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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

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Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

Vermittelt durch Agentur Stefan Linde

ISBN (eBook) 978-3-451-82127-1
ISBN (Hardcover) 978-3-451-60040-1

Inhalt

Vorwort in Zeiten von Covid-19

Einführung

Depression als Notfall

Wann ist Depression ein Notfall?

Die vielfältigen Formen von Depression

Habe ich eine Depression?

Depression: Die Kriterien der Diagnose

Zusammenfassung der Diagnostik

Die vielen Gesichter von Depression: Spezifikationen und Subtypen

Schweregrad

Verlauf

Bipolare Störung

Melancholische Depression oder atypische Depression?

Depression mit psychotischen Merkmalen

Depression nach einer Geburt

Saisonale Depression

Mit Depression verbundene Erkrankungen (Komorbidität)

Symptome von Depression, die nicht zur Diagnose verwendet werden

Risikofaktoren für Depression

Die Aufrechterhaltung von Depression

Verstärkerverlust

Zwischenmenschliche Fertigkeitendefizite

Defizite in der Emotionsregulation

Problematische metakognitive Strategien

Ein Unglück kommt selten allein: Kontext von Depression

Krankheitsverhalten bei Infektion und Entzündung

Chronischer Stress

Einsamkeit

Traumatische Ereignisse

Hierarchie-Konflikte

Trauer

Liebeskummer

Postpartum Depression

Saisonale Depression

Depression aufgrund von chemischen Einflüssen

Körperliche Erkrankung

Mangelernährung

Was bei Depression hilft: Wirkprinzipien

Werden Sie wieder aktiv

Sport und Bewegung

Interpersonelle Fertigkeiten üben

Metakognitive Fertigkeiten üben

Exposition

Wissen über Emotionen erwerben

Emotionsliste

Antidepressive Medikamente einnehmen

Medizinische Therapien überprüfen

Therapieangebote bei Depression – Verfahren und Methoden

Was bei Depression hilft: Therapieangebote und Settings

Zusammenfassung und Ausblick

Danksagung

Literatur

Vorwort in Zeiten von Covid-19

Dieses Buch wurde im Jahr 2018 auf Anregung von Stefan Linde und Tino Heeg konzipiert und in der ersten Hälfte des Jahres 2020 abgeschlossen. Es richtet sich zuerst an Menschen, die an Depression erkrankt sind, und ihr Umfeld von Angehörigen und Freunden. Erste Rückmeldungen zum Manuskript sagen aber auch, dass man als Fachfrau oder Fachmann interessante Anregungen aus dem Buch mitnehmen kann. Das Buch beinhaltet etwas, das wir in anderen Büchern mit ähnlicher Zielsetzung nicht gefunden haben, nämlich genaue Informationen zu dem Lernprozess, den man durchlaufen muss, wenn man eine depressive Erkrankung bewältigen möchte. Weiterhin berücksichtigt das Buch die in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten neuen spezifischen Therapiemethoden für Depression. Wir stellen das gesamte Spektrum der Depression mit seinen vielfältigen Erscheinungsbildern dar, mit sehr unterschiedlichen Schweregraden, Verlaufsformen und Kontexten. Diese Information hilft Ihnen, Ihre eigene Erkrankung oder die Ihres Partners, Freundes oder Angehörigen besser einzuordnen und individuelle Behandlungsmaßnahmen anzuregen und zu unterstützen.

Covid-19 hat dieses Buch beschleunigt. Wir haben den Lockdown genutzt, anstatt zu reisen, uns auf die Fertigstellung des Buches zu konzentrieren, die vorher durch eine Vielzahl von Dingen, die »dazwischengekommen« waren, behindert wurde. So funktionierte bei all den Schwierigkeiten dieser globalen Katastrophe wenigstens etwas.

