Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Soren Egeberg/Stocksy United
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln
Lektorat: Lothar Strüh
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-659-3
Thriller
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Lesen&Hören, Berlin.
Für Anke,
ohne deren Weihnachtsgeschenk diese Geschichte
nicht entstanden wäre
Deutsch-französische Gemeinschaftsstation AWIPEV
Ny-Ålesund/Spitzbergen
»Merde.« Pierre Remy fluchte leise vor sich hin, zog die Kapuze seines Parkas über den Kopf und stapfte durch den Schnee. Mit hochgezogenen Schultern, den Kopf nach unten gebeugt, stemmte er sich gegen die Sturmböen. Eiskristalle stachen wie Nadeln in seine Wangen.
Im Strahl der LED-Taschenlampe wurden die Schneeflocken zu einer blendend weißen Wand. Das störte ihn nicht weiter, den Weg zur Messstation kannte er auswendig. Den hätte er auch mit verbundenen Augen gefunden. Aber die Lampe diente auch seiner eigenen Sicherheit. So war er für seine Kollegen sichtbar, wie ein einsames Positionslicht mitten im grauweißen Nichts. Als Remy links von sich schemenhaft den großen Lagerschuppen auftauchen sah, wusste er, dass er fast am Ziel war. In den letzten Wochen war er diesen Weg im milchig blauen Schimmer der Polarnacht Dutzende Male gegangen.
Minus fünfzehn Grad Celsius, für eine arktische Winternacht ausgesprochen mild. Remy hatte bei seinen Forschungsarbeiten schon andere Temperaturen überstanden. Es überraschte ihn immer wieder, dass es hier oben in Ny-Ålesund bei Weitem nicht so kalt war wie beispielsweise in Alaska, wo er mehr als zwei Jahre lang gearbeitet hatte.
Markus, sein deutscher Kollege, hatte es ihm wenige Tage nach seiner Ankunft auf Spitzbergen erklärt: Der Westspitzbergenstrom sorgte auch im Winter für moderate Temperaturen. Na ja, sofern man minus fünfzehn Grad und Sturmböen der Windstärke 9 noch moderat nennen konnte, dachte Remy. Was da an seinem Parka zerrte, ihm die Eiskristalle schmerzhaft ins Gesicht trieb, waren allerdings nur noch die Ausläufer des Orkans. Der hatte drei Tage lang gewütet.
In der ersten Nacht hatte Remy bei dem Heulen des Orkans kaum geschlafen. Die Sensoren hatten Windgeschwindigkeiten von mehr als hundertsechzig Stundenkilometern registriert. Selbst seine beiden erfahrenen deutschen Kollegen hatten hier auf Spitzbergen mitten im Nordpolarmeer einen solchen Orkan noch nicht erlebt. Irgendwann am zweiten Tag war die Messstation aus ihren schweren Verankerungen gerissen und weggefegt worden. Remy wollte jetzt den Festplattenspeicher bergen, der in einem Stahlkasten im Fundament der Station untergebracht war.
Der Sturm hatte den Sockel nahezu freigelegt. Remy bückte sich und wischte mit seinem Handschuh die vergleichsweise dünne Schneeschicht auf dem Fundamentsockel zur Seite. Im Licht der Taschenlampe wirkte der orange gestrichene Deckel des Stahlkastens merkwürdig fremd. Ein bunter Farbfleck im Weiß. Sichtbares Zeichen dafür, dass es hier noch mehr gab als Kälte, Schottersteine, Eis, Schnee und Eisbären.
Eisbären! Unwillkürlich schaute er hoch und sah sich prüfend um. Jeder, der außerhalb des Dreißig-Seelen-Dorfes Ny-Ålesund unterwegs war, musste eine Waffe tragen. Das galt auch für Remy und seine Kollegen. Vorschrift war Vorschrift. Das oder eine bewaffnete Eisbärenwache. Da sie aber lediglich zu dritt das Überwinterungsteam bildeten, blieb nur die eigene Waffe. Auf die hatte Remy allerdings heute Nacht verzichtet. Ohne den Schneefall hätte er das große holzverkleidete Wohnhaus der Forschungsstation von hier aus leicht sehen können. Kein Grund zur Sorge.
Remy widmete sich wieder seiner Aufgabe. Er zog seinen schweren Fäustling aus, um den Vierkantschlüssel aus seiner Parkatasche zu fischen, entriegelte den Stahldeckel, kniete sich hin und griff in den Kasten.
Der Tod traf ihn völlig überraschend. Er hörte keinen Schuss, sah kein Mündungsfeuer. Da war nur für einen Wimpernschlag dieser alles überwältigende Schmerz. Die Kugel riss seinen Hinterkopf in Stücke. Remy war schon tot, bevor er auf den Betonsockel der zerstörten Messstation kippte. Sein Blut wurde zu einem neuen, großen Farbfleck inmitten von Eis und Schnee.
Schemenhafte Schatten in weiß-grau gefleckten Tarnanzügen folgten stumm der bereits leicht zugewehten Spur, die Remy im Schnee hinterlassen hatte.
Fünf Minuten später erschütterte eine Explosion die kleine Siedlung am Meer, übertönte für einen Moment sogar das Heulen der Sturmböen. Stichflammen erhellten die arktische Nacht, fraßen sich gierig durch Holzwände und Dächer. Ny-Ålesund hatte ein ruhiges Leben geführt. Ruhig und vorhersehbar.
Nach dieser Nacht war es nicht mehr dasselbe.
Eine Wohnung in Bonn/Deutschland
Das helle Kreischen von Metall klang wie der Schrei eines gequälten Tieres. Der Ton bohrte sich in die Ohren. Schrill und schmerzhaft. Für endlos lange Sekunden war er überall, füllte den ganzen Innenraum des Kettenfahrzeugs aus. Dann herrschte plötzlich Ruhe. Eine unnatürliche Stille, die lediglich von hektischen Atemzügen unterbrochen wurde. Es war ihr eigenes Atmen, voller Panik. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Das laute Stöhnen kam vom Vordersitz.
»Verdammte Scheiße. Christian! He, Christian! Oh Gott! Fuck, Fuck! Julia, alles klar bei dir dahinten? Kannst du dich –«
Der Rest der Frage ging in einem dumpfen Krachen unter. Mehr als zwei Tonnen Metall gerieten in Bewegung. Schneller und schneller, rutschten unaufhaltsam weiter. Angstschreie, splitterndes Glas. Kälte, Blut – ihr Blut.
»Ahhhh!«
Mit einem Ruck setzte sich Julia auf. Ihr Atem flog, als sei sie gespurtet. Kalter Schweiß ließ ihr Nachthemd am Körper kleben. Fröstelnd zog sie die Bettdecke vor die Brust. Schloss die Augen und versuchte die Bilder in ihrem Kopf zu löschen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen.
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal davon geträumt hatte. Hatte gehofft, der Alptraum würde nie wiederkommen. Doch das war ein Irrtum gewesen. Er hatte einfach nur tief in ihr darauf gelauert, sie wieder heimsuchen zu können. Julia schaltete ihre Nachttischlampe an, griff nach dem Glas Wasser neben ihrem Bett. Hastig trank sie, Wasser rann ihr das Kinn herunter, tropfte auf die Bettdecke.
