Hanser Berlin E-Book
Jane Gardam
Ein untadeliger Mann
Roman
Aus dem Englischen
von Isabel Bogdan
Hanser Berlin
Die englische Originalausgabe erschien 2004
unter dem Titel Old Filth bei Chatto & Windus in London
ISBN 978-3-446-25017-8
© Jane Gardam 2004
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © gettyimages
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Auch Rechtsanwälte, glaube ich, waren einst Kinder.
(Charles Lamb. Inschrift an der Statue eines Kindes
im Inner Temple Garden in London)
Den Raj-Waisen und ihren Kindern
Der Lunchraum für die Prominenz in der Honourable Society of the Inner Temple. Licht fällt durch die hohen Fenster auf den polierten Tisch, auf Silber und Glas. Eine Reihe Richter und zugelassener Anwälte beendet gerade das Mittagessen. Ein Stuhl ist eben frei geworden, und die Juristen sehen ihn an.
The Queen’s Remembrancer: Ich nehme an, wir wissen alle, wer dort saß?
Junger Richter: Keine Ahnung.
Älterer Richter: Schien berühmt zu sein.
Rechtsberater des Magistrats: Das war Old Filth.
JR: Was? Der muss doch schon seit Jahren tot sein. Ein Zeitgenosse von F.E. Smith.
RM: Nein. Das war Old Filth. Großer Anwalt, Richter und ein bisschen ein Schlaumeier. Von ihm soll der Ausdruck FILTH kommen – Failed In London Try Hong Kong. Er hat es in Hongkong versucht. Bescheidener, netter Kerl.
ÄR: Harter Arbeiter. Umweltschutzgesetz. Filth über Umweltverschmutzung.
RM: Nomen est omen.
ÄR: Alter Witz. Er muss ja bald hundert sein.
RM: Noch lange nicht. Er ist noch gar nicht so lange im Ruhestand. Sieht aber sehr alt aus.
QR: Geradezu durchscheinend. Man konnte das Licht durch ihn durchsehen.
RM: Aber er sieht großartig aus. Und ist immer noch voll da.
QR: Er regelt hier irgendetwas mit seinem Testament. Betty ist auch da, sie lebt auch immer noch. Sie hatten ein schönes Leben. In Fernost. Und sind reich. Haben auf sich aufgepasst.
RM: Nie ein Fehltritt. Sehr beliebt, der alte Filth.
QR: Nur bei Veneering nicht.
ÄR: Ja, das war komisch. Passt überhaupt nicht.
QR: Er meint es doch sonst mit allen gut. Ob es da irgendwelche Geheimnisse gibt?
ÄR: Bei Old Filth?
QR: Schon erstaunlich, dass er nicht einfach langweilig ist.
RM: Ja. Aber ist er nicht. Raj-Kind, Privatschule, Oxford, Kronanwalt – aber kein Langweiler. Die Frauen waren verrückt nach ihm.
QR: Kaffee? Oder müssen Sie weiter?
RM: Ja. Zehn Minuten. Mein Clerk packt schon den nächsten Fall zusammen. Er schimpft bestimmt mit mir und klopft auf seine Uhr.
QR: Ja, hier ist nicht Hongkong. Aber es war nett, den alten Quastenflosser zu sehen.
RM: Das stimmt. Können wir noch unseren Enkeln von erzählen.
Er war sagenhaft sauber. Geradezu ostentativ sauber. Der Rand seiner alten Fingernägel war reinweiß. Die wenigen Haare unter seinen Fingerknöcheln waren immer noch golden und wirkten stets wie frisch schamponiert, ebenso wie sein lockiges, immer noch rötlich braunes Haupthaar. Seine Schuhe glänzten wie Kastanien. Seine Kleidung war immer frisch gebügelt. Er hatte die Eleganz der zwanziger Jahre, denn seine Kleider, wie auch immer sie bei näherer Betrachtung aussahen, passten zu ihm. Stets ein viktorianisches Seidentuch in der Brusttasche. Stets gelbe Baumwoll- oder Seidensocken von Harrods; manch ein Stück, das er noch aus dem fernen Osten hatte, war immer noch perfekt. Seine Haut war rein und wirkte bei schlechter Beleuchtung immer noch jung.
Seine Kollegen aus der höheren Anwaltschaft nannten ihn Filth, und das war durchaus nicht ironisch gemeint. Er galt als Ursprung des alten Witzes Failed In London Try Hong Kong. Es hieß, er habe die Londoner Gerichte als sehr junger, sehr armer Mann in einer spontanen Laune kurz nach dem Krieg verlassen und sei in Hongkong von Anfang an ungeheuer erfolgreich gewesen. Aber weil er ein bescheidener Mann sei, hieß es, bezeichne er sich selbst als Parvenü, als Betrüger und Luftikus.
Dabei war Filth gar nicht der Typ, der Witze machte, er war in Bezug auf seine Arbeit durchaus nicht bescheiden, und er gab selten, und wenn, dann höchstens in Extremsituationen, irgendwelchen Launen nach. Aber er wurde auch noch Jahre, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, geliebt, bewundert und freundlich belächelt. Man sprach über ihn.
Jetzt ging er auf die achtzig zu und lebte allein in Dorset. Seine Frau Betty war tot, aber zu Hause plauderte er immer noch häufig mit ihr. Er hatte einen wachen Geist und wache Augen und war ein reizender Mensch. Immer gewesen. Ein Mann, dessen vornehmes Leben gradlinig und glücklich verlaufen war. In seinem Haus roch es nicht nach Alter. Er war reich, und er ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das Haus und er selbst sauber gehalten wurden, gefüttert und gewaschen von Bediensteten, wie es immer gewesen war. Er wusste, wie man Angestellte behandelte, und sie blieben über Jahre bei ihm.
