Cover

Von Jim Butcher in der Reihe Codex Alera bei Blanvalet bereits erschienen:

1. Die Elementare von Calderon (26583)

2. Im Schatten des Fürsten (26584)

3. Die Verschwörer von Kalare (26585)

4. Der Protektor von Calderon (26779)

5. Die Befreier von Canea (26788)

6. Der Erste Fürst (26789)

Jim Butcher

Windjäger

Roman

Übersetzt von Andreas Helweg

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Cinder Spires: the Aeronaut’s Windlass« bei Orbit, London.



Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.



1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2016 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Jim Butcher

Published by Arrangement with Imaginary Empire LLC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung und -illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft

Redaktion: Waltraud Horbas

JvN · Herstellung: sam

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München


ISBN 978-3-641-15893-4
V002

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www.blanvalet.de

Für Prima und Sirius, Leise Pfoten

Prolog

Turm Albion, Habbel Morgen, Haus Lancaster

»Gwendolyn Margaret Elizabeth Lancaster«, sagte Mutter entschieden und verärgert, »du hörst sofort mit diesem Unsinn auf.«

»Ach, Mutter«, erwiderte Gwendolyn zerstreut, »wir haben doch schon mehrfach über die Angelegenheit diskutiert.« Sie betrachtete mit gerunzelter Stirn den Kampfhandschuh an ihrer linken Hand und drehte ihn leicht. »Der Riemen Nummer drei sitzt zu stramm, Sarah. Der Kristall bohrt sich in meine Handfläche.«

»Augenblick, Miss.« Sarah beugte sich über die Schnallen des Kampfhandschuhs, betrachtete sie über den Rand ihrer Brille hinweg und nahm ein paar rasche Änderungen vor. »Besser so?«

Gwendolyn versuchte die Drehung erneut und lächelte. »Exzellent. Danke, Sarah.«

»Gern geschehen, Miss«, sagte Sarah. Sie lächelte ebenfalls, setzte jedoch nach einem Seitenblick auf Mutter rasch wieder ihre gut einstudierte, zurückhaltende Miene auf.

»Wir haben nicht diskutiert«, sagte Mutter und verschränkte die Arme. »Denn eine Diskussion setzt ein Gespräch voraus. Wenn ich dieses Thema anspreche, tust du so, als wäre ich gar nicht anwesend.«

Gwendolyn wandte sich um und schenkte ihr ein honigsüßes Lächeln. »Mutter, wir können uns gern noch einmal darüber unterhalten, aber ich habe meine Pläne nicht geändert. Ich werde nicht Lady Hadshaws Höhere-Töchter-Pensionat besuchen.«

»Mir würde es schon genügen, wenn du die Akademie für Ätheringenieurswissenschaften besuchst, und zwar mit …«

»Oh!« Gwendolyn verdrehte die Augen. »Mit solchen Systemen arbeite ich in der Experimentierwerkstatt, seit ich laufen gelernt habe, und es würde mich in den Wahnsinn treiben, wenn ich zwei Jahre Einführungskurse ertragen müsste.«

Mutter schüttelte den Kopf. »Gwendolyn, du kannst doch nicht glauben, dass …«

»Genug«, sagte Gwendolyn. »Ich trete in die Garde des Archons ein, ich lege den Eid ab, und ich werde mein Dienstjahr ableisten.« Sie drehte sich um, betrachtete sich in dem langen Spiegel, zupfte ihre Röcke zurecht und strich die Aufschläge ihrer kurzen Bolerojacke zurück. »Ehrlich, die Töchter anderer Hoher Häuser legen auch den Eid ab. Ich weiß überhaupt nicht, warum du so einen Aufstand deswegen machst.«

»Andere Häuser sind nicht die Lancasters«, gab ihre Mutter kühl zurück. »Andere Häuser stehen nicht dem höchsten Habbel im Turm vor. Andere Häuser sind nicht für eine der wichtigsten Aufgaben in Turm Albion verantwortlich.«

»Mutter«, seufzte Gwendolyn. »Die Leute, die in den unteren Ebenen des Turms wohnen, sind doch nicht weniger wert als wir. Außerdem kämen die Kristalle auch sehr gut ohne uns zurecht.«

»Du bist jung«, sagte Mutter. »Du weißt die Kristalle nicht wirklich zu schätzen, und du scheinst dir keinen Begriff davon zu machen, wie dringend sie gebraucht werden. Und zwar nicht nur bei den Einwohnern im Habbel Morgen oder der Flotte; wenn man bedenkt, wie viel Planung und Vorausschau bei der Herstellung eines einzigen Kristalls notwendig ist. Das dauert …«

»Generationen«, unterbrach Gwendolyn sie. »Nein, ganz offensichtlich wurde ich noch immer nicht zu deiner Zufriedenheit aufgeklärt – allerdings muss ich dir mittteilen, dass ein weiterer schulmeisterlicher Vortrag deinerseits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absolut nichts an der Situation ändern wird. Daher wäre es für alle Beteiligten die am wenigsten zeitraubende Vorgehensweise, das Thema fallen zu lassen, findest du nicht?«

»Gwendolyn.« Mutter kniff die Augen zusammen. »Du bist in zehn Sekunden in deinem Zimmer verschwunden, oder ich schwöre bei Gott im Himmel, dass ich dir eine Tracht Prügel verabreichen werde.«

Aha. Langsam kamen sie zur Sache. Gwendolyn unterdrückte einen kurzen Anflug kindlicher Angst und dann ihre noch viel verständlichere Wut. Sie zwang sich zu einer ruhigen und vernünftigen Einschätzung der Lage im Raum.

