Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Ebru Sidar/Arcangel Images
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-551-0
Thriller
Originalausgabe
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Meiner Sophie
Ich will nicht sterben.
Hart umschließen seine Hände meinen Hals. Durch den Druck der Daumen auf meine Kehle bekomme ich kaum Luft. Mein Kopf wird gegen das Kissen gepresst. Wenn er noch fester würgt, ersticke ich.
Seine Ellbogen bohren sich in meine Brust. Er atmet schnell, fast hechelnd. Den Bruchteil einer Sekunde erinnert mich sein Geruch an früher.
Panik!
Kalter Schweiß tritt aus meinen Poren. Ich muss mich wehren, sofort.
Mit letzter Kraft bäume ich mich auf, reiße meine Knie hoch und stemme sie gegen seine Rippen. Einen Moment lang lässt er meinen Hals los. Ich winde mich unter ihm und schnappe nach Luft.
»Du«, krächze ich, »du kriegst mich nicht.«
Aber da ist nur sein höhnisches Lachen.
Und ich weiß, dass ich verloren habe.
Ich muss eingenickt sein.
Was hat mich geweckt?
Das T-Shirt klebt an meinem Körper, mein Herz rast in einem beängstigenden Tempo. Mit zitternden Fingern nehme ich das Wasserglas vom Couchtisch, trinke langsam, Schluck für Schluck. Allmählich beruhige ich mich.
Vor dem Fenster schwebt später Nebel über dem eingezäunten Wiesenstück und taucht es in ein diffuses Licht.
Es war bloß ein Alptraum, besänftige ich mich.
Und doch, irgendetwas ist anders als sonst.
Kalte Luft.
Wo kommt die her?
Mit wackeligen Beinen tappe ich ins angrenzende Kinderzimmer. Dort schläft die Kleine ruhig im bläulichen Schein des Arielle-Nachtlichts. Helle Löckchen auf rosigen Wangen. Neben Hanna auf dem Kissen schlummert ihr brauner Plüschbär.
Als ich zurück ins Wohnzimmer gehen will, weht mir ein vertrauter Geruch entgegen.
Paul!
Sein Schweiß hat ihn verraten, diese merkwürdige Mischung aus Ammoniak und Kreuzkümmel.
Ich erstarre.
Was soll ich tun? Was hat die Polizei uns für diesen Moment beigebracht?
Einen schrecklichen Augenblick lang habe ich alle Verhaltensmaßregeln vergessen, dann reagiere ich.
Ich gehe zurück ins Kinderzimmer und hebe Hanna vorsichtig aus dem Bett. Verschlafen schmiegt sie sich an mich, gibt einen wohligen Laut von sich, ahnt nichts von der drohenden Gefahr. Vor Angst graben sich meine Zähne in die Unterlippe, so tief, dass sie aufplatzt und ich Blut schmecke. Meine Hand lege ich sanft auf Hannas Mund, streichle gleichzeitig ihre Wangen. Sie schläft.
Schon habe ich die Kleidung im Schrank beiseitegeschoben und die schmale Rückwand entfernt. Ich lege das kleine Bündel auf die Matratze, mit der die dahinterliegende, zum Panikraum umfunktionierte Fläche versehen ist, und ziehe lautlos die mit Luftlöchern versehene Pappe an ihre alte Stelle.
Nach einem letzten kontrollierenden Blick schleiche ich aus dem Kinderzimmer, haste den Gang entlang und stoße die Klotür auf. Leise ziehe ich sie hinter mir ins Schloss, verriegle sie und greife zum Handy.
Ich schaffe es gerade noch, die Notrufnummer zu wählen, bevor das Holz der Tür splittert. Die Schneide einer Axt ragt mir entgegen, und ich ducke mich unter ihrer Schärfe.
Ich schreie.
Dann ist Paul auch schon über mir und schleudert mich gegen die Wand. Zitternd lehne ich an den blau-weißen Kacheln.
»Wo ist Lili? Ich will meine Frau!«, zischt er und packt mein Haar, zerrt daran, bis mein Gesicht ganz nahe vor seinem ist. Hass und Zorn lassen seine Stimme kippen, bis tief hinunter, wo der Ton verstummt. Seine Augen glühen, sein Atem riecht nach kalter Asche.
Lili? Ich bin nahe daran, hysterisch aufzulachen. »Lass uns in Ruhe.«
Seine Züge versteinern. Mit der rechten Faust schlägt er mir so schnell ins Gesicht, dass ich nicht ausweichen kann.
Es muss wehgetan haben, doch ich spüre nichts.
Jetzt umklammern seine Hände meine Schultern. Ich bin eingekeilt wie in einem Schraubstock.
Wo bleibt die Polizei?
Salzig-saure Flüssigkeit klebt auf meinen Lippen. Blut, Speichel, Tränen.
»Ich will nicht sterben.« Die Worte sind aus meinem Mund gefallen, ohne dass ich es verhindern konnte.
»Dein Leben? Das ist wertlos.« Seine Stimme, jetzt seidenweich, trieft vor Hohn. Sie hallt von den Wänden des kleinen Raumes wider.
Sie müssen jeden Moment hier sein.
Diese Gewissheit gibt mir die Kraft, ihm mein rechtes Knie in den Unterleib zu rammen.
Und gleich darauf das linke.
Eine Sekunde lang löst sich sein Griff. Er krümmt sich vor Schmerz, und ich drängle mich an ihm vorbei, hinaus aus der Toilette, ins Wohnzimmer.
Jetzt ist er zu allem bereit. Ich bete, dass Hanna nicht aufwacht und zu weinen beginnt.
Draußen vor dem Fenster schimmert, noch ein gutes Stück entfernt, flackerndes Blaulicht.
»Die Polizei kommt! Du hast keine Chance!«, schreie ich und versuche, die Tür zwischen uns zu bringen. Er wirft sich so heftig dagegen, dass ich auf den Teppichboden geschleudert werde. Mein Kopf knallt gegen die Kante der Glasvitrine. Der jähe Schmerz schneidet mich in zwei Hälften. Benommen versuche ich, unter den Tisch zu kriechen. Paul umklammert meine Beine, reißt mich herum und setzt sich rittlings auf mich.
»Zum letzten Mal. Wo ist Lili?«
Ich drehe den Kopf zur Seite. Es ist nur ein weiterer Alptraum, beschwöre ich mich. Gleich werde ich aufwachen, so wie vorhin.
Doch auf einmal ist da ein Messer, mein angstverzerrtes Gesicht spiegelt sich in der blanken Klinge.
»Ich will nicht sterben«, wimmert eine Stimme, die sich seltsam fremd anhört. Ist es wirklich meine?
»Aber das wirst du.«
Ich spucke in sein Gesicht.
Im Lärm der näher kommenden Polizisten dringt das Messer durch meine Haut, senkt sich in meinen Hals, als wäre er aus feinstem, seidenem Stoff.
Dann ist da nur noch metallisch schmeckendes Blut, das ich krampfhaft zu schlucken versuche und an dem ich ertrinke.
Paul liegt ausgestreckt auf dem weißen Laken.
Er fühlt sich wie nach einem Krampfanfall. Ermattet. Jeder Muskel schmerzt. Sandig die Haut, pelzig die Zunge. Lippen und Mundwinkel brennen, als wären sie mit Lauge in Berührung gekommen. Ein Durcheinander in den Gedanken. Gewitter im Kopf, Blitz und Donner.
