Maritas Versteck
Warum eine junge Mutter im Doktorhaus Zuflucht suchte
Als alleinerziehende Mutter von Zwillingsmädchen hat Marita den Traum von der großen Liebe längst aufgegeben. Welcher Mann interessiert sich schon für eine Frau, die nur mit zwei Kindern im Gepäck zu haben ist? Doch dann begegnet ihr der charmante und einfühlsame Gärtner Jasper Uhl. Jasper ist nicht nur sehr aufmerksam Marita gegenüber, sondern er scheint sich auch wunderbar mit Lea und Lili zu verstehen. Schnell werden Jasper und Marita ein Paar, und die junge Mutter schwebt auf Wolke sieben. Doch lange soll ihr Glück nicht halten. Schon nach wenigen Wochen erhält Marita Briefe, in denen sie ein anonymer Verfasser davor warnt, dass Jasper nicht bloß väterliche Gefühle für die Kinder hegt …
Marita ist schockiert. Ihr Jasper ein Kinderschänder? Das kann sie nicht glauben! Doch schließlich trägt sie nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern auch für die beiden Mädchen. Und so flüchtet sie mit Lea und Lili zu dem einzigen Menschen, dem sie zu hundert Prozent vertraut: Dr. Stefan Frank …
Ein schriller Aufschrei ließ Marita Volkmann erschrocken in ihrer Arbeit innehalten.
„Frau Silvester? Frau Silvester!“
Als sie keine Antwort erhielt, sprang sie auf und verließ das Badezimmer, in dem sie gerade versucht hatte, den verstopften Abfluss der Dusche zu reinigen. Sie eilte ins Wohnzimmer der kleinen Dreizimmerwohnung, wo sie Agathe Silvester hilflos vor ihrem Sessel liegend vorfand.
Erschrocken kniete Marita neben ihr nieder.
„Frau Silvester, was machen Sie denn für Sachen?“ Sie half der zierlichen alten Dame, sich aufzurichten.
„Mir ist nach dem Aufstehen plötzlich schwindelig geworden, aber bevor ich mich wieder hinsetzen konnte, lag ich schon auf dem Teppich.“ Agathe Silvester umklammerte Maritas Hand. „Was für ein Glück, Marita, dass Sie gerade hier sind. Wenn ich allein gewesen wäre … nicht auszudenken!“
Behutsam tastete Marita Arme, Beine und Rippen der alten Dame ab.
„Ich glaube, Sie hatten Glück im Unglück, gebrochen haben Sie sich nichts. Tut Ihnen etwas weh?“
„Der rechte Fuß, mit dem bin ich umgeknickt.“
Auch den Fuß untersuchte Marita.
„Eine Prellung, schätze ich. Ich mache Ihnen gleich einen elastischen Verband. Auf jeden Fall sollten Sie den Fuß ein paar Tage lang schonen. Und jetzt helfe ich Ihnen erst einmal, aufzustehen, kommen Sie.“
Sie stellte sich hinter Agathe Silvester, schob ihre Hände unter deren Achseln und zog sie in die Höhe. Die alte Dame humpelte, von Marita gestützt, die zwei Schritte zu ihrem Sessel und ließ sich mit einem erleichterten Aufatmen hineinsinken.
Marita eilte zurück ins Bad, öffnete den Medikamentenschrank und entnahm ihm eine elastische Binde. Sie wusste über den Inhalt dieses Schranks bestens Bescheid, denn es kam oft vor, dass Frau Silvester etwas daraus benötigte. Zurück im Wohnzimmer, zog sie der alten Dame den Strumpf vom rechten Fuß, betastete diesen noch einmal sorgfältig und legte dann geschickt den Verband an.
„Sie sind bestimmt eine ausgezeichnete Krankenschwester, Marita.“
„Ich habe den Beruf auf jeden Fall sehr gern ausgeübt, aber daran ist für die nächsten Jahre nicht zu denken. Wenn ich im Schichtdienst arbeite, sehe ich meine Kinder noch weniger. Jetzt kann ich mir meine Arbeitszeit weitgehend selbst einteilen, und an den Wochenenden bin ich zu Hause. Also putze ich lieber. Es ist ja nicht für ewig.“
Der letzte Satz war Maritas Trost, denn sie sehnte sich danach, wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können. Aber mit bald vierjährigen Zwillingen war das nicht zu machen. Ein paar Jahre noch … Wenn die beiden älter und verständiger geworden waren, würde sie sich erneut bewerben. Marita konnte nur hoffen, dass die lange Auszeit ihr nicht zum Nachteil ausgelegt wurde.
„Sie müssten einen netten Mann finden, Marita. Einen, der auch Ihre Mädchen ins Herz schließt.“
„Und wo soll ich den finden? Die meisten Männer hätten gern Kinder, aber eigene. Sie sind nicht besonders scharf darauf, die Kinder eines anderen Mannes großzuziehen.“
„Und vom Vater der Zwillinge hören Sie nichts mehr?“
„Kein Wort. Ich weiß nicht einmal, wo er sich aufhält. Aber ich will sowieso keinen Unterhalt von ihm haben, ich schaffe das schon allein.“
„Er muss ein sehr dummer Mann sein“, stellte Agathe Silvester mit Nachdruck fest. „Sonst hätte er eine Frau wie Sie niemals sitzengelassen.“
„Ich schätze mal, die Dummheit lag eher bei mir“, erwiderte Marita nachdenklich. „Er sah gut aus, aber eigentlich wusste ich sofort, dass er kein Mann ist, auf den man sich verlassen kann. Diese Erkenntnis habe ich verdrängt, weil ich ihn unbedingt haben wollte. Neun Monate später hatte ich Zwillinge und keinen Mann mehr.“
Sie schloss den Verband mit einer Klammer und zog Agathe Silvester den Strumpf wieder an, darüber einen weichen Filzpantoffel. Entschlossen wechselte sie das Thema.