Mutters Ausbruch hatte Sarah erschreckt. Die Zofe stand starr da. Natürlich war ihr bewusst, dass eine derartige Zurschaustellung von Gefühlen seitens einer der führenden Damen von Habbel Morgen nicht für die Augen und Ohren eines Dienstmädchens bestimmt war. Mutter war in ihrem Zorn äußerst unbedacht gewesen, denn Sarah wagte es auch nicht, das Zimmer einfach zu verlassen. Wie sollte sich das arme Mädchen verhalten?

»Sarah«, sagte Gwendolyn, »ich glaube, Cook hat erwähnt, dass sie wieder unter Rückenschmerzen leidet. Wäre es möglich, dass Sie ihr heute Morgen bei der Arbeit helfen? Könnten Sie es wohl freundlicherweise übernehmen, Vater das Frühstück zu bringen, damit Cook nicht die Treppe hinaufsteigen muss?«

»Aber gewiss, Lady Gwendolyn«, sagte Sarah und knickste knapp. Sie schenkte Gwendolyn ein dankbares und entschuldigendes Lächeln und verließ bedächtig das Zimmer.

Gwendolyn lächelte, bis Sarah hinausgegangen war, dann wandte sie sich um und sah ihre Mutter mit gerunzelter Stirn an. »Das war nicht sehr rücksichtsvoll von dir.«

»Versuch ja nicht, das Thema zu wechseln«, sagte Mutter. »Du ziehst sofort diesen lächerlichen Handschuh aus, oder du wirst sehen, was du davon hast.«

Gwendolyn zog eine Augenbraue hoch. »Dir ist klar, dass ich bewaffnet bin, oder?«

Mutter funkelte sie mit ihren dunklen Augen an. »Das wagst du nicht.«

»Eigentlich sollte es nicht notwendig sein«, erwiderte Gwendolyn. »Allerdings habe ich für Prügel noch weniger übrig als für die Aussicht, meine Tage in diesem trostlosen Mausoleum oder einem ähnlichen zu verbringen. Bei der Garde ist es mit Sicherheit interessanter.« Sie hob das Kinn und kniff die Augen zusammen. »Stell mich nicht auf die Probe, Mutter.«

»Du bist unmöglich, Kind«, sagte Mutter. »Ergreift sie.«

In diesem Moment begriff Gwendolyn, dass die Drohung und die Wut ihrer Mutter nur vorgetäuscht waren, um Gwendolyn abzulenken, damit sich ihr zwei Hauswachen lautlos von hinten nähern konnten. Sie trat rasch einen Schritt zur Seite und spürte, wie sie am linken Arm von kräftigen Händen gepackt wurde. Hätte sie sich nicht bewegt, hätte der zweite Mann im gleichen Augenblick ihren rechten Arm erwischt, und ihre Möglichkeiten wären arg eingeschränkt gewesen.

Stattdessen ergriff sie nun das Handgelenk des Angreifers, drehte sich mit Schwung zu ihm herum, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und befreite sich gleichzeitig aus seinem Griff. Aus derselben Drehbewegung heraus warf sie ihn über die Hüfte zu Boden. Im Fallen riss der Mann die zweite Wache mit, und die beiden stürzten. Gwendolyn hob leicht die Röcke an und stieß der zweiten Wache, als diese sich gerade wieder aufrichten wollte, mit dem Fuß den Arm unter dem Körper weg. Der Mann landete auf dem ersten, ächzte überrascht und starrte sie böse an.

»Tut mir wirklich entsetzlich leid«, entschuldigte sich Gwendolyn. »Es ist nicht persönlich gemeint.« Dann trat sie ihm hart an den Kopf. Der Mann stöhnte kurz und brach benommen zusammen.

»Esterbrook!«, rief Mutter.

Gwendolyn drehte sich um. Esterbrook, Hauptmann der Wache des Hauses Lancaster, betrat das Zimmer. Esterbrook war ein schlanker, gefährlich wirkender Mann mit der wettergegerbten Haut eines Aeronauten und Marinesoldaten, der jahrelang der gnadenlosen Sonne ausgesetzt gewesen war. Er trug eine Jacke, die nach Art der Uniform der Marinesoldaten geschneidert war, denen er früher angehört hatte. An der einen Hüfte trug er die kurze, schwere und kupferkaschierte Klinge eines Marinesoldaten. Der Kampfhandschuh an seiner Linken bestand aus dickem, altem Leder, die kupferne Halterung um Unterarm und Handgelenk glänzte jedoch so blank wie Gwendolyns neueres Modell.