Ihr Digitalwecker zeigte kurz nach drei Uhr.
Du kannst noch vier Stunden schlafen.
Julia seufzte. So schnell würde sie nicht wieder einschlafen können. Das hatte noch nie geklappt. Nicht nach diesem Traum.
Du bist da rausgekommen. Es ist vorbei. Es war nur ein Alptraum. Du weißt genau, warum er wieder zurück ist.
Fünfzehn Stunden vorher …
»Das wird das größte Abenteuer deines Lebens, Julia. Ich verspreche es dir.«
Julia schaute Michael Beller, ihren Redaktionsleiter, misstrauisch an. »Und wer sagt dir, dass ich auf der Suche nach dem größten Abenteuer meines Lebens bin?«
»Sehr witzig, Frau Kern. Ich wollte ja nur zuvorkommend sein und nicht gleich den Boss raushängen lassen. Aber bitte – es geht auch anders.« Beller räusperte sich, bevor er in gespielt ernstem Tonfall sagte: »Frau Kern, ab zum Chef. Es geht um eine ganz große Sache. Alles andere erfahren Sie im fünfzehnten Stock. Na los – hopp, hopp, Harry wartet schon.« Beller grinste. »Und, besser so?«
Julia lachte. »Nee, lass mal, da war mir das mit dem Abenteuer schon lieber. Kannst du denn nicht verraten, worum es geht?«
»Nein, kann ich nicht, aber das wird ein ganz großes Ding.« Der Redaktionsleiter machte ein Gesicht, als hätte er gerade erfahren, dass das Finale der Champions League und Weihnachten auf einen Tag fielen. »Wie gesagt, Harry will dich in seinem Büro sehen, er wird dir alles erklären.«
Julia nahm ihr Notizbuch und ihren Füller. Sie spürte die neugierigen Blicke von den anderen Schreibtischen, die sagten: Warum will der Chef ausgerechnet die Neue sehen? Was kann die, was ich nicht kann?
Julia ignorierte das alles und lächelte unverbindlich, während sie durch das Großraumbüro, in dem sie eine winzige Arbeitsnische besaß, zu den Aufzügen ging. Ihre Nische reichte gerade für einen kleinen Schreibtisch mit Laptop, einem Telefon und ein paar Aktenordnern. So war das hier im Gantman-Tower. Wer neu dazukam, musste sich hocharbeiten, bekam einen größeren Schreibtisch und vielleicht irgendwann einmal ein eigenes Büro. Dann hatte man es definitiv geschafft.
Auf dem Flur kam ihr Susanne Reinhard – von allen nur kurz Sue genannt – entgegen.
»Na, musst du nicht brav am Schreibtisch sitzen und für den neuen Vergleichstest der Espressomaschinen recherchieren?«, fragte Sue mit einem breiten Lächeln.
»Wer weiß, ob ich dir deinen Vergleichstest überhaupt noch schreiben kann. Michael hat mich gerade losgeschickt. Harry Gantman will mich sprechen.«
Julia sah, wie Verblüffung das Lächeln in Sues Gesicht ablöste.
»Im Ernst? Harry will dich sehen? Das ist ja super, dann bist du also auch dabei. Mensch, ich freu mich.«
»Ähm, Sue.«
»Ja?«
»Wo bin ich dabei?«
Sue lachte auf. »Ich und mein vorschnelles Mundwerk. Nee, das soll dir unser Boss selber verraten. Ich habe als Regisseurin und Produktionsleiterin schließlich Verantwortung für so junges Gemüse wie dich.«
Julia streckte Sue kurz die Zunge raus und drückte dann den Aufzugknopf.
Junges Gemüse, von wegen, dachte Julia. Tatsächlich war Sue nur vier Monate älter. Allerdings hatte sie schon vor fünf Jahren bei Harry Gantman angefangen und war mittlerweile Produktionsleiterin – eigenes Büro inklusive.
»Sehen wir uns heute Abend beim Sport in Beuel?«, fragte Julia über die Schulter hinweg.
Sue blieb kurz stehen und drehte sich um. »Klar, lass uns ordentlich ins Schwitzen kommen, und dann will ich alle Details bei einem dieser sündhaft köstlichen Cocktails in Bernies Bar erfahren.«
»Abgemacht!«
Julia stieg in den Aufzug. Auf dem Weg in den fünfzehnten Stock wunderte sie sich einmal mehr, wie schnell sich ihre Freundschaft mit Sue entwickelt hatte. In den ersten zwei Wochen, nachdem sie bei Harry Gantman angefangen hatte, war Sue diejenige gewesen, die ihr die Abläufe erklärt hatte. Ihre interne Firmenpatin sozusagen. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich Sue nie das Gefühl gegeben habe, ich wäre scharf auf ihren Job, dachte Julia. Alle weiteren Überlegungen verschob sie auf später. Ein leiser Gong signalisierte, dass sie die gewünschte Etage erreicht hatte – das Allerheiligste, Harry Gantmans privates Büro.
Das Großraumbüro lag im ersten Stock, der fünfzehnte war der Olymp. Julia wurde von einer Sekretärin, die sie nur vom Sehen her kannte, in ein Büro geführt, das die halbe Etage einnahm. Himmel, dachte Julia, dieses Büro ist mindestens viermal so groß wie mein Apartment in Godesberg oder Sues Wohnung in Tannenbusch.
Auf drei Seiten boten die bodentiefen Fensterscheiben einen atemberaubenden Blick über den Rhein und die Kölner Altstadt samt Dom.
Der »Gantman-Tower«, wie das Gebäude intern mit einer Mischung aus Spott und Stolz genannt wurde, war sicher nicht das höchste Haus in Köln. Aber im Gegensatz zu anderen Medienunternehmen hatte Harry Gantman nicht ein gesichtsloses Industriegebiet für seinen Firmensitz gewählt, sondern bewusst das ehemalige Versicherungsgebäude am Zoo mit Nähe zur Innenstadt. Gantman wollte Teil von Köln sein, jeder sollte »Gantman-TV-Produktion« in großen Leuchtbuchstaben auf dem Dach sehen können. Da kam der stolze Amerikaner in ihm durch, der allen zeigen wollte, dass er es geschafft hatte.
Der Ausblick von hier oben lohnte sich, das musste Julia neidlos zugeben. Der Rhein glitzerte in der Mittagssonne, ausnahmsweise war heute mal ein klarer Novembertag, das trübgraue Wetter der letzten Tage verschwunden. Julia konnte das Rheinufer sehen, wo sie am letzten Freitag direkt nach der Arbeit ihre Trainingsrunde gelaufen war. Jetzt, wo es immer früher dunkel wurde, wollte sie nicht durch einen schlecht beleuchteten Park in Bad Godesberg stolpern, da war ihr das hell erleuchtete Rheinufer lieber. Auch wenn das bedeutete, dass sie ihre Sportsachen mit zur Arbeit nehmen musste.
Julia schaute sich in dem großen Raum um.
