Prolog
Turm Albion, Habbel Morgen, Haus Lancaster
»Gwendolyn Margaret Elizabeth Lancaster«, sagte Mutter entschieden und verärgert, »du hörst sofort mit diesem Unsinn auf.«
»Ach, Mutter«, erwiderte Gwendolyn zerstreut, »wir haben doch schon mehrfach über die Angelegenheit diskutiert.« Sie betrachtete mit gerunzelter Stirn den Kampfhandschuh an ihrer linken Hand und drehte ihn leicht. »Der Riemen Nummer drei sitzt zu stramm, Sarah. Der Kristall bohrt sich in meine Handfläche.«
»Augenblick, Miss.« Sarah beugte sich über die Schnallen des Kampfhandschuhs, betrachtete sie über den Rand ihrer Brille hinweg und nahm ein paar rasche Änderungen vor. »Besser so?«
Gwendolyn versuchte die Drehung erneut und lächelte. »Exzellent. Danke, Sarah.«
»Gern geschehen, Miss«, sagte Sarah. Sie lächelte ebenfalls, setzte jedoch nach einem Seitenblick auf Mutter rasch wieder ihre gut einstudierte, zurückhaltende Miene auf.
»Wir haben nicht diskutiert«, sagte Mutter und verschränkte die Arme. »Denn eine Diskussion setzt ein Gespräch voraus. Wenn ich dieses Thema anspreche, tust du so, als wäre ich gar nicht anwesend.«
Gwendolyn wandte sich um und schenkte ihr ein honigsüßes Lächeln. »Mutter, wir können uns gern noch einmal darüber unterhalten, aber ich habe meine Pläne nicht geändert. Ich werde nicht Lady Hadshaws Höhere-Töchter-Pensionat besuchen.«
»Mir würde es schon genügen, wenn du die Akademie für Ätheringenieurswissenschaften besuchst, und zwar mit …«
»Oh!« Gwendolyn verdrehte die Augen. »Mit solchen Systemen arbeite ich in der Experimentierwerkstatt, seit ich laufen gelernt habe, und es würde mich in den Wahnsinn treiben, wenn ich zwei Jahre Einführungskurse ertragen müsste.«
Mutter schüttelte den Kopf. »Gwendolyn, du kannst doch nicht glauben, dass …«
»Genug«, sagte Gwendolyn. »Ich trete in die Garde des Archons ein, ich lege den Eid ab, und ich werde mein Dienstjahr ableisten.« Sie drehte sich um, betrachtete sich in dem langen Spiegel, zupfte ihre Röcke zurecht und strich die Aufschläge ihrer kurzen Bolerojacke zurück. »Ehrlich, die Töchter anderer Hoher Häuser legen auch den Eid ab. Ich weiß überhaupt nicht, warum du so einen Aufstand deswegen machst.«
»Andere Häuser sind nicht die Lancasters«, gab ihre Mutter kühl zurück. »Andere Häuser stehen nicht dem höchsten Habbel im Turm vor. Andere Häuser sind nicht für eine der wichtigsten Aufgaben in Turm Albion verantwortlich.«
»Mutter«, seufzte Gwendolyn. »Die Leute, die in den unteren Ebenen des Turms wohnen, sind doch nicht weniger wert als wir. Außerdem kämen die Kristalle auch sehr gut ohne uns zurecht.«
»Du bist jung«, sagte Mutter. »Du weißt die Kristalle nicht wirklich zu schätzen, und du scheinst dir keinen Begriff davon zu machen, wie dringend sie gebraucht werden. Und zwar nicht nur bei den Einwohnern im Habbel Morgen oder der Flotte; wenn man bedenkt, wie viel Planung und Vorausschau bei der Herstellung eines einzigen Kristalls notwendig ist. Das dauert …«
»Generationen«, unterbrach Gwendolyn sie. »Nein, ganz offensichtlich wurde ich noch immer nicht zu deiner Zufriedenheit aufgeklärt – allerdings muss ich dir mittteilen, dass ein weiterer schulmeisterlicher Vortrag deinerseits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absolut nichts an der Situation ändern wird. Daher wäre es für alle Beteiligten die am wenigsten zeitraubende Vorgehensweise, das Thema fallen zu lassen, findest du nicht?«
»Gwendolyn.« Mutter kniff die Augen zusammen. »Du bist in zehn Sekunden in deinem Zimmer verschwunden, oder ich schwöre bei Gott im Himmel, dass ich dir eine Tracht Prügel verabreichen werde.«
Aha. Langsam kamen sie zur Sache. Gwendolyn unterdrückte einen kurzen Anflug kindlicher Angst und dann ihre noch viel verständlichere Wut. Sie zwang sich zu einer ruhigen und vernünftigen Einschätzung der Lage im Raum.