In all dem Gewirr die eine schreckliche Erkenntnis: Er hat Anne getötet und Lili nicht gefunden.
Sein Kopf schnellt vom Kissen hoch. Bestürzt starrt er in den gleißenden Lichtstrahl der Neonröhre über dem Bett. Er hat kaum geschlafen, noch immer sind Geist und Körper gleichermaßen erschöpft. Zwanghaftes Schlucken drängt den ekligen Geschmack aus Rachen und Mundhöhle zurück, unterdrückt den Brechreiz.
Immerhin, die Glieder beben nicht mehr so heftig, und sein Herz pumpt regelmäßiger das Blut durch die Adern.
Durch das geöffnete Fenster dringt Nachtluft, ein Gemisch aus Benzin und Dieselgestank von der nahen Tankstelle. Das Dröhnen der Lastwagen auf der Autobahn ist dem sanften Surren der Pkws gewichen.
Vorsichtig hebt Paul seine rechte Hand, hält sie dicht vor die Augen, betrachtet sie eingehend. Diese fünf Finger hatten sich um den Griff des Messers gekrallt. Fast von allein war die Klinge in ihren schlanken Hals geglitten.
Er hat sie getötet.
Trotz der Demütigungen, der Verletzungen, die seine Seele zu einem schmerzenden Narbengewächs haben verkommen lassen, ist er hilflos gegen die aufsteigende Verzweiflung.
Warum nur hatte sie ihm Lili genommen? Seine wunderbare Frau, die er abgöttisch liebt. Den Gefühlen von Trostlosigkeit und Zorn ausgeliefert, schmerzt es weniger, der Wut nachzugeben.
Das rasche Eintreffen der Polizei hatte ihn vertrieben. Er wollte nur seine Lili zurück, jetzt hat sie eine tote Schwester und Annes Kind keine Mutter.
Lange Monate waren mit der Suche nach den beiden vergangen, dann lange Tage mit der Beobachtung des Hauses. Zweimal war er vor dieser Nacht in der Wohnung gewesen, um zu sehen, wie sie leben.
Warum haben sie sich nicht besser vor Eindringlingen geschützt?
Vielleicht wollte Lili ja von ihm gefunden werden?
Dennoch hatte sie sich vor ihm versteckt.
Lili hätte sich nur ein wenig anstrengen müssen, und alles wäre gut geworden. Paul und Lili, später dann ein Kind, für immer als Familie vereint. Nie wollte er mehr.
Entschlossen drängt er den Kummer, der ihn wieder zu überwältigen droht, weg. Er muss stark sein.
Irgendwo wartet seine Lili. Diesmal wird er sie finden.
Die türkisfarbenen Augen meiner Schwester sehen mich an.
Hab keine Angst. Alles wird wieder gut, möchte ich ihr sagen. Doch ich bringe kein Wort hervor, kann meinen Mund nicht öffnen, den Körper keinen Millimeter bewegen. Angeschlossen an Maschinen liege ich in einem abgedunkelten Zimmer. Blinkende Lichter werfen bizarre Bilder an die Decke. Schrille Töne erreichen meine Ohren und lassen mich erzittern.
Mehrmals setzt meine Schwester an, bevor sie zu sprechen beginnt.
Hält sie meine Hand?
An ihren Mundbewegungen erkenne ich, dass sie gegen die Geräusche im Raum anflüstert. Bemerkt sie, dass ich sie kaum verstehe? Ihre Lippen nähern sich meinem Gesicht.
Noch immer ist da nicht mehr als der Hauch ihrer Stimme.
»Er hat uns verwechselt, Lili.«
Hat er das? Fragen drängen aus der Tiefe meines Bewusstseins empor und überschwemmen mein Denken. Doch die Müdigkeit macht mich schwerfällig. Ich kann nichts ordnen, das verknotete Wollknäuel in meinem Kopf nicht entwirren. Jeder Gedanke tut weh.
Hanna.
»Sei unbesorgt.« Die Worte kitzeln meine Haut. »Hanna geht es gut. Sie schlief tief und fest in ihrem Versteck und ist nicht aufgewacht, als ich sie zum Wagen trug.«
Was, wenn meine Schwester mich anlügt? Was, wenn sie mich nur beschwichtigen will?
Angst zerreißt meine Brust. Wie in einem Kaleidoskop zerplatzen Farben vor meinen Augen in tausende Mosaiksteine, verschwimmen, setzen sich neu zusammen, bilden weitere Muster.
Meine Lippen werden auseinandergezwungen. Bittere Flüssigkeit dringt in meinen Mund. Gurgelndes Würgen.
Schlucken. Ich muss schlucken.
Ein tröstend warmer Sog aus tiefblauem Wasser nimmt mich auf. Dichter Unterwasserdschungel, gemalt in berauschenden Farben, reicht bis an den feinkörnigen Sandstrand. Grün. Violett. Purpurrot. Strahlendes Gelb. Der Duft der üppigen Tropenblumen nimmt mir den Atem, und so tauche ich tief hinab ins salzig schmeckende Meer. Über mir glitzern Sonnenstrahlen zwischen sich sanft kräuselnden Wellen. Kleine Fische schwimmen im Schwarm um mich herum. Ihre Bewegungen sind fließend. Aufeinander abgestimmt, bilden sie ein silbern schimmerndes Ornament. Hin und wieder kreuzt ein größeres Exemplar meinen Weg und blickt mich mit freundlichen Augen an.
Ich sinke dem schlammigen Grund entgegen.
Ein Schiffswrack, um das sich goldene Ketten winden, versperrt mir die Sicht. Aus einer halb geöffneten Schatzkiste funkeln Rubine und Smaragde. Verzaubert lasse ich mich treiben und strecke den bleichen Arm nach der Schmuckschatulle aus. Die Tiefe des Meeres verlangsamt meine Bewegungen. Ich taste mich näher, doch kaum berühren meine Finger den glänzenden Deckel, werde ich zurückgerissen. Eine Hand greift nach meinem Hals und umklammert ihn.
In Todesangst schlage ich mit Beinen und Armen um mich. Pauls hasserfüllte Augen starren mich unverwandt an. Meine Zehennägel kratzen Rillen in seine Haut. Dann lässt er mich los, und ich taumle ohne Orientierung durch trüb gewordenes Wasser.
Die behagliche Wärme ist einer frostigen Kälte gewichen.
Mein Körper reagiert nicht mehr. Er ist lahm, wund und unbeweglich. Alles an mir ist erschlafft.
Paul schwimmt über mir, seine rudernden Arme wirbeln das Wasser auf. Luftbläschen steigen zwischen uns hoch. Er lässt sich nach unten sinken, greift mit der Hand nach meinem Kopf, zieht mich zu sich. Seine Lippen berühren meine und pressen sie hart auseinander, sein Atem füllt meine Lunge.
»Du hast es nicht anders verdient«, zischt er am tiefsten Punkt des Ozeans in mein Ohr.
Ein messerscharfer Schmerz durchzuckt meine Kehle. Benommen sehe ich, wie sich das Wasser blutrot verfärbt.
»Rettet mich!«, flehe ich die uralten Meeresgötter an.
Aber die wenden sich ab.
Nichts ist zu hören, außer dem anhaltend schrillen Kreischen eines Nebelhorns.
Irgendjemand muss mich geborgen haben, denn ich liege mit einer Sauerstoffmaske über dem Gesicht im Bett eines Krankenzimmers.