Ein Teil der hinteren Wand war mit Fotos übersät. Neugierig trat sie näher. Die Fotos zeigten alle dasselbe Motiv: Harry Gantman, gut gelaunt, das schwarze, volle Haar zur Seite gekämmt, ein strahlendes, makelloses Lächeln. Was wechselte, waren die Kulissen. Harry auf einem Tempelfelsen im Dschungel Mexikos – von der Geschichte hatte sie schon gehört. Harry in Taucherausrüstung, wahrscheinlich vor der Unterwasserdokumentation in Caesarea, Harry vor einer Pyramide. Und natürlich die Promi-Fotos. Harry mit Günther Jauch, Markus Lanz, Til Schweiger, an der Seite von Anne Will. Es gab sogar einen Schnappschuss mit Angela Merkel. Harry Gantman, ein Meister der inszenierten Augenblicke. Trophäen eines Lebens voller Erfolge. Trophäen im Format dreizehn mal achtzehn.
»Gefällt Ihnen, was Sie da sehen, Julia?«
Julia fuhr herum. Harry Gantman stand breit lächelnd hinter ihr, und irgendwie fühlte sie sich ertappt.
»Schön, dass Sie so schnell Zeit gefunden haben. Setzen Sie sich doch.« Harry Gantman wies auf ein paar tiefe Ledersessel.
»Sie sind der Boss, Sie wollten mich sehen, da bin ich.«
Gantman lachte auf. »Eine tolle Einstellung, die mag ich. Julia, ich habe mir Ihren Lebenslauf angesehen. Geboren in Boston, aufgewachsen in Deutschland. Doppelte Staatsbürgerschaft, Studium, Abschluss mit Spitzennoten. Sie haben schon während des Studiums für die ARD gearbeitet, waren sogar ein halbes Jahr in Washington. Das Zeugnis, das Ihnen die Kollegen ausgestellt haben, liest sich geradezu euphorisch. Trotzdem sind Sie nicht bei den Öffentlich-Rechtlichen geblieben, sondern haben bei uns angefangen. Sozusagen ganz unten, haben sich durchgebissen.«
Durchgebissen, das klang ja so, als hätte Harry extra fürs Großraumbüro einen Drillsergeant aus der U.S. Army engagiert. Julia ließ sich ihre Belustigung jedoch nicht anmerken.
»Was ich sagen will: Mir gefällt die Kombination in Ihrer Vita«, fuhr Gantman fort, »eine junge Naturwissenschaftlerin, die sich im TV-Business auskennt. Solche Frauen wie Sie, Julia, brauch ich in meinem Team.«
Worauf lief das alles hier nur hinaus? Wenn Julia in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann, dass man einfach fragen sollte, statt herumzurätseln.
»Warum wollten Sie mich sprechen, Herr Gantman?«
»Herr Gantman? Ich bitte Sie. Harry, sagen Sie bitte Harry, wir sind hier schließlich eine große TV-Familie.«
Da war er wieder, der typische Amerikaner. Harry Gantman, der joviale Boss. Gantman sprach immer noch mit leichtem amerikanischen Akzent. Möglicherweise wurde der sogar kultiviert, sozusagen als akustisches Harry-Gantman-Markenzeichen. Mit einer kurzen Bewegung zupfte Gantman seine Manschetten zurecht, die unter dem dunkelblauen Jackett hervorschauten. Julia kam sich in ihren Jeans und dem Rollkragenpulli plötzlich unpassend gekleidet vor.
Sie holte tief Luft. »Also gut, Harry, warum wollten Sie mich sprechen? Ich arbeite schließlich schon fast ein Jahr in Ihrer Firma und –«
»Und bislang hatten wir noch keine Gelegenheit, uns persönlich auszutauschen. Das stimmt, Julia. Aber Sie haben in Ihrem Lebenslauf etwas stehen, das niemand sonst unten in der Redaktion vorweisen kann. Sie haben während Ihres Biologiestudiums drei Monate in der Arktis gearbeitet.«
Julia hatte mit einem Mal ein flaues Gefühl im Magen. Drei Monate Arktis – warum war das hier in Köln plötzlich wichtig?
»Ich glaube, ich verstehe immer noch nicht, Harry. Ja, ich bin wirklich in der Arktis gewesen, ich habe dort mit dem Alfred-Wegener-Institut zusammengearbeitet, aber das ist sechs Jahre her.«
Sechs Jahre. Noch lieber wären mir sechzig.
Harry machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sechs Jahre, egal. Fakt ist, Sie haben Arktis-Erfahrung, Sie wissen, wie man in dieser Eishölle überlebt. Es sind die Fakten, die hier bei uns zählen.«
Aus dem flauen Gefühl war mittlerweile ein fester Knoten geworden. Am liebsten wäre Julia aufgestanden und hinausgerannt. Sie wissen, wie man in dieser Eishölle überlebt – Harry Gantman hatte ja keine Ahnung.
»Meine Show, sorry, ich meinte unsere Show, hat die Einladung bekommen, zusammen mit ein paar anderen Journalisten dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird.«
»Geschichte? In der Arktis?«
»Oh nein, nicht in der Arktis. Es geht in die Antarktis. Wir werden die neue Internationale Antarktis-Station Terra Nova II besuchen. Wir werden das erste Fernsehteam der Welt sein, das live vom Nordpol –«
»Südpol, Sie sagten ja, es geht in die Antarktis«, rutschte es Julia heraus. Sie biss sich sofort auf die Lippen.
»Stimmt, hab mich versprochen.« Harry schien über ihren Einwurf nicht verärgert zu sein. »Also, wir werden eine einzigartige Harry-Gantman-Show dort unten produzieren. Inmitten von blutrünstigen Eisbären, umgeben von Eis und Schnee.«
Julia verkniff sich den Einwand, dass in der Antarktis keine Eisbären lebten. Das würde Harry noch früh genug erfahren.
»Ich sehe, die Idee gefällt Ihnen, Julia. Also, in gut vierzehn Tagen geht es los. Harry Gantman wird die Antarktis erobern, und Sie gehören jetzt zum Team.«
»Harry, ich kann … leider … also, ich –«
»Ich weiß, das kommt jetzt alles etwas überraschend, aber das ist doch das Großartige an unserem Business. Wir wissen heute noch nicht, was uns morgen erwartet. So, und nun müssen Sie mich leider entschuldigen, ich hab doch noch ein paar wichtige Anrufe vor der Brust.«
Julia stand auf und ging wie ferngesteuert aus dem Büro zurück zum Aufzug. Als sie allein in der Kabine stand, kamen das Zittern und der Schweißausbruch. Sie presste die Augen zu und ballte die Fäuste.
Wir wissen heute noch nicht, was uns morgen erwartet.
Falsch. Julia wusste genau, was sie erwartete: das Grauen.
