Zum Geleit

Wie beginnt Lernen?

Welche Voraussetzungen sind erforderlich, damit ein Kind lernen kann und sich lernend entwickelt?

Ist das heutige Wissen über grundlegende Entwicklungsprozesse übertragbar auf Kinder mit sehr schweren Behinderungen?

Auf welche Weise ist es möglich, sehr schwer behinderten Kindern grundlegendes Lernen zu erleichtern?

Das vorliegende Buch versucht Antworten auf diese Fragen zu finden. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass Kinder mit schweren Behinderungen vor allem Kinder sind und nicht vor allem behindert. Entwicklungsprozesse verlaufen bei allen Kindern analog, auch wenn sie durch schwere Behinderungen verlangsamt oder beeinträchtigt werden. Das Wissen um Entwicklungs- und Lernprozesse und ihre Voraussetzungen bei Kindern wächst ständig, auch das Wissen um Kompetenzen in extremen Lebenssituationen. Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit betroffenen Menschen zeigen, dass die Entwicklungsunterstützung auf der Basis der neueren Kenntnisse vielfältiger, reicher und lebensnäher sein kann als lange Zeit angenommen und praktiziert wurde. Entwicklungsbedingungen sehr schwer behinderter Kinder lassen sich so gestalten, dass es für sie leichter wird, sich zu entwickeln. Ein hohes Ausmaß fremdbestimmter Übungen, Trainingseinheiten für verschiedene Funktionen, der Versuch, Entwicklungsschritte einzuüben sind allerdings für die Förderung ungeeignet. Sie können sogar die Auswirkungen einer schweren Behinderung verstärken. Es geht in diesem Buch um eine sensible, feinfühlige Zusammenarbeit mit dem Kind, die die Eltern einschließt. Ziel dieser Arbeit ist es, dem Kind zu erleichtern, die ihm mögliche Entwicklung zu tun, am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben und es mitzugestalten. Kenntnisse über komplexe Entwicklungsprozesse sollen auf diese Zusammenarbeit vorbereiten. Beispiele aus der praktischen Arbeit zeigen Möglichkeiten konkreten Vorgehens im Alltag.

Die besondere Herausforderung einer entwicklungsanalogen Begleitung der Kinder liegt darin, sich auf eine zugewandte Beziehung mit ihnen einzulassen und auf dieser Basis mit ihnen gemeinsam zu lernen, wie sie ihre je eigene Entwicklung tun können.

Schwerpunkt dieses Buches ist die Unterstützung des Lernens sehr schwer behinderter Kinder im Kleinkind-, Vorschul- und Grundschulalter. Dabei geht es nicht um Institutionen, in denen Förderung geschieht, sondern um Entwicklungen, die wir Kindern vielleicht erleichtern können.

Mein Dank gilt den Kindern und Eltern, die mir Einblicke gaben in Kompetenzen, Entwicklungsimpulse und -nöte. Ich danke den Fachkräften und KollegInnen, die mir von ihrer Arbeit berichteten und ihre Erfahrungen mit mir teilten.

Frau Angelika Merkel im Institut für Sonderpädagogik in Landau danke ich für die kompetente und geduldige Textgestaltung. Dem Verlag danke ich für die engagierte Unterstützung dieses Buches.

Landau im Herbst 2005

Ursula Haupt

1 Erfahrungen mit körperbehinderten Kindern als Anfrage an unser Wissen von Entwicklung

Grundlagen

Entwicklungs- und Lernprozesse bei Kindern haben mich schon immer fasziniert. Grundlage dazu mögen vielfältige Erlebnisse in unserer großen, kinderreichen Familie in den 40er und 50er Jahren gewesen sein, später dann das Mit-Erleben und Anteil-Nehmen am Aufwachsen der Kinder meiner Geschwister und Freunde, das Staunen über Entfaltung und Lernen, die Freude über Kompetenzen, die Sorge, wenn Entwicklungen erschwert waren.

Auch die Auseinandersetzung mit meiner eigenen Biografie verstärkte mein Interesse vor allem an den sehr frühen Entwicklungs- und Lernprozessen.

Erinnerungen

Manchmal denke ich noch an den langen, entspannten Waldspaziergang Anfang der 70er Jahre im Siebengebirge. Auf einem Baumstamm sitzend erinnerte ich mich ganz unerwartet an ein bewegendes Erlebnis aus der intrauterinen Zeit. Diese körperhafte, lebhafte Erinnerung war einerseits sehr eindeutig. Andererseits blieb ich lange Zeit skeptisch, ob es überhaupt möglich sein könnte, Erlebnisse, die zwei Monate vor der Geburt geschehen waren, zu erinnern.

Suche nach wissenschaftlichen Arbeiten

Damals war noch nicht sehr viel über Kompetenzen und Erlebnismöglichkeiten vor der Geburt bekannt. So begab ich mich auf die Suche nach Arbeiten zu diesem Thema. Für mich war es wichtig zu klären, wie real meine Erinnerung war. Später konnte ich sie auch mit Hilfe meiner Mutter verifizieren.

Durch die Zusammenarbeit mit den körperbehinderten Kindern seit Anfang der 60er Jahre wurde mein Interesse an grundlegenden Entwicklungs- und Lernprozessen auch beruflich zu einem Lebensthema für mich.

Manche Erfahrungen mit den Kindern lernte ich besser verstehen, wenn ich sie in einen Entwicklungszusammenhang stellen konnte.

So ging es mir mit einem siebenjährigen Jungen in meiner Schulanfängergruppe in der Körperbehindertenschule. Er war durch eine angeborene Querschnittslähmung (Spina bifida) gehbehindert und inkontinent. Nach seiner Geburt war er in ein Kinderheim gekommen und dort auch geblieben, da sich keine Pflegefamilie für ihn fand. Das Heim hatte viel zu wenig Personal. So kam es dazu, dass Markus wegen seiner Inkontinenz in der Gruppe der unter dreijährigen Kinder verblieb ohne Frühförderung oder Kindergartenbesuch. Ein Wechsel in eine Gruppe mit älteren Kindern erfolgte erst einige Zeit nach der Einschulung. Der Junge hatte eine recht gute Sprachentwicklung genommen. Allerdings fehlten ihm viele altersentsprechende Erfahrungen und Kenntnisse. Ungeschälte rohe Kartoffeln hielt er zum Beispiel anfänglich für Steine. Kartoffeln kannte er nur als Brei.