Mutters Ausbruch hatte Sarah erschreckt. Die Zofe stand starr da. Natürlich war ihr bewusst, dass eine derartige Zurschaustellung von Gefühlen seitens einer der führenden Damen von Habbel Morgen nicht für die Augen und Ohren eines Dienstmädchens bestimmt war. Mutter war in ihrem Zorn äußerst unbedacht gewesen, denn Sarah wagte es auch nicht, das Zimmer einfach zu verlassen. Wie sollte sich das arme Mädchen verhalten?
»Sarah«, sagte Gwendolyn, »ich glaube, Cook hat erwähnt, dass sie wieder unter Rückenschmerzen leidet. Wäre es möglich, dass Sie ihr heute Morgen bei der Arbeit helfen? Könnten Sie es wohl freundlicherweise übernehmen, Vater das Frühstück zu bringen, damit Cook nicht die Treppe hinaufsteigen muss?«
»Aber gewiss, Lady Gwendolyn«, sagte Sarah und knickste knapp. Sie schenkte Gwendolyn ein dankbares und entschuldigendes Lächeln und verließ bedächtig das Zimmer.
Gwendolyn lächelte, bis Sarah hinausgegangen war, dann wandte sie sich um und sah ihre Mutter mit gerunzelter Stirn an. »Das war nicht sehr rücksichtsvoll von dir.«
»Versuch ja nicht, das Thema zu wechseln«, sagte Mutter. »Du ziehst sofort diesen lächerlichen Handschuh aus, oder du wirst sehen, was du davon hast.«
Gwendolyn zog eine Augenbraue hoch. »Dir ist klar, dass ich bewaffnet bin, oder?«
Mutter funkelte sie mit ihren dunklen Augen an. »Das wagst du nicht.«
»Eigentlich sollte es nicht notwendig sein«, erwiderte Gwendolyn. »Allerdings habe ich für Prügel noch weniger übrig als für die Aussicht, meine Tage in diesem trostlosen Mausoleum oder einem ähnlichen zu verbringen. Bei der Garde ist es mit Sicherheit interessanter.« Sie hob das Kinn und kniff die Augen zusammen. »Stell mich nicht auf die Probe, Mutter.«
»Du bist unmöglich, Kind«, sagte Mutter. »Ergreift sie.«
In diesem Moment begriff Gwendolyn, dass die Drohung und die Wut ihrer Mutter nur vorgetäuscht waren, um Gwendolyn abzulenken, damit sich ihr zwei Hauswachen lautlos von hinten nähern konnten. Sie trat rasch einen Schritt zur Seite und spürte, wie sie am linken Arm von kräftigen Händen gepackt wurde. Hätte sie sich nicht bewegt, hätte der zweite Mann im gleichen Augenblick ihren rechten Arm erwischt, und ihre Möglichkeiten wären arg eingeschränkt gewesen.
Stattdessen ergriff sie nun das Handgelenk des Angreifers, drehte sich mit Schwung zu ihm herum, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und befreite sich gleichzeitig aus seinem Griff. Aus derselben Drehbewegung heraus warf sie ihn über die Hüfte zu Boden. Im Fallen riss der Mann die zweite Wache mit, und die beiden stürzten. Gwendolyn hob leicht die Röcke an und stieß der zweiten Wache, als diese sich gerade wieder aufrichten wollte, mit dem Fuß den Arm unter dem Körper weg. Der Mann landete auf dem ersten, ächzte überrascht und starrte sie böse an.
»Tut mir wirklich entsetzlich leid«, entschuldigte sich Gwendolyn. »Es ist nicht persönlich gemeint.« Dann trat sie ihm hart an den Kopf. Der Mann stöhnte kurz und brach benommen zusammen.
»Esterbrook!«, rief Mutter.
Gwendolyn drehte sich um. Esterbrook, Hauptmann der Wache des Hauses Lancaster, betrat das Zimmer. Esterbrook war ein schlanker, gefährlich wirkender Mann mit der wettergegerbten Haut eines Aeronauten und Marinesoldaten, der jahrelang der gnadenlosen Sonne ausgesetzt gewesen war. Er trug eine Jacke, die nach Art der Uniform der Marinesoldaten geschneidert war, denen er früher angehört hatte. An der einen Hüfte trug er die kurze, schwere und kupferkaschierte Klinge eines Marinesoldaten. Der Kampfhandschuh an seiner Linken bestand aus dickem, altem Leder, die kupferne Halterung um Unterarm und Handgelenk glänzte jedoch so blank wie Gwendolyns neueres Modell.