»Michael, ich will nicht in die Antarktis. Schick bitte jemand anders dorthin. Beispielsweise Dennis, Dennis ist ganz scharf auf Außendrehtermine. Oder die Ute, die hat mir erst neulich in der Kaffeeküche die Ohren vollgejammert, sie käme nicht zum Zug.«
»Sag mal, Julia, spinnst du jetzt komplett? Was hast du denn in den letzten Monaten nach deiner Einarbeitung gemacht?« Beller warf einen kurzen Blick auf sein Notepad und rief eine Datei auf. »Da haben wir es doch schon. Korrigiere mich, wenn ich das falsch sehe. Deine Top drei waren bislang ›Keine Falten durch Schokolade?‹, ›So starben die Dinosaurier‹ und ›Die Top Ten der besten Küchenmesser‹. Okay, du hast dich nicht beschwert, weil du wusstest, was dich als Newcomerin bei der Harry-Gantman-Show erwartet. Aber erzähl mir doch bitte nicht, dass du auf diesen Verbraucherscheiß stehst. Was ist dein aktuelles Thema? Kaffeevollautomaten. Klar, wir brauchen solche Beiträge, schon wegen der Werbekohle im Hintergrund, aber das hat doch nichts mit den Dingen zu tun, mit denen wir berühmt wurden. Wir drehen im Dschungel, wir tauchen nach verborgenen Schätzen, und wenn das verdammte Bernsteinzimmer irgendwo im Schnee vergraben liegt, fangen wir eben mit dem Schneeschaufeln an.«
Julia wischte die schweißnasse Hand an ihrer Hose trocken. »Ja, das verstehe ich alles gut, und ich fühl mich auch geehrt.«
»Toll, dann trete dieses Gefühl nicht mit Füßen. Außerdem, was du über Dennis und Ute gesagt hast, das will ich besser überhört haben. Echt jetzt, wir sind hier ein Team, da finde ich Sätze wie ›ganz scharf auf Außentermine‹ oder ›Ohren vollgejammert‹ mehr als unpassend.«
Bellers Stimme hatte zum Schluss den sonst eher flapsigen Unterton verloren. Julia spürte, wie ihr bei der Zurechtweisung das Blut ins Gesicht schoss. Sie war eindeutig zu weit gegangen und hatte bei ihrem Redaktionsleiter eine rote Linie überschritten. Harry Gantman wollte sie in seinem Team haben, und sie wehrte sich mit Händen und Füßen – so was kam gar nicht gut an.
Beller stand auf. Ein deutliches Zeichen, dass für ihn die Debatte zu Ende war. »Wir verlangen ja nicht, dass du an einem Himmelfahrtskommando teilnimmst. Du fährst mit einem professionellen Team und internationalen Pressevertretern in die Antarktis zu dieser neuen Station. Der Flug wird sogar in einem VIP-Flugzeug stattfinden, habe ich gehört. Wahrscheinlich merkt ihr erst, dass ihr im ewigen Eis seid, wenn die Maschine landet und die Bordhäppchen weggepackt werden. So, das war’s mit meiner Ansprache. Die Anweisung vom Boss liegt auf dem Tisch, niemand kann dich zwingen, deine Entscheidung. Aber ich glaube kaum, dass du hier noch einen Fuß auf den Boden bekommst, wenn du die Nummer sausen lässt.«
»Hab ich verstanden, Michael. Und – wegen eben: Ich hab das nicht so gemeint, sorry.«
Michael Beller stieß sich vom Schreibtisch ab, an dem er sich angelehnt hatte. »Okay, Julia, Entschuldigung angenommen. Und denk drüber nach, was ich gerade gesagt habe.«
Julia saß in ihrer Arbeitsnische und starrte auf die graue Holzwand. Ihr Gespräch mit Michael würde den übrigen Redakteuren Stoff für mehrere Tage Bürotratsch bieten. Laut genug waren sie ja gewesen. Jede Wette, dass jetzt schon die ersten WhatsApp-Konten heiß liefen.
Julia wischte sich über die Augen. Zumindest zitterten ihre Hände nicht mehr. Michael hatte recht, die Entscheidung lag bei ihr. Dieses Projekt konnte ihr Durchbruch in der Redaktion der Harry-Gantman-Show sein, oder sie packte ihre paar Habseligkeiten in einen Karton und ging.
Stell dich nicht so an, du dummes Huhn. Nur für so eine Chance hast du doch vor einem Jahr hier angefangen.
Julia atmete tief durch. Sie brauchte jetzt einen Kaffee. Noch lieber wäre ihr der Cocktail mit Sue gewesen, aber der musste warten.
Fünf Minuten später hatte sie ihren Kaffeebecher aufgefüllt und den Rechner wieder hochgefahren.
Sie öffnete die Datei mit ihrem aktuellen Projekt und begann zu arbeiten. Nach einer Stunde erschien selbst ihr die Panikattacke absurd und lächerlich.
»Willkommen im Team!« Sue hob ihr Cocktailglas und prostete Julia zu. »Hab schon gehört, dass du Michael überreden wolltest, jemand anderes mitzuschicken. Hast du wirklich gesagt, dass Ute geil auf Außentermine ist und sich bei dir die Seele aus dem Leib jammert?«
Julia hatte Mühe, sich nicht an ihrem Cocktail zu verschlucken.
»Nein, natürlich nicht. Ist es das, was man so tuschelt? Ja, sicher, ich hab Michael gefragt, ob nicht jemand anders mitfahren könnte. Er hat aber keinen Zweifel daran gelassen, dass ich dann genauso gut einpacken kann. Ich glaube, morgen muss ich mich bei Ute entschuldigen, sonst streut die mir noch Glasscherben auf die Pizza.«
Sue lächelte hinter ihrem Cocktailschirmchen. »Ist wahrscheinlich besser, wenn du das klarstellst, bevor der Flurfunk alles noch mehr aufbauscht. Was ich nicht verstehe, ist, warum du überhaupt ablehnen wolltest. Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als ich gehört habe, dass du mitfliegen sollst. Nicht nur, weil ich in der Antarktis gerne eine Freundin an meiner Seite hätte. Du hast eine gute Schreibe, den richtigen wissenschaftlichen Background, und du kennst dich aus.«
Julia winkte ab. »Lass gut sein, habe ich alles schon von Harry gehört, das mit der Freundin mal ausgenommen.«
»Und?«
»Was, und?«
»Und warum wolltest du nicht mit?«
Niemand wurde Produktionsleiterin ohne eine gesunde Portion Hartnäckigkeit. Julia sah sich unbehaglich um. Jetzt, kurz vor zehn Uhr abends, herrschte in Bernies Bar Hochbetrieb. Niemand nahm von ihnen Notiz. Trotzdem fühlte sich Julia wie auf dem Präsentierteller.
»Ich … also … ich mag einfach keinen Schnee.«
»Im Ernst? Du setzt deinen Job aufs Spiel, weil du Schnee nicht magst?«
»Mhm.«
Das und den ganzen Rest, aber darüber wollte sie hier in Bernies Bar nicht reden.