Auch wenn der Teil Deutschlands, in dem wir leben, von Covid-19 besonders wenig betroffen war, so hat die Pandemie doch für unsere Patienten und uns persönlich sehr hohe Belastungen gebracht. Daten aus den stark betroffenen Regionen der Welt zeigen eine deutliche Zunahme von depressiven Symptomen in der Allgemeinbevölkerung und von depressiven Erkrankungen und posttraumatischer Belastungsstörung bei denen, die wegen einer Covid-19-Infektion stationär behandelt wurden, sowie beim Pflegepersonal und Ärzten. Die Erfahrung von Tod, tödlicher Bedrohung und häufig der Hilflosigkeit dieser Erkrankung gegenüber hat hier ihre Spuren hinterlassen. Durch den Lockdown und die durch Covid-19 notwendigerweise veränderte Priorisierung medizinischer Leistungen war plötzlich stationäre Behandlung für depressive Erkrankungen sehr viel weniger verfügbar, was durch ambulante Behandlung nur teilweise kompensierbar war. Psychotherapie ist etwas völlig anderes, wenn man in zwei Meter Abstand sitzt und eine Schutzmaske trägt, die die Mimik nicht mehr sichtbar sein lässt. Auch Zugang zu anderen medizinischen Leistungen, wie die Behandlung von Tumorerkrankungen, war plötzlich viel schwerer und ebenfalls mit langen Wartezeiten verbunden. Kontakt zu Familienmitgliedern war nicht mehr wie früher möglich, Kontakte zu älteren und jüngeren Verwandten mussten sich auf Telefonanrufe beschränken, an Besuche oder gar Umarmungen war nicht mehr zu denken. Uli konnte sein neugeborenes Enkelkind erst mit einer Verzögerung von vier Monaten in den Arm nehmen. Valerija, die ihre Mutter pflegt, konnte, um sie zu schützen, nicht mehr mit ihr an einem Tisch essen. Viele Menschen fühlen sich hin- und hergerissen zwischen ihrem Bedürfnis, enge Kontakte zu pflegen, und dem Wunsch, gerade ältere Angehörige nicht in Gefahr zu bringen.

Wir haben alle versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. In der deutschen Psychotherapie hat sich daraus eine schnelle Zunahme von Online-Therapien ergeben. Die hohe Akzeptanz hat uns dabei alle überrascht und hat uns zum Nachdenken gebracht, ob das eine bleibende Veränderung sein oder in einer neuen Normalität nach Covid-19 wieder verschwinden wird. Kongresse, Workshops und Seminare, sogar Selbsterfahrung wurden ins Internet verlegt. Es war unsere Befürchtung, dass dies mit einer Verschlechterung der Qualität verbunden sein könnte, wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass plötzlich viele neue Teilnehmer da waren und Wünsche aufkamen, dass dieses Format auch in Zukunft fortlebt.

In Zeiten von Gefahr und Bedrohung hilft es Geschichten zu erzählen, um sich das gesamte Spektrum der Welt und ihrer Möglichkeiten gegenwärtig zu machen und dadurch vielleicht »seinen Kopf zu retten«. In der Weltliteratur findet sich das beispielsweise im Decamerone, das im durch die Pest bedrohten Florenz spielt, oder in Tausendundeine Nacht, in der Scheherazade durch das Erzählen von immer neuen Geschichten erfolgreich verhindert, dass sie von ihrem Ehemann, einem von heftiger Eifersucht und Wut geplagten König, getötet wird. Unser Buch ist keine Novellensammlung, sondern ein an medizinischer Evidenz orientiertes Sachbuch. Gleichzeitig erzählen wir wie diese Vorbilder eine große Zahl von kleinen »wahren Geschichten«, die das, was bei Depression passiert, erlebbar und emotional nachvollziehbar machen. Wenn Sie oder andere Personen aus Ihrer Umgebung eine depressive Erkrankung haben, dann werden Sie sich wahrscheinlich in den Geschichten wiedererkennen und natürlich auch die Bewältigungsstrategien, die in den Erzählungen angelegt sind, wahrnehmen. Das ist unser größter Wunsch: Sie nutzen die Informationen und die Erzählungen des Buches, um Ihr Leben in eine lebenswerte Richtung zu verwandeln.

Lübeck und Stralsund im August 2020

Ulrich Schweiger
Valerija Sipos

Einführung

Jedes Kind hat heutzutage schon etwas von Depression gehört. Das Wort Depression ist zu einem Alltagsbegriff geworden. Aus diesem Grund glauben viele Erwachsene, dass wir es hier mit einem ausgereiften Konzept zu tun haben, einer umfassend erforschten Erkrankung mit eindeutigen Behandlungsmethoden. Leider stimmt das nicht. Selbst Fachleute haben nur ein unvollständiges, zum Teil widersprüchliches Verständnis von Depression. Es geht ihnen wie den blinden Männern in einem südostasiatischen Gleichnis, die einen Elefanten betasten und zu ganz unterschiedlichen Aussagen darüber kommen, wie dieser aussieht.