Betty hatte ebenfalls ein gutes Händchen mit Angestellten gehabt. Sie war ebenso wie Old Filth in der Region geboren, die die Amerikaner den Orient nannten und die Britische Oberherrschaft den Fernen Osten. Sie waren sich ihres Standes bewusst, aber unprätentiös und beliebt.
Nach Bettys Tod hörte Old Filth auf zu kokettieren. Sein Leben stürzte ein. Er wurde umständlicher. Er begann, zunächst langsam, die Deckel von vergangenen Ereignissen zu heben, die er als vernünftiger Mann mit vernünftigen und gebildeten Freunden (er war Anwalt der Krone und Richter gewesen) bislang geschlossen gehalten hatte.
Sein Erfolg als Anwalt in Hongkong war so phänomenal gewesen, weil er entspannt, beherrscht, fleißig und talentiert war. Seine Karriere war in dem Moment in Gang gekommen, als die Straits-Chinesen anfingen, ihm das Mandat zu erteilen. Aus seiner Kindheit in Malaya war ihm eine Vertrautheit mit asiatischen Sprachen geblieben, außerdem empfand er auch eine gewisse Nähe zur asiatischen Seele. Wenn Old Filth Malaysisch sprach, oder (etwas weniger eloquent) Mandarin, hörte man eine unerwartete Stimme. Chinesische, malayische und bengalische Anwälte hatten zwar oft ebenfalls in Oxford und an den Inns of Court studiert, wurden aber allgemein für nicht direkt genug gehalten. Filth – oder inzwischen Old Filth, und seit er im Ruhestand war, oft sogar Good Old Filth – hatte sie allerdings als vollkommen geradlinig und nach seinem Geschmack empfunden.
Sein ganzes Leben lang hatte er chinesische Werte hochgehalten: die Höflichkeit, die plötzlichen Seitenhiebe, die unbedingte Gastfreundschaft, die Freude am Geld, die Schicklichkeit, die Wertschätzung des Essens, die Diskretion, die Cleverness.
Er hatte eine Schottin geheiratet, die in Peking geboren war. Sie war etwas stämmig und burschikos, hatte die breiten Schultern von Lanarkshire und große Hände, aber sie sprach fließend Mandarin und fühlte sich in den chinesischen Sitten und Gebräuchen sehr viel mehr zu Hause als auf ihren seltenen Besuchen in Schottland. Ihre Leidenschaft für Schmuck war chinesisch, sie fuhr mit ihren starken schottischen Fingern auf den Straßenmärken von Kowloon durch die Tabletts mit Jade wie durch Strandkiesel. »Wenn du das machst«, sagte Old Filth manchmal zu ihr – da waren sie noch jung, und ihre Anwesenheit war ihm noch nicht selbstverständlich geworden –, »sind deine Augen beinahe mandelförmig.« »Arme, alte Betty«, sagte er nun zu ihrem Geist im Sessel in ihrem Haus in Dorset, wo sie sich zur Ruhe gesetzt hatten und wo sie gestorben war.
Warum eigentlich Dorset? Das wusste niemand. Vielleicht irgendeine alte Familientradition. Filth sagte, er möge den Rest von England nicht, Betty, es sei ihr zu kalt in Schottland. Von Wales hielten sie beide nichts.
Aber wenn es je ein altes Paar gegeben hatte, das für einen Ruhestand als Expats in Hongkong gemacht zu sein schien – Mitglieder im Cricket Club, im Jockey Club, treue Nutzer der englischen Leihbücherei, Stütze der St. Andrew’s Church und der St. John’s Cathedral –, dann waren es Filth und Betty. Leute, die sich immer Angestellte würden leisten können (Filth war steinreich), die in einem Haus auf dem Peak leben würden, die jeden Freund eines Freundes eines Freundes, der die Kronkolonie besuchte, stets herzlich willkommen heißen und bewirten würden. Wer an Betty dachte, sah sie an ihrem runden Rosenholztisch sitzen, sich schnell vergewissern, ob etwa ein Teller leer war, und mit dem kleinen Glöckchen klingeln, mit dem sie die hinterhältig lächelnden Mädchen in identischen, prächtigen Cheongsams rief. Old Filth und Betty waren durch und durch Kosmopoliten, und sie waren eine Zierde auf den Trauerfeiern für ihre alten Freunde in der Kathedrale, Engländer wie Chinesen. In den letzten Jahren hatten diese Todesfälle sich wirklich gehäuft.
War es womöglich »das Pfund«, das sie nach Dorset gezogen hatte? Der Gedanke, in Hongkong eines Tages von einer Pension leben zu müssen? Aber der Teil von Dorset, den sie sich ausgesucht hatten, war keineswegs kostengünstig. Es war bekannt, dass Betty eigenes Geld hatte, und Filth hatte immer munter behauptet, er hätte es so lange wie möglich hinausgezögert, Richter zu werden, damit er nicht von einem Gehalt leben musste.
Und sie hatten keine Kinder. Keine Verpflichtungen. Niemanden, dessentwegen sie nach England hätten zurückkehren müssen.
Oder war es – das war am wahrscheinlichsten – das Ende des Empire gewesen? Das Jahr 1997 rückte näher. Konnten sie den Gedanken nicht ertragen, dass die Barbaren kommen würden? Die ihnen inzwischen unbekannten, aber sicher veränderten Festlandchinesen, deren Großeltern die kleine Miss Betty als Baby mit weichem Malzgelee gefüttert und ihr furchterregende Märchen erzählt hatten?