Sue blies die Wangen auf und stieß die Luft in einem stummen Pfiff aus. »Julia, du machst mich fertig. Ist dir eigentlich klar, dass du eine Gewinnerin bist?«
»Was soll denn das jetzt heißen?«
»Gewinnerin eben. So habe ich immer die Mädchen in der Schule genannt, denen alles zuflog. Gute Noten, tolle Jungs, kein Stress zu Hause, klare Ziele, was sie später tun werden.«
»Ach, und so jemand bin ich in deinen Augen?«
»Hundertpro. Schau dich an. Du bist schlank, sportlich, ich würde übrigens für deine Figur morden, aber das nur am Rande. Du musst dir keine Mühe mit Make-up geben, und wahrscheinlich sind die blonden Locken auch noch echt.«
Julia ertappte sich dabei, wie sie unbewusst nickte, bevor sie halbherzig protestierte: »Ich muss regelmäßig joggen, und ich hab Sommersprossen.«
Sue lächelte. »Geschenkt. Du bist hübsch, vor allem mit den Sommersprossen, und du bist richtig gut in deinem Job. Obendrauf hast du einen tollen Uniabschluss in der Tasche. Und deshalb will ich in den nächsten Wochen keinen Scheiß hören, zum Beispiel, dass du keinen Schnee magst oder dass dir kalt ist oder was da sonst noch so kommen könnte. Du wirst diesen Job professionell durchziehen und die großartigste Redakteurin bei Gantman werden, weil ich als Produktionsleiterin nämlich so eine dringend brauche. Ende der freundschaftlichen Durchsage.«
Sue hob ihr Glas und prostete Julia zu. »Trink aus, dann bestellen wir uns noch einen. Dafür, dass da kein Alkohol drin ist, sind die wirklich lecker.«
Sue winkte einem Kellner zu und deutete mit dem Finger auf beide Gläser. Der nahm mit einem kurzen Nicken die stumme Bestellung zur Kenntnis.
Julia schlürfte mit einem Strohhalm den Rest aus ihrem Glas. »Du weißt aber schon, dass du unmöglich bist, Sue.«
»Nö, nur eine gute Freundin.«
Julia begann sich zu entspannen. Vielleicht geht ja alles gut, dachte sie.
In dieser Nacht kehrte der Alptraum zurück.
Am nächsten Morgen erfuhr Julia in der Redaktionssitzung, dass sie von allen anderen Projekten und Terminen abgezogen war.
»Also, Leute, ihr habt es wahrscheinlich schon mitbekommen: Julia ist im Antarktis-Team«, sagte Michael. »Harry will verschiedene Beiträge vorbereitet mitnehmen, das wird dein Job sein, Julia. Um den Rest musst du dich nicht kümmern. Das Stück mit den Vollautomaten geht an dich, Rafael. Julia, bitte speichere alles, was du dazu hast, auf dem öffentlichen Redaktionslaufwerk, und wenn es noch handschriftliche Notizen geben sollte, die Rafael entziffern kann, scann sie ein. Ach, und bleib doch bitte gleich noch kurz da.«
Julia ließ ihren Blick über die Runde schweifen. War das Neid in einigen Gesichtern oder eher Mitleid? Zum Glück war sie heute früh als Erstes zu Ute gegangen und hatte sich entschuldigt. Und zum Glück war Ute von Natur aus nicht nachtragend.
Die weitere Redaktionssitzung verlief wie gewohnt – Julia war so in ihren Gedanken versunken, dass sie das Ganze nur wie durch Watte mitbekam. Themen wurden vergeben, Drehtermine angekündigt und miteinander abgestimmt. Nichts, was sie betraf.
Harry wollte verschiedene Beiträge vorbereitet mitnehmen. Was wollte der Boss denn hier in Köln vorbereiten?
»Julia? Alles okay bei dir?«
Michaels Frage riss sie zurück an den Sitzungstisch.
»Was? Jaja, bei mir ist alles okay. Wieso?«
»Weil wir längst fertig sind und du immer noch da hockst und geistesabwesend aus dem Fenster starrst.«
Gott, wie peinlich war das denn? Tatsächlich waren alle anderen bereits aufgestanden und manche schon im Begriff, den Konferenzraum zu verlassen. Michael schien ihre offensichtliche Tagträumerei eher zu amüsieren. Besser so, als wenn er mir einen Vortrag über Konzentration hält, dachte Julia.
»Hier«, Michael holte aus einer Mappe drei eng bedruckte Blätter, »das sollen alle Teilnehmer bekommen. Da ist der Zeitplan, dann eine Liste der Sachen, die du einpacken solltest. Außerdem, aber das steht auch noch mal auf Seite drei, musst du dich ärztlich untersuchen lassen. Das gehört sozusagen zu den Einreisebestimmungen. Ist praktisch wie eine Sportuntersuchung. Da ihr nur kurz in der Antarktis bleibt, wird auch nicht alles unter die Lupe genommen. Ich vermute mal, die wollen keine Blinddarmreizung oder eine Zahnwurzelentzündung in ihrer Station behandeln müssen. Ach ja, dass Sue als Produktionsleiterin dabei sein wird, weißt du sicher schon. Als Kameramann wird Roy mitfliegen. Der ist in Ordnung und hat bereits mit Harry im Außeneinsatz gearbeitet. Roy weiß, worauf der Boss Wert legt.«
Julia nahm die Papiere, widerstand aber der Versuchung, sie gleich zu lesen.
»Gut, ich werde sehen, dass ich rasch einen Termin bekomme.«
Michael drehte sich in der Tür noch einmal um. »Ich bin froh, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast, Julia. Und denk daran, für Harry ist das ein Prestigeprojekt. Er will dich übrigens in zehn Minuten oben sehen.«
Julia blieb allein im Konferenzraum zurück.
Für Harry ist das ein Prestigeprojekt – das klang verlockend und furchterregend zugleich.
Sie stand auf und legte die drei Seiten in ihr großes Notizbuch. Die würde sie sich später genau durchlesen. Jetzt war es erst einmal Zeit, herauszufinden, was genau der Boss von ihr wollte.
»Julia, ich habe das klar vor Augen.« Harry war in seinem Büro herumgewandert, jetzt stellte er sich in Positur. »Die Kamera, close auf mich, ganz nah. Ich begrüße die Zuschauer. Dafür brauche ich von Ihnen drei, vier knackige Sätze. Die sollten Spannung rüberbringen, neugierig machen, aber nicht zu viel verraten. Notieren Sie sich das ruhig. Nach der Begrüßung Kamerafahrt in die Totale.«
Julia schrieb mit und warf, als sie sicher sein konnte, dass ihr Boss gerade mal nicht hinsah, einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. Dreißig Minuten. Dreißig endlose Minuten, und sie waren immer noch bei der ersten Einstellung des ersten Einspielers. »Okay, und weiter. Was hatten wir gerade?«
»Begrüßung, vier knackige Sätze, Kamerafahrt in die Totale«, zitierte Julia.