Unter meinen zuckenden Augenlidern nehme ich den Raum nur schemenhaft wahr. Schläuche ranken sich wie Lianen um meinen Körper, verbinden mich mit Geräten. Benommenheit trägt mich. Ich fühle mich wie eingehüllt in einen flauschigen Wattebausch.
Die Träume und Bilder in meinem Kopf sind verworren. Sie gleichen Labyrinthen grüner Sträucher, aus denen es keinen Ausgang gibt. Wäre ich Künstlerin, könnte ich ganze Bilderfolgen intensiver Farben malen. Sind nicht Gauguin solch berauschende Gemälde zu verdanken? An ihn und seine Tropenbilder muss ich immerzu denken. Die üppigen Blüten Hiva Oas in betörenden Schattierungen. Wildgrüne Ranken. Lilien.
Hieß Gauguin nicht Paul?
Paul.
Hanna.
Anne.
Angst lähmt mich. Das Schrillen der Töne schwillt an.
Jemand beugt sich über mich. Ich bin so müde, kraftlos und schwer. Sinke dem Meeresgrund entgegen. Lasse mich von weichen Wellen treiben.
Lange Zeit ist da nichts. Dann ein sengender Schmerz. Ich werde gestochen. Mein Arm hebt sich und fällt zurück auf das Laken.
Ich schwebe an die Zimmerdecke.
Unter mir sehe ich waberndes Weiß. Unruhige Flächen aus wogenden Arztkitteln. Ein Kahler beugt sich über mein Bett. Finger spreizen sich, tanzen auf und ab, zerren an einem Stück Stoff. Etwas reißt. Knöpfe fliegen. Unter mir spielt ein lebhaftes Marionettentheater.
Noch halte ich die Fäden in der Hand.
Lautes Reden, das ich nicht verstehe, hallt zu mir empor.
Unser alter Kindergartenreim kreischt durch meinen pochenden Schädel: »An der Decke kleben, runterfallen, auf die Erde knallen, ja so ist das Leben!«
Mein Lachen quält sich als raues Stöhnen aus meiner Kehle.
Ein metallisch funkelndes Gerät wird an das Bett geschoben. Erstaunt sehe ich, wie mein Körper aus den Tüchern emporschnellt. Ein-, zwei-, dreimal. Immer wieder fliege ich durch die Luft. Das Tempo ist atemberaubend.
Ich stehe unter Strom.
Heiße Energie durchflutet mich, und ich schreie.
Da ist das bleiche Gesicht meiner Zwillingsschwester. So nah, so unendlich vertraut.
Anne beugt sich über mich und küsst meine Wangen. Ihre Tränen benetzen mein Gesicht und vermischen sich mit den meinen.
Das Brummen der Lastwagen lässt die halb gekippte Fensterscheibe vibrieren. Die Vorhänge wehen im Morgenwind.
Mit einem Satz springt Paul aus dem Bett. Auf dem Weg ins Bad hält er inne.
Während er unruhig geschlafen hat, muss es geregnet haben. Es riecht nach feuchter Erde.
Schwere Wolken bedecken den Himmel. Noch hat der Tag zu wenig Kraft, die Nacht zu verdrängen. Das Stück Straße, das er, angestrahlt vom Scheinwerferlicht vorbeihuschender Autos, erkennen kann, glänzt schwarz vor Nässe. Auf den mattgrünen Sträuchern glitzern Wassertropfen. Zu dieser frühen Stunde wirkt alles unverbraucht. Neu.
Die Erinnerung stürzt so heftig auf ihn ein, dass ihm die Luft wegbleibt.
Sein Plan, Lili zu finden und sie mit nach Hause zu nehmen, ist gescheitert. Die gelb markierten Orte auf seiner inneren Landkarte verblassen, lösen sich allmählich auf. Er hat die Orientierung verloren.
Anne ist tot.
Und Lili wird nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurückkehren. Die Polizei hat sicher bereits eine neue Bleibe für sie und ihre kleine Nichte gefunden.
Auf einmal erscheint ihm alles aussichtslos. Mit dem Handrücken wischt er sich den Schweiß vom Gesicht und streift die Feuchtigkeit am Oberschenkel ab. Kurz überlegt er, aufzugeben, sich zu stellen. Aber dann hätte er Lili für immer verloren.
Paul wirft einen nervösen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es ist bereits nach fünf Uhr am Morgen.
Ein unruhig flackerndes grünes Licht im Badezimmer zeigt an, dass der Akku wieder aufgeladen ist.
In der Nacht hatte er begonnen, seinen Bart mit Schere und Rasierer zu stutzen. Dabei muss er sich geschnitten haben. Neben seinem Ohr spürt er Schorf, und auf dem Kragen des T-Shirts sind zwei bräunliche Flecken.
Annes Blut war aus ihrem Hals geströmt und hatte innerhalb von Sekunden alles leuchtend rot eingefärbt.
Behutsam setzt er den Rasierer erneut an seine Wange.
Er mochte seinen rotbraunen Bart. Nur schweren Herzens trennt er sich von diesem perfekt getrimmten englischen Rasen. Etliche Jahre konnte er seine schmale Oberlippe damit verbergen, jetzt ist dieser Makel wieder für alle sichtbar.
Er beugt sich über das Waschbecken, den Porzellanrand gegen seine Leiste gedrückt, und begegnet seinen kaffeebohnenbraunen Augen. Seelenlos hatte Lili sie einmal genannt. »Dein Blick hat etwas Leeres. Es ist, als wäre deine Seele darin verloren gegangen.«
Sie hatte die unangenehme Angewohnheit, Menschen über ihre Augen ergründen zu wollen.
Als sich seine empfindliche Haut schließlich käsig und nackt über den Wangenknochen spannt, erkennt Paul sich kaum wieder. Nur die wenigen braunen Strähnen, die noch über die buschig wuchernden Augenbrauen fallen, erinnern ihn an sein früheres Ich. Aber auch die dürfen nicht bleiben. Die Veränderung muss radikal sein.
Mit einem zornigen Schnauben setzt er den Rasierer an seinen Schädel und fräst Bahn für Bahn frei, bis sich das Licht der Neonröhre auf seiner Kopfhaut spiegelt. Unter ihm auf dem Fliesenboden bauschen sich die Haare. Angewidert zieht er den Fuß zurück.
Kahl geschoren vom Kinn bis zum Hinterkopf, starrt ihm ein Fremder entgegen. Der da im Spiegel ist irgendwer. Austauschbar. So mag er sich nicht.
Rasch zieht Paul sich an, stopft seine restliche Kleidung in den Seesack und wirft ihn sich über die Schulter.
Nichts an seinem Äußeren erinnert mehr an den, der er gestern noch war. Trotzdem muss er vermeiden, von jemandem aus dem Motel gesehen zu werden.
Das neue Gesicht ist sein Kapital.
Langsam öffnet er die Tür und späht misstrauisch hinaus.
Die Schlagzeile der Zeitung auf seiner Fußmatte springt ihn förmlich an: »Mörderische Messerattacke«. Daneben ein Foto des Hauses, in dem er gestern nach Lili gesucht hat.
Paul zuckt zurück, dann ergreift er die Tageszeitung und hastet ohne nach links oder rechts zu schauen zu seinem Wagen.
Der gestohlene weiße Golf steht, wo er ihn gut verborgen abgestellt hat. Ein schaler Geruch empfängt ihn im Inneren des Fahrzeugs. Wahrscheinlich ist die Polsterung irgendwann nass geworden und modert vor sich hin.
