Deutsche Erstausgabe

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Umschlagkonzeption: Verlag Herder

ISBN E-​Book: 978-​3-​451-​82010-​6

Für meine beiden Pfeile: Aaron Christopher McManus, der nie vor einem Kampf zurückschreckt, und für Mariah McManus Goss, die ebenso furchtlos wie kämpferisch ist.

Lange nachdem ich meinen Bogen niedergelegt und meinen letzten Pfeil verschossen habe, werden immer noch Pfeile zielsicher ihre Bahn ziehen: Sie heißen Aaron und Mariah. Die Bahnen ihres Lebens werden sie weit über das Gelände hinausführen, das ich eingenommen habe. Einst waren sie meine Pfeile, jetzt sind sie meine Bogenschützen. Ihnen und der Zukunft, für die sie stehen, widme ich dieses Buch.

Aaron und Mariah: Ihr seid die Speerspitze. Ihr seid die Zukunft. Dies ist euer Kampf. Ich habe den Bogen so weit wie möglich gespannt und euch alle Kraft gegeben, die ich hatte, um euch fliegen zu lassen. Fliegt weit und zielsicher. Überquert die feindlichen Linien. Trefft euer Ziel. Befreit die Gefangenen. Schießt weiter, bis die Schlacht gewonnen ist.

Dad

Inhalt

Vorwort: DER KAMPF

1.Von hier aus kein Zurück

2.Spar dir nichts auf fürs nächste Leben

3.Wähle die Zukunft

4.Setz deine Vergangenheit in Flammen

5.Lass dich nicht abschütteln

6.Handle so, als hinge dein Leben davon ab

7.Halte die Stellung

8.Finde deinen Tribe

9.Finde heraus, was du willst

10.Kampfbereit

Anmerkungen

Fragen fürs Gespräch

Danksagungen

Vorwort: DER KAMPF

Am Donnerstag, dem 15. Dezember 2016, saß ich meinem Arzt an seinem Schreibtisch gegenüber und hörte ihn die Worte sagen, von denen wir alle hoffen, sie niemals zu hören: „Sie haben Krebs.“ Schon seit Jahren hatte es Anzeichen gegeben, aber die Nachricht kam immer noch unerwartet. Was soll man auch schon groß tun, um sich auf diese Situation vorzubereiten? Der Moment kam mir unwirklich vor. So als ob es jemand anderem passierte. Ich stand unbeholfen daneben und blickte peinlich berührt ins Leben eines anderen.

Was mich zurück in die Wirklichkeit riss, war der Schock und der Schmerz in den Augen meiner Frau Kim, als diese Worte in ihre Seele sanken. Bei ihrem Anblick traf mich die Realität des Ganzen mit voller Wucht. Als wir unseren Kindern die Nachricht überbrachten, wurde der Schmerz noch größer, und wir versanken in einem Ozean der Trauer.

Der Arzt erklärte mir weiter, dass ich ein MRT und einen Knochenscan benötigen würde, um herauszufinden, wie weit der Krebs fortgeschritten war. Es müsse festgestellt werden, ob der Krebs sich auf meine Knochen und lebenswichtigen Organe ausgebreitet habe. Die Biopsie zeigte bösartige Zellwucherungen in fünf der acht getesteten Bereiche. Schnelles Handeln sei dringend erforderlich, sagte man mir. Laut Auskunft der Radiologen war eine Operation unsere beste Chance. Welche Therapien in welchem Umfang darüber hinaus nötig waren, würde sich dann zeigen.

Wir lieben Weihnachten, und es waren wenige Tage bis zu unserem Lieblingsfest, als all das über uns hereinbrach. Es wurden schwere Festtage, in denen sich Freude und Trauer mischten. Wir waren uns nur allzu bewusst, dass das Leben endlich ist und wie wertvoll jeder Augenblick ist, der uns geschenkt wird.

Am selben Tag, als ich von meiner Diagnose erfuhr, setzte ich mich an mein Manuskript für dieses Buch, um ein paar letzte Bearbeitungen vorzunehmen. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass die allererste Zeile, die ich las, eine war, die ich fast ein Jahr zuvor geschrieben hatte: „Bevor Sie es von jemand anderem hören, muss ich Ihnen sagen, dass ich sterbe.“

Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Worte las. Ich konnte nicht glauben, dass ich sie geschrieben hatte. Das konnte ich doch nur geschrieben haben, nachdem ich wusste, was ich heute erfahren hatte, nicht vorher. Hatte ich da etwa eine Prophetie ausgesprochen, ohne es zu wollen? Plötzlich las ich mein Manuskript mit einem tieferen und klareren Blick als während der Niederschrift.