Gwendolyn konzentrierte sich, entfernte sich von den Männern am Boden und hob die Linke, um den Kristall an ihrer Handfläche auf Esterbrook zu richten. Sie visierte ihr Ziel, den grauen Kopf des Hauptmanns, durch das V zwischen Zeige- und Mittelfinger an. Inzwischen erwachte der Kristall durch ihre Konzentration zum Leben. Kaltes weißes Licht blitzte auf und veränderte die Schatten im Zimmer. Ihre Mutter blinzelte in der plötzlichen Helligkeit.

»Guten Morgen, Hauptmann Esterbrook«, grüßte Gwendolyn gelassen. »Ich sehe, dass Ihre Uniform mit Seide gefüttert ist. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich auf Ihren Kopf ziele. Bitte zwingen Sie mich nicht zu einer Reaktion, die zu tragischer Verschwendung von Leben führt.«

Esterbrook betrachtete sie durch seine abgedunkelte Brille. Dann nahm er sie sehr langsam ab und blinzelte ins Ätherlicht der Waffe, die Gwendolyn auf ihn richtete. Seine Augen hatten eine unheimliche goldgrüne Farbe, und die katzenartigen Pupillen zogen sich im Licht zu vertikalen Schlitzen zusammen.

»Recht schnell«, lobte er.

Gwendolyn musste lächeln. »Ich hatte einen ausgezeichneten Lehrer, Sir.«

Der Anflug eines ironischen Grinsens huschte über Esterbrooks Gesicht, dann nickte er anerkennend. »Und wer hier im Turm hat Ihnen den Kampfstil des Wegs beigebracht?«

»Cousin Benedict, wer sonst?«, antwortete sie.

»Ha«, sagte Esterbrook. »Ich habe das Parfüm an ihm gerochen. Dachte schon, er hätte sich mit einer Frau eingelassen.«

Mutter gab einen angewiderten Laut von sich, der ihr kaum hörbar durch die aufeinandergepressten Lippen entschlüpfte. »Ich habe dir jeden näheren Umgang mit ihm ausdrücklich verboten, Gwendolyn.«

»Gewiss, Mutter, ja«, stimmte Gwendolyn zu. »Hauptmann, wären Sie so freundlich, Ihre Waffe abzulegen?«

Esterbrook starrte sie noch kurz an, ehe sich die Falten in seinen Augenwinkeln vertieften. Er neigte den Kopf in ihre Richtung und löste den Schwertgurt mit der rechten Hand. Die Waffe fiel zu Boden.

»Was tun Sie da?«, verlangte Mutter zu wissen.

»Mylady«, antwortete Esterbrook höflich, »Miss Gwen hält eine tödliche Waffe in der Hand, die sie auch einzusetzen weiß.«

»Sie wird sie nicht einsetzen«, sagte Mutter. »Nicht gegen Sie. Und nicht gegen ihre Familie.«

Gwendolyn fühlte sich ertappt. Natürlich hatte Mutter recht. Das wäre undenkbar – aber sie hatte genauso wenig die Absicht, ihr Leben im Sitz der Lancasters wie in einem Kloster zu verbringen und sich mit sinnlosen und todlangweiligen Dingen wie Bällen, Diners, Konzerten und der Schule zu befassen. Sie durfte Mutter nicht gestatten, sie auf die Probe zu stellen.

Daher drehte sie den Arm leicht und feuerte Strahlen aus Ätherenergie von dem Kristall an ihrer Handfläche ab.

Mit heulendem Kreischen zerschnitt ein blendender Blitz die Luft. Eine Sekunde später folgte ein Getöse wie Donner, und eine Marmorstatuette auf einem Beistelltisch hinter Esterbrook verwandelte sich in Staub und Splitter. Die Bruchstücke flogen durch den Raum, prallten von den Wänden ab, und erst nach einigen Sekunden kehrte wieder Stille ein.

Mutter starrte Gwendolyn bleich und mit offenem Mund an. Sie war zur Hälfte mit feinem Marmorstaub bedeckt. Auch Esterbrook war mit Staub überzogen, doch hatte er sich nicht gerührt und auch keine Miene verzogen.

»Hauptmann«, sagte Gwendolyn, »wenn Sie so freundlich wären und fortfahren würden.«

»Miss«, sagte er und nickte erneut. Er hielt den linken Arm vollkommen reglos, schnallte sehr langsam die Riemen des Kampfhandschuhs ab und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Danke, Hauptmann«, sagte Gwendolyn. »Und jetzt treten Sie bitte zur Seite.«

Esterbrook sah Mutter an, breitete hilflos die Arme aus und entfernte sich ein paar Schritte von seinen Waffen.

»Nein«, fauchte Mutter. »Nein.« Rasch ging sie zu der unglaublich teuren und mit Messing beschlagenen Tür, deren Holz aus den tödlichen Nebelwäldern der Oberfläche stammte. Nun drehte sie den Schlüssel im Schloss und zog ihn ab. Als sie wieder auf ihren Platz zurückgekehrt war, reckte sie wütend das Kinn in die Höhe. »Du wirst gehorchen, Kind.«

»Ehrlich, Mutter«, erwiderte Gwendolyn, »wenn das so weitergeht, werden uns die Kosten für die Renovierung noch in den Ruin treiben.«

Gwendolyns Kampfhandschuh heulte erneut auf, und ein Teil der Tür verwandelte sich in Holzsplitter und verbogenes Messing. Der Rest wurde aus der Halterung gerissen, flog in den Gang und zerbrach auf dem Boden.