Filth und Betty hatten keinen Bedarf an Unbekanntem, und schon fünf Jahre bevor sie Hongkong verließen, hörte man kaum noch Englisch in den Geschäften und Hotels, und wenn, dann wurde es nicht mehr so gut gesprochen. Viele Engländer und Chinesen aus ihrem Bekanntenkreis waren bereits nach London oder Seattle oder Toronto gegangen und viele Kinder auf Internate geschickt worden. Die elegantesten Villen auf dem Peak waren verriegelt und verrammelt, und bei Bettys Lieblingsjuwelier hoben die jungen Mädchen, die den ganzen Tag hinter dem Tresen saßen und Perlen aufzogen und die immer noch aussahen wie unter sechzehn, obwohl Betty sie schon seit über zwanzig Jahren kannte, jetzt etwas langsamer den Blick, wenn Betty die Glocke an der gepanzerten Tür klingeln ließ. Sie hatten immer noch das fest installierte Lächeln im Gesicht, aber irgendwie hatten sie nicht mehr ganz so schöne Steine für sie. Die Chinesinnen, die Betty kannte, hatten diese Schwierigkeiten nicht.
Also waren Filth und Betty plötzlich weg gewesen, für immer verschwunden aus den himmelhohen, glitzernden Vorhängen aus Licht, leuchtendem Gold, Zartgrün und Rosé, von den geschäftigen Wassern des großartigsten Hafens der Welt und dem ewigen Schauspiel ein- und auslaufender Schiffe aller Art: Dschunken und Ölfrachter, Privatyachten wie Schwäne, und die tröstlichen kleinen flaschengrünen Star Ferries, die den ganzen Tag und einen Großteil der Nacht hindurch nach Kowloon und zurück tuckerten. Zugelassen für 319 Personen. Filth hatte die Gewissheit dieser 19 immer geliebt.
Weg waren sie also, weit weg von ihren Freunden und über siebzig, in einem Haus tief in den Donheads an der Grenze zwischen Dorset und Wiltshire, einem alten, niedrigen Steinhaus, das vom Tor aus nicht zu sehen war. Eine holprige, schmale Einfahrt führte in Kurven zum Haus hinauf und außer Sicht. Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und blickte über Wälder mit sämtlichen Sorten und Farben englischer Bäume hinweg, und ganz hinten am Horizont war das langgestreckte, kalksteinweiße und von Wolkenschatten gesprenkelte Hügelland zu erkennen. Kein Ort auf der Welt ähnelt Hongkong oder dem Fernen Osten weniger.
Das Haus war allerdings nicht so abgelegen, dass ein Arzt in einigen Jahren vorschlagen würde, dem Krankenpflegedienst zuliebe näher an die Zivilisation zu ziehen. Eine halbe Meile die hügelige Straße hinauf lag ein Dorf, und eine halbe Meile in die andere Richtung hinauf – ihre Einfahrt lag in einer Senke – lagen eine Kirche und ein Laden. Zwischen den Bäumen waren noch weitere Häuser verteilt. Es gab sogar ein direktes Nachbarhaus, dessen Einfahrt neben ihrer den Hügel hinaufführte, dann aber abzweigte. Sie verschwand, ebenso wie ihre. Sie wohnten also abgeschieden, aber nicht von der Außenwelt abgeschnitten.
Und es ging gut. Dafür sorgten sie schon. Betty war die Sorte Mensch, die beschlossen hatte, dass das Ende ihres Lebens gut laufen würde, und Filth hatte Betty; somit hatte er keinerlei Befürchtungen, dass irgendetwas nicht funktionieren könnte. Sie veränderten sich natürlich. Sie gaben vieles auf. Sie gingen nur noch selten aus. Betty schrieb viele Briefe. Sie konzentrierten sich auf ihre Zufriedenheit und auf das Gefühl, in ihrem erfolgreichen Leben geborgen zu sein. Filth hatte über seine Fälle immer gesagt: »Ich bin das Vergessen geübt.« Er sagte: »Wie sollte ich sonst funktionieren?« Fakten, Erinnerungen, der Schmerz des Lebens – oder chaotischer Lebensumstände – mussten vergessen werden. Filth hatte Menschen zum Tode verurteilt. Hatte miterlebt, wie Unschuldige verurteilt wurden. Als Kronanwalt schätzte er, dass die Hälfte seiner Fälle zu falschen Urteilen geführt hatte. In Hongkong lebten die Richter in einer Enklave von Palästen hinter Tag und Nacht bewachten Stahltoren.
In den Donheads fühlten sie sich hinter dem Schloss ihrer altmodischen Farmhaustür sicher, die nicht versehentlich nur angelehnt sein konnte. Betty kümmerte sich um den Garten, Filth las Thriller und Biographien und werkelte dann und wann ein bisschen in seinem Schuppen herum. Er bewahrte seine Richterperücke in einer ovalen schwarz-goldenen Blechdose auf dem Kaminsims auf, sie sah aus wie eine graue Katze in einem Korb. Zur rechten Zeit, als sich außer Betty niemand mehr darüber lustig machen konnte, verlegte er sie in seinen Kleiderschrank zu den schwarzen Seidenstrümpfen und den Schnallenschuhen. Die schwarze Kappe hatte er gar nicht erst mit nach England gebracht.