Beim Starten zittern seine Finger. Fast von allein findet das Auto den Weg. Hin zum alten Wohnwagen, der, überwachsen von Farnen, sein Fluchtpunkt als Jugendlicher war und der ihn noch ein letztes Mal aufnehmen muss.
Was vorhin unklar und verwirrend war, erscheint ihm nun, im Tageslicht, wieder gestochen scharf.
Neben ihm rascheln die Seiten der Zeitung im Fahrtwind.
Als er den Golf auf einem riesigen Auffangparkplatz abstellt, atmet er auf. So schnell wird das Auto hier keiner finden. Er greift nach hinten und nimmt den Seesack von der Rückbank, die letzten Kilometer zu seinem Versteck will er zu Fuß gehen. Die Zeitung ist nach unten gerutscht und liegt nun aufgeschlagen auf dem Boden des Fahrzeugs.
»Nach einem brutalen Messerattentat schwebt das Opfer in Lebensgefahr. Nur dem raschen Einschreiten der Polizei ist es zu verdanken, dass die junge Frau nicht am Tatort verblutete. Sie und ihre Tochter konnten in Sicherheit gebracht werden. Nach dem Täter wird gefahndet.«
Lange Zeit sitzt Paul da und starrt auf die Sätze, bis die Buchstaben verschwimmen.
Anne lebt. Er ist nicht ihr Mörder.
Da steht es, und doch kann er es nicht glauben.
Paul senkt seine Stirn auf das Lenkrad. Es ist, als ströme neue Kraft in seinen Körper.
Eines ist ihm soeben klar geworden. Niemals wird Lili freiwillig zu ihm zurückkommen.
Hanna.
Ihre weichen Handflächen streicheln ungelenk über meine Gesichtshaut. Auf und ab. Hin und her. Die Berührungen erinnern mich an ein Peeling aus grobkörnigem Meersalz. Wenn es nur nicht so wehtäte.
»Mami?«
»Hanna, bitte setz dich. Wir müssen vorsichtig mit ihr umgehen.«
Vorsichtig?
Ich will unsere Namen aussprechen, doch meine Lippen fühlen sich an wie dick gewundene Seile aus Hanf.
Lili. Anne. Lilianne.
Zwei, die eins geworden sind.
Mit geschickten Fingern wird mein Nacken angehoben.
»Das unterlassen Sie besser.« Ein Schattenriss schiebt sich zwischen uns.
»Wer sind Sie?« Der Tonfall meiner Schwester klingt herausfordernd.
Die Antwort erfolgt wohltönend: »Mein Name ist Jonas. Ich bin der Physiotherapeut. Ihre Schwester, Lili Parker, ist meine Patientin.«
Heiterkeit erfasst mich. Jonas und der Wal? Bin ich die Prophetin und er der große Fisch mit den freundlichen Augen? Sind wir einander in den Tiefen des Ozeans begegnet?
»Wie jetzt? Jonas vorne oder Jonas hinten?«
Wer hat das gefragt?
Wenn ich nur sehen könnte. Doch sosehr ich mich anstrenge, meine Lider kleben wie verschweißt an meinen Augen. Ich kann mich nicht bewegen, nur ahnen, wo Kopf, Hände und Füße sich befinden. Doch spüren kann ich mit einem Mal, wie die Kleine sich an mich schmiegt.
»Wach auf! Wach auf!«
Beruhigende Worte schwirren durch meinen Kopf, doch ich bin unfähig, ihnen eine Stimme zu geben.
»Hanna, alles wird gut. Wir machen hier Übungen, damit sich unsere Patientin schnell erholt und bald wieder wach ist, um mit dir spielen zu können.«
So gern möchte ich ihr bestätigen, dass es wahr ist, aber es geht nicht.
Ich will nicht sterben.
Ich will wieder gesund werden.
»Der Arzt sagte, meine Schwester sei ins Koma gefallen. Was heißt das genau, Jonas? Und wann wacht sie endlich daraus auf?«
»Der vegetative Zustand, in dem Lili sich befindet, ist vergleichbar mit einem langen Schlaf voll von Träumen. Ob sie etwas hören, sehen oder empfinden kann, wissen wir nicht. Erst mal warten wir auf die Ergebnisse von EEG, Hörtest und so weiter. Danach sehen wir klarer. Die Ärzte werden Ihnen alles genau erklären. Jedenfalls hat Ihre Schwester durch den Messerstich in den Hals sehr viel Blut verloren. Der Schnitt verfehlte nur knapp die Schlagader. Erschwerend kommt die durch den Sturz verursachte massive Blutung im Kopf hinzu, die für ihren jetzigen Zustand hauptverantwortlich ist. Es stand eine Zeit lang sehr schlecht um sie, aber das wissen Sie ja.«
Die Stimme des Therapeuten klingt monoton, ohne Höhen und Tiefen, und wirkt entspannend auf mich.
»Dass die Patientin wiederbelebt werden musste, hat die Situation nicht eben erleichtert. Einerseits braucht sie Ruhe, um Kraft zu finden, andererseits ist es notwendig, ihre Körperfunktionen zu aktivieren. Das ist mein Part. Ich habe dafür zu sorgen, dass ihre Muskeln nicht erschlaffen.«
Ich bin wach.
Mit aller Kraft versuche ich, meinen Mund zu öffnen, zu sprechen, zu blinzeln. Es will mir nicht gelingen.
Ein Stöhnen schwebt an mir vorbei zum Fenster hinaus.
»Jonas«, die Stimme an meiner Seite schwillt an, »um Gottes willen, sehen Sie doch. Meine Schwester ist leichenblass, ihre Lippen haben sich violett verfärbt. Helfen Sie ihr! Sie stirbt!«
Hannas Schluchzen zerreißt etwas in mir. »Ratsch« machen die scharf geschliffenen Klingen der Schere, und feines Seidenpapier flattert in Streifen zerteilt zu Boden.
Schrille Töne vermischen sich mit lärmenden Stimmen.
»Bringen Sie das Kind hinaus. Sofort!«
Jetzt ist nur noch zähflüssige Tintenschwärze um mich herum. Seltsam gelassen treibe ich auf das weit geöffnete Maul des Wals zu.
Mit einem Mal steht meine Zwillingsschwester vor mir. Ihre Augen funkeln entschlossen. Mit einer einzigen kräftigen Bewegung zieht sie mich hoch und versetzt mir eine schallende Ohrfeige.
»Wach auf!«, höre ich sie schreien. »Das kannst du uns nicht antun.« Dann schlägt sie wieder in mein Gesicht.
»Sind Sie verrückt? Beruhigen Sie sich«, sagt eine fremde, strenge Stimme. »So können Sie ihr doch nicht helfen.«
In meinem Kopf dreht sich ein Karussell, schneller, immer schneller. Dann ist da ein brennender Stich in meiner Armbeuge. Ohne es verhindern zu können, sacke ich wieder dem Meeresboden entgegen.
Ein Blitz zuckt hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Elektrizität glüht in meinem Körper, Strom jagt durch meine Adern. Etwas Metallenes saugt sich an meine Haut, die kreisrunden Flächen kühlen mein Fleisch.
Ich werde über einer Feuerstelle gegrillt und schnelle nach oben. Meine Stirn kracht gegen die Zimmerdecke, ein Schrei löst meine verklebten Lippen. Mit Schwung pralle ich von der Wand ab und falle. Unten erwarten mich spitze Nadeln. Wimmernd sinke ich auf das Leintuch, aus dem riesige Zimmermannsnägel ragen. Je länger ich liege, desto weniger nehme ich mich wahr.