„Haben Sie mal mit Herrn Dr. Frank über Ihren Schwindel gesprochen, Frau Silvester?“
„Nein, ich habe das bis jetzt nicht ernst genommen.“ Die alte Dame lächelte verlegen. „Außerdem habe ich doch sowieso immer so viele Wehwehchen, da mag ich dem Herrn Doktor nicht auch noch wegen einer solchen Kleinigkeit kommen.“
Marita erwiderte nachdenklich den Blick der blassblauen Augen, die vertrauensvoll auf sie gerichtet waren. Sie hatte Agathe Silvester ins Herz geschlossen, sie sorgte sich aufrichtig um die zarte kleine Person, die keine Angehörigen hatte. Agathes Freunde waren in den letzten Jahren selbst alt und gebrechlich geworden, sodass sie sich nur noch selten zu einem Besuch aufraffen konnten.
Natürlich wusste Marita, dass Frau Silvester nicht ganz allein war. Die alte Dame verbrachte viel Zeit am Telefon, es war ihr Tor zur Welt. Und Marita wusste auch, dass ihre Anwesenheit in der Wohnung – sie kam zwei Mal pro Woche für je zwei Stunden – Agathe erfreute und belebte. Doch was waren schon vier Stunden, wenn man den Rest der Zeit allein verbringen musste?
Marita erledigte auch viele Einkäufe für Agathe Silvester, sie brachte sie zum Friseur, nahm ihr manchmal Behördengänge ab, hatte sie auch schon zum Arzt begleitet. An guten Tagen konnte die alte Dame das allein bewältigen, aber die nicht so guten Tage wurden häufiger.
„Soll ich einen Termin bei Herrn Dr. Frank ausmachen?“, fragte sie. „Es ist ja nicht weit bis dahin. Sie könnten sich auf Ihren Rollator setzen, ich schiebe Sie.“
Aber davon wollte Frau Silvester nichts hören.
„Das kommt nicht infrage“, sagte sie so energisch, wie sie in letzter Zeit nur noch selten auftrat. „Ich warte ein paar Tage, bis ich wieder richtig laufen kann, und dann gehe ich zu Herrn Dr. Frank. Das schaffe ich allein, Marita.“
„Wie Sie wollen. Möchten Sie noch einen Tee? Ich kann Ihnen schnell einen kochen, aber dann muss ich im Bad weitermachen, der Abfluss ist arg verstopft.“
„Danke, ich möchte nichts im Augenblick. Gehen Sie nur wieder ins Bad.“
Marita schob aber doch noch einen Hocker vor den Sessel.
„Legen Sie den Fuß hoch, das ist besser“, sagte sie, bevor sie das Wohnzimmer wieder verließ.
Als sie nach einigen Minuten vorsichtig um die Ecke spähte, weil sie keinen Laut hörte, sah sie, dass die alte Dame eingeschlafen war.
Leise kehrte sie ins Bad zurück und schloss die Tür hinter sich, während sie ihr Handy herausholte und eine Nummer aus dem Adressbuch anwählte. Frau Silvester würde mit ihr schimpfen, doch das nahm sie in Kauf.
***
Stefan Frank sah auf, als seine langjährige Mitarbeiterin Martha Giesecke das Sprechzimmer betrat. Er saß am Schreibtisch und machte sich noch einige Notizen zu seinem letzten Patienten.
„Ein Notfall?“, fragte er, als er ihr ernstes Gesicht sah.
„Nein, nicht direkt, Chef“, antwortete sie.
Sie war mittlerweile in Ehren ergraut, und es gab unvorsichtige Menschen, die es wagten, sie zu fragen, wann sie denn in Rente zu gehen gedächte.
„Rente?“, fragte sie dann mit hochgezogenen Augenbrauen und in einem Tonfall, der andeutete, dass das vielleicht etwas für andere Leute war, aber ganz bestimmt nicht für sie. „Wie kommen Sie darauf, det ick in Rente geh?“
Es gab niemanden, der ihr diese Frage ein zweites Mal zu stellen wagte. Die Patienten, die schon lange in Stefan Franks Praxis in der Gartenstraße in Grünwald kamen, taten es ohnehin nicht. Für sie war Martha Giesecke eine wichtige Bezugsperson, von der sie hofften, sie werde ihnen noch lange erhalten bleiben.
„Frau Volkmann hat angerufen.“
„Ist etwas mit den Zwillingen?“, fragte Stefan Frank erschrocken. Er wandte sich nun endgültig von seinen Notizen ab und seiner Mitarbeiterin zu.
„Nein, nein, sie ist gerade bei Frau Silvester und sagt, die alte Dame sei gestürzt. Vorher sei ihr schwindelig gewesen. Passiert ist wohl nichts außer einer leichten Prellung am rechten Fuß, aber Frau Volkmann meint, der Schwindel sei nicht zum ersten Mal aufgetreten.“
„Und wieso weiß ich davon nichts? Mir gegenüber hat Frau Silvester noch nie über Schwindel geklagt.“
„Die Frage habe ich auch gestellt, Chef. Es ist wohl so, det Frau Silvester der Ansicht ist, sie hätte schon genug Beschwerden, mit denen sie regelmäßig hierher kommt, da wollte sie nicht auch noch über Schwindel klagen.“
„Dabei ist Schwindel für alte Menschen außerordentlich gefährlich. Ein böser Sturz kann schlimme Folgen haben.“
„Frau Volkmann fragt jedenfalls nach, ob Sie heute noch einen Besuch bei Frau Silvester machen könnten. Sie würde auch länger da bleiben, wenn es nicht allzu spät wird. Sie muss ja ihre Zwillinge aus dem Kindergarten abholen. Ick hab ihr versprochen, gleich zurückzurufen und ihr Bescheid zu sagen, ob das klappt bei Ihnen.“ Bevor er fragen konnte, setzte sie hinzu: „Wir haben noch zwei Patienten im Wartezimmer, dann sind wir fertig für heute. Keine schweren Fälle, in einer halben Stunde könnten Sie aufbrechen. Soll ick ihr das sagen?“
Er nickte ihr dankbar zu. Was er an Martha Giesecke besonders schätzte, war, dass sie selbstständig dachte. In der Regel wusste sie bereits, wie seine Entscheidung ausfallen würde, bevor er ihr das mitgeteilt hatte. Auf diese Weise sparten sie viel Zeit.