Betty nähte. Oft betrachtete sie stundenlang die Bäume. Einmal in der Woche fuhren sie in ihrem bescheidenen Auto zum Supermarkt in Shaftesbury. Für die schwereren Arbeiten im Garten kam ein Gärtner, und viermal die Woche kam eine Frau aus einem der umliegenden Dörfer und machte sauber, kochte und kümmerte sich um die Wäsche. Betty sagte, Hongkong mache Ausländer unfähig, ihre eigene Wäsche zu waschen. Nach Bettys Tod arbeiteten der Gärtner und die Zugehfrau weiterhin für Filth. Der disziplinierte Charme, der Filth sein Leben lang ausgezeichnet hatte, hatte es gut überstanden.
Jedenfalls hatte es den Anschein. Im Rückblick war Filth jedoch bewusst, dass er hinter seiner äußerlichen Abgeklärtheit psychisch zusammengebrochen war, und dass ein psychischer Zusammenbruch bei jemandem, der die Schauspielerei verinnerlicht hat (wie etwa ein Kronanwalt), unsichtbar sein kann. Für den Betroffenen ebenso wie für alle anderen.
Und dies – das Ereignis, das er im Nachhinein als den Beginn der Aufklärung betrachtete – geschah zwei Jahre später an Weihnachten. Es begann mit der Zugehfrau.
Sie schloss sich selbst die Tür auf und fing schon an zu reden, bevor sie auch nur über die Schwelle war. »Also wirklich«, sagte sie, »was ist denn hier los, Sir Edward? Man bekommt ja alles erst mit, wenn es schon passiert ist. Die Nachbarn sind wohl ausgezogen, hier direkt nebenan. Jedenfalls ist in der Einfahrt alles voller Umzugswagen, und sie schleppen jede Menge Zeug rein. Angeblich ebenfalls ein Anwalt aus Singapur, wie Sie.«
»Hongkong«, korrigierte Filth, wie immer.
»Dann eben Hongkong. Ich nehme an, die werden eine Zugehfrau brauchen, aber da haben sie Pech gehabt. Machen Sie sich keine Sorgen, mir geht es hier gut. Ich kann denen aber jemanden vermitteln, falls sie nachfragen. Ich habe genug zu tun.«
Ein paar Tage später erfuhr Filth im Dorfladen den Namen des neuen Nachbarn. Es war, wie die Zugehfrau gesagt hatte, in der Tat der eines anderen Anwalts aus Hongkong, und es war der Name des einzigen Menschen in seinem Berufsleben, oder auch in seinem Privatleben, den Filth jemals wirklich verabscheut hatte. Es war viel darüber spekuliert worden, und es hatte den normalerweise eher zugeknöpften Filth nicht einmal geschert, aber dieser Mann hatte viele Jahre lang auf ihn gewirkt wie Gift aus den Mäulern chinesischer Drachen.
Das Gleiche galt umgekehrt auch für die Wirkung des alten Filth auf Terry Veneering.
Betty hatte nie ein Wort darüber verloren. Hatte sich herausgehalten. Sich zurückgezogen, geschwiegen. Filths Clerk und die anderen Anwälte empfanden die Feindschaft als eine geradezu chemische oder physische Angelegenheit. In Hongkong standen die beiden unter Beobachtung der gesamten Anwaltschaft. Old Filth, der charmante, weise alte Filth, und der draufgängerische Veneering stritten sich vor Gericht nicht einfach, sondern sie spuckten Gift. Sie kreuzten nicht die Schwerter, sie gingen mit Krummsäbeln aufeinander los. Für Old Filth verkörperte Terry Veneering all das, was die britische Herrschaft dieser himmlischen Kolonie falsch machte – er war ein Emporkömmling, arrogant, aufbrausend, laut, zynisch und gewöhnlich. Und ein viel zu guter Spieler. Ohne Leute wie Veneering – wer weiß? Veneering behandelte die Chinesen wie Luft, protzte mit übertrieben herrschaftlichem Verhalten, stolzierte bei offiziellen Anlässen in Schwarz und Gold herum, schmeichelte sich beim Gouverneur ein, trank zu viel. Vor Gericht misshandelte er seine Kontrahenten nachgerade. Einmal, als sie beide noch einfache Anwälte waren und mit einem nicht enden wollenden Fall um ein Mietshaus auf einem ehemaligen chinesischen Friedhof beschäftigt waren (das Haus warf eigenartigerweise keinen Gewinn ab), hatte Veneering Tage damit zugebracht, primitiven Volksglauben zu verhöhnen. Jedenfalls sagte Old Filth das vor Gericht und außerhalb. Darüber, was Veneering über Old Filth sagte, zog er keine Erkundigungen ein, aber die Abneigung war wechselseitig und überbordend. Betty konnte es schon nicht mehr hören.
Veneering kam mit allem durch, knurrte Filth. Er stolzierte auf seinen dicken Beinen durch die Kolonie wie Goliath und gab auf Partys fürchterlich an. Bei einem königlichen Staatsbesuch prahlte er mit seinem Jungen in Eton. Später ging es dann ständig um seinen Jungen in Cambridge und dann um seinen Jungen im Garderegiment. »Unerträglich«, schimpfte Filth. Betty sagte: »Ach, still, still.«
Jetzt war Filths erster Gedanke: Gott sei Dank ist Betty nicht mehr. Sein zweiter Gedanke war, dass er würde umziehen müssen.
Aber das Haus nebenan war ebenso unsichtbar wie Filths, der Garten hinter den langen Tannenreihen versteckt, die zwischen ihren beiden Einfahrten wuchsen. Diese Bäume wurden permanent breiter und höher, und selbst als alle anderen Bäume die Blätter abwarfen und es Winter wurde, war der neue Nachbar weder zu sehen noch zu hören.