Natürlich wissen wir heute sehr viel mehr über die Erkrankung als vor 20 Jahren. Es sind viele neue kleine Details bekannt geworden, die für manchen Leser dieses Buchs, der an Depression leidet, unglaublich nützlich sein werden. Sie treffen aber nicht immer auf alle Betroffenen zu. Depression ist ein Konzept in Entwicklung. Es fasst viele wichtige Dinge zusammen. Dabei gibt es »die Depression« so wenig, wie es »den Hund« gibt. Ein zwei Kilogramm schwerer Chihuahua und ein 40 Kilogramm schwerer französischer Schäferhund sind genetisch sehr ähnlich, haben aber viele unterschiedliche Eigenschaften und Verhaltensweisen. Ähnlich wie bei der Entwicklung von Expertise für Hunde ist es deshalb klug, Depression als ein Konzept zu verstehen, das sehr unterschiedliche Dinge zusammenfasst. Nachdenken über »das Wesen der Depression« reicht deshalb nicht aus. So wie es auch nicht hilfreich ist, über »das Wesen des Hundes« nachzudenken, um mit den Eigenheiten eines ganz konkreten Hundes zurechtzukommen.

Aus diesem Grund kann es auch nicht »die eine« Depressionsbehandlung geben. Jede der von Fachleuten vorgeschlagenen Behandlungsmethoden hilft bei etwa 20 bis 40 Prozent der Patientinnen und Patienten. Das ist leider nicht viel und für sich betrachtet ziemlich unbefriedigend. Deshalb ist es für einen Menschen, der an Depression leidet, sinnvoll und häufig unumgänglich, unterschiedliche Behandlungsanläufe zu unternehmen, bis er oder sie die hilfreiche Behandlung für sich gefunden hat.

Wir möchten in diesem Buch verschiedene Störungsmodelle1 vorstellen, die eine Grundlage für eine funktionierende Depressionsbehandlung darstellen. Damit möchten wir Sie unterstützen, für sich selbst besser herauszufinden, was auf Sie zutrifft, welches Störungsmodell für Sie persönlich hilfreich ist. Das ermöglicht Ihnen, genau die Veränderungen in Ihrem Leben vorzunehmen, die für die Bewältigung der Depression bei Ihnen erforderlich sind, und die Therapie zu bekommen, die zu Ihnen passt.

Dieses Buch gibt die fachliche und persönliche Meinung der Autoren wieder. Es hat nicht die Absicht, die allgemeine Meinung der deutschen oder internationalen Psychiatrie und Psychotherapie wiederzugeben. Die Ergebnisse dieses Konsensusprozess findet sich in den entsprechenden Leitlinien, die im Netz frei zugänglich und in wichtigen Teilen auch für Laien verständlich sind (APA, 2010; Bundesärztekammer (BÄK), 2016; DGPPN, 2015; NICE, 2020). Um die verschiedenen Störungsmodelle der Depression darzustellen und die entsprechenden behandlungsrelevanten Schritte zu verdeutlichen, werden wir Ihnen zahlreiche Personen vorstellen, die an Depression in ihren verschiedenen Varianten leiden. Wir werden diese Beispiele später immer wieder aufgreifen, um spezifische Sachverhalte verständlich zu machen. Diese Beispiele stützen sich auf unsere persönlichen praktischen Erfahrungen mit der Therapie von Patientinnen und Patienten mit Depression. Sie sind so verfremdet, dass konkrete Personen nicht erkennbar sind. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch neben der Doppelnennung auch verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen; alle sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.

Das Buch ist so gegliedert, dass Sie zunächst erfahren, was Sie in einer Notfallsituation bei sich selbst, einem Freund oder Verwandten tun können. Die nächsten Kapitel dienen dann dazu, dass Sie nachvollziehen können, wie die Diagnose einer Depression gestellt wird, was Depression aufrechterhält, was die Ansatzpunkte für Behandlung sind, was die ganze Fülle der Behandlungsmöglichkeiten ausmacht und was Sie dabei selbst tun können.


1Ein Störungsmodell beschreibt, wie eine Erkrankung entsteht und aufrechterhalten wird. Dabei konzentriert es sich jeweils auf zentrale Faktoren, die aus der jeweiligen Perspektive eine Schlüsselrolle für Entstehung oder Aufrechterhaltung haben. Störungsmodelle sind einerseits reduktionistisch, andererseits für eine auf das Wesentliche konzentrierte Therapie unabdingbar.