Gwendolyn hob den Arm, bis der Kristall parallel mit ihrem Gesicht war, und schritt langsam auf die Tür zu. Die Hauswachen hinter ihr stöhnten und rappelten sich auf. Gwendolyn war erleichtert. Sie hatte die beiden nicht wirklich verletzen wollen. Benedict hatte ihr erklärt, dass Schläge an den Kopf immer Gefahren bargen.

»Nein«, flüsterte Mutter, als sie an ihr vorbeiging. »Gwendolyn, nein! Das kannst du nicht machen. Du hast keine Ahnung, welches Grauen dir bevorstehen könnte.« Sie atmete heftig, und …

Gnädige Erbauer.

Mutter weinte.

Gwendolyn zögerte und blieb stehen.

»Gwendolyn, bitte, du bist mein einziges Kind«, flüsterte Mutter.

»Eben. Wer außer mir soll das Haus Lancaster in der Garde vertreten?« Gwendolyn sah ihre Mutter an. Die Tränen hinterließen Spuren in der dünnen Staubschicht auf ihrem Gesicht.

»Bitte, geh nicht.«

Gwendolyn zögerte. Wie alle Lancasters war sie ehrgeizig und distanziert, doch wie Mutter besaß sie auch ein Herz. Tränen … Tränen waren ohne Beispiel. Nur einmal hatte sie ihre Mutter weinen sehen, und das auch nur vor Lachen.

Vielleicht hätte sie sich etwas mehr Gedanken darüber machen sollen, wie sie ihrer Mutter die Entscheidung beibrachte, dass sie sich freiwillig meldete. Aber jetzt hatte sie keine Zeit mehr zum Reden. Die Anmeldung für die Garde fand heute Morgen statt.

Sie sah ihrer Mutter in die Augen. Weinen würde sie nicht. Nein, ganz bestimmt nicht. So gern sie das vielleicht auch getan hätte.

»Ich habe dich sehr lieb«, sagte sie leise.

Damit stieg Gwendolyn Margaret Elizabeth Lancaster über die Reste der zerschmetterten Tür und verließ das Haus.

Lady Lancaster schaute ihrer Tochter mit Tränen in den Augen hinterher. Sie wartete, bis sie hörte, dass sich die große Haustür des Familiensitzes geschlossen hatte, ehe sie sich an Esterbrook wandte.

»Alles in Ordnung, Hauptmann?«

»Ein bisschen überrascht vielleicht, aber sonst ist alles in Ordnung«, sagte er. »Männer?«

»Lady Gwen«, sagte eine der Wachen, berührte seine Wange und zuckte zusammen, »geht ganz schön zur Sache.«

»Ihr habt dem Gegner einfach nicht den nötigen Respekt erwiesen«, meinte Esterbrook amüsiert. »Geht frühstücken. Wir beschäftigen uns heute Vormittag damit, wie man Personen ergreift.« Die Männer schlurften betreten hinaus, und Esterbrook schaute ihnen hinterher, offensichtlich zufrieden. Dann wandte er sich Lady Lancaster zu. »Mylady … weinen Sie?«

»Gewiss«, antwortete sie mit Stolz in der Stimme. »Haben Sie das gesehen? Sie hat sich gegen Sie drei durchgesetzt.«

»Gegen uns vier«, berichtigte Esterbrook sie milde.

»Gwendolyn hatte noch nie ein Problem damit, sich gegen mich durchzusetzen«, erwiderte Lady Lancaster trocken.

Esterbrook schnaubte. »Ich verstehe noch immer nicht, warum diese Dramatik notwendig war.«

»Weil ich meine Tochter kenne«, sagte sie. »Und es gibt nur einen Weg, um sicherzugehen, dass sie etwas auch ganz bestimmt tut: wenn ich es ihr verbiete.«

»Erinnert mich an jemand anders, der unbedingt den Dienst ableisten wollte, Mylady«, sagte Esterbrook. »Nun ja …«

»Ich war jung und stur, wie Sie sehr wohl wissen. Aber ich habe bei meinem Aufbruch nicht so ein Theater gemacht.«

»Natürlich nicht«, lachte Esterbrook. »Soweit ich mich entsinne, Mylady, haben Sie drei Türen zu Kleinholz verarbeitet, nicht nur eine.«

Lady Lancaster sah den Hauptmann streng an. »Ehrlich, Esterbrook. Sie übertreiben.«

»Und ein halbes Dutzend Statuen.«

»Es waren geschmacklose Repliken, nichts weiter.«

»Und ein drei Meter breites Stück einer steinernen Wand.«

»Mutter stand in der Tür. Wie sollte ich sonst hinaus?«

»Sehr wohl, Mylady«, meinte Esterbrook ernst. »Danke für die Richtigstellung. Von Ähnlichkeit zu sprechen wäre wirklich übertrieben.«