Entwicklungszusammenhänge als Hilfe zum Verstehen

Wenn er morgens zur Schule kam, waren die anderen Kinder schon da und hatten mit Spiel oder Freiarbeit begonnen. Markus ging zu jedem Kind, schubste oder knuffte es. Die Kinder mochten das nicht. Ich fragte mich, warum er sich wohl so verhielt, was er wohl damit zum Ausdruck bringen wollte. Er sagte oft, dass er gern zur Schule kam. Aggressive Reaktionen waren bei ihm höchst selten. In neuen Situationen hatte er nicht selten Angst.

Es ging auch darum herauszufinden, welche Möglichkeiten es geben konnte, dieses störende Verhalten zu beeinflussen. Der Hinweis, dass es den Kindern unangenehm war, brachte keine Änderung. Wenn er die Kinder knuffte, wirkte er nicht aggressiv oder ärgerlich. So fragte ich mich, was in einer solchen Situation wohl in ihm vorging. Mir fiel auf, dass manche zweibis dreijährige Kinder auf diese Weise auf sich aufmerksam machen – ohne die Absicht zu stören oder zu verletzen. Und Markus lebte im Heim ja nur mit Kindern unter drei Jahren zusammen. Als ich dann Markus und der Kindergruppe als Hilfe zum Verstehen seines Verhaltens anbot, dass er auf diese Weise vielleicht ausdrücken möchte: »Hallo, ich bin da«, setzte eine Entwicklung ein. Markus beobachtete, wie andere Kinder sich begrüßten, und probierte verschiedene Möglichkeiten aus.

Den unmittelbaren Körperkontakt durch Schubsen oder Knuffen brauchte er bei der Begrüßung nicht mehr.

Manche der damals vertretenen wissenschaftlichen Lehrmeinungen erwiesen sich als irreführend und verstellten die Wahrnehmung für die Lebens- und Lernprozesse der Kinder. Sie nahmen ihnen Möglichkeiten, wenn die Theorien als gültig angesehen und die realen Erfahrungen mit den Kindern als zufällig oder irrelevant abgewertet wurden. Die Auswirkungen dieser Lehrmeinungen sind zum Teil heute noch spürbar.

Da ging es zum Beispiel um Kinder wie Rita und Rainer, motorisch schwerst behinderte Kinder, die nicht mit Lautsprache kommunizieren konnten. Beide waren eine Zeit lang Schüler meiner Klasse.

sehr schwer behinderte Kinder

Rita konnte mit sieben Jahren auf dem Rücken und auf dem Bauch liegen, konnte sich aber nicht drehen. Im Rollstuhl sitzend wurde sie von einem Gurt gehalten, freies Sitzen war nicht möglich, auch nicht Aufstellen, Stehen oder Gehen. Sie konnte mit einer Hand Dinge greifen. Sie versuchte auch, kleinere Dinge mit Daumen und Zeigefinger aufzunehmen. Beim Essen brauchte sie Hilfe. Sie konnte einige Laute bilden, versuchte Laute nachzuahmen. Rita verfügte über eine ganze Reihe nichtsprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten für Erlebnisse und Gefühle. Sie war sehr interessiert. Kontakte zu Kindern und Erwachsenen gestaltete sie aktiv mit. Ihr Sprachverständnis war altersgerecht. Im sprachfreien Intelligenztest erreichte sie eine für ihr Alter durchschnittliche Leistung. Ihre motorischen Kompetenzen im Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen entsprachen dem Können eines etwa fünf Monate alten nichtbehinderten Kindes; die Bewegungen der Hand und die Lautbildung dem eines etwa neun Monate alten Kindes.

Rainer konnte mit 12 Jahren auf dem Rücken liegen, wenn er durch Kissen und Polster gut unterstützt wurde. Um im Rollstuhl sitzen zu können, brauchte er eine spezielle Halterung. Seine Bewegungsmöglichkeiten im Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen entsprachen den Kompetenzen eines etwa zwei Monate alten nichtbehinderten Kindes. Greifen war manchmal möglich, fiel aber oft schwer. Einzelne Laute konnte er bilden, aber nur manchmal zur Kommunikation einsetzen. Das sind Kompetenzen, wie sie bei etwa fünf Monate alten nichtbehinderten Kindern zu beobachten sind. Auch Rainer war sehr interessiert und hatte ein altersentsprechendes Sprachverständnis. Auch er hatte gute Kontakte zu Gleichaltrigen und Erwachsenen. Er konnte gut rechnen. Lesenlernen fiel ihm wie anderen nichtsprechenden Kindern sehr schwer. Rainer erreichte im sprachfreien Intelligenztest eine für sein Alter überdurchschnittliche Leistung.

überholte Auffassungen

Damals herrschte die Meinung vor, Entwicklungsprozesse seien streng hierarchisch aufgebaut. Bestimmte Phasen oder Stufen müssten in einer festgelegten Reihenfolge durchlaufen werden. Sei das nicht möglich, stagniere die gesamte Entwicklung. Als Vertreter eines hierarchischen Modells berief man sich z.B. auf Gehlen, der der Auffassung war, zuerst entwickele sich die Grobmotorik, daraus die Feinmotorik, daraus die Sprache und daraus das Denken.

Andere glaubten, Piagets Befunde so interpretieren zu müssen, dass zuerst zwingend das sensumotorische Stadium zu durchlaufen sei ehe das präoperationale, das konkret-operationale und das formal-operationale Stadium möglich würden (vgl. dazu Piaget 1936 und Petermann et al. 2004, 124f).

Behinderung und Intelligenz

Rita und Rainer waren von Geburt an motorisch schwerst behindert. Nach einem streng hierarchisch gedachten Entwicklungsmodell, dessen Basis die Entwicklung der Motorik ist, hätten diese und vergleichbar behinderte Kinder keine altersentsprechende oder überdurchschnittliche Intelligenz entwickeln können. Diese Überzeugung herrschte lange Zeit in Deutschland ebenso vor wie in anderen Ländern (vgl. z.B. Crossley, Mc Donald 1990). Sie führte dazu, dass in den 60er Jahren Kinder wie Rita und Rainer in vielen Schulen keine Aufnahme fanden.