Depression als Notfall

Depression gibt es in allen Schweregraden und zeitlichen Verlaufsformen. Wenn Depression als Notfall auftritt, haben Sie möglicherweise nicht ausreichend Zeit, zuerst das ganze Buch zu lesen und dann differenzierte Entscheidungen zu treffen, Sie brauchen einen schnellen Plan und müssen rasch handeln.

Wann ist Depression ein Notfall?

Depression kann durch Suizidalität2 akut bedrohlich sein. Eine akut sich verschlechternde Depression kann Gedanken auslösen wie »Ich wäre besser tot«, »Meine Familie wäre ohne mich besser dran, ich belaste sie nur«, »Es wäre o.k., wenn ich durch einen Unfall sterben würde«, »Ich sollte überlegen, wie ich mich am besten töte«, »Wenn ich heute Abend nach Hause komme, schlucke ich meinen gesamten Medikamentenvorrat«, »Ich fahre morgen zu einer Brücke, die nicht abgesperrt ist, und springe in die Tiefe«. Solche Gedanken können für sich vermehrt auftreten und trotz ihres bedrohlichen Inhalts zunächst harmlos sein. Wenn sie sich aber zu einem Entschluss weiterentwickeln und gleichzeitig mit Furchtlosigkeit und verfügbaren Mitteln zusammentun, dann wird es lebensgefährlich.

Patrick, 30 Jahre

Patrick ist Forstwirtschaftsmeister und verwaltet zusammen mit seinem Vater einen großen Forstbetrieb und einen Jagdbezirk. Patricks Eltern haben sich in seinem fünften Lebensjahr getrennt. Die Mutter leidet an einer bipolaren Störung. Er lebt seitdem beim Vater, die zwei Jahre ältere Schwester blieb bei ihrer Mutter. Patrick hat eine grundsätzlich gute Beziehung zu seinem Vater, schätzt seine ruhige Art und teilt seine Leidenschaft für den Wald. Die Eltern führten nach der Trennung einen erbitterten Streit um Geld und Umgangsrechte mit den Kindern. Bis beide Kinder volljährig waren, gab es regelmäßige Verhandlungen vor Familiengerichten. Häufig kamen Schreiben von Anwälten ins Haus und führten zu Beunruhigung in der getrennten Familie. Besonders schlimm für Patrick war, dass er seine große Schwester nie spontan sehen konnte. Patrick ging nach dem Abitur zur Bundeswehr, machte danach in einem anderen Forstbetrieb seine Ausbildung und kehrte anschließend in den Betrieb seines Vaters zurück. Seit fünf Jahren hat Patrick eine feste Freundin, Emma. Er lebt aber nicht mit ihr zusammen, sondern weiterhin bei seinem Vater. Emma ist 25 Jahre alt und studiert Sozialpädagogik. Sie teilt Patricks Leidenschaft für Outdoor-Aktivitäten, während gemeinsamer Wanderungen sind die beiden ein Herz und eine Seele. Im Alltag zuhause sind Konflikte häufig. Emma ist launisch und impulsiv, besonders wenn es Schwierigkeiten im Studium gibt. Patrick ist wenig hilfsbereit, wenn es um Haushaltsaufgaben geht, und reagiert aggressiv, wenn Anforderungen an ihn gestellt werden, die er »nicht einsieht«. An einem Abend eskaliert ein Streit und zieht sich bis nach Mitternacht hin. Patrick beschimpft Emma und Emma sagt: »Jetzt reicht es mir, ich trenne mich von Dir!« Patrick verlässt wortlos die Wohnung seiner Freundin. Zuhause sucht er nach dem Schlüssel für den Waffenschrank, holt eine Jagdwaffe und eine Pistole heraus, macht leise die Haustür zu, geht in den Wald, setzt sich auf einen Hochsitz und lädt beide Waffen. Sein Vater hatte Patrick im Halbschlaf kommen hören und wacht auf, als er die Tür zum zweiten Mal ins Schloss fallen hört. Intuitiv ist er sofort alarmiert. Er ruft nach Patrick, als er keine Antwort bekommt, steht er auf und geht ebenfalls in den Wald zu Patricks Lieblingsplatz. Dort findet er ihn auf dem Hochsitz.