Es hört sich seltsam an, aber ich war bewegt von dem, was ich selbst geschrieben hatte. Es ging um Leben und Tod und darum, was es bedeutet, ohne Angst oder Reue zu leben. Ich sprach als ein Mann, der wusste, dass er sterben würde. Jetzt, da ich dem Tod ins Auge blickte, gingen mir diese Worte umso näher. Mit diesem Vorwort zu Der letzte Pfeil will ich Ihnen einfach dies sagen: Ich stehe zu jedem Wort, das ich geschrieben habe. Auch im Angesicht des Todes. Besonders im Angesicht des Lebens.

Als ich mit diesem Buch fertig war, fragte ich mich, ob es wohl mein letzter Pfeil sein würde. Eines weiß ich mit Sicherheit: Ich spare mir nichts fürs nächste Leben auf.

Ich bin Pastor der Mosaic Church, und am letzten Sonntag vor meiner Operation versuchte ich in meiner Predigt meine Einstellung zur Zukunft auszudrücken. Sie trug den schlichten Titel „Bereit zum Kampf“. Ich habe beschlossen, dass der Krebs zwar bestimmen darf, wie ich sterbe, aber nicht, wie ich lebe.

Das Leben ist voller Herausforderungen, Abenteuer und, ja, auch Kämpfe. Es gibt immer Riesen zu besiegen und Drachen zu töten. Ich habe schon jetzt den Entschluss gefasst, mit dem Schwert in der Hand zu sterben. Der Mut in uns ist größer als die Gefahr vor uns. Du bist stark genug für die Schlachten, die dich erwarten.

Was ich mit diesem Buch erreichen möchte, ist, dass du dich niemals ergibst, dass du dich nicht abfindest, dass du dir nichts fürs nächste Leben aufsparst.

Möge dein Köcher leer sein, wenn du stirbst.

Möge dein Herz voll sein, wenn du stirbst.

1.Von hier aus kein Zurück

William Osborne McManus heiratete meine Mutter, als ich etwa drei Jahre alt war. Er war nicht mein leiblicher Vater, und er hat mich oder meinen Bruder nie legal adoptiert, aber er war im Grunde der einzige Vater, den ich je kannte. Wir kamen uns nahe, und ich kann mir vorstellen, dass ich ihn in meiner Kindheit so sehr liebte, wie ein Sohn einen Vater nur lieben konnte. Als kleiner Junge nannte ich ihn Dad. Später war er für mich einfach nur Bill.

Dieser Mann war in jeder Hinsicht ein Widerspruch in sich. Er war warmherzig und einnehmend, charismatisch und gewinnend. Gleichzeitig war er ein Betrüger, für den die Wahrheit einfach nur ein Stoff war, den er in die Lügen einwebte, mit denen er sich gerade durchlavierte. Ich weiß noch, wie der Film Catch Me If You Can mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle herauskam. Mein Bruder Alex rief mich an und sagte: „Hast du den Film gesehen? Das ist Dad.“ Ich hatte genau den gleichen Gedanken, als ich im Kino saß und mir den Film ansah. Wenn du meine Kindheit verstehen willst –​ da hast du sie in zwei Stunden zusammengefasst.

Im Lauf der Jahre hat Bill meiner Familie tiefen Schmerz zugefügt mit seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber meiner Mutter und meinen beiden kleinen Schwestern, die seine leiblichen Töchter waren. Als er uns verließ –​ ich war siebzehn Jahre alt –​ war von all der Liebe, die ich für ihn empfunden hatte, nur noch Verachtung übrig. An diesem Tag muss er wohl in meinen Augen gesehen haben, was ich fühlte und dachte, denn er kam aggressiv auf mich zu. Instinktiv wollte ich ängstlich zurückweichen, doch dann war mein Zorn stärker, und ich stellte mich. Als er vor mir stand, sagte er: „Schlag mich. Das willst du doch, oder? Zeig mal, ob du genug Mumm in den Knochen hast.“

Ich sah ihn an und sagte: „Du bist die Mühe nicht wert.“

Während er in seinen Wagen stieg, flehten meine beide kleinen Schwestern mich an, irgendetwas zu tun, damit es zur Versöhnung kam. Ich ging nach draußen und bat ihn inständig, nicht zu gehen. Das Letzte, was ich von ihm an diesem Tag in Erinnerung habe, war sein Gesicht jenseits der Windschutzscheibe, als er mich beim Anfahren mit dem Kotflügel streifte.