Gleich darauf betrat der nächste Patient das Sprechzimmer und nahm seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch.
***
Jasper Uhl war müde. In der Gärtnerei war viel zu tun gewesen, wie immer um diese Jahreszeit, und heute war auch noch ein Großauftrag hereingekommen. Er war nur Angestellter, aber sein Chef Norbert Winkel hatte schon mehrmals durchblicken lassen, dass er Jasper als seinen Nachfolger ansah, denn seine eigenen Kinder hatten kein Interesse an einer Übernahme der Gärtnerei.
Jasper kam gut aus mit seinem Chef, man konnte sogar sagen, dass sie im Lauf der Zeit Freunde geworden waren. Norbert Winkel war schon Ende sechzig, was man ihm jedoch nicht ansah. Er hatte jetzt Enkelkinder, seine Frau wollte gern noch ein paar Reisen machen, und so war immer häufiger die Rede davon, dass er die Arbeit gerne allmählich reduzieren würde.
Jasper hingegen hoffte, dass Norbert noch eine Weile blieb. Er fand, dass er selbst noch längst nicht genug über das Geschäft wusste, um es bereits zu übernehmen. Er war ein guter Gärtner, aber ob er auch ein guter Geschäftsmann sein würde, musste sich ja erst noch herausstellen.
Er fuhr sehr langsam nach Hause. Duschen, etwas essen, vielleicht noch ein wenig fernsehen – viel mehr würde an diesem Abend nicht drin sein. Er hatte praktisch den ganzen Tag körperlich hart gearbeitet, das spürte er.
Doch als er den Wagen abgestellt hatte und die Gestalt vor seinem Haus stehen sah, wusste er schon, dass es eine Weile dauern würde, bis er seinen wohlverdienten Feierabend genießen konnte: Es war seine Exfreundin Nadja Behle.
Jasper hatte sich wenige Wochen zuvor von Nadja getrennt, und seitdem ging es ihm so viel besser, dass er nicht mehr nachvollziehen konnte, warum er diesen Schritt nicht viel früher vollzogen hatte.
Nadja war krankhaft eifersüchtig, was ihm jedoch zu Beginn ihrer Beziehung nicht aufgefallen war – vielleicht, weil sie sich beherrscht hatte. Doch je länger sie zusammen gewesen waren, desto deutlicher war ihre Eifersucht zutage getreten. Zum Schluss hatte er nicht einmal mehr telefonieren können, ohne dass sie Auskunft darüber verlangt hatte, mit wem er gerade sprach.
Er stieg aus und tat so, als hätte er sie noch nicht entdeckt, während er in Wirklichkeit überlegte, welches Verhalten jetzt am klügsten wäre. Er wollte keinen Streit mit ihr haben, er wollte ganz einfach nur, dass sie ihn endlich in Ruhe ließ, doch genau das schien sie nicht zu wollen.
Nadja kam bereits auf ihn zu.
„Da bist du ja endlich!“, rief sie strahlend und machte Anstalten, ihn zu umarmen.
Er wich zurück.
„Was soll das, Nadja?“, fragte er scharf. „Wir beide haben uns getrennt, also gibt es keinen Grund, weshalb du hier aufkreuzt.“ Eigentlich hatte er freundlich und ruhig bleiben wollen, doch sie neigte dazu, das misszuverstehen – auch diese Erfahrung hatte er in letzter Zeit bereits machen müssen.
„Du hast dich von mir getrennt, aber ich mich nicht von dir“, erwiderte sie. „Du bist der Mann meines Lebens, Jasper, ich gebe dich nicht so einfach auf.“
Sie hatten dieses und ähnliche Gespräche bereits öfter geführt. Jedes Mal hatte er sich eingebildet, er habe ihr endlich klarmachen können, dass die Trennung für ihn unwiderruflich war; und jedes Mal hatte er später seinen Irrtum erkennen müssen. Es war, als redeten Nadja und er unablässig aneinander vorbei, als sei sie nicht imstande, den Sinn dessen, was er sagte, zu erfassen.
„Es tut mir leid, dass du das so siehst“, sagte er mühsam beherrscht, „aber für mich stellt sich das völlig anders dar. Du bist nicht die Frau meines Lebens, im Gegenteil: Ich möchte mit dir nichts mehr zu tun haben. Wenn du das nicht verstehen kannst oder willst, tut es mir leid, aber so ist es. Also, bitte, verschwinde endlich aus meinem Leben, Nadja!“
Bisher hatte er es vermieden, so hart mit ihr zu reden. Er hatte gehofft, sie werde seine Entscheidung irgendwann akzeptieren und sich, schon um ihre Selbstachtung zu wahren, zurückziehen. Doch er hatte wohl zu viel erwartet. Offenbar musste man Nadja alles überdeutlich sagen.
Jeder Tropfen Blut wich aus ihrem Gesicht. Ihr Blick war der eines verletzten Tieres, und Jasper konnte nicht verhindern, dass er Mitleid für sie empfand. Doch er verhärtete sein Herz gegen diese Gefühle, wusste er doch aus Erfahrung, dass Nadja nur auf ein kleines Zeichen von Schwäche wartete, um sich ihm sofort wieder an den Hals zu werfen.
Also wandte er sich ohne ein weiteres Wort von ihr ab und ging mit langen Schritten auf die Haustür zu. Der Versuchung, sich noch einmal nach ihr umzudrehen, widerstand er – selbst das hätte sie falsch aufgefasst.
„Das wirst du bereuen, Jasper!“, hörte er sie schreien, während er die Tür aufschloss.
Er hielt nur einen kurzen Moment inne, drehte sich jedoch auch jetzt nicht um. Er betrat das Haus und ließ die Tür hinter sich zufallen, blieb dann jedoch erst einmal stehen, um tief durchzuatmen. Immerhin schien sie es heute endlich begriffen zu haben, das war eindeutig ein Fortschritt.