Und selbst heute ist es noch nicht selbstverständlich, dass Kinder mit diesen Kompetenzen ihrer Intelligenz entsprechend gefördert und unterrichtet werden. Auch heute noch geschieht es, dass Kinder wie Rita und Rainer für geistig behindert gehalten werden, weil sie motorisch schwerst behindert sind und nicht sprechen können. So sind die Fragen von damals auch noch die Fragen von heute:

Anfragen an heutige Lehrmeinungen

Damit ist auch die Frage nach der Entwicklungsunterstützung der Kinder gestellt, die in allen Bereichen große Entwicklungsschwierigkeiten haben.

Die Frage, wie die Entwicklung dieser Kinder verstanden werden kann und ob sie etwas lernen können, wurde von den 70er Jahren an immer drängender. Bis dahin waren sie weitgehend von einer Förderung ausgenommen.

Defizite oder Kompetenzen als Leitlinie

Entwicklungsmodelle wurden zu Rate gezogen, manchmal um Defizite der Kinder aufzuzeigen, um Therapien und Förder maßnahmen zu begründen, manchmal um Kompetenzen zu beschreiben. Es wurden ähnliche und unterschiedliche Wege beschritten: von der Förderpflege (Trogisch) über Basale Stimulation (Fröhlich), sensumotorische Kooperation (Praschak), elementare Beziehungen (Fornefeld), Leben lernen (Breitinger, Fischer), Erlernen lebenspraktischer Fertigkeiten (Kane und Kane) bis hin zu der provokanten Forderung, alle Kinder alles zu lehren (vgl. Lamers »Goethe und Matisse für Menschen mit einer schweren Behinderung«).

Es waren und sind tastende Versuche, mit schwerstbehinderten Menschen so zusammenzuarbeiten, dass die möglichen Lernprozesse in Bezogenheit und mit Teilhabe erleichtert werden.

Da sich das Wissen über Lernen und Entwicklung in den letzten 30 Jahren verändert und sehr erweitert hat, ist die Frage neu zu stellen, welche Konsequenzen unser derzeitiges Wissen für die Arbeit mit Betroffenen haben kann und sei es nur für solange, bis neue Erfahrungen neue Fragen aufwerfen.

Angesichts der praktizierten Förderkonzepte für schwerstbehinderte Menschen stellen sich die Fragen:

Grundfragen der Förderung

Uns wurde ein sehr schwer behinderter dreijähriger Junge vorgestellt.

Beispiel: sprechen lernen

Die Eltern machten sich Sorgen, weil er noch keine Laute bildete und auch nicht versuchte zu plappern oder zu sprechen – trotz seiner Freude an Kontakten und seiner guten Integration in das Leben der Familie. Motorisch lag eine schwere cerebrale Bewegungsstörung vor. Ben war für alle alltäglichen Verrichtungen auf Hilfe angewiesen. Es fiel auf, dass die Mutter ihm nicht nur das Essen, sondern auch jedes Getränk mit dem Löffel gab. Sie berichtete, dass man ihr das vor mehr als einem Jahr dringend nahegelegt hatte, damit Ben in der Mundmotorik Fortschritte machen könne. Vorher hatte er Getränke mit Hilfe einer Flasche zu sich genommen. Das war wesentlich leichter gewesen. Ausschließlich mit dem Löffel gefüttert, dauerten Essen und Trinken pro Tag mehrere Stunden. Mundmotorische Fortschritte hatte die Mutter nicht beobachten können.

Wie kam es, dass dieser Junge, der so deutliches Interesse an Kommunikation hatte, keine Laute bildete?

Wie lernt ein Kind Lautbildung und Sprechen?

Wir schauten uns das Füttern vom Löffel an. Obschon die Mutter äußerst geschickt vorging, hatte Ben keine andere motorische Möglichkeit, als das Getränk in den Mund laufen zu lassen und nach einer Zeit zu schlucken. Er hatte kein physiologisches Bewegungsmuster, das er für diese Art des »Trinkens« einsetzen konnte. Dazu kam, dass er aufgrund seiner schweren Bewegungsstörung meist nicht mit seiner Hand zum Mund kam und dadurch nur wenig sensumotorische Erfahrung mit dem Mund machen konnte. Sie ist aber Auslöser für spontane Lautbildungen bei kleinen Kindern.

sensumotorische Erfahrungen

So war die Frage, ob ein physiologisches Bewegungsmuster für Trinken sowie verstärkte sensumotorische Erfahrungen im Mundraum es ihm erleichtern könnten, Laute zu bilden. Die Mutter konnte ihn in leichter Beugehaltung gut unterstützen, so dass er mit der Hand zum Mund kam. Das fand er sehr interessant. Er begann sofort mit oralen Erkundungen, wie sie vorher nicht möglich waren. Wir boten ihm versuchsweise eine Flasche mit Getränk an. Es zeigte sich, dass er zunächst nicht mehr »wusste«, wie er aus der Flasche trinken konnte. Er fand diese Kompetenz aber nach kurzer Zeit wieder.

Laute bilden

Die Mutter nahm das gerne auf. Tee oder Saft aus der Flasche zu trinken war vor allem unterwegs eine erhebliche Erleichterung. Nach einiger Zeit bildete der Junge spontan erste Laute. Saugen, Flaschetrinken war das einfachste Bewegungsmuster für Nahrungsaufnahme, das der Junge ausgebildet hatte. Der Rat, nur noch einen Löffel zu benutzen, entsprach nicht den Bewegungsmöglichkeiten und der Entwicklung des Jungen. Seine sensumotorischen Munderfahrungen waren noch unzureichend für differenziertere Bewegungsabläufe. Wichtige Lernschritte waren übersprungen worden. So ging die Entwicklung in diesem Bereich nicht weiter.

Wie wichtig hinreichende Erfahrungen im Mundraum und eine Phase spontanen, nicht gezielten Plapperns für das Sprechenlernen sind, habe ich auch bei anderen Kindern erlebt.

Die Mutter kam mit Jo zu mir, weil die Entwicklung des Sprechens wegen einer cerebralen Bewegungsstörung stagnierte. Jo war schon fünf Jahre alt und fing erst an, einzelne Laute zu bilden. Die Mutter sprach ihm Wörter vor, ermutigte ihn zur Nachahmung, hatte aber nicht den gewünschten Erfolg.