Irgendwann erhebe ich mich von meinem Lager und schwebe durch den Raum. Schwerelosigkeit überkommt mich. Ich fühle mich benommen, als hätte jemand eine Glasglocke über meinen Kopf gestülpt.
Eine kaum zu hörende, von Zweifeln erfüllte Stimme flüstert: »Du darfst nicht sterben.«
Warum nur torkeln die Worte wie betrunken über die Zeilen im Schönschreibheft?
Als ich erkenne, dass niemand anderer als ich selbst es bin, die da spricht, biete ich all meine Überzeugungskraft auf.
»Du wirst nicht sterben.«
Die Worte üben eine suggestive Kraft auf mich aus, sie gleichen einer festen Order, beruhigend in ihrer Gewissheit. Sie geben mir Sicherheit, die ich jetzt dringender als alles andere brauche.
Die durch das Fenster hereinstrahlende Sonne bildet konzentrische Kreise in Spektralfarben an der Zimmerdecke. Alles sehe ich klar und frage mich doch, was Einbildung ist und was Realität. Eben vermengt sich der Geruch nach Jod, Algen und Salz mit der sterilen Krankenhausluft, Sekunden später schaukle ich in einer Jolle über das Mittelmeer und genieße den Tag. Unbeschwert stoße ich mich vom Bootsrand ab und gleite ins kühl prickelnde Blau. Lange Zeit wiege ich mich in der Strömung. Eine sanfte Brise streichelt mein erhitztes Gesicht.
Später vertäue ich den Kahn an einem muschelüberwucherten Steg und lache dem Sommer entgegen. Übermütig grabe ich meine Zehennägel in den heißen Sand. Weit draußen auf dem Meer tanzen Bojen über den Horizont. Wellen plätschern ans Ufer, weißer Schaum kräuselt sich auf der Oberfläche.
Dann steht Paul neben mir, sein Arm packt meine Schultern. Essenzen von Kreuzkümmel und Moos mischen sich mit salziger Seeluft. Durch halb geschlossene Wimpern sehe ich seine Augen. Doch sosehr ich mich auch bemühe, es will mir nicht gelingen, das Braun zu durchdringen. Wie eine Wand verhindert es den Blick in Pauls Innerstes.
Dumpfes Pochen in meinen Schläfen, ein Specht hämmert gegen die Rinde eines Baumstamms im nahen undurchlässig wirkenden Wald. Ich irre zwischen Sträuchern und Hecken umher, zerkratze mir Arme und Beine an den Dornen wild wuchernder Himbeeren und Brombeeren. Verzweifelt suche ich den Weg aus dem Dickicht, stolpere über Wurzeln, verfange mich in Farnen, die wie Arme nach meinem Körper greifen. Unter mir kriechen Schlangen durch das Gehölz.
Ich habe den Kopf verloren. Nein. Mein Kopf hat meinen Körper verloren. Unmittelbar vor mir öffnet sich ein pechschwarzes Loch. Tiefste Dunkelheit. Meine Finger krallen sich in die lehmige Erde, versuchen, den Sturz in die Tiefe zu vermeiden, aufzuhalten, ihn abzufangen. Je heftiger ich mich darum bemühe, umso stärker weicht die Kraft aus meinen Händen. Die Finger erschlaffen, bis sie schließlich loslassen müssen.
Ich falle.
Schlamm gelangt in meinen Mund, rutscht tiefer hinunter, erreicht Lunge und Magen. Ich huste, spucke.
Mit einem letzten Schrei öffne ich die Augen.
Und starre auf meinen Leichnam.
Anne lebt.
Eigentlich wollte Paul abwarten, sich verstecken, bis der erste Fahndungsdruck nachgelassen hätte, doch jetzt muss er handeln. Sofort. Denn wenn Anne überlebt hat, wird sie nach ihrem Kind verlangen. Immer wieder spielt er unterschiedliche Szenarien durch. Eine Gewissheit sticht klar hervor: Das Kind ist der Schlüssel zu Lili. Sie wird das Mädchen zu seiner Mutter ins Krankenhaus bringen.
Zuallererst muss er also Anne in ihrem Krankenbett finden. Alles andere wird sich danach von selbst ergeben.
Paul atmet durch und startet erneut den Motor. Er verlässt den Parkplatz, wendet und fährt zurück in die Stadt, aus der er vorhin gekommen ist.
Die Aprilsonne, ein früher Bote des kommenden Sommers, brennt viel zu heiß für die Jahreszeit durch die Windschutzscheibe. Wie sehr er diese Tage verabscheut, die zu sein vorgeben, was sie nicht sind. Nichts als Täuschung. Frühling bleibt Frühling.
Später, wenn seine Lili wieder bei ihm ist, verfällt Paul ins Träumen, werden sie viel Zeit in kühlen Räumen verbringen. Und sobald sie ein Kind haben, er wünscht sich ein kleines Mädchen, will er ihr vorlesen, Geschichten aus Büchern mit Bildern von Prinzessinnen und Tieren. So oft und so lange, bis sie alles auswendig kann. Sie wird ihn schon in jungen Jahren mit dieser Fähigkeit verzaubern. Er ist sich sicher, dass seine Tochter bereits mit zwei Jahren das Lesen beherrschen wird. Ungern nur schiebt er diese Bilder einer schönen Zukunft beiseite.
Nicht weit vom Zentrum der Stadt entfernt, stellt er das Auto in einer Nebenstraße ab. Trotz seines veränderten Aussehens muss er vorsichtig sein. Nichts, schon gar kein gestohlener Wagen, darf die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn lenken, aber um gewisse Besorgungen kommt er nicht umhin.
Mit weit ausholenden Schritten macht er sich auf den Weg in die Innenstadt.
Es klingelt, als er die Tür des Berufsbekleidungsgeschäfts aufstößt. Eine ältere, leicht gebeugte Frau, die nach Zwiebeln riecht, zeigt ihm unterschiedliche Hosen. Ärztekittel habe sie allerdings keine, erklärt sie, die würden nur im Versandhandel für den medizinischen Bedarf angeboten, aber die Ausstattung der Zuckerbäcker ähnele jener der Ärzte in erstaunlicher Weise.
Paul verlässt den Laden mit einer großen Einkaufstasche, in der sich eine weiße Hose sowie ein weißer Kittel mit großen Brusttaschen befinden. Der Verkäuferin hat er erzählt, er wolle sich für eine Mottoparty bei Freunden verkleiden.
»Bei uns hieß das damals Faschingsfete.«
Eher Walpurgisnacht, hätte er der Alten am liebsten geantwortet, jedoch wohlwollend genickt.
Im Supermarkt an der Ecke kauft er einen schwarzen Wäschestift, eine Brille aus Fensterglas mit dunkler Fassung, zwei Kugelschreiber, ein Lineal, einen Stadtplan, ein Wertkartenhandy, eine Packung Latex-Handschuhe und weiße Sandalen aus Hartgummi.
Verschwitzt setzt er sich danach auf einen Plastikstuhl in der angrenzenden Frittenbude. Sein Magen knurrt. Ihm wird bewusst, wie hungrig er ist. Seit gestern hat er nichts mehr gegessen.