Nadjas Drohung zum Schluss hielt er für eine hilflose Geste. Sie sah ihre Chancen schwinden, also stieß sie Drohungen aus, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Als Erstes ließ Jasper sich ein Bad ein. Als er sich mit geschlossenen Augen im warmen Wasser ausstreckte, verblasste die Erinnerung an Nadjas bleiches Gesicht und die Worte, die sie ihm mit schriller Stimme nachgerufen hatte, allmählich.
Und später auf seinem Sofa, während er einen spannenden Krimi ansah, vergaß er sie vollständig.
***
„Herr Dr. Frank!“ Während sich Agathe Silvester in ihrem Sessel aufrichtete, warf sie Marita einen vorwurfsvollen Blick zu. „Haben Sie Herrn Dr. Frank angerufen?“
„Ja“, gab Marita zu. „Es war eigenmächtig, aber ich denke, Sie sollten mit Ihrem Hausarzt über Ihren Schwindel reden.“
„Dieser Meinung bin ich auch“, stimmte Stefan Frank der jungen Frau zu. „Eigentlich müsste ich mit Ihnen schimpfen, Frau Silvester, dass Sie das nicht schon längst von sich aus getan haben.“
„Deshalb sind Sie heute so lange geblieben, Marita.“ Die alte Dame schmollte noch immer.
„Deshalb und weil ich mir Sorgen um Sie gemacht habe“, erklärte Marita. „Möchten Sie etwas trinken, Herr Dr. Frank? Ein Glas Wasser oder Saft? Oder vielleicht einen Kaffee?“
„Gegen eine Tasse Kaffee hätte ich nichts einzuwenden“, sagte er.
Marita ging also in die kleine Küche, um den Kaffee zu kochen, während Stefan Frank begann, seine Patientin zunächst einmal zu untersuchen. Die Untersuchung bestätigte Marita Volkmanns Diagnose: Gebrochen war nichts, der rechte Fuß wies lediglich eine Prellung auf, zum Glück eine leichte. Danach befragte er seine Patientin nach den Situationen, in denen der Schwindel auftrat. Es war nicht leicht, von Agathe Silvester präzise Auskünfte zu bekommen, da sie sich bis jetzt offenbar geweigert hatte, sich mit ihrem Problem gedanklich zu befassen.
„Ich wollte nicht darüber nachdenken, Herr Doktor“, gestand sie kleinlaut. „Aber es stimmt, was Marita gesagt hat: Mir ist schon öfter ganz plötzlich schwindelig geworden, und eigentlich ist es ein Wunder, dass ich nicht schon früher gefallen bin.“
„Dann seien Sie froh, dass Sie so einen weichen Teppich haben und außerdem nicht allein waren, Frau Silvester. Wir gehen das jetzt noch einmal in Ruhe durch: Wird Ihnen beim Gehen schwindelig? Oder wenn Sie sitzen?“
„Im Sitzen bestimmt nicht!“, rief sie verwundert. „Gibt es das überhaupt?“
„Doch, das gibt es durchaus. Im Gehen?“
Sie dachte intensiv nach, schüttelte schließlich den Kopf.
„Nein, im Gehen auch nicht. Auch nicht, wenn ich irgendwo stehe.“ Wieder dachte sie nach und hatte die Antwort schließlich gefunden. „Es passiert eigentlich nur, wenn ich plötzlich aufstehe. Manchmal auch nachts, wenn ich zur Toilette muss. Oder morgens, wenn ich mich zu schnell aufrichte.“ Ihr Blick wurde ängstlich. „Ist das etwas Schlimmes, Herr Dr. Frank?“
„Nein, vermutlich nicht“, antwortete er. „Ich muss trotzdem mehrere Untersuchungen durchführen, damit wir ausschließen können, dass eine ernsthafte Gesundheitsstörung vorliegt. Aber wenn es das ist, was ich vermute, dann helfen dagegen ein paar einfache Übungen, die ich Ihnen zeigen kann. Sie werden die Symptome vielleicht nicht völlig zum Verschwinden bringen, aber zumindest deutlich bessern.“
Marita brachte ihm seinen Kaffee, für den er ihr mit einem Lächeln dankte.
„Es ist nichts Schlimmes, Marita“, sagte Agathe Silvester erleichtert.
„Wahrscheinlich nicht“, korrigierte Stefan Frank. „Wir untersuchen das noch, aber ich denke nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.“
Die alte Dame strahlte.
„Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe mir doch Sorgen gemacht wegen dieser Schwindelanfälle“, gestand sie, während Stefan Frank seinen Kaffee trank. „Ich habe zwar versucht, diese Sorgen zu verdrängen, aber das hat nicht besonders gut geklappt.“
„Also hat Frau Volkmann alles richtig gemacht.“
Ein Blick voller Reue traf Marita. „Ich hätte Ihnen keine Vorwürfe machen dürfen, Marita, Sie haben mir ja geholfen.“
„Schon gut, Frau Silvester. Könnte ich dann jetzt gehen? Meine beiden werden schon ungeduldig warten. Ich habe den Erzieherinnen gesagt, dass ich mich heute verspäte, das war zum Glück kein Problem, aber jetzt muss ich wirklich los.“
„Ich bleibe noch ein wenig bei Frau Silvester“, versprach Stefan Frank, als er Marita zur Tür brachte. „Danke, dass Sie angerufen haben. Es war das einzig Richtige, Frau Volkmann.“
Sie verabschiedeten sich mit einem herzlichen Händedruck voneinander.
***
Lili Volkmann war zehn Minuten älter als ihre Schwester Lea, und sie bildete sich darauf viel ein. Sie war auch zwei ganze Zentimeter größer als Lea, was für Dreijährige, deren vierter Geburtstag nicht mehr fern war, einen gewaltigen Unterschied macht.
So hatte es sich ergeben, dass Lili in der Regel den Ton angab – auch deshalb, weil Lea von Natur aus viel gefügiger war. Sie folgte Lili gern und vertrauensvoll. Obwohl Lili oft Ideen hatte, die bei den Erwachsenen auf wenig Verständnis stießen, wäre Lea nie auf die Idee gekommen, sich ihrer ‚großen‘ Schwester zu widersetzen.