Jo hatte trotz seiner recht ausgeprägten Bewegungsstörung gelernt, alleine zu essen. Er konnte mit Unterstützung gehen. Sitzen war nicht schwierig für ihn. Und jetzt sollte es um das Sprechen gehen. Die Mutter hätte es gerne gesehen, wenn Jo bis zur Einschulung fließend sprechen lernen würde. Sie dachte, wenn man ihm genug und deutlich vorspricht, wird dieser interessierte, wache Junge gut sprechen lernen. Es fiel ihr schwer zu verstehen, dass spontanes Plappern, spielerisches Plappern die beste Basis für gezielte Lautbildung, Wörter, Sätze ist. Da sie aber mit dem Versuch, Jo vorzusprechen, nichts erreicht hatte, war sie mit dem anderen Vorgehen einverstanden.

spielerisches Plappern

Ich konnte Jo für das spielerische Plappern erwärmen. Wir erfanden Tierstimmen und -laute, eine geheime Sprache, eine Radiosendung von einem anderen Planeten. Jos Lautreichtum beim Plappern wuchs. Häusliche Versuche mit Lautimitation führten zur Verspannung des Kindes und auch zu Frustration, da Jo Laute und Wörter nicht genau so sagen konnte, wie sie sich anhören sollten. Dieser Unterschied störte ihn sehr. Es dauerte noch eine Weile, bis Jo durch die spontanen Lautbildungen so viel feinmotorisches Geschick erworben hatte, dass er Laute auch gezielt bilden konnte.

Wörter sprechen

Danach gelangen ihm auch Silben und Wörter. Bei Jo war die Hauptarbeit die Arbeit mit der Mutter, die Zielvorstellungen mit ihm einüben wollte: korrekte Laute, Wörter, Sätze mit anspruchsvollem Inhalt. Sie hatte große Mühe, dem entwicklungsanalogen Lernweg zu vertrauen, den Jo mit Erfolg beschritt.

Diese Beispiele weisen auf Sequenzen in Lernprozessen, die überindividuelle Bedeutsamkeit haben.

Sie werfen die Frage auf, in welchen Bereichen solche Sequenzen vorliegen und welche Rolle sie für die Förderung spielen können.

Wenn Entwicklungen erschwert sind, steht unser Wissen über Entwicklung und Lernen auf dem Prüfstand. Unser Wissen ist immer nur vorläufig. Leben kennt Entfaltungen und Gestaltungen, die wir noch nicht wahrnehmen und kennen. Kinder mit Behinderungen können uns neue Perspektiven eröffnen. Sie werfen mit ihren Entwicklungen Fragen auf, die uns zwingen, unsere Annahmen zu hinterfragen, unser Wissen zu prüfen und zu erweitern. Wenn wir die Kinder in ihren Lebensäußerungen und Verhaltensweisen ernstnehmen, zeigen sie uns Wege auf, die für sie gangbar sind.

Entwicklungsimpulse unterstützen

Bei unserer Auseinandersetzung mit unserem Wissen über Entwicklung und Lernen geht es nicht darum, Normabweichungen festzustellen und Kinder zu pathologisieren. Es geht aber darum, sie in ihren je individuellen Lebens- und Lernprozessen besser zu verstehen, ihre Entwicklungsimpulse wahrzunehmen und sie zu unterstützen.

2 Bausteine zum heutigen Verständnis von Entwicklung

2.1 Eigenaktivität

Es besteht heute weitgehend Übereinstimmung in der Auffassung, dass Kinder die Akteure ihrer eigenen Entwicklung sind. Annahmen, dass der genetische Code oder die Einflüsse der Mitwelt und Umwelt einen Menschen festlegen, gelten als überholt und nicht zutreffend. Bahnbrechend waren in diesem Zusammenhang u.a. die Arbeiten der Neurobiologen Maturana und Varela (z.B. 1990). Sie konnten zeigen, dass der Mensch als lebendes System die Freiheit hat, sich seine Welt zu schaffen, anstatt nur auf Vorgegebenes zu reagieren, wenn Grunderfordernisse des Lebens erfüllt sind. Nach ihren Befunden ist der Mensch als Subjekt entscheidend an der Schöpfung seiner nur scheinbar objektiven Wirklichkeit beteiligt.

Entwicklung aktiv mitgestalten

Aufgrund seiner Forschungen und Erfahrungen mit Kindern hat Schlack in seinen Arbeiten immer wieder betont, dass die Eigenaktivität des Kindes Motor seiner Entwicklung ist (z.B. 1995, 1997, 2000). Das Kind ist von Anfang an aktiv in Interaktion mit Mitwelt und Umwelt. Es nimmt Entwicklungsreize selektiv auf. Mit Hilfe seiner genetischen Ausstattung nimmt es Einfluss auf seine Entwicklung (2000, 31). Schlack stellt fest, dass nichtbehinderte und behinderte Kinder ihre Entwicklung aktiv mitgestalten. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen »sprechen dafür, dass das behinderte wie auch das nichtbehinderte Kind sich in erster Linie durch eigene Aktivität entwickelt, dass es nur solche ... Anregungen in funktionelle Fortschritte umsetzt, die seiner Motivation und seinem Handlungsrepertoire gemäß sind; dass das Kind selbst also der Akteur seiner Entwicklung sein muss« (1997, 16).

Die heutige Sichtweise betont die im Kind angelegte Entwicklungsdynamik, die durch vielfältige Austauschprozesse in Kompetenzen, Lernvorgängen, Verhaltensweisen Gestalt annimmt.

Largo (1995, 16) spricht vom inneren Drang des Kindes, sich zu entwickeln, sich Fähigkeiten und Wissen anzueignen.

förderliche Bedingungen

Es besteht Konsens, dass die innewohnende Entwicklungsdynamik nur zum Tragen kommen kann, wenn das Kind förderliche Bedingungen für seine Entwicklung hat, so dass es immer wieder positive Erfahrungen in mitmenschlichen Beziehungen und mit der Dingwelt machen kann.