Als die pickelige Bedienung mit Bestellblock und Stift in der Hand gemächlich auf ihn zuschlendert, lässt Paul seiner Ungeduld freien Lauf. »Etwas mehr Beeilung kann nicht schaden«, schimpft er und tippt auf ein Bild in der Speisekarte. »Das hier mit scharfer Tunke und eine Extraportion Senf.«
Gelangweilt streckt er kurz darauf seine Beine von sich und schaufelt Pommes und Burger in sich hinein, bis auf dem Pappteller nur noch Ketchup- und Senfspuren übrig bleiben. Durstig stürzt er ein Glas Wasser hinunter und ordert eine Tasse Kaffee.
In einer abseits gelegenen Gasse setzt er sich in ein Internetcafé und recherchiert die Krankenhäuser der Stadt. Er findet ein Unfallkrankenhaus, eine Privatklinik und das öffentliche Spital. Hastig kritzelt er Adressen und Telefonnummern auf ein Post-it. Nach kurzem Überlegen streicht er die Privatklinik von der Liste. Eine Zusatzversicherung hatte Anne nie.
Es dauert einige Zeit, bis er eine Telefonzelle findet.
»Allgemeines Krankenhaus, was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte eine Patientin besuchen, Anne Parker, in welchem Zimmer liegt sie?«
Die Stimme zögert. »Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Eine Patientin dieses Namens gibt es bei uns nicht.«
Ohne Gruß beendet Paul das Gespräch, nur um im nächsten Krankenhaus ebenfalls abgewiesen zu werden. Enttäuscht beißt er sich auf die Lippe. So kommt er nicht weiter, er muss sich etwas einfallen lassen. Automatisch will er an seinen Barthaaren zupfen, seine Finger treffen jedoch auf glatte Haut.
Verdammt, alles abgeschoren.
Schon lange kam er sich nicht mehr so nackt und schutzlos vor. Erst als er das dunkle Brillengestell aufsetzt, fühlt er sich etwas besser. Blicklos starrt er ins Leere, bis ihm endlich einfällt, wie er ans Ziel kommen könnte. Ungeduldig tippt er eine Nummer.
»Notrufzentrale?«
»Mein Name ist Meier«, beginnt er und räuspert sich, »ich bin Redakteur bei der ›Bild am Abend‹ und schreibe an einem Artikel über die junge Frau, die gestern das Messerattentat überlebt hat.«
Sofort wird er unterbrochen. »Schön, aber was hat das mit uns zu tun?«
Er spricht freundlich weiter, obwohl er der blöden Ziege am anderen Ende der Leitung liebend gern den Hals umgedreht hätte. »Ich wüsste gern, in welches Krankenhaus man das Opfer gebracht hat.«
»Es ist uns verboten, darüber Auskunft zu geben. Da müssen Sie sich schon an die Polizei wenden.«
Das könnte dir so passen, denkt er erbost.
So wird das nichts.
Kurz entschlossen ruft er nochmals im Unfallkrankenhaus an.
»Ich schreibe eine Masterarbeit über Rettungseinsätze und benötige eine kurze Information«, sagt er mit verstellter Stimme.
»Worum geht es konkret?«
»Ich möchte wissen, wohin die Ambulanz lebensgefährlich verletzte Patienten bringt. Gibt es da einen fixen Zuweisungsmodus?«
»Selbstverständlich gibt es den. Es wird prinzipiell das dem Unfallort nächstgelegene Krankenhaus angefahren.«
»Danke.« Zufrieden beendet Paul das Gespräch.
Im Wagen kramt er den Stadtplan hervor, markiert die Krankenhäuser und schätzt die Entfernung zwischen der Wohnung und den Spitälern. Dann misst er punktgenau mit dem Lineal nach.
Jetzt weiß er, wo sie liegt.
Wieder macht er sich auf den Weg.
Mit dem Seesack auf dem Rücken schlendert Paul, einen gemächlichen Schritt vortäuschend, den steril wirkenden Flur entlang. Vor der Tür zu den Besuchertoiletten bleibt er stehen und vergewissert sich sorgfältig, dass er von niemandem beobachtet wird.
Entschlossen stößt er die Tür auf und betritt den Waschraum. Er ist allein. Neben aneinandergereihten Pissoirs befindet sich die Toilette, eine kleine versperrbare Kabine. Genauso, wie er es erhofft hat. Niemand kann durch den Bodenspalt seine Füße sehen oder über den Rand schauen. Ein schlechter Ort für Klaustrophobiker, aber Platzangst ist jetzt sein geringstes Problem.
Rasch entledigt er sich der Jeans, seines T-Shirts und der Mokassins, stopft alles in den Seesack und schlüpft in seine weiße Arztverkleidung. Die Augen versteckt er hinter dem dunklen Brillengestell.
Jetzt gilt es, Annes Zimmer zu finden und auf Lilis Eintreffen zu warten.
Wieder geht er den Korridor entlang. Wie ein Arzt, der seinen Dienst antritt, oder einer, der am Ende der Nachtschicht heimgeht.
Vor der Kanzel bleibt er stehen. Mit einem Lächeln klopft er ans Glas. Eine Lernschwester bedient die Gegensprechanlage.
»Schwester Bernadette«, liest er laut von ihrem Namensschild ab, »ich besuche meine Patientin, Frau Parker.« Seine Stimme klingt selbstbewusst, als er Annes Geburtsdatum herunterrasselt.
Die Schwester tippt etwas in ihren PC. »Den Gang hinunter, aber den Weg zur Intensiv muss ich Ihnen ja nicht erklären.« Sie lächelt verlegen.
Mit einem Nicken verabschiedet er sich.
Schweiß hat sich auf seiner Stirn, über seiner Oberlippe, im Nacken und unter den Achseln gebildet. Unauffällig wischt er den feuchten Film mit dem Handrücken aus seinem Gesicht und wartet, bis sich die Schiebetür öffnet. Als wäre es für ihn Routine, drückt er auf den Knopf eines durchsichtigen Behälters, verreibt das Desinfektionsmittel zwischen seinen Händen und geht durch die geöffnete Tür den Flur entlang.
Er hat hektisches Treiben erwartet und ist von der Ruhe, die herrscht, überrascht. Die Station erinnert ihn eher an eine Kuranstalt als an eine Abteilung, in der der Tod allgegenwärtig ist.
Ein Pfleger schiebt einen Metallwagen an ihm vorbei, würdigt ihn keines Blickes. Eine Reinigungskraft im gestreiften Overall wischt weiter vorne mit müden Bewegungen über den Linoleumboden. Ansonsten ist der Gang leer.
Durch die entspiegelten Glasfenster kann Paul zu beiden Seiten Gestalten in ihren Betten erkennen. Wie Mumien liegen einige da, sie sind von Kopf bis Fuß bandagiert, andere, mit bläulichen Lippen in wächsernen Gesichtern, sind an Maschinen gekettet. In keinem der Zimmer hält sich ein Besucher auf, nur Ärzte und Pflegepersonal beugen sich über Patienten.
Wo aber liegt Anne?
Hier noch einmal nachfragen? Besser nicht.
Gerade als er endlich eine ihm vertraut scheinende Bahn goldig schimmernden Haares zu sehen vermeint, schrillt ein Alarm los. Paul erschrickt.
Unmittelbar verwandelt sich die geruhsame Stille in wilden Aktionismus. Türen fliegen auf, Apparate werden über den Bodenbelag gezerrt, Ärzte folgen einer kreischenden Stimme, die alles übertönt.