»Er ist Witwer und lebt allein«, sagte die Zugehfrau. »Seine Frau war Chinesin.«
Old Filth fiel wieder ein, dass Veneering eine Chinesin geheiratet hatte. Sonderbar, dass er das vergessen hatte. Warum erfüllte ihn das mit so einer Mischung aus Hass und Selbstgefälligkeit – fast schon Erleichterung? Jetzt erinnerte er sich auch wieder an die Frau, wie sie immer nach unten geschaut hatte, und an ihre seltsam großen, schwer hinabhängenden Ohrringe. Er erinnerte sich an sie auf der Rennbahn, in einem leuchtend gelben Seidenkleid, neben Veneering – einem großen, groben, goldenen Kerl, sicher eins neunzig groß, der sich bemühte, mit seiner gepressten Stimme nach englischer Privatschule zu klingen.
Mit diesem Bild im Kopf nickte Old Filth ein und staunte über die Deutlichkeit der dreißig Jahre alten Erinnerung, wo doch das, was gestern war, heute schon im Dunkeln lag. Er war jetzt beinahe achtzig. Veneering war etwas jünger. Nun ja, sie konnten ja jeder in seiner Ecke bleiben. Sie brauchten einander nicht zu begegnen.
Das taten sie auch nicht. Das Jahr verging, und dann noch eins. Ein Freund aus Hongkong – ein junger Bursche um die sechzig – besuchte Filth und sagte: »Ich glaube, der alte Terry Veneering wohnt hier irgendwo in der Nähe. Haben Sie ihn schon getroffen?«
»Er wohnt nebenan. Nein. Nie.«
»Nebenan? Mein lieber Freund!«
»Wahrscheinlich wäre ich besser weggezogen.«
»Und Sie meinen, Sie haben ihn noch gar nicht …«
»Nein.«
»Und er hat keine … Geste gemacht?«
»Christopher, Sie haben wohl ein schlechtes Gedächtnis.«
»Nun ja, ich wusste natürlich, dass Sie … dass Sie in dieser Hinsicht beide etwas eigensinnig waren, aber …«
Old Filth begleitete seinen Freund noch bis ans Tor. Daneben lag Veneerings Tor, überwachsen von alten Eiben. Am Tor hing ein Stück Regenrinne für die Morgenzeitung. Es war identisch mit dem, das seit Jahren an Filths Tor hing. »Er hat mir das mit der Regenrinne nachgemacht«, sagte Old Filth. »Er war noch nie besonders originell.«
»Ich könnte ja mal bei ihm vorbeigehen«, sagte Christopher.
»Wenn Sie das tun, brauchen Sie bei mir nicht mehr anzukommen«, sagte Filth höflich.
Im Auto dachte der Freund über das Mysterium nach, welche Überzeugungen man bis ins Greisenalter behält, und wie klug es von ihm gewesen war, in Hongkong zu bleiben.
»Wollen Sie mich nicht mal besuchen kommen, Eddie?«, fragte er aus dem Autofenster heraus. »Zum Beispiel zu Weihnachten? Es hat sich nicht viel verändert, es ist immer noch so wie sonst nirgends auf der Welt.«
Aber Filth sagte, Weihnachten gehe er nie aus dem Haus. Er fahre nur mit dem Taxi zum Lunch ins White Hart in Salisbury. Guter Laden. Keine Papierhütchen, keine Luftschlangen.
»Ich erinnere mich an Betty mit Luftschlangen im Haar, und mit ihren Perlen und ihrem Goldschmuck. In Hongkong.«
Aber Filth bedankte sich, lehnte ab und winkte ihm hinterher.
Als Filth am Weihnachtsmorgen auf das Taxi wartete, das ihn zum White Hart bringen sollte, dachte er wieder an Christopher. Er schaute aus einem Fenster, dessen Läden schon fast zugeschneit waren. Es schneite, seit er fünf Stunden zuvor den Schlafzimmervorhang zur Seite gezogen hatte. Große, fest entschlossene Flocken. Sie fielen und fielen. Sie tanzten. Sie fesselten ihn. Nach einer Weile hätte er nicht mehr sagen können, ob sie sich nach oben oder nach unten bewegten. Er dachte an die Straße am Ende seiner Einfahrt und die tiefe Senke dort und fragte sich, ob das Taxi es wohl schaffen würde. Um Viertel nach zwölf dachte er, er könnte mal anrufen und nachfragen, aber er wartete noch bis halb eins, denn er wollte keine unnötigen Umstände machen. Das Telefon war tot.
»Ah«, sagte er. »Ha.«
Er hatte noch Mince Pies und einen Kochschinken. Einen guten Tropfen irgendwo. Er würde schon klarkommen. Aber schade war es. Mit der Tradition zu brechen.
Er stand da und starrte die Weihnachtskarten an. Es waren schon wieder weniger als letztes Jahr. An Geschenken hatte er nur ein einziges bekommen, von seiner Cousine Claire. Immer das Gleiche, zwei Stofftaschentücher. Das war mehr, als er ihr schickte, aber immerhin hatte sie die Perlen bekommen. Er musste ihr mal Blumen schicken. Er nahm eine große, glänzende Karte in die Hand und las: The Ideal Tailor, Century Arcade, Star Building, Hongkong wünscht seinen geschätzten Kunden fröhliche Weihnachten. Jahr für Jahr. Ohne Ausnahme. Die Anzüge hatte er immer noch. Zwanzig Jahre alt. Im Sommer trug er sie noch manchmal. Schneeflocken tanzten um ein chinesisches Pfahlhaus. Rote Schriftzeichen. In der Ecke ein winkender Weihnachtsmann. Pfahlbauten. Häuser auf Pfählen.