»Richtig. Also, in der Totalen haben wir Gletscher im Hintergrund, die ganze Eiswildnis der Antarktis und zu meinen Füßen ein paar von diesen kleinen Pinguinen.«
»Ähm, Harry, das sind enorm sensible Tiere, die reagieren schon gestresst auf Menschen, wenn man nur in die Nähe ihrer Kolonie kommt, ich glaube nicht, dass wir das hinkriegen. Außerdem ist Terra Nova II mehr als einhundert Kilometer von der nächsten Pinguinkolonie entfernt.«
»Was? Ach, das sind doch nur Details. Besprechen Sie das mit Sue, die soll sich darum kümmern. Und dann brauche ich einen guten Gag, also, Sie wissen schon, so ein Augenzwinkern in der momentanen Situation. Schließlich befinde ich mich in einer tödlichen Umgebung von minus zehn Grad Celsius. Und das nur, um meine Fans zu unterhalten und zu informieren.«
»Ähm, Harry.«
»Was denn?«
»Ach, nichts.«
»Nein, bitte, sagen Sie es, Julia. Ich bestehe darauf.«
»Wir haben zwar zurzeit Sommer in der Antarktis, aber die Durchschnittstemperaturen liegen bei minus dreißig Grad.«
»Im Ernst? Und das nennen die Sommer? Na, ein Glück, dass wir nicht im Herbst oder Winter dahin müssen.«
»Es gibt nur zwei Jahreszeiten am Südpol. Und im Winter liegen die Durchschnittstemperaturen bei minus sechzig Grad. In der Antarktis befindet sich der kälteste Ort der Welt. Die russische Wostok-Station hat im Juli ’83 minus neunundachtzig Komma zwei Grad Celsius gemessen.«
»Wow, das ist gut, das ist sehr gut. Das müssen Sie unbedingt einbauen. Sie wissen schon, so ein Satz wie: ›Sie glauben, minus fünfzehn Grad Celsius wären kalt? Nun, ich wäre nicht Harry Gantman, wenn ich Sie nicht zu dem kältesten Ort der Welt bringen würde.‹ So in der Art hätte ich das gern.«
»Aber wir werden gar nicht zur Wostok-Station kommen.«
»Hören Sie mal, Julia. Ich schätze Ihre Fakten wirklich, aber Sie müssen sich ein bisschen lockerer machen. Wir haben bei der Harry-Gantman-Show eine Mission. Und diese Mission heißt: Zuschauer unterhalten. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Harry. Wir unterhalten die Zuschauer.«
»Exakt. Bestellen Sie Sue: Ich will diese Pinguine. Aber die kleinen, niedlichen. Da geht denen am Fernseher das Herz auf. So weit mitgekommen? Gut!«
Harry schaute auf seine Uhr und seufzte. »Sorry, Julia, dass ich hier unterbreche. Es gibt da noch ein Treffen mit Investoren, das ich vorbereiten muss. Morgen Vormittag bin ich unterwegs, aber entweder am Nachmittag oder übermorgen machen wir weiter. Könnten Sie schon mal weitere Ideenskizzen erstellen, erste Skripte, damit wir schneller vorankommen?«
»Geht klar, Harry.«
Nordpolarmeer 85°40´43˝ Nord und 135°39´36˝ Ost,
rund 259 Seemeilen vom Nordpol
Kapitän Alexej Somokow faltete die Seekarte auf dem kleinen Tisch auf der Brücke zusammen. Zehn Minuten lang hatte er den Kurs der »Lenin« abgesteckt und im Kopf die aktuelle Position berechnet. Das war mittlerweile eine nutzlose Fähigkeit. Sowohl der GPS-Empfänger als auch das GLONASS-Navigationssystem lieferten die aktuellen Daten in Sekunden. Doch Somokow ließ es sich nicht nehmen, selbst nachzurechnen – eben weil er es konnte. Für viele waren die Seekarten nutzloses Zeug, sentimentaler Quatsch. Somokow aber liebte die Arbeit am Kartentisch. Also prüfte er die Route, auch weil ihm langweilig war. Die Pornos, die auf dem Schiffsserver zur Verfügung standen, reizten ihn schon lange nicht mehr.
Im vergangenen Spätsommer hatte die »Venta Maersk« als erstes Containerschiff und drittes großes Frachtschiff überhaupt die Nordostpassage durch das Nordpolarmeer ohne Eisbrecher gemeistert. Sollte ihn das freuen? Zum Teufel, nein! Das war in seinen Augen der Anfang vom Ende.
Die Nordostpassage weckte Begehrlichkeiten. Europa–Asien in kürzester Zeit. Die Strecke Rotterdam–Tokio betrug dann nur noch knapp siebentausendfünfhundert Seemeilen. Wer durch den Suezkanal fuhr, musste für die gleiche Strecke mit mehr als elftausenddreihundert Seemeilen rechnen. Bislang hatte aber das Eis der Arktis dafür gesorgt, dass diese »Abkürzung« wirtschaftlich unattraktiv war. Er fuhr jetzt seit fünfunddreißig Jahren zur See, hatte in der Kriegsmarine gedient, war seit vier Jahren Kommandant der »Lenin«. Für ihn war dieser Schiffsweg etwas Besonderes, hier hatten Containerschiffe ohne Eisbrecher nichts zu suchen. Mit den antriebsstarken Maschinen und der dicken Panzerung am Bug konnte sein Schiff bis zu fünf Meter starke Eisplatten zerstören. Was sich seiner »Lenin« in den Weg stellte, wurde durchschnitten wie Butter von einem heißen Messer.
Verdammt, wenn das so weiterging, waren er und sein Schiff bald Relikte. Ein Containerschiff ohne Eisbrecher auf der Nordostpassage – Drecks-Klimaerwärmung.
Somokow kratzte sich nachdenklich den Vollbart, der mittlerweile mehr grau als braun war. Weiter vorne am Steuerpult saß Jegor. Somokow fuhr jetzt seit zwei Jahren mit ihm und vertraute seinem Steuermann blind. Auch Jegor langweilte sich, weil der Bordcomputer das Schiff auf dem eingegebenen Kurs hielt. Lustlos blätterte der junge Offizier in einer Autozeitschrift. Im letzten Jahr hatte Jegor geheiratet, er suchte gerade einen größeren Kombi, weil seine Frau schwanger war und der Kleinwagen des Paares für einen Großeinkauf samt Windeln und Kindersitz nicht geeignet. Das alles wusste Somokow, weil er einer der Trauzeugen gewesen war und Irina, Jegors Frau, gut kannte.
Auf der Brücke brannten nur ein paar Lampen. Der Blick durch die Fenster bot wenig Aufregendes. In der dämmerigen Polarnacht sah das Wasser trüb-grau aus. Geringer Seegang, vereinzelte Eisschollen.
»Jegor, ich geh in meine Kabine und leg mich schlafen. Wenn etwas sein sollte, ruf mich an.«
»Sicher, Kapitän, aber was soll heute Nacht noch passieren?«
Insgeheim stimmte Somokow seinem Steuermann zu. Er befand sich schon fast an der Tür, als das schrille Klingeln des Bordtelefons ihn innehalten ließ.
Der Kapitän bedeutete seinem Offizier, sitzen zu bleiben.
»Somokow hier.«
»Kapitän, ich bin’s, Wladimir. Ich weiß nicht, was los ist, aber hier im Maschinenraum 3 riecht es irgendwie verschmort. So als würde Kunststoff schmelzen. Ich könnte zwei –«
Wladimirs Satz wurde von einem Knall unterbrochen. Somokow zuckte erschrocken zusammen. »Wladimir? Wladimir, was war das?«
Jegor war aufgesprungen. »Kapitän, wir haben einen Wassereinbruch in Sektor 3. Das muss in der Nähe des Maschinenraums sein.«
Alexej Somokow reagierte sofort. Er stürzte zum Kontrollpult, öffnete eine Abdeckung und löste den Feueralarm aus. »Die Funkzentrale soll einen Notruf absetzen. Ich will außerdem zehn Mann da unten in Sektor 3 haben. Was ist mit Wladimir? Sind die Sicherheitstüren geschlossen? Wie schlimm ist der Schaden?«
Der Steuermann nickte und beeilte sich, die einzelnen Befehle auszuführen. Somokow überlegte, ob er zu dem beschädigten Sektor laufen sollte, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. »Gott steh uns bei«, murmelte er und starrte aus dem Fenster. In diesem Moment erschütterte eine heftige Explosion das Schiff. Die Druckwelle ließ die Glasscheiben der Brücke zerbersten. Splitter flogen wie Geschosse durch den Raum. Somokow, der sich instinktiv geduckt und die Hände vor das Gesicht gehalten hatte, spürte, wie er aus mehreren Schnitten blutete. Jegor röchelte hinter ihm, eine große Glasscherbe steckte im Hals des Mannes. Somokow kam wankend auf die Beine. Nur um zu sehen, wie das Heck der »Lenin« in einem gleißenden Explosionsblitz verschwand.