Gwendolyn konzentrierte sich, entfernte sich von den Männern am Boden und hob die Linke, um den Kristall an ihrer Handfläche auf Esterbrook zu richten. Sie visierte ihr Ziel, den grauen Kopf des Hauptmanns, durch das V zwischen Zeige- und Mittelfinger an. Inzwischen erwachte der Kristall durch ihre Konzentration zum Leben. Kaltes weißes Licht blitzte auf und veränderte die Schatten im Zimmer. Ihre Mutter blinzelte in der plötzlichen Helligkeit.
»Guten Morgen, Hauptmann Esterbrook«, grüßte Gwendolyn gelassen. »Ich sehe, dass Ihre Uniform mit Seide gefüttert ist. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich auf Ihren Kopf ziele. Bitte zwingen Sie mich nicht zu einer Reaktion, die zu tragischer Verschwendung von Leben führt.«
Esterbrook betrachtete sie durch seine abgedunkelte Brille. Dann nahm er sie sehr langsam ab und blinzelte ins Ätherlicht der Waffe, die Gwendolyn auf ihn richtete. Seine Augen hatten eine unheimliche goldgrüne Farbe, und die katzenartigen Pupillen zogen sich im Licht zu vertikalen Schlitzen zusammen.
»Recht schnell«, lobte er.
Gwendolyn musste lächeln. »Ich hatte einen ausgezeichneten Lehrer, Sir.«
Der Anflug eines ironischen Grinsens huschte über Esterbrooks Gesicht, dann nickte er anerkennend. »Und wer hier im Turm hat Ihnen den Kampfstil des Wegs beigebracht?«
»Cousin Benedict, wer sonst?«, antwortete sie.
»Ha«, sagte Esterbrook. »Ich habe das Parfüm an ihm gerochen. Dachte schon, er hätte sich mit einer Frau eingelassen.«
Mutter gab einen angewiderten Laut von sich, der ihr kaum hörbar durch die aufeinandergepressten Lippen entschlüpfte. »Ich habe dir jeden näheren Umgang mit ihm ausdrücklich verboten, Gwendolyn.«
»Gewiss, Mutter, ja«, stimmte Gwendolyn zu. »Hauptmann, wären Sie so freundlich, Ihre Waffe abzulegen?«
Esterbrook starrte sie noch kurz an, ehe sich die Falten in seinen Augenwinkeln vertieften. Er neigte den Kopf in ihre Richtung und löste den Schwertgurt mit der rechten Hand. Die Waffe fiel zu Boden.
»Was tun Sie da?«, verlangte Mutter zu wissen.
»Mylady«, antwortete Esterbrook höflich, »Miss Gwen hält eine tödliche Waffe in der Hand, die sie auch einzusetzen weiß.«
»Sie wird sie nicht einsetzen«, sagte Mutter. »Nicht gegen Sie. Und nicht gegen ihre Familie.«
Gwendolyn fühlte sich ertappt. Natürlich hatte Mutter recht. Das wäre undenkbar – aber sie hatte genauso wenig die Absicht, ihr Leben im Sitz der Lancasters wie in einem Kloster zu verbringen und sich mit sinnlosen und todlangweiligen Dingen wie Bällen, Diners, Konzerten und der Schule zu befassen. Sie durfte Mutter nicht gestatten, sie auf die Probe zu stellen.
Daher drehte sie den Arm leicht und feuerte Strahlen aus Ätherenergie von dem Kristall an ihrer Handfläche ab.
Mit heulendem Kreischen zerschnitt ein blendender Blitz die Luft. Eine Sekunde später folgte ein Getöse wie Donner, und eine Marmorstatuette auf einem Beistelltisch hinter Esterbrook verwandelte sich in Staub und Splitter. Die Bruchstücke flogen durch den Raum, prallten von den Wänden ab, und erst nach einigen Sekunden kehrte wieder Stille ein.
Mutter starrte Gwendolyn bleich und mit offenem Mund an. Sie war zur Hälfte mit feinem Marmorstaub bedeckt. Auch Esterbrook war mit Staub überzogen, doch hatte er sich nicht gerührt und auch keine Miene verzogen.