»Herzstillstand!«
Paul bekommt einen unsanften Stoß in den Rücken.
»Stehen Sie hier nicht herum. Ab mit Ihnen ins Zimmer acht.«
In Annes Krankenzimmer findet er sich wieder und starrt auf ihr fahles Gesicht. Zwischen ihren langen Wimpern kann er die nach oben gerollten Augäpfel erkennen. Ihre Lippen sind tiefviolett. Paul ist so auf das Geschehen fokussiert, dass er die Person, die in seinem Blickfeld auftaucht, nicht zuordnen kann.
»Sie da. Verschwinden Sie. Das ist nicht Ihre Station, Sie stehen uns nur im Weg.«
»Wir verlieren sie schon wieder«, hört er jemand anderen sagen.
Die furchteinflößenden Laute, die ein schlaffer Körper macht, wenn er zuerst hochschnellt und dann zurück auf das Laken fällt, begleiten seinen unfreiwilligen Rückzug.
Als er das Zimmer verlässt, vernimmt er ein Pfeifen, das ihn zu einem letzten Blick über die Schulter veranlasst.
Auf dem Monitor erscheint eine lang gezogene Linie, die nicht enden will, eine Trennlinie, die zwischen dem verblassenden Leben und dem Tod eine Grenze gezogen hat.
Anne ist soeben gestorben.
Wie ein geprügelter Hund schleicht Paul durch die Krankenhausgänge. Immer noch dröhnt der Ruf »Herzstillstand!« in seinen Ohren.
Mit einem einzigen Herzschlag war alles vorbei.
Selbstmitleid steigt in ihm auf, und er hasst sich dafür. Schau nach vorne, du hast ein Ziel!, schreit er sich innerlich an. Kurz lehnt er an der Wand, atmet durch.
Ein Schild weist in Richtung Kantine. Er holt den Seesack, den er zuvor in die Toilettenkabine gesperrt hatte, und macht sich auf den Weg. Äußerlich noch immer ganz Oberarzt, setzt er sich an einen der schmalen Tische. Die Resopalplatte fühlt sich schmierig an, der ganze Raum vermittelt den Eindruck liebloser Geschäftigkeit. Wie ferngesteuert steht er wieder auf und holt sich etwas aus der Glasvitrine. Verbissen kaut er an einem trockenen Stück Kuchen, spült die Krümel mit Wasser hinunter. So gut es ihm möglich ist, ignoriert er die überquellenden Mülleimer. Die momentane Hitzewelle trägt nicht unbedingt dazu bei, den Abfall besser riechen zu lassen. Von einer Krankenhauskantine hätte er mehr Sauberkeit erwartet.
Sinnlose Gedanken kreisen in seinem Kopf. Und immer wieder das Wesentliche: Anne ist tot.
Er hat ihr Sterben miterlebt und wollte doch nur Lili bei ihr finden.
Am Rand seines Blickfeldes betritt eine Frau den Raum. Paul starrt sie an. Das ist seine Lili, wie sie vor Jahren ausgesehen hat. Hellblonde Strähnen ringeln sich um ihre Schultern und fließen den Rücken hinab. Und natürlich erinnert ihn die Schöne auch an Anne, Lilis Zwillingsschwester.
Aber es ist eine Fremde. Achtlos geht sie an ihm vorbei.
Pauls Fingerknöchel treten weiß hervor, so heftig ballt er die Fäuste.
Als er die Kantine verlässt, sieht er, dass der Flur im Gegensatz zu vorhin belebt ist. Männer und Frauen in weißer Tracht schieben Rollwagen, auf denen Geschirr klirrt, vor sich her. Paul weiß, dass in Krankenhäusern früh das Essen serviert wird.
Heute Abend allerdings eine Portion weniger.
Traurig setzt er sich in einen Besuchersessel im Empfangsbereich, einen, der abseits von den anderen steht, hinter einer Begrünungsanlage, aber mit guter Sicht auf die Eingangstür.
Zum ersten Mal ist die Zeit zu seiner Verbündeten geworden, denn bald werden sie auftauchen. Sie, das sind die nächsten Angehörigen der Verstorbenen. Die trauernden Hinterbliebenen, verständigt von der Verwaltung des Krankenhauses. Sie, das ist Annes Tochter an der Hand ihrer Tante. Das letzte Abschiednehmen steht unmittelbar bevor. Und damit auch seine Chance.
Paul sitzt bewegungslos, wird innerlich langsam ruhiger. Die Minuten verstreichen, dehnen sich zu Ewigkeiten. Immer wieder schließt er die Augen, und die Farben zerfließen. »Warum laufen wir?« Eine Stimme reißt ihn hoch. Sie klingt so ängstlich.
Und dann hört er Lili. Sein Herz schlägt stürmisch. Freude ist da. Jubel und Angst.
»Hanna, mach schon.«
Hanna heißt die Kleine also. Hanna.
Lili hat es ihr noch nicht gesagt. Vielleicht besser so, überlegt er. Leise steht er auf und schiebt sich in Richtung der vertrauten Stimme.
Da ist sie. Seine Lili.
Verborgen hinter Zimmerpflanzen lässt er das Bild auf sich wirken. Das Mädchen hüpft im Schein der späten Nachmittagssonne durch den Eingangsbereich. Sie trägt ein hellrosa Kleid mit einem Muster aus durch die Luft wirbelnden Margeriten. Ihre kleinen Füße stecken in weißen Ballerinas mit lose gebundenen Schleifchen. Ihre Haut hat schon etwas Farbe angenommen, die nackten Arme und Beine sind von unzähligen Sommersprossen übersät. Ein hübsches Kind.
Dann fällt Pauls Blick auf Lili. Ihre Finger umklammern besitzergreifend die Hand des Mädchens. Ein Schmuckstein im Goldreif am Ringfinger glitzert hart, so als wolle er ihre Entschlossenheit bestätigen.
Fragend hebt das Kind sein kleines Gesicht. Die braunen Augen blicken furchtsam. »Was ist los? Ist sie tot? Sag doch was.« Ungeduldig zieht sie am Schal ihrer Tante.
Lili presst die Lippen aufeinander. Ihr langes Haar ist nachlässig, fast schlampig am Hinterkopf zusammengebunden, als habe sie sich in aller Eile ausgehfertig gemacht. Einige Strähnen fallen lose in ihren Kragen. »Hör auf. Gleich sind wir oben. Ich weiß noch nichts, aber es ist sicher alles in Ordnung. Komm, beeilen wir uns.«
Das Kind, durch den strengen Ton der Tante keineswegs beruhigt, verzieht weinerlich den Mund. Weshalb lügt Lili? Sie weiß doch, dass Anne tot ist.
Warum macht sie dem Kind Hoffnung?
Später, später wird er genug Zeit haben, sie alles zu fragen.
Einen Atemzug lang verschwimmen die beiden Gestalten vor seinen Augen, werden zu Schemen, die zu einer Einheit verschmelzen und ihn mit einem Lächeln näher winken. Lili. Auf ihrem Haar glänzen funkelnde Kristalle, Schneeflocken gleich.
Dann zerstiebt das Bild, und was eben noch heil schien, ist dunkel, zerbrochen.
Eine in Scherben gegangene Beziehung.
Ruckartig verlässt Paul seinen Posten hinter der Grünanlage. Seitlich tritt er an Lili heran, greift nach ihr und vergräbt seine Nase im Duft ihrer Haare. »Mein Engel«, murmelt er, umfängt sie und hält sie fest umschlungen.