Plötzlich vermisste er Betty. Sehnte sich nach ihr. Hatte das Gefühl, wenn er sich jetzt schnell umdrehte, wäre sie da.
War sie aber nicht.
Draußen war ein seltsames Geräusch zu hören, ein langes Rutschen, dann ein schwerer, dumpfer Schlag. Konnte gut das Taxi sein, das ins Rutschen geraten und gegen das Haus geknallt war. Filth öffnete die Haustür, sah aber nichts als Schnee. Er trat auf die Treppe hinaus, um die Einfahrt hinuntersehen zu können, und hinter ihm schlug die Haustür zu und schloss sich mit einem soliden Vorkriegsklicken.
Er trug Hausschuhe. Ansonsten war er bekleidet mit Hosen, einem Unterhemd – das er immer trug, er war ein Gentleman, Gott sei Dank –, Hemd, Krawatte und der dünnen Kaschmir-Strickjacke, die Betty ihm vor Jahren gekauft hatte. Sie war bereits durchnässt.
Filth ging in seinen Pantoffeln vorsichtig am Haus entlang und beugte sich vor, schirmte seine alten Augen gegen den Schnee ab, um zu sehen, ob vielleicht zufällig … aber er wusste genau, dass die Hintertür verschlossen war, und die Balkontüren ebenfalls. Er ging über die eisglatte Rasenfläche zum Geräteschuppen, der ebenfalls verschlossen war. Dann fiel ihm der Wagen in der Garage ein. Er war schon länger nicht mehr gefahren, seit den schlimmen Tagen nicht mehr. Mrs Dings kaufte für ihn ein, der Wagen wurde kaum noch gebraucht. Aber vielleicht war die Garage …?
Die Garage war verschlossen.
Es half alles nichts, er musste irgendwie die Einfahrt hinunter und unter Veneerings Eiben auf das Taxi warten.
Auf Zehenspitzen ging er an dem Haufen Schnee vorbei, der vom Dach gerutscht war, was wie ein rutschender Wagen geklungen hatte. »Ich bin so ein verflixter Idiot«, sagte er.
Vom Tor aus blickte er die Straße hinunter. In beide Richtungen war nur die schimmernde Schneedecke zu sehen. Seit Stunden unberührt. Alles war still, wie tot. Filth wandte sich um und schaute in Veneerings Einfahrt.
Auch sie wirkte wie reine Seide, makellos, keine Vogelspur, es war nicht mal eine Beere hineingefallen. Schnee über Schnee. Er fiel und fiel. Dick, nass, eiskalt. Filths immer noch volles Haar war eisig. In seinem Kragen hatte sich Schnee gesammelt, in seiner Strickjacke, seinen Pantoffeln. Alles war eiskalt. Seine knotigen Hände waren eisig, als er erst nach einem Eibenzweig griff, dann nach dem nächsten. Eine Hand über die andere setzend, schaffte er es Veneerings Einfahrt hinauf.
Er wird bei seinem Sohn sein, dachte Old Filth. Entweder das, oder bei ihm findet irgendeine fürchterliche Feier statt. Golfer. Alte Seilschaften aus The Temple. Smarte Anwälte. Gin.
Aber als das Haus in Sicht kam, war es dunkel und wirkte leer. Wie seit Jahren verlassen.
Old Filth stand auf der Vortreppe und zog an der Klingel. Irgendwo in den Tiefen des Hauses ertönte eine Glocke, wie Bettys damals an dem Esstisch aus Rosenholz in den Mid Levels.
Was zum Teufel mache ich denn jetzt? Wahrscheinlich ist er weg, bei diesem Rindvieh Christopher, und sie zechen im Peninsular Hotel. Da ist es jetzt – Moment, spät in der Nacht. Sie werden bei Brandy und Zigarren angekommen sein. Die Zigarren wurden in einer großen, flachen Kiste präsentiert, und der Maître d’hôtel verbeugte sich dazu wie ein Priester vor dem Sakrament. So vulgär. Würde die beiden wahrscheinlich noch umbringen. Hallo?
Drinnen war ein Licht angegangen, und hinter einem Vorhang im Seitenfenster tauchte ein Gesicht auf. Dann wurde die Eingangstür von einem gebeugten alten Mann mit ein oder zwei blonden Haarsträhnen ein Stückchen geöffnet.
»Filth? Kommen Sie rein.«
»Danke.«
»Ohne Mantel unterwegs?«
»Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Eigentlich habe ich nach meinem Taxi Ausschau gehalten, ins White Hart. Weihnachtslunch. Nur so. Ich dachte, ich komme kurz vorbei und …«
»Frohe Weihnachten. Wie nett von Ihnen.«
Sie standen in der trost- und schmucklosen Eingangshalle.
»Ich hole Ihnen mal ein Handtuch. Und die Strickjacke ziehen Sie wohl besser aus, ich gebe Ihnen eine andere. Whiskey?«
Im braunen, eiskalten Salon lag auf einem riesigen Tisch ein Puzzle, das erst zu einem Achtel fertig war. Tisch und Puzzle waren weiß vor Staub. Ein hoffnungsloses Unterfangen.