»Hauptmann«, sagte Gwendolyn, »wenn Sie so freundlich wären und fortfahren würden.«
»Miss«, sagte er und nickte erneut. Er hielt den linken Arm vollkommen reglos, schnallte sehr langsam die Riemen des Kampfhandschuhs ab und ließ ihn auf den Boden fallen.
»Danke, Hauptmann«, sagte Gwendolyn. »Und jetzt treten Sie bitte zur Seite.«
Esterbrook sah Mutter an, breitete hilflos die Arme aus und entfernte sich ein paar Schritte von seinen Waffen.
»Nein«, fauchte Mutter. »Nein.« Rasch ging sie zu der unglaublich teuren und mit Messing beschlagenen Tür, deren Holz aus den tödlichen Nebelwäldern der Oberfläche stammte. Nun drehte sie den Schlüssel im Schloss und zog ihn ab. Als sie wieder auf ihren Platz zurückgekehrt war, reckte sie wütend das Kinn in die Höhe. »Du wirst gehorchen, Kind.«
»Ehrlich, Mutter«, erwiderte Gwendolyn, »wenn das so weitergeht, werden uns die Kosten für die Renovierung noch in den Ruin treiben.«
Gwendolyns Kampfhandschuh heulte erneut auf, und ein Teil der Tür verwandelte sich in Holzsplitter und verbogenes Messing. Der Rest wurde aus der Halterung gerissen, flog in den Gang und zerbrach auf dem Boden.
Gwendolyn hob den Arm, bis der Kristall parallel mit ihrem Gesicht war, und schritt langsam auf die Tür zu. Die Hauswachen hinter ihr stöhnten und rappelten sich auf. Gwendolyn war erleichtert. Sie hatte die beiden nicht wirklich verletzen wollen. Benedict hatte ihr erklärt, dass Schläge an den Kopf immer Gefahren bargen.
»Nein«, flüsterte Mutter, als sie an ihr vorbeiging. »Gwendolyn, nein! Das kannst du nicht machen. Du hast keine Ahnung, welches Grauen dir bevorstehen könnte.« Sie atmete heftig, und …
Gnädige Erbauer.
Mutter weinte.
Gwendolyn zögerte und blieb stehen.
»Gwendolyn, bitte, du bist mein einziges Kind«, flüsterte Mutter.
»Eben. Wer außer mir soll das Haus Lancaster in der Garde vertreten?« Gwendolyn sah ihre Mutter an. Die Tränen hinterließen Spuren in der dünnen Staubschicht auf ihrem Gesicht.
»Bitte, geh nicht.«
Gwendolyn zögerte. Wie alle Lancasters war sie ehrgeizig und distanziert, doch wie Mutter besaß sie auch ein Herz. Tränen … Tränen waren ohne Beispiel. Nur einmal hatte sie ihre Mutter weinen sehen, und das auch nur vor Lachen.
Vielleicht hätte sie sich etwas mehr Gedanken darüber machen sollen, wie sie ihrer Mutter die Entscheidung beibrachte, dass sie sich freiwillig meldete. Aber jetzt hatte sie keine Zeit mehr zum Reden. Die Anmeldung für die Garde fand heute Morgen statt.
Sie sah ihrer Mutter in die Augen. Weinen würde sie nicht. Nein, ganz bestimmt nicht. So gern sie das vielleicht auch getan hätte.
»Ich habe dich sehr lieb«, sagte sie leise.
Damit stieg Gwendolyn Margaret Elizabeth Lancaster über die Reste der zerschmetterten Tür und verließ das Haus.
Lady Lancaster schaute ihrer Tochter mit Tränen in den Augen hinterher. Sie wartete, bis sie hörte, dass sich die große Haustür des Familiensitzes geschlossen hatte, ehe sie sich an Esterbrook wandte.
»Alles in Ordnung, Hauptmann?«
»Ein bisschen überrascht vielleicht, aber sonst ist alles in Ordnung«, sagte er. »Männer?«
»Lady Gwen«, sagte eine der Wachen, berührte seine Wange und zuckte zusammen, »geht ganz schön zur Sache.«
»Ihr habt dem Gegner einfach nicht den nötigen Respekt erwiesen«, meinte Esterbrook amüsiert. »Geht frühstücken. Wir beschäftigen uns heute Vormittag damit, wie man Personen ergreift.« Die Männer schlurften betreten hinaus, und Esterbrook schaute ihnen hinterher, offensichtlich zufrieden. Dann wandte er sich Lady Lancaster zu. »Mylady … weinen Sie?«
»Gewiss«, antwortete sie mit Stolz in der Stimme. »Haben Sie das gesehen? Sie hat sich gegen Sie drei durchgesetzt.«
»Gegen uns vier«, berichtigte Esterbrook sie milde.