Selbst nach diesem schicksalhaften Tag fanden wir einen Weg, uns zu versöhnen und telefonisch in Kontakt zu bleiben, wenn auch nur sehr sporadisch. Aber an dem Sprichwort ist etwas Wahres dran: Was zerrissen wurde, kann man nicht flicken. Schließlich heiratete Bill wieder, und etwa zur gleichen Zeit heiratete auch ich. Als wäre es ein Drehbuch, waren seine neue Frau und meine Frau Kim zur gleichen Zeit schwanger. Aber aus vielerlei Gründen, die ich nicht alle erklären kann, traf ich die schwere Entscheidung, meinen Stiefvater in der Vergangenheit zurückzulassen und mich darauf zu konzentrieren, für meine Familie eine Zukunft aufzubauen, in der Bill keine Rolle spielte.

Ehe ich mich versah, waren fünfzehn Jahre vergangen –​ Jahre, in denen Bill und mein Sohn Aaron sich nie begegneten. Aaron war der erste echte McManus in unserer Familie. Ich hatte den Namen McManus von Bill übernommen, ohne dass er jemals amtlich mein Vater geworden wäre. Und wie die Ironie es wollte, hieß er nicht einmal wirklich McManus –​ das war nur ein Pseudonym, das er sich zugelegt hatte. Er war einer von den Leuten, die immer auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit sind, und seine falsche Identität war ein Teil dieser Flucht. Aaron schließlich kam als Erster rechtmäßig zu diesem Namen.

Als Aaron fünfzehn Jahre alt war, wollte er den Mann treffen, von dem ich diesen Namen hatte –​ den Mann, den ich meinen Vater nannte. Das war ich ihm schuldig. Obwohl ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr mit meinem Vater gesprochen hatte, spürte ich ihn auf, als wäre er ein Fremder, den ich zum ersten Mal treffen wollte. Wir fanden ihn in einer kleinen Stadt namens Matthews in der Nähe von Charlotte, North Carolina,. Er war überglücklich, mich zu sehen, und ebenso überglücklich, meinen Sohn kennenzulernen. Ich glaube, dadurch, dass ich mich in den letzten fünfzehn Jahren aus seinem Leben herausgelöst hatte, hatte ich ihn sehr traurig gemacht.

Ich wusste nicht, was mich erwartete, aber das Wiedersehen verlief ganz gut –​ zunächst. Aber dann schickten wir uns zum Aufbruch an, und ich hörte ihn die letzten Worte sagen (nicht nur die letzten Worte an diesem Tag, sondern für immer, da er nicht allzu lange danach starb). In meiner Gegenwart sagte er zu meinem Sohn: „Ich weiß nicht, was dein Vater dir erzählt hat, aber er war mittelmäßig. Er war einfach mittelmäßig. Sein Bruder war außergewöhnlich, aber dein Vater war nur mittelmäßig.“

Diese Worte bohrten sich in mich hinein wie ein Messer. Bitte versteh mich nicht falsch. Was mir so wehtat, war nicht, dass dies die letzten Worte waren, die mein Vater je über mich sagte. Das Schlimmste für mich war auch nicht, dass mein Sohn dieses Urteil hörte. Was mich am tiefsten traf, war das schreckliche Gefühl, dass Bill McManus recht hatte –​ ich war nur Mittelmaß.

Offen gesagt, wenn man sich meine frühen Lebensjahre anschaut, müsste man diese Worte noch als eine schmeichelhafte Übertreibung bezeichnen. Ich lag in der Tat immer unter dem Durchschnitt. In der Schule war ich nicht im Mittelfeld; ich war das Schlusslicht. Ich war nicht zweite Wahl; ich war bestenfalls dritte Wahl. Die schmerzliche Wahrheit ist, dass ich es nie ganz schaffte, das Mittelmaß zu erreichen. Immer schien ich im Bodensatz zu versinken. Wenn wir Mannschaften wählten, wurde ich nie als Erster oder Zweiter oder irgendwann in der Mitte ausgewählt. Ich war immer buchstäblich als Letzter dran.

Und obwohl ich immer hoffte, eines Tages etwas Besonderes zustande zu bringen, muss ich ehrlich zugeben, dass ich mich im Mittelmaß, wenn nicht sogar unter dem Mittelmaß, zu Hause fühlte. In meiner Unsichtbarkeit fand ich auf seltsame Weise Trost und Geborgenheit, einen unauffälligen Schlupfwinkel, in dem ich mich häuslich einrichtete.