»Zu viel Himmel«, sagte Veneering, als sie nachdenklich davorstanden. »Ich schalte mal die Heizung hoch. Ich sitze nicht oft hier drin. Ihnen ist doch sicher kalt. Vielleicht hören wir Ihren Wagen von hier aus, aber das bezweifle ich. Ich würde sowieso annehmen, dass er gar nicht durchkommt.«
»Ob ich wohl mal Ihr Telefon benutzen könnte? Meins funktioniert nicht.«
»Wenn Ihres nicht geht, wird meins wahrscheinlich auch nicht gehen«, sagte Veneering. »Aber Sie können es gern versuchen.«
Die Leitung war tot.
Sie setzten sich vor die kleinen, rotglühenden Drahtschlangen eines elektrischen Heizstrahlers. Irgendwas Antikes, dachte Filth, so einen hatte er schon seit sechzig Jahren nicht mehr gesehen. Und das war im Jahr der Smogkatastrophe in der Kanzlei gewesen.
In einer kleinen Vitrine auf dem Kaminsims lag ein Paar exotische Ohranhänger. Der Heizstrahler, die Ohrringe, der Whiskey, das Puzzle, das Schweigen, der so unheimlich immer weiter fallende Schnee sorgten dafür, dass Filth plötzlich am liebsten geweint hätte.
»Mein Beileid wegen Betty«, sagte Veneering.
»Mein Beileid wegen Elsie«, sagte Filth, dem sogar ihr Name wieder eingefallen war und ihr stilles und schönes – und unglückliches – chinesisches Gesicht. »Wie geht es Ihrem Sohn?«
»Tot«, sagte Veneering. »Gefallen. Army.«
»Das tut mir schrecklich leid. Furchtbar. Das hatte ich noch gar nicht gehört.«
»Man hört ja heutzutage nicht mehr viel«, sagte Veneering. »Vielleicht will man das auch gar nicht. Wir haben schon so viel gehört.«
Filth beobachtete die arthritisch gebeugte Gestalt, wie sie durch den Raum zum Dekanter schlurfte.
»Für die Knochen ist das Klima hier nichts«, sagte Veneering und schlurfte zurück.
»Haben Sie darüber nachgedacht, dort zu bleiben?«
»Himmel, nein.«
»Es hat so gut zu Ihnen gepasst.« Dann sagte Filth etwas sehr Seltsames. »Besser als zu uns, fand ich immer. Jedenfalls zu mir. Betty hat nie darüber gesprochen. Sie war ziemlich schottisch.«
»Es gab jede Menge Schotten in Hongkong«, sagte Veneering. »Sie beide kamen mir vor wie mit der Stadt verschmolzen. Betty und ihr chinesischer Schmuck.«
»Oh, sie hat sich bemüht«, sagte Filth traurig. »Sie war sehr treu.«
»Noch einen?«
»Ich sollte nach Hause gehen.«
Filth dämmerte, dass er Veneering um einen Gefallen würde bitten müssen. Er hatte sich bereits erniedrigt, indem er nass bis auf die Knochen bei ihm geklingelt hatte. Veneering war ja immer noch nicht blöd. Das mit dem Telefon war ihm klar gewesen. Es würde schwierig werden, die alte Position wiederzuerlangen. Vielleicht, wenn er als Erster das Schweigen brach? Reife. Großmut. Schnee von gestern. Weihnachten. Auf etwas Größeres verweisen?
Er würde nicht erwähnen, dass er sich ausgesperrt hatte.
Aber wie sollte er nach Hause kommen? Mrs Dings’ Schlüssel war drei Meilen weit weg, und sie kam erst an Neujahr wieder. Hier konnte er wohl kaum bleiben – guter Gott! Bei Veneering!
»Ich wollte eigentlich längst bei Ihnen vorbeigeschaut haben«, sagte Veneering. »Mehrmals im letzten Jahr sogar. Uns zusammenraufen.« Old Filth schwieg. Er selbst hatte nichts dergleichen vorgehabt und konnte auch nicht so tun als ob.
»Mir ist aber kein guter Vorwand eingefallen«, sagte Veneering. »Ich hatte etwas Angst vor dem Empfang. Ich war ja mal ganz schön aufbrausend. Wir waren uns nicht gerade ähnlich.«
»Ich habe schon ganz vergessen, wie ich mal war«, sagte Filth, schon wieder zu seiner eigenen Überraschung. »Wahrscheinlich war ich gar nicht viel.«
»Ein verdammt guter Anwalt«, sagte Veneering.
»Sie waren ein verdammt guter Richter«, sagte Filth, und das war die Wahrheit. »Besser als ich.«
»Der einzige Vorwand, der mir eingefallen ist, war ein schwacher«, sagte Veneering. »In meiner Speisekammer hängt ein Schlüssel von Ihnen. Haustür. Sicherheitsschloss. Ihre Adresse steht dran. Hängt da wahrscheinlich schon seit Jahren. Nachbarschaftliche Verhältnisse vor langer Zeit, schätze ich. Haben Sie womöglich auch noch einen von mir?«
»Nein«, sagte Filth. »Nein, ich habe nie einen gesehen.«
»Ich hätte jederzeit bei Ihnen reingekonnt«, sagte Veneering. »Und Sie im Bett ermorden.« Da blitzte etwas von der alten, finsteren Nichtsnutzigkeit auf. »Müssen Sie schon gehen? Ich nehme nicht an, dass das Taxi noch kommt. Das schafft es gar nicht den Hügel herauf. Ich hole mal eben den Schlüssel – außer Sie wollen, dass ich ihn behalte. Für den Notfall?« (Was für ein Blick.)