»Ich habe mir gedacht, dass Sie es so sehen würden«, sagte sie. »Sie sind ein kluger Mann.«

»Ja, Mylady. Aber …« Esterbrook runzelte die Stirn. »Sie soll also unbedingt ihren Dienst ableisten. Ich verstehe nur nicht ganz den Grund dafür.«

Lady Lancaster musterte ihn einen Augenblick lang nachdenklich. Esterbrook war ein treuer Soldat, ein wertvoller Gefolgsmann und ihr Freund und Verbündeter, seit sie denken konnte – doch mit diesen Katzenaugen eines Kriegerstämmigen nahm er meist nur die unmittelbare Umgebung wahr. Wenn sie Esterbrook bitten würde, dann könnte er ihr jetzt mit geschlossenen Augen den Platz jedes einzelnen Gegenstandes im Raum nennen. Aber er würde nicht wissen, wo sich dieser Gegenstand vor der letzten Renovierung des Zimmers befunden hatte oder wohin er nun gebracht würde, nachdem die wichtigste Statuette zerstört war. Der Kriegerstämmige befasste sich am besten mit der Gegenwart, wohingegen sie sich, wie alle Lancasters vor ihr, mit der fernen Vergangenheit beschäftigte – und mit der nahen Zukunft.

»In den Türmen geraten Dinge in Bewegung«, sagte sie leise. »Es gibt Vorzeichen und Omen. Vier Aeronauten der Flotte haben von der Sichtung eines Erzengels berichtet, und sie schwören, sie wären weder betrunken gewesen, noch hätten sie geschlafen. Turm Aurora hat seine Gesandten aus Turm Albion abberufen, und unsere Flotten führen bereits einzelne Gefechte. Die unteren Habbel werden zunehmend unruhig, und …«

Esterbrook legte den Kopf schief. »Mylady?«

»Die Kristalle. Sie verhalten sich seltsam.«

Esterbrook zog fragend die Augenbrauen hoch.

Lady Lancaster schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber ich arbeite seit meiner Kindheit mit ihnen, und irgendetwas stimmt da nicht.« Sie seufzte und wandte sich der zerschmetterten Tür zu. »Es liegen dunkle Zeiten vor uns, alter Freund. Ein Konflikt, wie wir ihn nicht gesehen haben seit dem Bruch der Welt. Meine Tochter muss selbstständig werden. Sie muss etwas über ihre Gegner erfahren, und sie muss begreifen, was auf dem Spiel steht. In der Garde wird sie darauf vorbereitet wie nirgendwo sonst.«

»Konflikt«, sagte Esterbrook. »Konflikt scheint ja bereits der stete Begleiter der Lady Gwen zu sein.«

Lady Lancaster betrachtete die zerstörte Tür und den Staub, der immer noch durchs Zimmer wallte.

»Ja«, sagte sie leise. »Gott im Himmel, Erzengel, gnädige Erbauer, bitte. Bitte schützt mein Kind.«

1  Albionisches Handelsschiff Raubtier

Kapitän Grimm klappte den Teleskopaufsatz von der rechten Augenmuschel seiner schweren Schutzbrille nach oben. Das aurorische Luftschiff war nur als blasser Fleck vor den dicken Wolken unten zu erkennen, während die Raubtier sich hoch oben in der Aerosphäre im grellen Licht der Sonne verbarg. Durch die Mezzosphäre, die Schicht aus schweren Wolken und Nebel unter ihnen, brauste ein Sturm, aber es war noch Zeit, das feindliche Schiff zu erreichen, ehe der Orkan die Systeme der Schiffe stören würde.

Grimm nickte entschlossen. »Wir gehen in die Strömungen. Klar zum Gefecht. Geschütze bereitmachen. Das Netz oben, unten und an den Flanken ausbreiten. Volle Kraft auf den Schleier. Kurs auf das aurorische Schiff.«

»Klarmachen zum Gefecht!«, brüllte Kommandant Creedy. Die Schiffsglocke wurde dreimal geläutet und erneut dreimal, während ringsum Tumult entstand. »Geschütze bereitmachen!« Der Befehl wurde überall auf der Raubtier wiederholt, während die Geschützmannschaften zu ihren Türmen liefen. »Das Netz vollständig spannen!« Wettergegerbte Männer mit Schutzbrillen und aeronautischer Ledermontur sprangen in die Masten und Takelage des Schiffes und antworteten mit Bestätigungsrufen. Creedy ging ans Sprachrohr und rief: »Maschinenraum!«

»Maschinenraum, aye!«, kam die blecherne Antwort.

»Volle Kraft auf den Schleier, wenn es recht ist, Mister Journeyman.«

»Volle Kraft auf den Schleier, aye. Und sagen Sie dem Kapitän, er soll sie in die Luft jagen, bevor sie unseren Schleier erwischen. Wir sind verdammt dicht dran an diesem Sturm. Wenn die Abstimmung nicht hundertprozentig passt, stehen wir nackt da.«

»Disziplin, Mister Journeyman«, verlangte Creedy.