Nicht wenige der Gedanken dieses Buches habe ich diesem Gespräch mit Bill zu verdanken. Ich glaube nicht, dass irgendjemand als Durchschnittsmensch geboren wird, aber ich denke, viele von uns entscheiden sich für ein Leben im Mittelmaß. Die Mehrzahl von uns, glaube ich, sind in Gefahr, im Abgrund des Gewöhnlichen zu verschwinden. Das Tragische dabei ist natürlich, dass es an uns nichts wirklich Gewöhnliches gibt. Wir sind vielleicht nicht davon überzeugt, aber tief in unserer Seele wissen wir, dass es so ist, und deshalb quält es uns, wenn wir uns für ein Leben unterhalb unserer Fähigkeiten und Berufungen entscheiden.

Den Vorwurf „Du bist nur Mittelmaß“ kann man auf zweierlei Weise hören.

Zum einen in dem Sinne, dass man aus mittelmäßigem Holz geschnitzt sei. Die zweite Möglichkeit ist auf unauffällige, aber bedeutsame Art anders. Die Aussage kann sich nämlich auch auf deinen Charakter beziehen –​ in dem Sinne, dass du den Weg des geringsten Widerstandes gewählt und nicht die Größe angestrebt hast, die in deiner Reichweite liegt. Die schmerzhafte Wahrheit ist: Wenn wir uns nicht bewusst dafür entscheiden, allen Wahrscheinlichkeiten zu trotzen, wird die Mittelmäßigkeit uns unsere Grenzen setzen. Die Wahrscheinlichkeit sagt, dass du und ich im Mittelmaß stecken bleiben werden. Deshalb heißt es ja Mittelmaß. Dort leben die meisten von uns. Wer über das Mittelmaß hinaus will, muss eine Wahl treffen. Er oder sie muss der Wahrscheinlichkeit trotzen. Du hast keinen Einfluss darauf, ob du überdurchschnittlich mit Talent, Intelligenz oder körperlichen Fähigkeiten gesegnet bist. Was du allerdings beeinflussen kannst, ist, ob du dich für ein Leben entscheidest, das durch den Status quo definiert und bestimmt ist. Selbst wenn das Gesetz des Mittelmaßes gegen dich arbeitet, kannst du dich immer noch der Wahrscheinlichkeit widersetzen.

Was Bill damals sagte, bezog sich auf mein Verhalten und das, was dabei herauskam. Ich verließ an diesem Tag sein Haus mit einem festen Entschluss: Ich kann nichts daran ändern, welche Talente mir mitgegeben sind –​ genauso wie ich mir nicht aussuchen kann, wie intelligent ich bin oder welche anderen Vor-​ oder Nachteile mir genetisch mit auf den Weg gegeben wurden. Aber dafür, das Potenzial, das Gott mir zum Wohle anderer gegeben hat, zu entwickeln und zu maximieren, bin ich ganz allein verantwortlich, und das würde ich von nun an selbst in die Hand nehmen. Der letzte Pfeil ist eine Reise, die in dem Moment beginnt, wo du die Latte höher legst. Wir müssen die Messlatte für unseren Glauben, unsere Opfer, unsere Erwartungen an uns selbst, unseren Glauben an die Güte und Großzügigkeit Gottes höher legen.

Wir können uns der Mittelmäßigkeit verweigern. Wir müssen uns der Mittelmäßigkeit verweigern. Wir müssen gegen die Versuchung ankämpfen, uns mit weniger zufriedenzugeben. Das Mittelmaß ist immer eine sichere Wahl, und zugleich ist es die gefährlichste Wahl, die wir treffen können. Das Mittelmaß schützt uns vor dem Risiko des Scheiterns, und zugleich verbaut es uns eine Zukunft, die Größe hat. Der letzte Pfeil ist ein Buch für alle, die entschlossen sind, sich nie mit dem Mittelmaß zufriedenzugeben.

Damit meine ich nicht eine starre Kompromisslosigkeit gegenüber den eigenen Erwartungen und Standards. Bei dem Prozess, in den wir jetzt einsteigen, geht es tatsächlich zu einem großen Teil darum, dass wir lernen, Dinge loszulassen, die eigentlich unwichtig oder auch nur nicht die wichtigsten sind. Dieses Buch handelt nicht davon, andere mit den Maßstäben zu messen, die du festgelegt hast. Sondern es handelt davon, nicht zu unterschätzen, wie viel Gott mit deinem Leben vorhat.