Kommentar: Patrick hat keine chronische psychische Erkrankung. Gleichzeitig birgt die beschriebene Situation ein hohes Risiko für Suizid. Patrick ist ein Mann. Männer haben bereits für sich genommen ein erhöhtes Risiko für vollendete Suizide, weil sie in der Regel aggressivere Methoden einsetzen. Er hat vermutlich eine ausgeprägte erworbene Furchtlosigkeit, er besitzt Waffen und kann mit ihnen umgehen, er hat eine akute depressive Symptomatik, fühlt sich verzweifelt wegen der angedrohten Trennungssituation. Er hat traumatische Erfahrungen bezüglich der Auswirkungen einer Trennung. Seine Mutter leidet an einer bipolaren Störung, sodass man eine familiäre Belastung mit psychischen Störungen vermuten kann. Diese Faktoren zusammengenommen führen zu einer hoch gefährlichen, lebensbedrohlichen Situation.

Patricks Vater tut genau das Richtige. Er überredet seinen Sohn mit ruhiger Stimme, vom Hochsitz herunterzukommen und mit ihm mitzugehen. Er lässt sich erzählen, was zwischen Patrick und Emma passiert ist, sagt ihm, wie wichtig er für ihn ist, setzt sich mit ihm ins Auto und fährt mit ihm zur Notaufnahme der nächsten psychiatrischen Universitätsklinik. Dort sprechen Sie mit der Dienstärztin. Sie überzeugt Patrick von einem freiwilligen diagnostischen Aufenthalt. Patrick bleibt zehn Tage und beginnt unmittelbar anschließend mit einer ambulanten Psychotherapie.

Belastende Situationen (Trennung einer Partnerschaft, Aufkündigung einer Freundschaft, Ausschluss aus einer Gruppe, schwerwiegende Konflikte am Arbeitsplatz, juristische Auseinandersetzungen, Verlust des Arbeitsplatzes, Kündigung der Wohnung, Unfälle mit Verlust von Eigentum oder bleibenden Gesundheitsschäden, Nichtbestehen einer Prüfung oder einer Klasse, eigene plötzliche schwere Krankheit, schwere Erkrankungen oder Tod von Freunden, Partnern oder Angehörigen) können zu gefährlichen, akuten depressiven Krisen führen. Eine besondere Bedrohung ist hier Tod durch Suizid oder Risikoverhalten sowie andere überstürzte Entscheidungen.

Eva, 40 Jahre

Eva ist Agrarwissenschaftlerin und betreut ein Projekt im ländlichen Südostasien. Sie erkrankt dort mit hohem Fieber und Schüttelfrost. Ein lokaler Arzt diagnostiziert Malaria und behandelt sie mit den entsprechenden Medikamenten. Eva entschließt sich nach Deutschland zurückzufliegen. Während des Fluges fühlt sie sich elend und müde. Sie hat Alpträume, in denen sie – wie sie später erzählt – »den Weltuntergang erlebt«. Sie hört Stimmen, die ihr sagen: »Bring Dich um, bevor Du langsam verwest!« Ihr Partner Johannes, der sie am Flughafen abholt, erschrickt über ihr krankes Aussehen. Sie sagt ihm: »Du musst mir helfen zu sterben!« Johannes fährt sie ins nächste auf Tropenerkrankungen spezialisierte Klinikum. Nach ausführlicher Diagnostik vermuten die dortigen Ärzte eine wahnhafte Depression, vermutlich ausgelöst durch das Malariamittel. Mit entsprechender Medikation klingen die Symptome innerhalb von einer Woche ab.

Kommentar: Eva hatte nie eine psychische Erkrankung. Sie ist betroffen von einer seltenen Komplikation eines Medikaments mit potenziell lebensgefährlichen Konsequenzen, da die durch die Substanz hervorgerufene depressive Psychose zu Selbstgefährdung und auch Fremdgefährdung führen kann. Johannes tut das Richtige, sofort geeignete Unterstützung zu suchen.