Ist nun aber das Kind Akteur seiner Entwicklung, dann ist der Versuch widersinnig, mit ihm Entwicklung nach vorgegebenem Plan fremdbestimmt einzuüben. Diese Konsequenz wird in der Förderung von Kindern mit Behinderungen wenig beachtet beziehungsweise infrage gestellt. Im Denken und Handeln von Eltern und Fachkräften findet sich oft noch der tief sitzende Zweifel, ob Kinder mit Behinderungen ihre Entwicklung aktiv mitgestalten können oder ob nicht die Behinderung ihnen gerade diese Möglichkeit genommen hat. Fachleute fühlen sich manchmal als die eigentlichen Akteure, sehen Eltern eher als Erfüllungsgehilfen und die Kinder als passive Empfänger von Anregungen und Therapien (Schlack 1997, 15).

Kautter beschreibt die Schwierigkeiten der Umsetzung des neuen Verständnisses in einem Projekt der Frühförderung so: »Uns ... jedenfalls ist es schwergefallen, uns von den Vorstellungen zu lösen

neues Selbstverständnis der Fachkräfte

Wir mussten umdenken. Wir wurden in unserer Erzieher-Identität infrage gestellt. Die Verwirklichung eines pädagogischen Konzepts der Selbstgestaltung ist anstrengend« (1992, 13).

2.2 Komplexe Interaktion

Bedeutung der Gene

Entwicklung beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle in höchster Komplexität und Dichte. Diese anfängliche Ganzheit enthält im genetischen Code außerordentlich viele Möglichkeiten. Gene bestimmen aber die Entwicklung eines Menschen nicht. Singer führt aus (2002, 44): »Gene sind nie alleine, sondern immer in eine Umwelt eingebettet. Es sind Signale aus der Umwelt, die das Auslesen der genetischen Information initiieren und die Entwicklung ... maßgeblich koordinieren. Die Umgebungsbedingungen bestimmen die Expression bestimmter Gene, und deren Produkte verändern die Umgebung, so dass wiederum neue Gene exprimiert werden und so fort. Es vollzieht sich ein sich selbst organisierender Prozess, der, getragen von einem kontinuierlichen Dialog zwischen Genom und umgebendem Milieu, zur Bildung zunehmend komplexer Strukturen führt« (vgl. auch Bauer 2004, 53).

Entwicklung aus der Ganzheit

Dornes (1993, 47) macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die Entwicklung nicht – wie früher angenommen – vom Teil zum Ganzen verläuft, »wobei die Teile Schritt für Schritt zu einem Ganzen zusammengebaut werden«. Das heißt Entwicklung setzt sich nicht aus einzelnen Teilen zusammen, die integriert werden müssen. Das ist sehr wichtig zu bedenken, weil in der vorschulischen und schulischen Förderung oft noch so gearbeitet wird, wie es der alten Vorstellung entspricht. Danach war der Versuch legitim, mit den Kindern in einzelnen kleinen Schritten Kompetenzen »aufzubauen«. Auch die Annahme, bereits in der frühen Entwicklung könne man getrost nach Funktionen wie Motorik, Sprache, Wahrnehmung, Kognition getrennt arbeiten, beruht auf der skizzierten alten Vorstellung.

intermodale Wahrnehmung

In der grundlegenden Entwicklung ist die umfassende Vernetzung innerhalb der Ganzheit ausschlaggebend. Aus den eng verflochtenen Lebensäußerungen und Gestaltungen entwickeln sich erst im Laufe der Zeit unterscheidbare Funktionen. Dornes zeigt das am Beispiel der intermodalen Wahrnehmung, die der Säugling von Anfang an hat: »Die Teile werden in ein Ganzes eingebaut oder anders ausgedrückt: ursprünglich werden Ganzheiten wahrgenommen (z.B. die Gemeinsamkeit von Bild und Ton), und die Differenzierung dieser Ganzheiten in separate Empfindungen ist ein Ergebnis des Entwicklungsprozesses und nicht sein Anfang« (1993, 47).

Austauschprozesse

Kennzeichen der frühen grundlegenden Entwicklung ist die komplexe Interaktion des gesamten Entwicklungsgeschehens mit den Bezugspersonen des Kindes und mit der Umwelt. Das beginnt mit den Austauschprozessen zwischen Mutter und Kind zu Beginn der Schwangerschaft. Diese Prozesse interagieren wiederum mit der Lebenswelt der Mutter, ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit, ihren Bezugspersonen, ihrer wirtschaftlichen Situation, der geographischen, klimatischen, kulturellen, politischen Situation in ihrem Lebensraum.

Bedeutung der Bezugspersonen

Die Qualität der erlebten Interaktionen mit Bezugspersonen und die aktuelle Lebenswelt spielen in der kindlichen Entwicklung eine herausragende Rolle. Die damit zusammenhängende emotionale Befindlichkeit eines Kindes ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung von Motorik, Wahrnehmung, Kommunikation, Beziehungsverhalten, Kognition.

So steht die Bewegungsentwicklung nicht nur in engem Zusammenhang mit dem Bewegungs- und Lageempfinden. Die Interaktion mit den Bezugspersonen spielt eine große Rolle (z.B. hinwenden, abwenden, suchen, mittun). Kommunikatives Verhalten – nonverbal oder mit Lauten – ist Bewegung. Gefühle lösen Bewegungen aus. Bewegungen sind mit Gefühlen verbunden. Sinneswahrnehmungen führen zu Bewegungen. Bewegungen erlauben neue Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen.

enge Verflechtungen

Petermann et al. (2004, 121) betonen die enge Verflechtung der emotionalen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung. Sie beschreiben, wie Gefühle Denken und Handeln beeinflussen und wie Denken Gefühle mitsteuert. Sie weisen auf die Bedeutung der Sprache für den Ausdruck und die Regulation von Gefühlen hin, aber auch für die kognitive Entwicklung. Für sie ist »Entwicklung ein aktiver Prozess, in dessen Verlauf das Individuum durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt fortschreitend Erkenntnisse aufbaut. ... Bereits der Säugling nimmt Ereignisse nicht passiv zur Kenntnis sondern integriert sie. Diese Interpretation, nicht das Ereignis selbst bestimmen sein Verhalten.«

Lernen

Lernen und Entwicklung sind untrennbar ineinander verflochten. Wygotski beschreibt Lernen als Motor der Entwicklung (nach Miller 1993, 375). Entwicklung wird meist als übergeordneter Begriff gebraucht. Konsens besteht darüber, dass sie in ständiger wechselseitiger Einflussnahme zwischen Kind und Umwelt entsteht (vgl. Largo 1995, 15). Der Begriff Lernen betont mehr den Aspekt der Aneignung. »Lernen bedeutet für ein Kind, sich Fähigkeiten und Wissen auf seine Weise anzueignen« (Largo 1999b, 226). Das Kind möchte die soziale und materielle Welt begreifen, sich mit ihr auseinandersetzen. Es ist neugierig und sucht aktiv nach Erfahrungen. Für ein Kind liegt der Anreiz des Lernens nicht im Endprodukt, in Einsicht oder Wissen, sondern im Lernprozess selbst (vgl. Largo 1999b, 214).