Ich habe nie herausgefunden, wie man Misserfolge vermeidet, und deshalb kann ich dir das auch nicht beibringen. Aber ich kann dir zeigen, wie du dahin kommst, niemals aufzugeben. Auch das muss ich näher erklären. Vielleicht tust du heute Dinge, von denen du dich schon gestern hättest verabschieden sollen. Es gibt vielleicht nichts Schlimmeres, als einen Kampf zu gewinnen, den man nie hätte kämpfen sollen. Aber ich bin überzeugt, dass jeder Mensch eine einzigartige Berufung für sein Leben hat –​ dass jeder von uns mit Absicht und Ziel geschaffen wurde. Und ich bin ebenso sicher, dass die meisten von uns unterschätzen, wie viel Gott tatsächlich in unserem Leben und durch unser Leben tun will. Der letzte Pfeil handelt davon, nichts von dem ungetan zu lassen, was wir tun könnten. Es geht darum, alles aus unserem Leben herauszupressen, was drinsteckt. Diese Reise soll uns dahin führen, dass wir nichts zu bedauern haben, wenn wir in den letzten Momenten unseres Lebens angekommen sind.

Hör nicht auf, bevor du fertig bist

Die Idee zu Der letzte Pfeil kam mir, als ich über eine Geschichte aus dem Leben des Propheten Elischa im Alten Testament nachdachte. Es ist ein unauffälliger Moment, den man leicht übersehen könnte, obwohl er ebenso poetisch wie tiefgründig ist. Außerdem verschafft uns, davon bin ich überzeugt, diese Geschichte einen kleinen Einblick in die Art und Weise, wie Gott in der Welt wirkt und wie wir uns entweder für seine größere Zukunft öffnen oder unsere eigene Zukunft kleiner machen, als er es uns zugedacht hat.

In dieser Geschichte sind die Königreiche Israel und Juda geteilt und befinden sich im Krieg gegeneinander, und Joasch ist der König von Israel. Sein Königreich wird von den Armeen Amazjas, des Königs von Juda, bedroht. Der einzige große Vorteil, den Joasch hat, ist, dass der Prophet Elischa bei ihnen ist, aber jetzt ist Elischa krank geworden und liegt im Sterben. Joasch geht hin und weint über ihn, nicht so sehr aus Trauer um den Propheten, sondern vielmehr aus Angst davor, Elischas Schutz zu verlieren.

Joasch ruft nach Elischa, der ein Symbol und eine Quelle der Kraft und Macht Gottes war, aber nun offenkundig am Ende seines Lebens steht.

Elischa gibt ihm dann eine Reihe von etwas ungewöhnlichen Anweisungen. Zuerst sagt er: „Hol einen Bogen und Pfeile“, und Joasch gehorcht. Dann sagt Elischa: „Leg deine Hand an den Bogen!“ Sogleich befolgt der König die Anweisung Elischas. Als er Pfeil und Bogen hebt, legt Elischa seine Hände auf die des Königs.

„Öffne das Fenster gegen Osten hin!“, fährt er fort, und der König tut es. „Schieß!“, befiehlt Elischa, und Joasch 
schießt. „Ein Siegespfeil vom Herrn ist es, ein Siegespfeil gegen Aram!“, verkündet Elischa. „Du wirst Aram bei Afek schlagen bis zur Vernichtung.“

Dann fährt er fort: „Nimm die Pfeile“, und der König nimmt sie. Elischa fordert ihn auf: „Schlag auf die Erde.“ Joasch schlägt dreimal zu und hält dann inne. Daraufhin gibt es in der biblischen Erzählung eine überraschende Wende: „Da wurde der Gottesmann zornig über ihn und sagte: Du hättest fünfmal​ oder sechsmal schlagen sollen, dann hättest du Aram bis zur Vernichtung geschlagen; so aber wirst du Aram nur dreimal schlagen.“ Gleich nach diesen Worten endet die Geschichte: „Hierauf starb Elischa und man begrub ihn“1

Vieles von dem, was hier geschieht, ergibt für unser modernes Denken keinen Sinn. Wie kann es sein, dass die Zukunft des Königs so sehr davon abhängt, ob er drei oder fünf oder sechs Mal mit einem Pfeil auf den Boden schlägt? Warum hat Elischa ihm nicht erklärt, was nötig ist, bevor er ihn mit den Konsequenzen konfrontiert? Woher hätte der König wissen sollen, dass Sechs die magische Zahl ist und dass drei Schläge nicht reichen? Bis zu diesem Moment hatte er alle Anweisungen Elischas befolgt. Aber als Elischa ihn aufforderte, mit den Pfeilen auf den Boden zu schlagen, sagte der Prophet nichts Näheres dazu.