Jasmin, 25 Jahre

Jasmin leidet an ausgeprägter emotionaler Instabilität. Im 14. Lebensjahr wurde bei ihr eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Sie verletzt sich selbst, hat Essanfälle, gerät leicht in Wut. Es fällt ihr sehr schwer, Freundschaften und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Sie hat auch immer wieder depressive Episoden, in denen sie alles als sinnlos empfindet, kaum aus dem Bett kommt, nur sehr wenig isst und an Gewicht verliert. Jasmin hat häufig Fantasien, in denen sie sich vorstellt, dass tot sein viel angenehmer wäre als ihr gegenwärtiges Leben. Jasmin lebt seit dem 15. Lebensjahr in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Sie hat eine Gemeinschaftsschule mit der Mittleren Reife beendet und dann eine Lehre als Gärtnerin abgeschlossen, arbeitet aber zurzeit nicht. Ihr Vater sitzt im Gefängnis, nachdem er wegen mehrerer Einbruchdiebstähle verurteilt wurde. Er machte ihr gelegentlich große Geschenke und ließ dann lange nichts von sich hören. Die Mutter hat drei weitere Kinder von jeweils anderen Vätern und arbeitet gelegentlich abends als Bedienung. Sie geht mit Jasmin sanft und liebevoll um und ist gleichzeitig völlig unzuverlässig. Jasmin hat schon mehrfach versucht, sich mit Medikamenten das Leben zu nehmen. Sie nimmt aktuell regelmäßig an einer ambulanten Gruppentherapie für Patientinnen mit Border-line-Persönlichkeitsstörung teil und hat auch ambulante Einzeltherapie. Am Samstagnachmittag fühlt sie sich einsam, sie ruft gegen 18 Uhr ihre Mutter an. Die Mutter ist schwer betrunken, ein Gespräch ist nicht möglich. Jasmin denkt: »Ich bin ganz allein. Niemand interessiert sich für mich. Ich bin jedem völlig egal.« Sie holt ihre Antidepressiva aus dem Schrank, nimmt alle vorhandenen Tabletten auf einmal und legt sich auf ihr Bett. Gegen 21 Uhr findet sie eine Betreuerin, die eher zufällig noch mal nach ihr sieht. Jasmin ist nicht wach zu kriegen. Die Betreuerin ruft sofort den Notarztwagen. Jasmin verbringt einen Tag auf einer Intensivstation und wird dann in eine psychiatrische Klinik aufgenommen.

Kommentar: Jasmin leidet an einer chronischen psychischen Erkrankung und ist durch eine ungünstige Familiensituation belastet. Die Entscheidung, eine Überdosis Antidepressiva zu nehmen erfolgt spontan, aus dem Augenblick einer Enttäuschung über das Verhalten ihrer Mutter heraus. Jasmin braucht neue Strategien, um mit ihrer chronischen Suizidalität umzugehen.

Fazit: Der Kontext psychiatrischer Notfälle ist sehr vielfältig: Akute zwischenmenschliche Krisen, psychische Folgen von medizinischen Erkrankungen, Medikamenten oder Drogen oder Verschlechterungen von chronischen psychischen Erkrankungen sind mögliche Ursachen. Schwere depressive Zustände können sich aus chronischen psychischen Störungen heraus plötzlich entwickeln oder sich verschlechtern und zu akuter Selbstgefährdung führen. Typischerweise ist es das Beste, unter diesen Umständen sofort das medizinische Nothilfesystem in Anspruch zu nehmen.

Zusammenfassung

Depression ist vor allem dann ein Notfall, wenn sich hieraus lebensgefährdendes oder anderes selbstschädigendes Verhalten ableitet. Mögliche abzuwendende Folgen können Tod durch Suizid, schwere Verletzungen oder Unfälle oder auch finanzielle Schäden sein.

Gehen Sie mit Depression als Notfall so um wie mit jedem anderen schweren medizinischen Notfall. Fahren Sie mit dem Betroffenen in die nächstgelegene psychiatrische oder interdisziplinäre Notaufnahme oder alarmieren Sie den Rettungsdienst. Warten Sie auf keinen Fall darauf, dass es spontan besser wird.


2Wir sprechen hier bewusst von Suizidalität anstatt von Selbstmordgefährdung. Das Wort Selbstmord beinhaltet eine moralische Bewertung, die überholt ist und dem Charakter von Depression als Erkrankung nicht gerecht wird.

Die vielfältigen Formen von Depression

Depressive Störungen sind eine große Familie von psychischen Störungen. Jeder erkrankte Mensch hat eine eigene Krankengeschichte und seine individuellen Besonderheiten. Gleichzeitig gibt es natürlich auch eine Menge gemeinsamer Mechanismen. Um Sie damit vertraut zu machen, berichten wir hier zunächst über Patientinnen und Patienten mit charakteristischen Geschichten.