Spitzer betont den Zusammenhang von Lernen und Entwicklung am Beispiel des Laufenlernens (2002, 206): »Allein durch Wachstum und Reifung kommt Laufen nicht zustande. Es bedarf auch der Erfahrung, weswegen man zurecht vom Laufenlernen spricht. Die Möglichkeit, laufen zu lernen, ist angeboren. Sie wird dann zur Wirklichkeit des Laufenkönnens, wenn das Kind zur richtigen Zeit die richtigen Erfahrungen macht. Was wir hier tun können ist die Bereitstellung der geeigneten Rahmenbedingungen.«

Einflussfaktoren

Dichte Vernetzung sowohl innerhalb der Ganzheit des jungen kindlichen Organismus als auch mit allen Einflussfaktoren der Mit- und Umwelt kennzeichnet die grundlegende Entwicklung. Das komplexe Zusammenspiel aller Bereiche ist vielleicht mit Schwingungsfeldern zu vergleichen, die sich gegenseitig beeinflussen. Daher ist Entwicklung durch ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse beeinflussbar. Das muss nicht bedeuten, dass die gesamte Entwicklung beeinträchtigt ist, wenn durch eine Behinderung zum Beispiel die Motorik eingeschränkt ist. Die alte Annahme war, dass bei einer erheblichen Bewegungsbeeinträchtigung von Geburt an sich zum Beispiel Wahrnehmung, Sprache und Kognition nicht altersentsprechend entwickeln können und auch die Emotionalität betroffen ist.

Nach dem heutigen Wissen um die Interaktion und Vernetzung aller Bereiche ist die Erfahrung erklärbar, dass eine Beeinträchtigung in einem Bereich zwar eine Erschwerung ist, aber keineswegs zur Behinderung der Gesamtentwicklung führen muss. Sprachverständnis zum Beispiel ist nicht an die Entwicklung differenzierter Motorik gebunden. Die kognitive Entwicklung wird durch Bewegungsmöglichkeiten sehr erleichtert, da ein Kind dann sehr viele Erfahrungen allein aus eigener Initiative machen kann. Aber schon Wygotski (1974) hat zeigen können, wie sehr die kognitive Entwicklung von der Interaktion mit Bezugspersonen mitgesteuert und angeregt wird.

neue Möglichkeiten

So eröffnet das heutige Verständnis von Entwicklung Therapeuten, Pädagogen, Psychologen wesentlich mehr Möglichkeiten, für Kinder mit Behinderungen förderliche Bedingungen zu schaffen, auch wenn ausgeprägte Behinderungen bestehen bleiben. Da alle Bereiche miteinander vernetzt sind, können Entwicklungsimpulse von jedem Bereich ausgehen und sich auf das Ganze auswirken.

Förderung durch Spielen

Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich bei Palmer (1988, 803f). Er berichtet von einem Projekt. Für Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen wurden unterschiedliche Förderangebote bereitgestellt. Eine Gruppe nahm regelmäßig an krankengymnastischer Übungsbehandlung teil. Eine zweite Gruppe erhielt Spieltherapie. Nach einiger Zeit hatten sich interessanterweise die Kinder der Spieltherapiegruppe motorisch und kognitiv verbessert. Bei den Kindern der anderen Gruppe konnten entsprechende Fortschritte nicht beobachtet werden. Leyendecker erklärt dieses überraschende Ergebnis mit der Bedeutung »sozialemotionaler Bedingungs- und Wirkfaktoren« für die Entwicklung (2000, 55).

2.3 Beziehungen

Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, dass Entwicklungsprozesse bei behinderten wie bei nichtbehinderten Kindern in hohem Maße von psychosozialen Bedingungen abhängen. Die erlebte emotionale und soziale Sicherheit, die Qualität der Beziehungsgestaltung der nächsten Angehörigen mit dem Kind ist die Basis für die Entwicklung und Ausdifferenzierung von Kompetenzen in allen Bereichen. Das geht so weit, dass die Entwicklung bei Kindern mit Behinderungen mehr hiervon abhängt als von bestimmten Therapieverfahren oder Fördermaßnahmen (vgl. z.B. Leyendecker 2000, 48; Largo 1995, Schlack 1995).

Beziehungsgestaltung

Die Interaktionen von Kind und Bezugspersonen sind intensive Austauschprozesse, in denen alle aktiv werden. Das Kind beeinflusst durch sein Dasein, sein Sosein, sein Verhalten, sein Erleben und seine Erfahrungen Eltern, Geschwister und weitere Menschen in seiner Nähe. Die Eltern gestalten die Beziehung auf vielfältige Weise mit. Sie pflegen das Kind, schützen es, sprechen es an, spielen mit ihm, beziehen es in ihr Leben mit ein, ermöglichen ihm Erfahrungen mit Nahem und Fernem, Vertrautem und Unbekanntem.

Ist es ihnen möglich, feinfühlig und mit emotionaler Offenheit auf die kindlichen Bedürfnisse und Impulse einzugehen, gewinnt das Kind Sicherheit für seine Entwicklung. Es ist dann sicher gebunden (vgl. Petermann et al. 2000, 28; Fonagy 2000, 250; Petermann et al. 2003, 42). Es lernt, seine Gefühle und Erfahrungen mitzuteilen, erlebt sich als kompetent, entwickelt ein gutes Selbstkonzept und gestaltet Beziehungen positiv mit.