Es ist nicht unwichtig, dass der Text sagt: „Da wurde der Gottesmann zornig.“ Offenbar ging hier etwas vor sich, was man nicht sofort wahrnimmt. Das war kein kleiner Fehler. Zu Anfang wird dem König ein Sieg auf der ganzen Linie verheißen, doch dann bleibt viel weniger davon übrig. Und alles dreht sich um eine Entscheidung: Er schlug dreimal auf den Boden und hörte dann auf. Anders ausgedrückt: Er gab auf. Die Bibel sagt uns nicht, warum er aufhörte. Vielleicht war er müde, vielleicht kam er sich lächerlich vor, vielleicht dachte er, es sei unter seiner Würde, oder vielleicht hatte er das Gefühl, das Ganze sei ohnehin vergeblich. Aber offensichtlich war die Tatsache, dass der König so bald aufhörte, mit dem Pfeil auf den Boden zu schlagen, für Elischa ein Zeichen für seine mangelnde Entschlossenheit, das volle Maß dessen zu empfangen, was Gott ihm zugedacht hatte. Er gab auf, und der Sieg war verloren. Er wollte es einfach nicht dringend genug.

Ich frage mich, wie viele Siege wohl verloren gehen, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hat. Ich frage mich, wie viel mehr Gutes Gott in die Welt bringen will, das durch unseren Mangel an Ehrgeiz vereitelt wird. Ich frage mich, wie oft ich in meinem eigenen Leben dachte, ich hätte versagt, als ich in Wirklichkeit ganz einfach nur aufgegeben hatte.

Was ist das eigentlich, das uns dazu bringt, aufzuhören, bevor wir fertig sind? Aufgeben mit Scheitern zu verwechseln? Uns mit weniger zufriedenzugeben? Ich erkenne mich selbst viel zu sehr darin wieder –​ sehe mich selbst viel zu oft zu wenig beten, zu wenig erwarten, zu wenig tun. Bist du auch einer von denen geworden, die immer darauf aus sind, nur das Mindeste zu tun, nur das, was gefordert wird? Oder bist du gar einer, der nicht nur das Leben, sondern auch sich selbst aufgegeben hat? Wirst du am Ende deines Lebens sagen können: „Ich habe alles gegeben, was ich hatte“, oder wirst du in deiner Seele das hohle Gefühl haben, dass du zu früh aufgehört, zu wenig erwartet, den letzten Schlag mit dem Pfeil nicht mehr getan hast?

Ich glaube, viele von uns hören Gott sagen: „Nimm deine Pfeile und schieß“, aber ähnlich wie der König hören wir nie die Aufforderung: „Hör auf, auf den Boden zu schlagen.“ Wir hören einfach auf, bevor wir fertig sind. Wir hören auf, bevor Gott mit uns fertig ist.

Es gibt eine Lebenshaltung, die diejenigen, die ihr Leben mit ihren Köchern voller unausgeschöpfter Potenziale und ungenutzter Möglichkeiten beenden, von denen unterscheidet, die mit leeren Köchern sterben. Pfeile sind nicht zur Dekoration gedacht; sie sind zum Kämpfen da. Die Frage, die jeder von uns beantworten muss, ist folgende: Bin ich jemand, der dreimal zuschlägt und dann aufhört, oder bin ich jemand, der auf die Aufforderung, mit den Pfeilen auf den Boden zu schlagen, immer wieder zuschlägt und zuschlägt und zuschlägt, bis keine Pfeile mehr übrig sind?

Es ist merkwürdig, dass Elischa den König den ersten Pfeil durch das Fenster schießen ließ und ihn dann aufforderte, die restlichen Pfeile zu nehmen und damit auf den Boden zu schlagen. Vielleicht werden wir nie ganz herausfinden, was es zu bedeuten hatte, dass er ihn das so machen ließ. Vielleicht war der Pfeil, den er durch das Fenster schoss, ein Symbol dafür, dass Gott den Sieg weit über die Hand des Königs hinaustragen würde. Dazu ist ein Pfeil ja da. Doch den Pfeil zu nehmen und damit zu schlagen statt zu schießen war eine seltsame Anweisung. Man könnte daraus lesen, dass das Wesentliche in dem lag, was Gott dem König in die Hand gegeben hatte.

Dies ist übrigens das Paradoxe daran, wie Gott in unserem Leben wirkt. Wir müssen den Pfeil abschießen und erkennen, dass es Dinge gibt, auf die wir keinen Einfluss haben, und zugleich müssen wir mit dem Pfeil schlagen und die Verantwortung für das übernehmen, was wir beeinflussen können. Wir sollen schießen und schlagen, aber aufhören sollen wir nicht.