An diesem Tag hatte Lili die grandiose Idee gehabt, eine Brötchenhälfte mit Schokoaufstrich auf den Stuhl einer Erzieherin zu legen, mit der Schokoladenseite nach oben. Ihre Hoffnung war gewesen, die Erzieherin werde sich setzen, ohne das Brötchen zu bemerken. Den Stuhl hatten sie ordentlich unter den Tisch geschoben, sodass das Brötchen nicht sofort zu sehen war.
Zum Entzücken mehrerer Kinder war genau das geschehen, was sie sich erhofft hatten. Sie konnten gar nicht mehr aufhören, über die braunen Flecken auf der Hose der Erzieherin zu kichern und zu tuscheln, bis diese von einer Kollegin auf ihr Missgeschick aufmerksam gemacht wurde und schleunigst die Hose wechselte.
Selbstverständlich kam die Wahrheit ans Licht, und selbstverständlich wurde Lea gemeinsam mit Lili bestraft. Schließlich war sie es gewesen, die auf Lilis Geheiß das Brötchen auf den Platz der Erzieherin gelegt hatte.
Lili machte es nicht viel aus, dass sie vom nachmittäglichen gemeinsamen Kuchenessen ausgeschlossen wurden, Lea hingegen, die gerne Süßes aß, schaute immer wieder sehnsuchtsvoll zum Tisch hinüber. Ihr wurde etwas weinerlich zumute, was noch dadurch verschlimmert wurde, dass Margit – die Erzieherin, der sie den Streich gespielt hatten – ihnen im Laufe des Nachmittags mitteilte, ihre Mama werde sie an diesem Tag erst später abholen können.
Lea bezog das unmittelbar auf den Streich, sie war fest davon überzeugt, dass es sich bei Maritas Verspätung um eine weitere Strafe handelte. Lili hingegen blieb von dieser Mitteilung, zumindest äußerlich, vollkommen unberührt.
Irgendwann fing Lea an zu weinen. Erst wurde sie bestraft, obwohl sie nur getan hatte, was Lili wollte, und nun ließ auch noch ihre Mama sie im Stich. Das war einfach zu viel für sie.
Als Marita schließlich eintraf, um ihre Zwillinge abzuholen, traf sie eine verbissen schweigende Lili und eine bitterlich weinende Lea an. Natürlich fragte sie erschrocken, was denn passiert sei, und erfuhr sogleich vom Schokoladenbrötchen auf der Hose der Erzieherin.
Marita kannte ihre beiden Töchter gut und konnte entsprechend sofort einschätzen, wer für dieses Vorkommnis verantwortlich war. Das wussten im Übrigen auch die Erzieherinnen, die freilich versuchten, Lea endlich davon abzubringen, ihrer Zwillingsschwester bei allem, was sie vorschlug, blind zu folgen. Bisher hatten sie mit ihren Maßnahmen allerdings keinen Erfolg gehabt.
„Wir reden zu Hause darüber“, erklärte Marita, dankte der Erzieherin, die die Zwillinge länger gehütet hatte als üblich, und fuhr mit ihnen nach Hause.
Als alle drei in der Küche saßen, weinte Lea zwar nicht mehr, aber sie aß auch nicht. Während Lili mit gutem Appetit ihr Brot verdrückte, bestand Lea darauf, auf Maritas Schoß zu sitzen und sich klein zusammengerollt in ihre Arme zu kuscheln.
„Das muss aufhören“, sagte Marita in strengem Ton.
Lili sah ihre Mutter so verwundert und unschuldig an, als ahnte sie nicht einmal, wovon die Rede war, doch Marita ließ sich nicht täuschen.
„Lea“, sagte sie, „ich rede auch mit dir, also hör mir zu.“
Zögernd tauchte das Gesicht der Kleinen auf, das bis dahin in der Armbeuge ihrer Mutter versteckt gewesen war.
„Ich habe dir schon öfter gesagt, dass du selbst nachdenken sollst. Wieso tust du, was Lili vorschlägt, obwohl du genau weißt, dass das ein übler Streich ist?“
Lea wusste nicht, was sie sagen sollte; Lili schob trotzig ihre Unterlippe vor.
„Es war lustig“, sagte sie. „Alle haben gelacht.“
„Für euch war es vielleicht lustig, für Margit ganz bestimmt nicht. Dabei mögt ihr Margit doch, oder? Wollt ihr sie traurig machen?“
„Traurig war sie nicht“, erklärte Lili, „bloß sauer.“
„Weich nicht aus, Lili!“ Unwillkürlich war Maritas Ton schärfer geworden. „Zur Strafe werden wir am Wochenende nicht in den Zoo gehen.“
Das war eine schlimme Strafe, die nun auch bei Lili für Tränen sorgte, doch Marita ließ sich nicht erweichen. Bei Lili half nur Konsequenz, das wusste sie, und Lea würde hoffentlich irgendwann so selbstständig sein, dass sie aufhörte, ihrer Schwester wie ein Hündchen zu folgen.
Das allabendliche Ritual beim Zubettgehen fiel an diesem Abend denkbar knapp aus, Marita weigerte sich zudem, den Zwillingen noch eine Geschichte vorzulesen.
Kleinlauter hatte sie ihre Lili lange nicht gesehen, und so hoffte sie von Herzen, dass ihre ‚Große‘ die Lektion dieses Tages nicht so schnell wieder vergaß. Die beiden wurden bald vier, und sie waren klug, da konnte man schon erwarten, dass sie sich an bestimmte Regeln hielten.
***
Als Stefan Frank den Aufzug betrat, der ihn ins Penthaus der Waldner-Klinik in Schwabing bringen sollte, war es später geworden als geplant. Er war dann doch noch fast eine Stunde bei Agathe Silvester geblieben, bevor er sich auf seinen täglichen Weg nach Schwabing gemacht hatte.