Linienflug Frankfurt-Sydney, irgendwo über dem Indischen Ozean
In den zurückliegenden Tagen war Julia eines klar geworden. Harry Gantman brauchte so dringend eine Redakteurin an seiner Seite wie ein Junkie den nächsten Schuss. Ihr Boss hatte gleich zu Anfang erklärt, dass er lieber mit Redakteurinnen zusammenarbeitete. Zum Glück ist mir seine Begründung dazu erspart geblieben, dachte Julia.
Fakt war: Der große Harry Gantman war nicht willens oder auch nicht fähig, mehr als zwei, drei Sätze am Stück frei vor laufender Kamera zu sprechen. Immer gab es einen kleinen Teleprompter mit dem vorformulierten Text.
Julia hatte vor ihrer engen Zusammenarbeit mit Harry angenommen, der Mini-Bildschirm diene nur der Sicherheit – schließlich hat jeder mal einen Hänger –, aber da hatte sie sich gewaltig getäuscht.
»Darf ich Sie auf unser Bordprogramm hinweisen? Wenn Sie möchten, nutzen Sie ruhig die Kopfhörer in der Sitztasche vor Ihnen.« Die Bemerkung der Stewardess ließ Julia aufblicken. Trotz der vielen Stunden, die der Flug nach Australien bereits dauerte, gelang der Stewardess immer noch ein professionelles Lächeln.
»Herzlichen Dank, die werde ich sicher noch nehmen.«
Julia blätterte im Bordmagazin und versuchte nicht daran zu denken, was sie am Ende dieser Reise erwartete. So schlimm kann es gar nicht werden. Der Blitz schlägt niemals zweimal an der gleichen Stelle ein. Du bist eine professionelle Redakteurin, und du ziehst das durch. Diese drei Sätze waren in den letzten Tagen zu ihrem persönlichen Mantra geworden.
»Ich sitze fest. Drei Tage und Nächte harre ich aus. Mit einer Handvoll Männer bin ich da oben in mehr als sechstausendfünfhundert Metern Höhe. Um unser Lager tobt ein höllischer Schneesturm, der Wind reißt an den Zeltwänden. Man versteht kaum sein eigenes Wort bei dem Lärm. Ich denke, jeden Moment muss der Stoff in Fetzen davonfliegen, und dann ist es aus und vorbei. Schlafen? Ha, ich sag Ihnen, an Schlaf war da kaum zu denken.«
Julia legte das Bordmagazin zur Seite. Ja, schlafen würde sie auch gern. Aber Harry sorgte dafür, dass sie hellwach war. Schade, dass Harry mein Boss ist, dachte Julia. Bei jedem anderen wäre sie längst aufgestanden und hätte um ein wenig Ruhe gebeten. Die BBC-Redakteurin, die neben Harry saß und ihm praktisch an den Lippen hing, hatte offensichtlich mit der Lautstärke seines Monologs kein Problem.
»Meinst du, er hört auf zu quatschen, wenn ich ihm meine Wasserflasche über den Schädel ziehe?« Sue beugte sich über den Mittelsitz zu Julia herüber und verdrehte die Augen.
»Aber nein, das wird ihn zwar kurz ins Stocken bringen, aber die Story wird er zu Ende erzählen. Solange eine langbeinige Schwarzhaarige neben ihm sitzt und ihn so bewundert, hast du da keine Chance. Was findet die nur an ihm?«
»Na, was wohl? Medienrummel, Abenteuer an exotischen Plätzen, die ganzen Stars, such dir was aus. Egal, lange kann es nicht mehr dauern, wir sind ja schon beim Schneesturm«, seufzte Sue. »Gleich ist es wieder so weit.« Sues Stimme wurde tiefer und bekam eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Harrys Tonlage. »Sie wollen alle aufgeben, aber nicht mit mir.«
»Nach drei Tagen Sturm wollen sie alle aufgeben, meine Liebe, aber ich sage dem Expeditionsleiter, nicht mit mir«, tönte es von weiter vorne.
Julia hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut rauszuplatzen. Sue dagegen lehnte sich in ihrem Flugzeugsitz zurück und murmelte: »Bingo, wusste ich’s doch. Gott, die Kleine könnte auch mit ihm nach hinten gehen und ihm einen blasen, dann hätte er endlich sein Ziel erreicht, und wir hätten Ruhe.«
»He, bist du mies drauf, wenn du mal nicht schlafen kannst, so kenn ich dich ja gar nicht.« Sue zuckte nur mit den Schultern.
»Also gut, das war gemein, aber findet eine so hübsche Frau keinen besseren Mann zum Anhimmeln? Wer weiß, welche Heldentat Harry als Nächstes ausgräbt.«
Sue setzte sich ihre Kopfhörer auf und zog eine Schlafbrille über die Augen. »Vielleicht klappt es ja so«, brummelte sie.
Julia streckte die Beine aus und suchte eine einigermaßen bequeme Stellung in dem Flugzeugsitz. Bis zur Landung in Hobart, der Hauptstadt der australischen Insel Tasmanien, konnte es noch eine Weile dauern. Julia fischte aus der Sitztasche die billigen Einwegkopfhörer heraus. Warum eigentlich nicht? Sie stöpselte den Stecker in die Buchse in der Armlehne ein. Eine Jazz-Combo spielte leise Late-Night-Jazz. Fast wie in Bernies Bar. Nicht unbedingt ihr Geschmack, aber okay. Belanglose Fahrstuhlmusik in mehr als dreißigtausend Fuß Höhe. Die Musik übertönte Harrys Erzählung und das Brummen der Triebwerke.
Ihr Bild vom großen Harry Gantman hatte in den letzten Tagen heftige Risse bekommen. Julia blinzelte zu den Nachbarsitzen hinüber. Harry vorne, Sue in ihrer Sitzreihe am Fensterplatz und der Kameramann Roy Decker eine Reihe weiter.
Harry hatte sich vorgenommen, mit einem ziemlich kleinen und überschaubaren Team die Antarktis zu erobern.
Roy, das hatte Julia rasch begriffen, war ein erfahrener Kameramann, der mit seinen vierzig Jahren schon in allen Ecken der Welt gedreht hatte. Was Julia an ihm besonders schätzte, war die unerschütterliche Ruhe, die er ausstrahlte. Ihm schien es überhaupt nichts auszumachen, dass Harry praktisch im Minutentakt eine neue Idee aus dem Hut zog. Wie Michael bereits gesagt hatte, arbeitete Roy schon seit ein paar Jahren mit Harry zusammen und hatte dabei offenbar die Fähigkeit erworben, in dessen Anweisungen die Spreu vom Weizen zu trennen. Bei dieser Reise war Roy Kameramann und Tontechniker in einer Person, aber er beschwerte sich nicht.