Abstimmung zwischen Eltern und Kind

Sind die Eltern zu hoch belastet oder zeigt das Kind extreme Verhaltensweisen, gelingt die Abstimmung zwischen Eltern und Kind vielleicht nur unzureichend. Es entsteht dann keine sichere Bindung. Naher zwischenmenschlicher Austausch ist kaum möglich. Unter Umständen entsteht eine übermäßige Wachsamkeit bezüglich des Verhaltens von Bezugspersonen und damit weniger Freiheit in der Beziehungsaufnahme und -gestaltung. Vielleicht werden auch Erleben und Ausdruck eigener Gefühle und Erlebnisse erschwert und die Wahrnehmung unangenehmer Gefühle sensibilisiert. Dabei ist zu beachten, dass die frühen Erfahrungen besondere Bedeutung haben. Das heißt aber nicht, dass schwierige, ungünstige Erfahrungen die Entwicklung unwiederbringlich prägen. Spätere gute Erfahrungen können sie beeinflussen und mildern.

Largo setzt sich in seinem Buch »Kinderjahre« (1999b, 248f) mit der Übereinstimmung zwischen Kind und Mitwelt (Fit) und mit der Situation ungenügender Anpassung der Mitwelt an die Bedürfnisse und Eigenheiten eines Kindes (Misfit) auseinander.

Bei guter Übereinstimmung erlebt das Kind Bedingungen, die ihm entsprechen. Das Kind fühlt sich wohl und aktiv. Es verfügt über ein gutes Selbstwertgefühl. Es macht Erfahrungen von Geborgenheit, von Befriedigung körperlicher und seelischer Bedürfnisse. Es weiß sich sozial angenommen. Es kann Fähigkeiten und Verhaltensweisen selbständig und seinem Entwicklungsstand gemäß erwerben.

Largo (1999b, 249) fasst die Übereinstimmung zwischen Kind und Mitwelt in folgender Skizze zusammen.

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Abbildung 1: Fit, aus Largo 1999b, 249

Mangelnde Übereinstimmung zwischen dem Kind und den Menschen in seiner unmittelbaren Lebenswelt entsteht aus den jeweiligen, bei jedem Kind anderen Gegebenheiten (Misfit s. Largo 1999b, 303).

Vielleicht hegen Eltern übersteigerte Erwartungen an das Kind. Oder sie haben selbst sehr ungünstige Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht und einen problematischen Erziehungsstil entwickelt.

Sozioökonomische Faktoren können eine Rolle spielen wie Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende Kontakte. Hohe Belastungen entstehen Eltern durch körperliche oder psychische Krankheiten, durch sehr schwere Behinderungen des Kindes mit aufreibender Pflege. Anhaltende Familienkonflikte erschweren die feinfühlige Einstellung zum Kind. Trennungserfahrungen durch Krankheit, Krankenhausaufenthalte, Tod von Bezugspersonen, Umzug oder Scheidung wirken sich aus.

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Abbildung 2: Misfit, aus Largo 1999b, 303

Mangelnde Übereinstimmung kann das Wohlbefinden des Kindes und sein Selbstwertbewusstsein beeinträchtigen. Reaktives Verhalten ist möglich zum Beispiel in der Suche des Kindes nach zusätzlicher Nähe und Zuwendung. Auch Verhaltensauffälligkeiten kommen vor. Largo macht nachdrücklich darauf aufmerksam (1999b, 329), dass »jeder Misfit genau so einmalig ist wie das Kind. Die Auflösung eines Misfit ist immer individuell abgestimmt auf die Bedürfnisse und die Eigenheiten des Kindes«.

2.4 Vielfalt

Grenzsteine der Entwicklung

Früher bestand ein großes Interesse daran, was in der Entwicklung von Kindern gleich ist, wann bestimmte Kompetenzen und Verhaltensweisen sicher beobachtbar sind. Daraus wurden Normvorstellungen von Entwicklung abgeleitet. Abweichungen im Sinne von späterem Auftreten eines Könnens wurden kritisch gesehen als mögliche Defizite. Das, was von dieser Betrachtungsweise heute noch Gültigkeit hat, sind die sogenannten »validierten Grenzsteine der Entwicklung« (Michaelis 1994a, 2002). Darunter versteht er Kompetenzen, »die von etwa 90–95 Prozent einer definierten Population gesunder Kinder bis zu einem bestimmten Alter erreicht worden sind«. Es sind »unerlässliche Durchgangsstadien der kindlichen Entwicklung in den westlichen Zivilisationen« (2002, 1). Tabellen mit entsprechenden Grenzsteinen werden bei kinderneurologischen Untersuchungen eingesetzt, um verzögerte Entwicklungen aufzuspüren und weiter zu beobachten. Diagnosen können aber damit nicht gestellt werden (vgl. Michaelis 2002, 1).

Individualität und Vielfalt

Heute steht die Vielfalt in Entwicklungen im Mittelpunkt des Interesses. Insbesondere Largo (1999a b; 2004a-d) ist in seinen Untersuchungen an großen Kindergruppen immer wieder auf dieses Phänomen gestoßen. Es tritt auf verschiedene Weise auf. So beschreibt Largo, dass bestimmte Kompetenzen bei gesunden Kindern zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Entwicklung auftreten. Als Beispiel führt er an, dass Kinder zwischen 10 und 20 Monaten frei gehen lernen. Interessant ist auch, dass die Kinder beim Bewegungslernen Fertigkeiten und Rahmenbedingungen individuell erfinden z.B. wie sie ein Hindernis überwinden oder wie sie in die Aufrichtung kommen. Die ersten Lösungsversuche sind bei den Kindern sehr unterschiedlich. Die reifen Endformen sind sehr ähnlich. Auch der Bewegungsdrang ist unter Kindern individuell ausgeprägt. Es gibt Kinder mit großem und andere mit geringem Bewegungsdrang.

Pikler konnte zeigen (1988, 40, s. Tabelle nächste Seite), dass motorische Entwicklungsdaten auch vom Geburtsgewicht abhängen.

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Abbildung 3: Gewicht und Entwicklung, aus Pikler 1988, 40

Nach Largo (1999a, 25) sprechen manche Kinder schon mit 9 Monaten zwei Wörter, andere erst mit 33 Monaten. Die ersten Zwei-Wort-Sätze werden zwischen 12 und 24 Monaten möglich.

Weitere Beispiele sind die Selbstwahrnehmung im Spiegel (12–30 Monate), der erste Gebrauch des eigenen Vornamens (13–42 Monate) und der Gebrauch der Ichform (24–54 Monate; s. Tabelle, Largo 1999a, 47).