Sein langjähriger Freund Ulrich Waldner leitete die Klinik, in der er Belegbetten hatte. Stefan Frank besuchte seine stationär untergebrachten Patienten jeden Tag, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass sie seinen Zuspruch ebenso brauchten wie die Patienten, die seine Praxis aufsuchten.
Also nahm er den weiten Weg von Grünwald nach Schwabing gerne auf sich, zumal er auf diese Weise auch täglich Kontakt zu Ulrich hatte, was nicht nur der Zusammenarbeit dienlich war, sondern auch ihrer Freundschaft. Meistens trank er nur einen Kaffee mit dem Klinikchef, gelegentlich aber aß er auch mit Ulrich und dessen Frau Ruth zu Abend. Ruth arbeitete als Anästhesistin in der Klinik.
Heute war ein Abendessen zu viert geplant, denn Alexandra Schubert, Stefans Freundin, hatte ebenfalls in Schwabing zu tun gehabt, also bot sich ein Vierertreffen geradezu an. Vor allem Ruth Waldner hatte darauf gedrängt.
„Es wird höchste Zeit, dass wir uns endlich wieder einmal einen schönen Abend zusammen machen!“
Die anderen drei hatten sich ihrer Ansicht nur zu gern angeschlossen.
Als Stefan Frank nach kurzer Fahrt mit dem Aufzug vor der Tür des Penthauses stand, lächelte er unwillkürlich bei dem Gedanken an Alexandra, die ihn noch immer so stürmisch zu begrüßen pflegte, als hätten sie sich erst letzte Woche kennengelernt und ineinander verliebt. Dabei lag das schon Monate zurück! Doch auch ihm kam diese Liebe, die ihn selbst am meisten überrascht hatte, noch immer frisch und neu vor. Es gab Tage, da konnte er sein Glück kaum fassen.
Alexandra war Anfang vierzig, was niemand glaubte, der es hörte. Sie wurde in der Regel auf Mitte dreißig geschätzt, was sie natürlich freute. Sie hatte einen braunen Lockenkopf und war ein so hübscher Anblick, dass sein Herz jedes Mal einen Satz machte, wenn er sie sah. Sie war Ärztin für Augenheilkunde und als Partnerin in die Praxis einer älteren Kollegin in Grünwald eingestiegen.
Er klingelte, die Tür wurde fast unmittelbar danach aufgerissen, und schon wurde er stürmisch geküsst.
„Endlich!“, rief Alexandra. „Ich dachte schon, es ist dir vielleicht noch etwas dazwischengekommen.“
Nach einigen leidenschaftlichen Küssen, die von Ruth und Ulrich diskret übersehen wurden, betraten sie das Wohnzimmer. Stefan begrüßte seine Freunde herzlich und betrat dann mit Ulrich gemeinsam die Dachterrasse, während Alexandra und Ruth erst einmal auf dem Sofa Platz nahmen.
Das Penthaus war großzügig geschnitten, und es besaß darüber hinaus einen unschätzbaren Vorteil: Da die Klinik in unmittelbarer Nachbarschaft zum Englischen Garten lag, hatte man von hier oben einen herrlichen Blick auf den Park, der im Übrigen nicht verbaut werden konnte.
Auch Waldners Dachterrasse bot viel Platz. Zu seiner Freude sah Stefan, dass der Tisch zum Essen hier draußen gedeckt war. Das Wetter lud auch wirklich dazu ein! Es war ein milder Abend, an dem sich kein Lufthauch regte.
„Was hat dich denn nun eigentlich so lange aufgehalten?“, erkundigte sich Ulrich.
„Hauptsächlich Frau Silvester – du kennst sie ja, ihr habt ihr vor zwei Jahren den entzündeten Blinddarm entfernt. Heute ist sie gestürzt, zum Glück war sie nicht allein.“ Stefan berichtete seinem Freund von Agathe Silvesters Schwindel und schloss mit den Worten: „Ich kläre die Ursachen jetzt ab, sonst ist sie für ihr Alter eigentlich noch gut beieinander.“
„Wie alt ist sie jetzt?“
„Fünfundachtzig.“
„Und sie lebt allein?“
„Ja, und sie kommt noch immer zurecht, aber ich fürchte, nicht mehr sehr lange. Wenn sie sich besser fühlt, werde ich versuchen, mit ihr darüber zu reden. Frau Volkmann putzt bei ihr – du weißt schon, Marita Volkmann, die Krankenschwester.“
„Ein Jammer, dass sie sich so entschieden hat. Sie war eine unserer besten Schwestern. Wir waren sehr enttäuscht, als sie bei uns gekündigt hat, aber sie meinte ja, sie hätte keine Wahl.“
„Hatte sie wohl auch nicht, Uli. Mit Zwillingen, deren Vater sich gleich nach der Geburt abgesetzt hat … Sie muss die Mädchen durchbringen, wie soll sie das machen im Schichtdienst? Ich habe ihr schon mehrmals angeboten, mit ihr gemeinsam nach einer anderen Lösung zu suchen, aber sie will sich ihre Zeit selbst einteilen können. Deshalb putzt sie, überwiegend bei alten Leuten, die sie nebenbei auch noch ein wenig betreut. Sie macht keinen unzufriedenen Eindruck, im Gegenteil.“
„Verdient sie denn auf diese Weise genug?“
„Ich denke schon. Sie arbeitet wirklich viel, nur die Wochenenden und die Abende hält sie sich frei. Einmal pro Woche bleibt eine Nachbarin bei den Kindern, da putzt sie abends noch zwei Arztpraxen, das bringt mehr Geld.“
„Putzt sie auch noch bei dir?“
„Im Augenblick ja, ich war ja mit der Reinigungsfirma nicht mehr zufrieden, seit der Besitzer gewechselt hatte. Frau Volkmann dagegen ist hundertprozentig zuverlässig. Aber sie kann eben nicht jeden Abend kommen, deshalb ist es bei mir nur eine Zwischenlösung.“
Ruth und Alexandra traten ebenfalls hinaus auf die Dachterrasse. Alexandra umschlang Stefan mit beiden Armen und schmiegte sich an ihn. Ruth und Ulrich wechselten einen verständnisvoll-amüsierten Blick. Beide waren froh, dass ihr Freund Stefan auch privat endlich wieder glücklich war.