Laura, 22 Jahre

Wenn man Laura in der U-Bahn oder im Hörsaal begegnet oder mit ihr zusammen in der Mensa zu Mittag isst, denkt man: eine attraktive, kluge, junge Frau. Man erkennt auf dieser Ebene keinerlei Anzeichen einer Erkrankung. Laura lebt in einem Studentenwohnheim und studiert Medizininformatik. Sie hat eine zwei Jahre ältere Schwester. Zu ihr hat sie guten Kontakt. Die beiden sehen sich leider selten, da die Schwester 500 Kilometer weit entfernt studiert. Laura und ihre Schwester sind bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Der Vater hat die Familie in Lauras fünften Lebensjahr verlassen. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr zu ihm. Da der Vater keine finanziellen Mittel für die Kinder bereitstellte, musste Lauras Mutter ganztags arbeiten, sodass die beiden Kinder nachmittags meistens auf sich selbst aufpassten. Die finanziellen Möglichkeiten der Familie waren begrenzt. Es gab nur bescheidene Urlaube und nur geringes Taschengeld. Die psychischen Probleme von Laura begannen schon in der Kindheit. Sie war immer eher ängstlich, hatte eine beste Freundin, aber keine weiteren Kontakte in der Klasse und war sehr zurückgezogen. Sie glaubte, sie sei dumm und hässlich und alle würden sie ablehnen. Dabei war sie eine gute Schülerin. Nur die mündlichen Noten ließen zu wünschen übrig, da sie sich kaum meldete. Lauras Stimmung war ständig beeinträchtigt. Sie dachte, dass ihre ganzen Anstrengungen sie im Leben sowieso nicht weiterbringen würden, dass sie nie einen Freund haben würde, dass sie nie eine Stelle finden würde, um für sich selbst zu sorgen. Ihre vorherrschende Emotion war Scham über viele verschiedene Themen: ihren Körper, ihre Leistungsfähigkeit, keinen richtigen Vater zu haben. Nach dem Abitur zieht sie in die nächste Großstadt, um zu studieren. Im Studentenwohnheim lebt sie eher zurückgezogen. Sie geht eine intime Beziehung mit Ferdinand ein, einem gleichaltrigen jungen Mann aus demselben Studiengang. Ferdinand ist ebenfalls psychisch krank und hat zusätzlich ein erhebliches Problem mit Cannabis-Missbrauch. Dass Ferdinand auf sie zugegangen ist und ihr sofort offengelegt hat, wie krank er ist, erleichterte Laura zunächst den Beginn der Beziehung. Gleichzeitig fühlt sie sich sehr dadurch belastet, dass Ferdinand sie krankheitsbedingt nur wenig unterstützen kann und er sich häufig aggressiv verhält. Laura denkt deshalb immer wieder über Trennung nach und beendet im weiteren Verlauf dann tatsächlich die Beziehung mit Ferdinand, kommt aber wieder mit ihm zusammen, bevor sie sich endgültig trennt. Laura war erstmals im 16. Lebensjahr bei einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Ärztin diagnostizierte eine Anpassungsstörung und riet ihr, in ambulante Psychotherapie zu gehen. Laura folgte diesem Ratschlag jedoch nicht. Sie erhoffte sich nichts von Psychotherapie. Die Erklärungen der Ärztin erschienen ihr sehr vage. An ihrem neuen Studienort besucht sie dann die psychiatrische Institutsambulanz. Die Ärztin und die Psychologische Psychotherapeutin, mit denen sie ausführliche diagnostische Gespräche hat, diagnostizieren eine chronische Depression und eine vermeidende Persönlichkeitsstörung und bieten ihr eine psychotherapeutische Behandlung an. Dieses Mal sagt Laura zu, da ihr das, was die Fachärztin und die Psychologin über ihre Erkrankung erklären, plausibel erscheint.