Sue hatte bei den ganzen Vorbereitungen die Zügel fest in der Hand behalten. Julia glaubte nicht, dass ihre Freundin viel Zeit zum Entspannen gefunden hatte. Ihr Abend in Bernies Bar war jedenfalls das letzte gemeinsame Treffen der beiden Frauen außerhalb des Gantman-Towers gewesen. Wahrscheinlich ist sie deshalb gerade so sauer geworden, dachte Julia. Ein kurzes Schnarchen ließ sie zur Seite schauen. Sues Kopf lehnte an der Bordwand. Sie schlief mit offenem Mund.
Der Flug ging von Frankfurt nach Sydney. Rund einundzwanzig Stunden Reisedauer. Dreieinhalb Stunden hatten sie am Flughafen in Dubai verbracht. Und von Sydney flogen sie weiter nach Hobart. Julia hatte längst aufgegeben, darüber nachzudenken, welcher Tag war. Für sie zählte jetzt nur noch die Ankunft in Hobart. Hier würde es einen Zwischenstopp von fast einem Tag geben, denn es sollten weitere Teilnehmer zu der Reisegruppe stoßen. Von Tasmanien aus führte dann die letzte Etappe mit einer Spezialmaschine direkt in die Antarktis.
Julia war tief dankbar dafür, dass diese Etappe nur noch aus einem siebenstündigen Flug bestand. Sieben Stunden in einem VIP-Flieger, wohlbemerkt. Schade eigentlich, dass man in Australien noch Journalisten aufnehmen wollte. Ansonsten hätte die Gruppe über Kapstadt anreisen können. Julia wollte sich nicht beklagen. Noch vor wenigen Jahren hatte jeder, der von Tasmanien in die Antarktis reiste, mehrere Tage auf einem Frachtschiff verbringen müssen.
Nein, das Vergnügen, den kältesten und menschenfeindlichsten Fleck der Erde zu besuchen, war einem damals wirklich nicht leicht gemacht worden. Die Journalistengruppe bekam jetzt dagegen den Prominentenzugang zum Eiskontinent. Die Australier hatten vor wenigen Jahren im Eis eine Landebahn angelegt. Jetzt konnte sogar ein Airbus A319 dort landen. Julia hatte davon gelesen und war gespannt darauf, das Ganze mit eigenen Augen zu sehen. Aber erst mal mussten sie in Tasmanien ankommen.
Hotel Grand Chancellor, Hobart/Tasmanien
»Ein Kreml-Sprecher bestätigte heute Vormittag, was seit Tagen als Gerücht in Moskau die Runde macht: Die ›Lenin‹, ein russischer Eisbrecher der neuesten Generation, gilt weiterhin als verschollen. Regierungsvertreter gehen mittlerweile davon aus, dass das Schiff im Nordpolarmeer gesunken ist. Vor drei Tagen gab es den letzten Funkkontakt mit dem Schiff. Gestern wurde im Internet eine Videobotschaft veröffentlicht, die Sicherheitsexperten als glaubwürdig einschätzen.
In der Botschaft bekennt sich eine Terroristengruppe, die sich WDI-Aktivisten nennt, zu einem Sprengstoffanschlag auf die ›Lenin‹. WDI, das steht nach Aussagen der Gruppe für ›We Do It‹. Die Gruppe hat bereits einen Anschlag auf die Greenpeace-Basis in der Antarktis verübt, und sie hat die deutsch-französische Forschungsstation auf Spitzbergen überfallen und zerstört. Bei diesem Überfall wurden drei Forscher erschossen und die Forschungsstation gesprengt. Sowohl die deutsche als auch die französische Regierung hatten diesen Überfall als einen feigen terroristischen Akt verurteilt. Die internationale Staatengemeinschaft hatte beide Länder in ihren Forderungen bestärkt, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Mit ihrem aktuellen Anschlag wären die Terroristen auch für den Tod der vierzigköpfigen Besatzung verantwortlich.
Zu seinen weiteren Maßnahmen und Reaktionen auf die jüngsten Verlautbarungen will sich der Kreml in einer gesonderten Pressekonferenz äußern. Mehr dazu in unserer anschließenden CNN-Sondersendung.«
Julia starrte auf den großen Fernseher, der schräg an der Wand der Hotelbar hing, und vergaß dabei ihr Sandwich und das Glas Weißwein.
»Was für Idioten!«
Sie schaute zur Seite. Ein Mann hatte sich mit seinem Whiskyglas in der Hand zu ihr an die Theke gestellt, um den CNN-Bericht besser verfolgen zu können. Er war mittelgroß, hatte blondes, volles Haar mit einem längst herausgewachsenen Haarschnitt und sah mit seinem Dreitagebart gleichzeitig ungepflegt und verwegen aus. Ein wenig erinnerte er sie an Robert Redford in »Jenseits von Afrika«.
»Glauben Sie wirklich, dass diese Aktivisten einen Eisbrecher versenkt haben?«, fragte Julia. Bei der Frage schaute er sie an, als ob er zum ersten Mal wahrgenommen hätte, dass hier an der Bar noch ein menschliches Wesen saß.
»Jede Wette. So schwer ist das gar nicht. Man muss nur eine ausreichend große Menge Sprengstoff und einen Funkzünder an Bord schmuggeln. Alles andere erledigt sich dann von alleine. Spitzbergen und die Greenpeace-Station, okay, das waren zwei andere Nummern. Dafür muss man vor Ort sein. Aber Idioten sind sie trotzdem.«
Julia nippte an ihrem Weißwein. »Ich verstehe nicht, was das Ganze soll. Wer kann Interesse an der Zerstörung von Forschungsstationen und einem Eisbrecher haben? Die Forschungsarbeit wird doch weitergehen, und auch die Seerouten werden weiter genutzt.«
»Für die ist jede Forschung in der Arktis oder Antarktis ein Eingriff in die Natur. Das sind Fanatiker, denen kann man nicht mit Argumenten kommen. Was die Stationen leisten, interessiert die nicht, die unersetzliche Forschungsarbeit, die Menschenleben – alles unwichtig. Und jetzt sind diese Aktivisten nicht nur Mörder, sondern haben auch noch die Verschmutzung einer ganzen Region zu verantworten. Die ›Lenin‹ wurde mit Dieselmotoren angetrieben. Ich möchte nicht wissen, wie viele tausend Liter Treibstoff gerade das arktische Meer verseuchen.«
Bevor Julia etwas darauf antworten konnte, hörte sie aus dem Hintergrund eine wohlvertraute Stimme.
»Obwohl wir zurzeit in der Antarktis Sommer haben, dürften dort wohl gut und gerne im Schnitt minus dreißig Grad Celsius herrschen. Und das ist dort der Sommer. Nun, darauf werde ich vorbereitet sein. Das bin ich natürlich meinem Publikum schuldig. Die Zuschauer erwarten von Harry Gantman hundertfünfzigprozentigen Einsatz, und ich habe nicht vor, sie zu enttäuschen.«