Die meisten von uns leben so, als wären die Pfeile zu wertvoll, um sie zu verschießen. Sie sehen doch so schön aus, wenn sie im Köcher stecken. Vielleicht nehmen wir uns sogar jeden Tag eigens Zeit, unsere Pfeile zu sortieren und in einwandfreiem Zustand zu halten. Was ich an Pfeilen liebe, im Gegensatz zu anderen alten Waffen, ist dies: Ein Schwert kann man zwar benutzen, aber nur, solange man es in der Hand hält. Ein Pfeil dagegen ist erst dann von Nutzen, wenn man ihn loslässt und er dorthin gelangt, wo man selbst nicht hinkann. Der Pfeil erweitert deinen Wirkungsbereich und erfüllt seinen Zweck nur, wenn du ihn fliegen lässt. Wir leben nicht, um mit vollen Köchern zu sterben. Nein, unser höchstes Streben sollte es sein, mit leerem Köcher zu sterben. Leute, die sich mit weniger nicht zufriedengeben, haben die Haltung, sich nichts fürs nächste Leben aufsparen zu wollen.

Von hier aus kein Zurück

1997 schaute ich mir im Kino einen wenig beachteten Film namens Gattaca an.2 Damals waren die Hauptdarsteller (Jude Law, Ethan Hawke und Uma Thurman) alle noch relativ unbekannt, und der Film kam ins Kino und verschwand wieder, ohne dass die meisten Leute Notiz davon nahmen. Aber seine Botschaft machte tiefen Eindruck auf mich, als ich in diesem Kino saß, und sie hat mich nie wieder losgelassen. Ich vermute, Filme haben ihre größte Wirkung auf uns nicht dann, wenn sie uns in ihre Geschichten hineinziehen, sondern wenn sie in unsere eigenen Geschichten eindringen.

Gattaca ist die Geschichte von zwei Brüdern, Vincent und Anton. Sie spielt in einer Zukunft, in der Kinder genetisch manipuliert werden, um perfekt und makellos geboren zu werden. Trotz aller Bemühungen der Gesellschaft gibt es jedoch immer noch gelegentlich Kinder, die als „natürliche Babys“ geboren werden. Sie werden als „invalid“ eingestuft. Dahinter steckt natürlich die Theorie, dass der natürliche Mensch nicht mit demjenigen konkurrieren kann, der das Ergebnis einer genetischen Verfeinerung ist.

Mir kommt das viel zu bekannt vor. Mein Bruder Alex war immer das Gegenteil von mir, als wir heranwuchsen. In der sechsten Klasse war er einer der schnellsten Jungen in den Vereinigten Staaten. Auf der Highschool war er der aufsteigende Star-​Quarterback unserer Schule und brach alle Passrekorde. Er hatte nicht einmal den Anstand, eine dumme Sportskanone zu sein. Stattdessen erwies er mir den schlechten Dienst, einen IQ weit über dem Durchschnitt und ein natürliches Führungstalent zu besitzen, das ihn zu einem General in einer Welt voller Zivilisten machte. Um uns leichter zu organisieren, meldete meine Mutter uns beide gleichzeitig in der ersten Klasse an. Er war sieben Jahre alt, ich fünf, und so war ich von der ersten Klasse bis zum Highschool-​Abschluss so etwas wie der minderwertige Zwilling.

So fühlte sich Gattaca wie meine eigene Geschichte an, die Geschichte von zwei Brüdern –​ der eine das Bild der Vollkommenheit, der andere ein ständiges Mahnmal der menschlichen Fehlerhaftigkeit. Es gibt keine Welt, in der Vincent Anton jemals überflügeln kann. Anton besitzt eine Eigenschaft, die wir uns alle in unseren tiefsten Sehnsüchten ebenfalls wünschen –​ keinerlei Fehler zu haben, keinerlei Schwächen, keinerlei menschliche Unvollkommenheiten. Vincent hingegen ist das Einsteigermodell eines Menschen. Er ist ein natürliches Baby, und im Vergleich dazu ist sein Bruder übernatürlich.

Im Film besteht das Dilemma darin, dass Vincent zwar unterlegen ist, seine Träume und Sehnsüchte aber nicht durch seine Unvollkommenheit begrenzt oder definiert sind. Sein Dilemma ist dasselbe, vor dem wir alle stehen. Wir streben nach Dingen, die außerhalb unserer Reichweite zu liegen scheinen. Unsere Seele scheint uns einen grausamen Streich zu spielen, indem sie uns dazu bringt, Dinge zu wollen, die unmöglich erscheinen. Wäre es nicht besser für uns alle, wenn wir gar nicht erst wissen könnten, dass es noch mehr gibt? Wie oft quält uns dieser schmerzhafte Gedanke, dass das Leben, nach dem wir uns sehnen, nicht das Leben ist, für das wir geschaffen sind?