Peter, 62 Jahre

Wenn man Peter von früher her kennt und ihm jetzt begegnet, denkt man: »Oh je, der sieht aber alt und krank aus.« Peter ist Controller bei einem großen mittelständischen Unternehmen, arbeitet aber seit zehn Monaten nicht, da er krankgeschrieben ist. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Peter ist in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren in einfachen Verhältnissen auf dem Land groß geworden. Sein Vater war Arbeiter im Straßenbau, die Mutter Arbeiterin bei einer Milchgenossenschaft. Peter ist das zweite von vier Kindern. Er besuchte die Volksschule, danach die Realschule, machte eine Lehre als Kfz-Mechaniker, kehrte dann wieder zur Schule zurück und machte das Fachabitur. Zuletzt studierte er Betriebswirtschaft an einer Fachhochschule. Nach dem Studium begann er bei einem mittelständischen Unternehmen der Metallindustrie zu arbeiten und machte dort rasch Karriere. Er war besonders wegen seiner Zuverlässigkeit und seiner ausgleichenden vermittelnden Art bei allen Mitarbeitern beliebt. Seine Frau kennt er seit der gemeinsamen Zeit in der Realschule. Peter war bis zu seinem 60. Lebensjahr aus seiner eigenen Sicht völlig gesund und leistungsfähig. Er betrieb bis zum 40. Lebensjahr regelmäßig Sport, spielte insbesondere Fußball. Nach einer Bagatellverletzung hörte er damals aber auf. Peter rauchte vom 15. bis zum 60. Lebensjahr jeden Tag etwa eine Schachtel Zigaretten. Ab dem 40. Lebensjahr entwickelte er Übergewicht. Mit 60 hatte er an einem Sonntagmorgen einen Herzinfarkt. Er wurde sofort in das nächste Universitätsklinikum gebracht und mit mehreren Stents versorgt. Während des Klinikaufenthaltes wurde auch ein Diabetes mellitus und ein Bluthochdruck diagnostiziert und behandelt. Die Ärzte waren mit dem Behandlungsergebnis sehr zufrieden. Sie sagten: »Sie haben Riesenglück gehabt und sind fast wieder gesund!« Peter dagegen fühlte sich total verändert. Er hatte wesentlich weniger Antrieb, lag nachts wach und machte sich Sorgen um seine Gesundheit, er konnte sich sehr viel weniger für seine Arbeit begeistern und verhielt sich gereizt zu seinen Kollegen und auch zu seinen Vorgesetzten. Das von den Ärzten empfohlene Sport- und Ernährungsprogramm setzte er nur in kleinen Teilen um. Er sagte: »Mir fehlt dazu der Antrieb.« Der Hausarzt ermahnte ihn: »Sie haben einfach zu viel Stress bei ihrer Arbeit, Sie müssen lernen kürzerzutreten und sich mehr entspannen!« Die Krankschreibung, die zur Verminderung der Stressbelastung dienen sollte, führte aber zu einer Verschlechterung des Befindens. Peter wurde schließlich in eine psychosomatische Klinik eingewiesen. Dort wurde die Diagnose einer schweren depressiven Episode gestellt.

Wenn Sie diese beiden Geschichten von Laura und Peter lesen, werden Sie fragen: »Zwei Altersgruppen, zwei sehr unterschiedliche Verläufe über das Leben hinweg. Ist das überhaupt dieselbe Erkrankung?« Die Antwort ist notwendigerweise kompliziert: »Ja, es gibt gemeinsame Mechanismen, aber es gibt auch viele Unterschiede!« Wir werden auf Laura und Peter immer wieder zurückkommen.

Habe ich eine Depression?

Diese Frage ist sehr komplex. Sie müssen viele verschiedene Aspekte berücksichtigen, um sie richtig zu beantworten. An Depression denken die meisten Menschen in unserer Kultur, wenn sie über eine längere Zeit schlechter Stimmung sind und diese nicht von selbst vergeht oder sich nicht abschütteln lässt. Depression ist aber nicht einfach nur schlechte Stimmung. Manche Menschen fühlen sich in erster Linie körperlich krank und leiden doch aus der Sicht von Psychiatern und Psychotherapeuten unter Depression. Das führt dann manchmal zu Unstimmigkeiten zwischen Arzt und Patient. Tatsache ist: Der Mensch hat keinen Depressionssensor. Man kann die Frage »Habe ich eine Depression?« nicht einfach dadurch beantworten, dass man in sich hineinhört. Experten stellen die Diagnose auch nicht intuitiv, sondern anhand von Kriterien. Im Folgenden werden wir diese Kriterien so erklären, dass der Entscheidungsprozess, ob eine Depression vorliegt oder nicht, für jeden nachvollziehbar wird.

Die adaptive Seite der Depression – Ist Depression überhaupt eine Erkrankung?

Für sich genommen ist Depression zunächst ein menschliches Verhaltensprogramm. Bevor wir uns der Diagnostik von Depression als Krankheit zuwenden, sollten wir also erst noch einmal etwas über ihre nützliche, nicht krankhafte Seite sagen.

Depression als Verhaltensprogramm dient dazu, Verschwendung von persönlicher Energie für Projekte mit geringen Erfolgsaussichten zu verhindern. Der natürliche Auslöser für Depression ist deshalb eine Situation, in der ein Verhalten nicht wiederholt werden sollte, weil es wenig Erfolg versprechend ist. Depression ist so lange gesund, als genau diese Funktion eingehalten wird.

Rahel, 30 Jahre, und Albert, 32 Jahre