»Danke«, sagte Filth mit geradezu höfischer Höflichkeit. »Nein, ich nehme ihn mit und sehe mal, ob er überhaupt passt.«
Filth stand in Veneerings (grässlichem) Mantel auf Veneerings Veranda und hielt kurz inne. Der Schneefall ließ langsam nach. Er hörte sich sagen: »Morgen ist der zweite Weihnachtstag. Falls Sie allein sind, ich habe einen Schinkenbraten und einen ganz guten Bordeaux.«
»Mit Vergnügen«, sagte Veneering.
Ob er sich drehen lässt?, dachte Filth auf seiner eigenen Türschwelle. Tat er.
Es war herrlich warm im Haus, aber er machte trotzdem ein Feuer an. Das Wasser war schon heiß, Gott sei Dank. Und jetzt raus aus diesen Kleidern. Hallo? Was?
Er meinte, in der Küche etwas gehört zu haben. Hallo? Ja? Er ging hin, aber dort war niemand. Es hatte endlich aufgehört zu schneien, und vor den Fenstern war alles weiß. Er versuchte, hinauszusehen, und hatte das Gefühl, jemand schaute herein. Aber es waren keine Fußstapfen zu sehen. Er zog die Vorhänge zu. Er sah in die Schränke, um sich für den nächsten Tag zu vergewissern. Nicht, dass er am Ende dumm dastand. Da war eine Dose Haifischflossensuppe. Eine Dose Krebsfleisch. Guter Reis. Parmesan. Avocado. Gut. Gut.
Hinter sich in der Eingangshalle hörte er etwas, wie ein Kichern. »Wer zum Teufel ist da? Hallo?« (Hatte der Kerl zwei Schlüssel gehabt? Sie im Bett ermorden.)
»Edward! Edward, du phantasierst! Du bist zu alt für so was. Du bist doch keine sieben mehr.« Eine Männerstimme. Großer Gott, ich werde senil.
»Ja, Sir«, sagte er. »Wasserkessel. Wärmflasche. Badewanne. Ich bin alt.«
Das Telefon klingelte.
»Gut angekommen?«, fragte Veneerings Stimme. »Ich wollte mal das Telefon ausprobieren. Anscheinend haben wir wieder eine Verbindung.«
»Oh. Danke, Veneering. Morgen um eins?«
»Gern. Soll ich meine Schachfiguren mitbringen?«
»Ich habe welche. Nächstes Mal vielleicht.«
»Nächstes Mal.«
Dann war es also nicht Veneering gewesen, sinnierte er in der Badewanne und betrachtete sein ergrautes Schamhaar, das wie Farn auf der Oberfläche des köstlich heißen Wassers trieb. Dampf erfüllte das Badezimmer. Fast schlief er ein.
Besser raus hier. Irgendwie. Sonst wäre alles vorbei.
Er drehte seinen schlaksigen Körper um, sodass er auf allen vieren stand und den Porzellanboden der Badewanne ansah, auf seine ausgebreiteten Hände und die knochigen Knie (von denen eines nicht mehr allzu gut war) gestützt, und tastete mit dem Fuß nach Halt unter den Armaturen. Langsam erhob er sich zu voller Länge, seine Füße quietschten ein wenig. Er zog den Stöpsel und sah zu, wie das Seifenwasser im Abfluss verschwand und um seine jetzt rosig warmen Füße herumblubberte. Er dachte an einen anderen Fluss. Schwarze und braune Babys, die darin planschten. Ein Mädchen, das nur Lachen und Wärme war, sein eigener Kopf lag auf ihren Oberschenkeln. Das Wasser verschwand gurgelnd im Abfluss.
Es wurde schwieriger. Eine Dusche musste her. Bloß nicht so eine Matte mit Saugnäpfen. Und bloß keinen sogenannten Pflegedienst. Veneering hat auch keinen, das sieht man. Wobei Veneering nicht aussieht, als würde er überhaupt baden. Armer alter Teufel.
In ein weißes Badetuch gewickelt tapste er umher. Hausschuhe, Bademantel. Alles bestens. Eine Kleinigkeit mit ins Bett nehmen? Nein – vor dem Fernseher essen? Toast mit Anchovis. Tee – reichlich Whiskey. Ha! – brenne auf, Feuer. Nur keine Schwäche zeigen.
»Nur keine Schwäche«, sagte eine Frauenstimme. »Keine Schwäche zeigen! Noch nicht.«
»Hey, hallo, was? Betty?«
Aber wieder war niemand da.
Hoffentlich kein Fieber.
»Ich lasse mich doch nicht zum Narren halten!«, rief er in Richtung von Bettys ehemaligem Schlafzimmer, und dann schloss er seine eigene Schlafzimmertür hinter sich. Alles unter Kontrolle.
Das Bett war warm, und es war sein eigenes. Verrückte Vorstellung, sich ein Bett zu teilen. So bourgeois. Zwischen Betty und mir war das nie ein Thema.
»Das ist jetzt nicht der richtige Moment zum Irrewerden«, hörte er sich selbst laut sagen, als die Bilder des Tages sich zu Träumen verwoben. Er klammerte sich auf einem Bootsdeck an jemandem fest, das Meer war wie eine silbrige Haut. Jemand schrie, aber das war woanders und weckte ihn nicht. »Mit alldem sind wir doch fertiggeworden«, sagte er, »in meinem sogenannten langen, problemlosen und ereignisarmen Leben.«
»Schlaf, Filth«, sagte eine Stimme. »Niemand kannte dich so gut wie ich.«
Wer von ihnen hatte das gesagt?, fragte er sich.