Doch allenthalben werden wir immer wieder daran erinnert, dass scheinbar ganz normale Menschen ihren Weg zu einem außergewöhnlichen Leben gefunden haben. Wir kennen ihre Geschichten; sie inspirieren uns und entzünden in uns neu die Flamme der Hoffnung, auch wir könnten mehr werden –​ auch wir könnten aus der Mittelmäßigkeit ausbrechen, den Status quo überwinden und ein einzigartiges, unverwechselbares Leben führen. Offenbar gibt es so etwas wie einen Bruchpunkt, einen entscheidenden Moment, einen Moment der Wahrheit, in dem ein Mensch beschließt, dass es für ihn nicht mehr infrage kommt, sich mit weniger zufriedenzugeben. Wir sehen diesen Moment im Leben der beiden Brüder Vincent und Anton auf eindrückliche Weise dargestellt.

Vincent hat ein Pseudonym angenommen und nennt sich Jerome. In seiner Welt muss er jemand anderes werden, um zu dem zu werden, was er ist. (Für mich liegt darin eine starke Ironie, denn ich habe mein Leben lang mit einem Pseudonym gelebt und immer darum gekämpft, herauszufinden, wer ich wirklich bin.) Wir begegnen den beiden Brüdern draußen im Meer, wo sie darum wetteifern, wer weiter schwimmen kann. Anton ist schon am Kämpfen und kann mit seinem Bruder, der ihm doch eigentlich unterlegen ist, nicht mithalten.

        ANTON

Wie schaffst du das,

Vincent? Wie hast du das

alles geschafft?

        VINCENT

Das kannst du jetzt

herausfinden.

Vincent schwimmt ein zweites Mal weg. Anton ist gezwungen, ihm wieder zu folgen. Jetzt wütend, mit den Zähnen knirschend, ruft Anton dieselbe Entschlossenheit auf, die wir bei seinem unermüdlichen Schwimmen im Pool gesehen haben. Er legt einen Spurt hin und schließt langsam zu Vincent auf.

Allmählich zieht Anton mit Vincent gleich, sicher, dass diese Anstrengung seinen älteren Bruder demoralisieren wird. Aber Vincent hat nur darauf gewartet, dass er ihn einholt. Vincent lächelt Anton an. Mit fast einer Spur Mitleid zieht er wieder davon. Anton ist gezwungen, ihm zu folgen. Wieder schwimmen sie eine lange Strecke.

Es ist Anton, der allmählich den Mut verliert –​ seine Schwimmzüge erlahmen, sein Wille schwindet. Erschöpft und ängstlich hält Anton inne. Auch Vincent hält inne. Doch von Antons Furcht ist in seinem Gesicht nichts zu sehen.

Sie treten Wasser, ein paar Meter vonei-
nander entfernt. Das Meer ist rauer geworden. Die Wellenberge verdecken den Blick auf die Lichter am Ufer.

          ANTON

   (mit aufsteigender Panik)

Vincent, wo ist das Ufer?

Wir sind zu weit draußen.

Wir müssen zurück!

          VINCENT

      (ruft zurück)

Nein, dafür ist es zu

spät. Wir sind näher am

anderen Ufer.

(Anton schaut auf den leeren Horizont.)

          ANTON

  Welches andere Ufer? Wie

weit willst du denn noch?

Willst du, dass wir beide

        ertrinken?

     (wird hysterisch)

Wie kommen wir zurück?!

Vincent lächelt seinen jüngeren Bruder nur an, ein beunruhigend heiteres Lächeln.

          VINCENT

    (unheimlich ruhig)

Du willst wissen, wie

ich’s geschafft habe? Ich

sag dir, wie, Anton. Ich

hab mir nie etwas für den

Rückweg aufgespart.

Das sind eindringliche Worte von einem, der nichts zu verlieren hatte. Vielleicht sind wir gerade dann, wenn wir uns unserer Unvollkommenheit und unserer Fehler bewusst sind, am besten für diese Reise geeignet. Was haben wir schließlich zu verlieren? Es hat ja nie jemand damit gerechnet, dass etwas aus uns wird. Wenn uns sowieso blüht, dass wir scheitern, dann lasst uns mutig scheitern und vorwärts scheitern. Aber was auch immer passiert, lasst uns nicht irgendeine Ausrede dafür finden, nicht alles zu geben, was wir haben. Vielleicht liegt das Leben, nach dem wir uns sehnen, gleich hinter dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Dieser Gedanke hat mich nie verlassen: dass er sich nie etwas für den Rückweg aufgespart hat. Diese Denkweise, davon bin ich überzeugt, ist der grundlegende Unterschied zwischen denen, die dreimal mit dem Pfeil schlagen, und denen, die so lange schlagen, bis der letzte Pfeil verbraucht ist. Sie lassen nichts für den Rückweg übrig. Sie sparen sich nichts auf fürs nächste Leben.