»Ohne Disziplin würde hier unten gar nichts laufen, Idiot«, knurrte der Ingenieur. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Sie arroganter Grünschnabel.«

»Lassen Sie nur, IO«, sagte Grimm gelassen zu Creedy. Er lächelte kaum merklich über Journeymans Antwort. Der Ätheringenieur war in seiner Position unersetzlich, und das wusste er leider nur allzu gut.

Der große junge Mann verschränkte die Arme und starrte finster durch seine Schutzbrille. »Er sollte seinen Männern ein Vorbild sein, Kapitän.«

Grimm zuckte mit den Schultern. »Ist er aber nicht, Kommandant. Manche Dinge sind eben schlicht unmöglich.« Er faltete die Hände ruhig hinter dem Rücken. »Davon abgesehen hat er vielleicht recht.«

Creedy sah den Kapitän scharf an. »Sir?«

»Es wird knapp werden«, erwiderte Grimm.

Creedy starrte hinüber zu dem aurorischen Schiff und schluckte. Es war eines der Schiffe aus der Cortez-Klasse des rivalisierenden Turms – ein großer Handelskreuzer, wesentlich massiver gebaut als die Raubtier und mit schwereren Geschützen ausgestattet, dazu mit einem dichteren Schleier. Obwohl die Schiffe der Cortez-Klasse offiziell als Handelsschiffe und nicht als Kriegsschiffe galten, waren sie gut bewaffnet und hatten bekanntermaßen eine ganze Kompanie aurorischer Marinesoldaten an Bord. Dieses Schiff, dessen war sich Grimm sicher, war verantwortlich für die jüngsten Verluste in der Handelsflotte von Albion.

»Sollen sich Männer zum Entern vorbereiten, Sir?«, fragte Creedy.

Grimm zog eine Augenbraue hoch. »Wir sind tapfer und waghalsig, Kommandeur, aber nicht verrückt. Das überlasse ich lieber Kommodore Rook und seinen Freunden in der Flotte. Die Raubtier ist ein privates Schiff.«

»Aye, Sir«, antwortete Creedy. »Vermutlich sollten wir keine Zeit verlieren.«

»Wenn wir ihr Netz hart beharken, sie zur Landung zwingen und eine Boje abwerfen, kann Rook sich um sie kümmern«, bestätigte Grimm. »Wenn wir uns auf einen Kampf einlassen, könnte uns dieser Sturm den Schleier zerfetzen.«

»Ihren aber auch«, zeigte Creedy auf. In der Flotte war es üblich, dass ein guter Erster Offizier den Advocatus Diaboli spielte. Grimm fand diese Praxis eher ärgerlich. Wenn er Creedys Schwester nicht noch einen Gefallen geschuldet hätte …

»Sie haben mehr und größere Geschütze als wir«, gab Grimm zurück. »Und das Schiff ist größer als unseres. Wenn wir ungeschützt vor einer Cortez fliegen, würde uns noch der schlechteste Kapitän der Flotte zur Oberfläche schicken.«

Creedy schauderte. »Aye, Sir.«

Grimm klopfte dem jungen Mann auf die Schulter und lächelte dünn. »Immer mit der Ruhe. Wenn die Flotte junge Offiziere so entschlossen diszipliniert, dann nur, um Eindruck zu machen – damit sie, wenn sie in der Flotte wieder ihre Aufgaben übernehmen, ihren Fehler nicht wiederholen. Natürlich wollen sie, dass man seinen Posten wieder übernimmt, sonst würden sie einen schlicht entlassen. Bald können Sie die Raubtier verlassen und bekommen wieder einen ordentlich gepanzerten Rumpf.«

»Die Raubtier ist ein gutes Schiff, Kapitän«, erwiderte Creedy entschieden. »Nur … ein wenig zerbrechlicher, als mir lieb ist.«

Und, dachte Grimm, beträchtlich weniger zerbrechlich, als er ahnte. »Kopf hoch, IO. Auch wenn wir selbst keine Prise aufbringen, bekommen wir einen Bonus, wenn wir das Schiff ein wenig aufhalten und Rook überlassen. Mindestens hundert Kronen pro Kopf.«

Creedy verzog das Gesicht. »Während Rook hunderttausende Kronen an Prise einstreicht. Und seinem Haus weitere Ratssitze erkauft.«

Grimm schloss die Augen und hob das Kinn leicht, während die Männer das fast durchsichtige Netz aus Ätherseide abspulten. Er musste nicht extra hinsehen, um zu wissen, dass sich das Äthernetz verändern würde, wenn über die Anschlüsse die Elektrizität floss, bis es sich aufrichtete und scheinbar schwerelos schwebte. Die durchsichtigen Seidenstränge, die wie ein riesiges Spinnweben gute siebzig Meter um das Schiff gespannt wurden, fingen die unsichtbaren Ströme der Ätherenergie ein, die durch den Himmel floss, und zogen die Raubtier vorwärts. Das schlanke Schiff gewann rapide an Geschwindigkeit. Kalter, trockener Wind kam auf. Durch die dünne Luft grollte der Donner des Sturms heran.

Der Umstand, dass Kommodore Hamilton Rook im Turm noch mehr Einfluss gewinnen könnte, störte Grimm nicht besonders. Die meisten Angelegenheiten von Turm Albion kümmerten ihn nicht. Sollten die Ballerköpfe in den Türmen sich doch gegenseitig fertigmachen, wenn es ihnen Spaß machte. Solange er die Raubtier hatte, war ihm alles andere egal.

Kettle, der Mann am Steuer des Schiffes ein Stück hinter ihm und oberhalb von Grimm und Creedy, stieß einen kurzen Pfiff aus. Grimm drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch. »Mister Kettle?«

Der grauhaarige Pilot deutete mit dem Kopf auf den heranbrausenden Sturm. »Käpt’n, vielleicht sollten Sie überlegen, ob wir nicht ein bisschen steiler als gewöhnlich hinabstoßen. Durch die Schwerkraft werden wir schneller, und wenn es nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, könnten wir in den Wolken verschwinden.«

»Also, bitte, Aeronaut«, grummelte Creedy. »Wenn Sie einen Vorschlag zu machen haben, dann richten Sie ihn an mich, und ich leite ihn an den Kapitän weiter. So sind die Vorschriften auf einem Flottenschiff.«

»IO, wir sind kein Flottenschiff«, widersprach Grimm ruhig. »Es ist mein Schiff. Ich muss kurz nachdenken.«

Mister Kettles Vorschlag hatte Vorteile. Die Geschwindigkeit, die sie durch das Abtauchen gewannen, würde die Arbeit der Geschützmannschaften erschweren, aber ihr Schiff war in Ordnung, und deshalb brauchten sie eigentlich keine Wunderschüsse, um das feindliche Schiff bei einem Überraschungsangriff auszuschalten – und sie würden das Feuer ein paar Augenblicke eher und vor dem Sturm eröffnen. Er sah wesentlich bessere Chancen für die Raubtier, wenn ihr Schleier intakt war.

Creedy, der einen Sturm leicht aushalten konnte, ohne blass zu werden, wirkte allerdings etwas grünlich im Gesicht, als er die Ansichten des Kapitäns hinsichtlich der Flottenvorschriften hörte. Dennoch blickte er Kettle über die Schulter an und versuchte tapfer, seine Pflichten wahrzunehmen, wie er sie sah. »Ein steilerer Sturzflug ist nicht notwendig, Sir. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie uns nicht einmal bemerken, ehe wir das Feuer eröffnen.«

»Wir sind weit von zuhause entfernt, IO. Daher würde ich mich lieber nicht auf Wahrscheinlichkeiten verlassen.« Grimm nickte dem älteren Aeronauten zu. »Wir machen es, wie Sie vorgeschlagen haben, Mister Kettle. Sagen Sie den Geschützmannschaften, sie sollen die Schusswinkel anpassen.«

»Aye, Sir.«

Grimm legte den Kopf schief und bezog den starken Wind, der über das Deck wehte, in seine strategischen Überlegungen mit ein. »Mister Creedy, lassen Sie die Männer Segel setzen, bitte.«

Creedy blinzelte verblüfft. »Kapitän?«

Grimm nahm dem jüngeren Mann seine Reaktion nicht übel. Nur wenige Luftschiffe verfügten heutzutage noch über Windsegel. Dampfbetriebene Propeller und die neuen schraubenähnlichen Turbinen waren die bevorzugten Antriebsmittel, falls ein Schiff aus der Aerosphäre geriet oder in einem Teil des Himmels in eine Flaute geriet, wo die Ätherströme nicht stark genug waren, um es voranzubewegen. Segel hatten jedoch Vorteile: Sie funktionierten ohne große, schwere Dampfmaschinen und waren im Vergleich zu diesen nahezu lautlos.

Es ist schon komisch, dachte Grimm, wie oft im Leben sich ein bisschen Stille als praktisch erwies.

»Im Augenblick bleiben sie noch gerefft«, meinte Grimm. »Aber sie sollen einsatzbereit sein.«

»Aye, Sir«, sagte Creedy. Man hörte ihm an, dass er noch weniger Begeisterung verspürte als Augenblicke zuvor, trotzdem gab er die Befehle entschlossen weiter.

Danach blieb nur noch abzuwarten, bis die Raubtier die Position für den Sturzflug erreicht hatte. Die Standard-Kampfausrüstung umfasste ein Gurtzeug mit verschiedenen Halterungen. Daran wurde eine schwere, geflochtene Rettungsleine aus Leder von sechs bis neun Fuß Länge befestigt, die an jedem Ende einen Karabinerhaken hatte. Jeder Mann sollte drei dieser Leinen bei sich führen, sobald Gefechtsalarm gegeben wurde. Grimm und Creedy hakten zwei Leinen an verschiedenen Stangen und Ösen ein.

Nachdem er sich gesichert hatte, nahm sich Grimm einen Moment Zeit, um seine Uniform zu richten. Als Kapitän auf einem albionischen Handelsschiff musste er keine tragen, doch die Mannschaft hatte ihm nach ihrem äußerst erfolgreichen Einsatz als Kaperer eine machen lassen. Sie war identisch mit einer Flottenuniform, doch statt des tiefen Blaus mit Goldbesatz war sie schwarz und blutrot besetzt. Die beiden breiten Streifen eines Luftschiffkapitäns zierten die Manschetten der langen Jacke. Die Silberknöpfe in Form von Totenschädeln erschienen ihm übertrieben, doch musste er einräumen, dass sie dem Ganzen einen glaubwürdigen, piratenmäßigen Anstrich gaben.