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Abbildung 4: aus Largo 1999a, 47

Largo macht einen deutlichen Unterschied zwischen den Entwicklungssequenzen der Sprachentwicklung und denen der grobmotorischen Entwicklung. Er hat festgestellt, dass die Sequenzen der Sprachentwicklung (verschiedene Laute bilden, erste Wörter sprechen, Zwei-Wort-Sätze äußern) zwar in unterschiedlichem Alter bei den Kindern auftreten, aber stets in der gleichen Reihenfolge (Largo 1999a, 34). Dagegen sind in der grobmotorischen Entwicklung vom Liegen zum freien Gehen nicht nur unterschiedliche Zeiten, sondern verschiedene Abfolgen möglich (Largo 2004a, 129f, s. Skizzen auf der nächsten Seite).

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Abbildung 5: Entwicklung der frühen Lokomotion: Alte Vorstellung, aus Largo 2004a, 129

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Abbildung 6: Entwicklung der frühen Lokomotion: Neue Vorstellung, aus Largo 2004a, 130

Michaelis u.a. zeigen die Variabilität der frühen motorischen Entwicklung an drei Beispielen (1994b, 29).

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Abbildung 7: Interindividuelle Unterschiede, aus Michaelis u.a. 1994b, 29

Während das erste Kind (H.L.) die wesentlichen Kompetenzen nacheinander entwickelt, robbt das Kind H.L. (Rückenlieger), ehe es sicher sitzen kann, und geht mit Hilfe, ehe es selbständig vom Liegen zum Sitzen hochkommt. Das dritte Kind (L.B.) kann sitzen, ehe es sich allein im Liegen drehen kann. Es steht mit Festhalten, ehe es vom Liegen zum Sitzen kommt.

irreführende Normvorstellungen

Die neuen Befunde lassen den Schluss zu, dass kein Entwicklungsmerkmal bei gleichaltrigen Kindern gleich ausgeprägt ist. Largo stellt fest, dass die Vielfalt bei Kindern in jeder Hinsicht so groß ist, dass Normvorstellungen irreführend sind. »Die Vielfalt in ihrem ganzen Ausmaß zu kennen und als biologische Realität zu akzeptieren ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, den individuellen Bedürfnissen und Eigenschaften des Kindes gerecht zu werden« (Largo, 1999b, 44).

2.5 Trauma und Resilienz

In der Zusammenarbeit mit körperbehinderten Kindern ist die Frage der Auswirkung traumatischer Erfahrungen ebenso von Bedeutung wie die Frage nach der inneren Stärke und Widerstandskraft (Resilienz).

traumatische Erfahrungen

Nicht wenige Kinder mit schweren Körperbehinderungen haben traumatische Ereignisse erlebt. Da ist die große Gruppe von Kindern mit frühen traumatischen Hirnschädigungen, die zu schweren Behinderungen geführt haben. Da sind Kinder mit angeborener Querschnittslähmung (Spina bifida), die durch Komplikationen mit dem Hydrocephalusventil oder durch Nierenkomplikationen in Lebensgefahr gerieten. Da sind Kinder, die durch schwere Unfälle eine Querschnittslähmung, ein Schädel-Hirn-Trauma oder Gliedmaßenverluste erlitten haben, Kinder mit erheblichen Verbrennungen, Kinder, die durch extreme Formen von Epilepsie traumatische Zustände erlebt haben. Solche Erfahrungen gehen nicht spurlos vorüber. Durch neurobiologische und neurophysiologische Forschungen konnte gezeigt werden, dass ein Trauma eine bleibende Erhöhung der Empfindlichkeit im emotionalen Gedächtnisspeicher (Amygdala – Mandelkern) des Gehirns zur Folge hat. Ein betroffener Mensch reagiert auf Alltagssituationen dann viel empfindlicher als zuvor. Manchmal erfolgt eine Reaktion sogar dann, wenn in der äußeren Situation scheinbar nichts Gefährliches vorhanden ist.

nachhaltige Spuren

Sehr frühe Traumatisierungen können besonders nachhaltige Spuren hinterlassen. »Weil sich das Gehirn in der frühen Kindheit durch maximale Plastizität und Reizempfänglichkeit auszeichnet, ist die Vulnerabilität des Kindes in diesem Zeitraum ... besonders groß« (Perry in Dornes 2001, 103). Bauer schreibt (2002, 59; vgl. 2004, 52): »Positive oder schmerzhafte Vorerfahrungen lösen sich nicht in Luft auf sondern addieren sich zu gespeicherten Gedächtnisinhalten in Nervenzell-Netzwerken. Sie können einen Menschen zum Beispiel zuversichtlich, vertrauensvoll oder ängstlich werden und zur Resignation neigen lassen.«

Als Spätfolgen von Traumen sind nach Bauer möglich (2002, 212): Angstsymptome, Schreckensbilder, Beeinträchtigungen von Stimmung, Konzentration und Gedächtnisleistungen.

Zu beachten ist, dass die seelischen Auswirkungen eines Traumas auch davon abhängen, welche Beziehungsqualität durch nahestehende Menschen und Pflegekräfte nach dem Trauma vom Kind erlebt werden kann. Angemessene, einfühlsame Zuwendung, achtsame Pflege, Angenommensein, Schutz erleichtern dem Kind die Situation. Alleinsein, Angstreaktionen von Bezugspersonen, Vorwürfe, Aggressionen, Abwendung, Nicht-Beachtung von Grundbedürfnissen verstärken das Erleben des Traumas und seiner Auswirkungen.

Risikofaktoren

Allgemeine Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung werden schon länger diskutiert. Risikomildernde Bedingungen und Resilienzfaktoren sind Gegenstand neuerer Untersuchungen.

Als risikoerhöhende Gegebenheiten gelten heute übereinstimmend für die ersten Lebensjahre (vgl. Petermann et al. 2004, 327f):

Dornes (2001, 103) ergänzt noch Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils, schwere körperliche Erkrankungen der Mutter oder des Vaters; häufig wechselnde frühe Bezugspersonen.

Risiko mildernde Bedingungen

Ebenso wurden risikomildernde Bedingungen ermittelt, die eine positive Entwicklung trotz Vorliegen mehrerer Risikofaktoren erleichtern.

Dornes (2001, 104) und Petermann et al. (2004, 344) nennen unter anderem folgende Gegebenheiten: