottes Werk, und die Welt ist, sobald sie der Welt verfällt – The Devil’s Party.
Liebe Kolleginnen und Kollegen …
An dieser Stelle wurde mir klar, dass ich mich verstiegen hatte. Ich eiferte gleichsam von meinem metaphysischen Katheder herab. Man hörte mir noch zu, aber wie einem, den man schon abgeschrieben hatte. Seitdem ich der Lust attestierte, verdorben zu sein, wuchs unter meiner Zuhörerschaft das Verlangen nach Verdorbenheit. Lauter Lustmolche, ha! Ich konnte es regelrecht spüren, wie es da rund um mich wetzte, äugelte und schwitzte, wie es sich versteifte und einander entgegenschwoll.
Also Schluss, leben Sie wohl, bis zum nächsten Mal!
Und hatten die Jungen nicht auch recht, dass sie, wenn die Welt The Devil’s Party war, dann gleich selber Party machen wollten? Man muss die Lust nehmen, die man auf Erden kriegen kann, denn mehr Lust ist da nicht, oder?
Also Schluss.
Ich will nicht sagen, dass ich ein Partytiger bin, aber einmal in der Woche ist bei mir zu Hause Partytag. An diesem Tag kommt die Langhaarhäsin Hasi mit ihrem Herrchen Hansi, meinem zweiten besten Freund, zu Besuch, um sich mit meinem Vollmops Paul zu vergnügen.
Da Paul in erotischen Belangen überaus etepetete ist, ist der Partytag ein Tag der häsischen Lust, aber bitte, im Rahmen vollmöpsisch-sittlicher Zweisamkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob ein solches Arrangement für Hasi, gegeben ihr häsisches Naturell, völlig befriedigend ist, doch was soll’s? Die beiden verbindet ein tieferes Band der Sympathie als bloß – wie es heißt – die Chemie.
Die Menschen wollen ja heute, dass „die Chemie stimmt“. Eine grausliche Ausdrucksweise, die bestenfalls damit endet, dass die, deren Chemie stimmt, „es miteinander treiben“, und zwar mit der armselig lüsternen Hoffnung, beidseitig bei einem multiplen Orgasmus zu enden.