Obwohl sie während des Essens auch immer wieder über Patientengeschichten sprachen – es saßen schließlich vier Mediziner am Tisch –, beherrschten diese die Gespräche nicht. Ruth hatte ein interessantes Buch gelesen, Alexandra war neulich mit einer Bekannten im Kino gewesen und hatte einen hervorragenden Film gesehen, Stefan erzählte über eine alte Rosensorte, die er sich für seinen Garten wünschte, und Ulrich träumte laut von einem Urlaub in Neuseeland. Es wurde also für alle vier ein schöner, entspannter Abend bei gutem Essen und ebensolchem Wein.
Stefan nippte freilich nur an seinem Glas, denn er musste ja noch fahren. Doch er vermisste den Alkohol nicht. Abende wie dieser waren selten und kostbar geworden, ihm kam es so vor, als hätte er erst jetzt gelernt, sie zu schätzen. Er legte den Kopf in den Nacken, sah hinauf in den Sternenhimmel und lauschte Ulrichs Schwärmerei über Neuseeland.
Wie schön war es doch, dass sie alle noch Träume hatten!
***
Am nächsten Tag sah Jasper die hübsche Dunkelhaarige aussteigen, die gelegentlich vorbeikam und ein paar Pflanzen bei ihnen kaufte. Manchmal nahm sie auch einen Blumenstrauß vorne aus dem Laden mit. Er hatte mitbekommen, dass sie lediglich einen Balkon hatte, den sie aber offenbar mit Liebe und einiger Sachkenntnis bepflanzte.
Einer seiner Kollegen hatte ihr im Frühjahr eine Tomatenpflanze verkauft, gelbe Cocktailtomaten. Er selbst hatte noch nie direkt mit ihr zu tun gehabt, aber sie war ihm gleich aufgefallen. Eine ruhige, selbstbewusste Frau, die sich nichts aufschwätzen ließ. Was sie wohl beruflich machte?
Sie steuerte direkt auf ihn zu, seine Kollegen machten Pause. Glück gehabt!
„Hallo“, sagte sie mit ihrem schönen Lächeln, „ich habe vor einiger Zeit hier eine Tomatenpflanze gekauft …“
„Gelbe Cocktailtomaten.“
Ein überraschter Blick traf ihn. „Woher wissen Sie das?“
„Ich stand direkt daneben, und manche Dinge merke ich mir eben. Sind Sie nicht zufrieden?“
„Doch, sehr sogar. Deshalb ärgere ich mich ja, dass ich nicht gleich zwei oder drei Pflanzen genommen habe, den Platz dafür hätte ich. Aber jetzt ist es wohl zu spät?“
„Ich müsste nachsehen. Die meisten Tomatenpflanzen sind natürlich längst verkauft, aber manchmal behalten wir welche übrig. Wenn Sie einen Augenblick warten können?“
„Ja, natürlich.“
Er eilte zu einem der Gewächshäuser. Hatte er nicht erst gestern noch zwei Tomaten gesehen? Richtig, da waren sie, allerdings würde die eine rote Früchte haben. Er nahm sie trotzdem beide mit.
„Die hier ist so eine, wie Sie sie bereits haben“, sagte er. „Die andere hier wird rote Cocktailtomaten produzieren. Ich rate Ihnen, die auch auszuprobieren, die sind nämlich ebenfalls sehr lecker.“
„Die Pflanzen sind ja schon richtig groß!“
„Ja, und ein bisschen vernachlässigt, wie Sie sehen, die müssen dringend ausgegeizt werden. Hier und hier …“ Rasch zwickte er ein paar der überflüssigen Triebe ab, aber sie sagte: „Lassen Sie nur, das mache ich schon, wenn ich zu Hause bin. Ach, das freut mich aber, dass das noch geklappt hat. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr fragen, weil ich mir keine Chancen ausgerechnet habe.“
„Gut, dass Sie es trotzdem getan haben. Kann ich Ihnen sonst noch etwas verkaufen?“
„Ja, einen schönen Blumenstrauß für eine etwas angeschlagene alte Dame“, sagte sie.
Jasper war nicht gewillt, diese besondere Kundin seiner Kollegin im Laden zu überlassen, die im Übrigen ohnehin gerade anderweitig beschäftigt war.
„Wir haben gerade ganz tolle Rosen“, sagte er deshalb. „Die halten auch gut.“
Er musste sie nicht lange überzeugen, sie kaufte ihm zwanzig Rosen ab.
„Ich bringe Ihnen die Tomaten zum Auto“, sagte er. „Wo steht es denn?“
„Gleich da vorn.“ Sie zeigte auf ihr winziges altes Auto, von dem sie hoffte, dass es noch eine Weile durchhielt. Ein neues hätte sie sich nicht leisten können, und ohne Auto war das Leben mit zwei kleinen Mädchen noch beschwerlicher.
„Das kleine grüne?“, fragte er.
„Ja. Glauben Sie, Sie kriegen die Tomaten nicht rein?“
„Es könnte eng werden“, antwortete er. „Die Pflanzen sind ja schon ziemlich groß und verzweigt, sie haben viele Blüten. Es wäre schade, wenn die Zweige abbrechen würden.“
„Auf die Rückbank vielleicht?“, fragte sie zögernd.
„Ich bringe Ihnen die Pflanzen nach Hause“, bot er, einer plötzlichen Eingebung folgend, an. „Das ist kein großes Problem für mich. Sie müssten mir nur sagen, wo Sie wohnen.“
Und so erfuhr er nicht nur ihren Nachnamen – Volkmann –, sondern auch ihre Adresse.
„Ich habe in zwei Stunden hier Schluss, danach kann ich bei Ihnen vorbeikommen, wenn das in Ordnung ist.“
„Ja, das passt wunderbar, dann kann ich vorher noch die Rosen abliefern.“ Wieder schenkte sie ihm ihr schönes Lächeln. „Bis nachher also.“
Sie stieg in das winzige Auto, ließ den Motor an, hupte kurz und fuhr davon.