Als Letztes schnallte er, wie immer, die Riemen seiner Schirmmütze zu und sicherte sie damit auf seinem Kopf. Aeronauten hielten es für ein großes Unglück, wenn ihr Kapitän im Sturzflug die Mütze verlor, und Grimm hatte schon viele seltsame Dinge erlebt, so dass er sich selbst nicht von Aberglauben freisprechen konnte.

Es dauerte einige Augenblicke, bis sie die Meilen zurückgelegt hatten, die sie von dem aurorischen Schiff trennten. Die Anspannung stieg und war in der kühlen Luft förmlich greifbar. Besonders gut ablesbar war sie an der Haltung der Schützen und Aeronauten. Der Kampf zwischen zwei Schiffen gehörte zu den brutalsten Gewaltakten überhaupt, und natürlich war das jedem auf der Raubtier bewusst.

Wie immer spielte Grimm seine Rolle. Die Männer durften nervös und ängstlich sein – das war die einzige vernünftige Reaktion auf ihre Situation. Aber Angst war eine Krankheit, die sich ausbreiten und eine Mannschaft kampfunfähig machen konnte, so dass sie dies genau zu der Zerstörung führte, die man ursprünglich befürchtet hatte. Der Kapitän durfte sich diesen Luxus nicht leisten. Die Männer mussten sicher sein – und nicht nur annehmen, sondern absolut sicher sein –, dass ihr Kapitän genau wusste, was er tat. Ihr Kapitän war unbesiegbar, unfehlbar und immun gegen die Niederlage. Das war äußerst wichtig für die Mannschaft – denn es erlaubte den Männern, ihre Angst zu ignorieren und sich auf ihre Pflichten zu konzentrieren, für die sie ausgebildet waren.

Männer, die taten, wofür sie ausgebildet waren, und zwar auch im höllischsten Chaos des Luftkampfes, waren wiederum absolut unabkömmlich für den Sieg. Eine solche Mannschaft hatte in der Regel weniger Verwundete und Tote zu beklagen – und Grimm würde sich lieber selbst auf die Ventralmasten der Raubtier schwingen, als sinnlos auch nur einen Tropfen Blut seiner Männer zu vergeuden. Deshalb tat er, was er konnte, damit sie so effizient und gnadenlos kämpften wie möglich.

Er tat gar nichts.

Grimm stand ruhig an Deck, hatte seine Rettungsleinen ordentlich gespannt und die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Er starrte nach vorn und verkniff sich alle Gefühlsregungen. Natürlich spürte er die Blicke, die man ihm gelegentlich zuwarf, und er verkörperte weiterhin den ruhigen und zuversichtlichen Kapitän.

Creedy eiferte seinem Kapitän nach, hatte dabei jedoch nur beschränkten Erfolg. Er umklammerte die Reling so fest, dass seine Knöchel weiß wurden; außerdem atmete er viel zu laut.

»IO, wie wäre es mit Handschuhen?«, fragte Grimm leise und lächelte.

Creedy sah auf seine Hand und zog sich eilig von der Reling zurück. Er kramte seine Handschuhe aus den Taschen und zog sie über.

Grimm konnte dem jungen Mann keinen Vorwurf machen. Es war sein erstes Gefecht an Bord der Raubtier, einem zivilen Schiff. Sie war vor allem aus Holz gebaut und verfügte nicht über die mit Messing und Kupfer verkleidete Stahlpanzerung eines militärischen Schiffes. Sollte der Feind ihren Schleier durchdringen, würde jeder Treffer üblen Schaden an dem Schiff und unter der Mannschaft anrichten – und ein unglücklicher Treffer konnte den Kernkristall zerstören und eine Explosion auslösen, die Mannschaft und Schiff meilenweit in den Himmel schleudern würde.

Creedys Ängste gründeten auf seiner jahrelangen Erfahrung mit den Kriegsschiffen der Flotte von Turm Albion. Er wusste, dieses Gefecht konnte leicht in gegenseitiger Vernichtung enden, denn Grimm ging ein erhebliches Risiko ein.

Es war nicht die Schuld des Ersten Offiziers, dass er noch nie auf der Raubtier gekämpft hatte.

Es war so weit. Das Schiff befand sich in Position, vielleicht eine Meile oberhalb des aurorischen Schiffes.

»Alles klar zum Gefecht!«, rief Grimm.

Die Schiffsglocke läutete hektisch und warnte alle an Bord zum letzten Mal, die Sicherheitsleinen anzulegen, ehe die Raubtier zum Angriff überging.

Grimm spürte, wie sich sein Mund zu einem wölfischen Grinsen verzog. Er zog den Riemen seiner Schirmmütze nochmals fest und nickte seinem Piloten zu. »Mister Kettle, wenn Sie den Sturzflug beginnen würden.«