»Gwendolyn hatte noch nie ein Problem damit, sich gegen mich durchzusetzen«, erwiderte Lady Lancaster trocken.
Esterbrook schnaubte. »Ich verstehe noch immer nicht, warum diese Dramatik notwendig war.«
»Weil ich meine Tochter kenne«, sagte sie. »Und es gibt nur einen Weg, um sicherzugehen, dass sie etwas auch ganz bestimmt tut: wenn ich es ihr verbiete.«
»Erinnert mich an jemand anders, der unbedingt den Dienst ableisten wollte, Mylady«, sagte Esterbrook. »Nun ja …«
»Ich war jung und stur, wie Sie sehr wohl wissen. Aber ich habe bei meinem Aufbruch nicht so ein Theater gemacht.«
»Natürlich nicht«, lachte Esterbrook. »Soweit ich mich entsinne, Mylady, haben Sie drei Türen zu Kleinholz verarbeitet, nicht nur eine.«
Lady Lancaster sah den Hauptmann streng an. »Ehrlich, Esterbrook. Sie übertreiben.«
»Und ein halbes Dutzend Statuen.«
»Es waren geschmacklose Repliken, nichts weiter.«
»Und ein drei Meter breites Stück einer steinernen Wand.«
»Mutter stand in der Tür. Wie sollte ich sonst hinaus?«
»Sehr wohl, Mylady«, meinte Esterbrook ernst. »Danke für die Richtigstellung. Von Ähnlichkeit zu sprechen wäre wirklich übertrieben.«
»Ich habe mir gedacht, dass Sie es so sehen würden«, sagte sie. »Sie sind ein kluger Mann.«
»Ja, Mylady. Aber …« Esterbrook runzelte die Stirn. »Sie soll also unbedingt ihren Dienst ableisten. Ich verstehe nur nicht ganz den Grund dafür.«
Lady Lancaster musterte ihn einen Augenblick lang nachdenklich. Esterbrook war ein treuer Soldat, ein wertvoller Gefolgsmann und ihr Freund und Verbündeter, seit sie denken konnte – doch mit diesen Katzenaugen eines Kriegerstämmigen nahm er meist nur die unmittelbare Umgebung wahr. Wenn sie Esterbrook bitten würde, dann könnte er ihr jetzt mit geschlossenen Augen den Platz jedes einzelnen Gegenstandes im Raum nennen. Aber er würde nicht wissen, wo sich dieser Gegenstand vor der letzten Renovierung des Zimmers befunden hatte oder wohin er nun gebracht würde, nachdem die wichtigste Statuette zerstört war. Der Kriegerstämmige befasste sich am besten mit der Gegenwart, wohingegen sie sich, wie alle Lancasters vor ihr, mit der fernen Vergangenheit beschäftigte – und mit der nahen Zukunft.
»In den Türmen geraten Dinge in Bewegung«, sagte sie leise. »Es gibt Vorzeichen und Omen. Vier Aeronauten der Flotte haben von der Sichtung eines Erzengels berichtet, und sie schwören, sie wären weder betrunken gewesen, noch hätten sie geschlafen. Turm Aurora hat seine Gesandten aus Turm Albion abberufen, und unsere Flotten führen bereits einzelne Gefechte. Die unteren Habbel werden zunehmend unruhig, und …«
Esterbrook legte den Kopf schief. »Mylady?«
»Die Kristalle. Sie verhalten sich seltsam.«
Esterbrook zog fragend die Augenbrauen hoch.
Lady Lancaster schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber ich arbeite seit meiner Kindheit mit ihnen, und irgendetwas stimmt da nicht.« Sie seufzte und wandte sich der zerschmetterten Tür zu. »Es liegen dunkle Zeiten vor uns, alter Freund. Ein Konflikt, wie wir ihn nicht gesehen haben seit dem Bruch der Welt. Meine Tochter muss selbstständig werden. Sie muss etwas über ihre Gegner erfahren, und sie muss begreifen, was auf dem Spiel steht. In der Garde wird sie darauf vorbereitet wie nirgendwo sonst.«
»Konflikt«, sagte Esterbrook. »Konflikt scheint ja bereits der stete Begleiter der Lady Gwen zu sein.«
Lady Lancaster betrachtete die zerstörte Tür und den Staub, der immer noch durchs Zimmer wallte.
»Ja«, sagte sie leise. »Gott im Himmel, Erzengel, gnädige Erbauer, bitte. Bitte schützt mein Kind.«