Nie wieder wird er sie loslassen, sich von ihr trennen. Sie ist sein Ein und Alles, sie gehört ihm.
»Hilfe!«
Ihr Schrei gellt in seinen Ohren. Sie wirft sich gegen ihn, mit einer Wildheit, die ihn überrascht, zerrt an seinen Armen, verkrallt sich in seiner Montur.
»Hanna, lauf!«
Aufgeregte Stimmen nähern sich, zwingen ihn, sie loszulassen.
Wie konnte er nur so überstürzt handeln?
Fremde Hände fassen nach ihm, und Paul weiß, ihm bleibt nur noch die Flucht.
Im Hinauseilen hört er Lilis anklagendes Rufen.
»Haltet ihn auf!«
Und leiser, verzagt, das von Hanna: »Tante, wer war das?«
Nur eine Sekunde will er Lili noch anschauen, ihr Lächeln in sich aufnehmen, es konservieren, aber selbst dafür bleibt keine Zeit.
Wieder ist Paul auf der Flucht.
Ich sitze am Rand des Schwimmbeckens und lasse meine Füße ins Wasser baumeln. Es dauert einige Zeit, bis ich ihn bemerke. Während er schwimmt, ist sein Gesicht von mir abgewandt. Sein Rücken hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus. Ein wenig erinnert er mich an einen Delphin, der über die Wellen springt. Dann dreht er sich um und liegt einen Moment lang bewegungslos auf dem Wasser. Sein nasses Haar schimmert rot, und auch über seinem Gesicht liegt ein bronzener Schatten. Trotz des Bartes gefällt er mir. Er sieht verdammt gut aus.
Obwohl ich mich für meinen Körper nicht genieren muss, ziehe ich meine Beine hoch und lege die Arme fest um die Knie. Aber er scheint mich ohnehin nicht wahrzunehmen.
Wieder dreht er sich, taucht kurz unter und durchquert dann mit kräftigen Zügen das Becken. Das Wasser perlt auf seiner leicht gebräunten Haut wie Champagnerbläschen.
Es befinden sich noch weitere Hotelgäste im Pool, er aber beachtet niemanden, verhält sich, als wäre er allein. Die anderen scheinen die natürliche Autorität, die er ausstrahlt, zu akzeptieren und machen einen Bogen um ihn. Es ist, als gehöre das große Hotelbecken ihm ganz allein.
Hinter der breiten Glasfläche liegt wie das Bild einer Ansichtskarte die Winterlandschaft. Das Weiß strahlt atemberaubend. Abermillionen von Eiskristallen im frisch gefallenen Schnee fangen die Sonnenstrahlen ein und glitzern wie Diamanten.
Wäre da nicht der interessante Mann im Becken, ich könnte mich von dem Anblick der Natur nicht lösen. So pendelt mein Blick zwischen dem Winterwunder und dem Schwimmer hin und her.
Ich glätte mein nasses Haar, drehe es zu einem Dutt und verknote die langen Strähnen am Hinterkopf. Das Handtuch, auf dem ich sitze, ist inzwischen triefnass, und mir wird kalt. Ich sollte los. So anfällig, wie ich seit jeher für Verkühlungen bin, hole ich mir sonst eine Blasenentzündung. Dennoch stehe ich nur widerwillig auf, falte langsam das Badetuch und steuere die Umkleidekabine an.
Ob er mich wohl bemerkt hat?
Neugierig schaue ich über die Schulter und begegne seinem trägen Blick unter halb gesenkten, dichten Wimpern. Seine Augen sind tiefbraun.
Schnell sehe ich weg.
In der Kabine schäle ich mich aus meinem feuchten Bikini. Auf Armen und Beinen hat sich bereits Gänsehaut gebildet. Nackt stehe ich vor dem Spiegel und mustere mich kritisch. Ich bin mittelgroß, schlank, fast schon mager, aber meine Rundungen sind an den richtigen Stellen. Trotzdem verhülle ich mich gern. Meine Pullis sind meistens eine Nummer zu groß, T-Shirts und Jeans gehören zu meinen Standard-Outfits. So fühle ich mich am wohlsten.
Warum das so ist, kann ich nicht genau sagen. Oder vielleicht doch.
»Anne ist der strahlende Stern, neben dem Lili als Sternschnuppe verglüht.« Eine Freundin meiner Zwillingsschwester hatte diesen Vergleich während unserer Schulzeit gezogen und mich damit unweigerlich auf den Platz der ewigen Zweiten verbannt. Selbst jetzt, mit Anfang dreißig, wirkt er noch nach, und ich stehe in Annes Schatten.
Meine geröteten Wangen heben sich von meinem blassen Gesicht ab. Sie haben heute jedoch weniger mit meinem mangelnden Selbstwertgefühl zu tun als mit der Tatsache, dass mir seit Längerem mal wieder jemand gefällt. Erneut spüre ich dieses aufgeregte Flattern in meinem Bauch.
Ist der Blick vorhin nicht ein Flirt-Signal gewesen?
Anne könnte so etwas instinktiv richtig einschätzen, wo zum Teufel steckt sie überhaupt die ganze Zeit? Seit wir vor vier Tagen in dem luxuriösen Sporthotel in den Bergen angekommen sind, habe ich sie kaum gesehen. Im Unterschied zu mir ist sie eine begeisterte Skifahrerin, ich hingegen genieße es, Zeit für mich zu haben, im Liegenstuhl zu faulenzen und die Sonne auf meinem Gesicht zu spüren oder, wie heute, ausgiebig zu schwimmen. So weit, so gut. Seit meine Schwester ihre Zeit aber zunehmend mit ihren neuen Pisten-Bekanntschaften statt mit mir verbringt, verschlechtert sich meine Laune.
Typisch Anne, zuerst überredet sie mich zu einem gemeinsamen Urlaub, und dann lässt sie mich sitzen.
So ist meine Schwester, so war sie schon immer. Und obwohl ich es besser weiß, bin ich ihrer Einladung auch diesmal gefolgt.
Während der Nacht hat es geschneit, und es gibt nichts Herrlicheres, als durch die weiße Pracht zu schwingen. Meine Skier sind neu, ebenso Schuhe, Dress und Helm. So fit und gut drauf bin ich selten. Alles stimmt. In meinem Kopf wummert immer noch die Musik von gestern Abend.
Das Leben ist wunderbar.
Es war wohl die so ziemlich beste Idee seit Langem, hierherzufahren. Ich möchte mich nicht unbedingt als Leidtragende aufspielen, aber in erster Linie ging es mir dabei darum, meine Schwester aus ihrer Lethargie zu holen.
Lili.
Sie war und ist unser Sorgenkind – meines und das unserer Eltern. Sogar Julia, Lilis Arbeitskollegin und Freundin, macht sich so ihre Gedanken. Manchmal ruft die Gute mich an, labert mich voll und bittet dann um Diskretion. Pikanterie am Rande, ich bin eine mitfühlende Schwester, also halte ich mich an ihre Bitte und schweige.
Lili führt das Leben einer Greisin, und das ohne sichtbaren Anlass. Weder ist sie krank, noch hatte sie einen Unfall, und dass sie immer noch unter Omas Tod leidet, okay, sie stand ihr näher als ich, doch es kann nicht ewig als Ausrede für ihre Bequemlichkeit herhalten. Und warum um Himmels willen verunstaltet sie sich wie eine Mumie?