„Nette Frau“, sagte eine Stimme hinter Jasper.
Er schrak zusammen, da er niemanden hatte kommen hören. Als er sich umdrehte, blickte er in das lächelnde Gesicht seines Chefs Norbert Winkel.
„Ja“, bestätigte er, „sie ist wirklich nett.“
„Und attraktiv“, bemerkte Norbert Winkel. „Gut, dass die Tomaten schon so groß sind, was?“
Er grinste Jasper vergnügt an, schlug ihm auf die Schulter und stapfte davon.
***
Nadja Behle verfolgte mit brennenden Augen, wie Jasper um diese dunkelhaarige Schlampe herumsprang. Ihr musste niemand etwas erzählen. Sie wusste genau, wann zwei Menschen miteinander flirteten, und das war genau das, was sich jetzt vor ihren Augen abspielte.
Nicht einmal zwei Monate waren sie getrennt! Aber sie hatte es ja damals schon geahnt, dass er neben ihr noch andere Frauen hatte, und jetzt hatte sie den Beweis unmittelbar vor Augen. Wahrscheinlich war die Dunkelhaarige eine von denen, mit denen er es auch damals schon getrieben hatte.
Nadja verfolgte jede Geste der beiden, jeden Blick, jedes Lachen von ihrer oder seiner Seite. Ihr Auto hatte sie vorsichtshalber um die Ecke geparkt, damit Jasper nicht auf sie aufmerksam wurde. Sie hatte ihn einmal in aller Ruhe beobachten wollen – und siehe da: Sie war fündig geworden.
Endlich fuhr die Dunkelhaarige ab, aber die großen Tomaten, die sie wohl gekauft hatte, ließ sie zurück. Es war nicht schwer zu erraten, warum: Sie waren zu groß für das kleine Auto, also hatte ihr Jasper garantiert vorgeschlagen, sie ihr vorbeizubringen. So etwas tat er ja immer gern: zu hübschen Kundinnen nach Hause fahren und dort mit ihnen fortzusetzen, was in der Gärtnerei begonnen hatte.
Jetzt kam Jaspers Chef, sagte ein paar Worte zu Jasper, grinste breit und ging weiter. Sie hatten bestimmt über die Dunkelhaarige gesprochen. Männergespräche! Nadja konnte sich schon vorstellen, was dabei zur Sprache kam. Oh ja, sie wusste Bescheid!
Zu Anfang hatte sie geglaubt, Jasper wäre einer von den wenigen anständigen Männern. Wie sehr hatte sie sich in ihm getäuscht! Er war vielleicht sogar noch schlimmer als die meisten, weil er so anständig wirkte, dass man ihm einfach vertrauen wollte.
Ihr kamen wieder einmal die Tränen bei dem Gedanken daran, wie sehr sie sich von ihm hatte täuschen lassen. Zu Beginn ihrer Beziehung hätte sie niemals gedacht, dass sie so enden würde!
Nach einem Blick auf die Uhr fällte sie einen schnellen Entschluss. Jasper hatte noch zwei Stunden zu arbeiten. Das war eine lange Zeit, aber sie würde trotzdem auf ihn warten und ihm dann folgen, um zu sehen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte. Und wenn ja …
Sie schob den Gedanken beiseite, denn sie wollte nichts überstürzen. Aber sollte er wirklich etwas mit der Dunkelhaarigen haben, dann würde sie Mittel und Wege finden, ihm das Leben schwer zu machen. Seit der Trennung sann sie bereits auf Rache.
Sie sah auch gar nicht ein, warum sie darauf hätte verzichten wollen. Er war ein schlechter Mensch, er hatte Strafe verdient. So einfach war das.
***
„Mama, da steht ein großer Mann vor der Tür“, berichtete Lili.
„Und woher weißt du das?“, erkundigte sich Marita. „Du hast die Tür doch wohl nicht etwa geöffnet?“
„Ich … doch.“
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das NIEMALS tun sollst?“ Marita eilte zur Tür. „Ach, Sie sind’s“, sagte sie. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin gerade ziemlich sauer auf meine Tochter Lili, weil sie wieder einmal an die Tür gegangen ist und einfach geöffnet hat. Das soll sie nicht, und das weiß sie auch.“
Er blickte ein wenig verdattert auf Lili, die mittlerweile neben ihrer Mutter stand und ihn aufmerksam betrachtete.
„Bist du der Gärtner?“, verlangte sie zu wissen.
„Ja, ich bringe die Tomaten“, antwortete er. „Hier ist die erste, die andere ist noch im Auto. Ich hole sie gleich.“
Marita nahm ihm die Tomate ab und seufzte innerlich. Sie hatte seinen Blick gleich richtig eingeordnet. Alle Männer, die zunächst Interesse an ihr bekundeten, reagierten so, sobald sie erfuhren, dass sie Mutter von Zwillingen war: entgeistert. Der Rückzug erfolgte in der Regel unverzüglich.
Sie hatte ja mit diesem attraktiven Gärtner noch nicht einmal richtig geflirtet, aber sie hätte es gern getan. Er war ihr schon bei ihren vorigen Besuchen in der Gärtnerei aufgefallen, doch leider war es ihr bisher nie gelungen, von ihm bedient zu werden.
Er wandte sich bereits zum Gehen, um die andere Pflanze zu holen, als auch noch Lea auftauchte. Schweigend betrachtete sie den großen blonden Mann mit den lustigen blauen Augen, aber da sie schüchterner war als Lili, stellte sie keine Frage.
„Das ist der Gärtner“, teilte Lili ihr wichtig mit. „Er bringt die Tomaten.“
Marita musste sich ein Lachen verkneifen, obwohl auch eine gewisse Verzweiflung von ihr Besitz ergriff: Helle Fassungslosigkeit war im Gesicht ihres Besuchers zu lesen.
Immerhin schaffte er es, ihr ganz trocken die Frage zu stellen: „Kommen da noch mehr?“