TOM DASKE

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1. Auflage 2016

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Nymphenburger Straße 86

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Redaktion: Jana Stahl, Heidelberg

Covergestaltung: Die Botschaft Communications GmbH

Umschlaggestaltung: Melanie Melzer, München

Satz: inpunkt[w]o, Haiger

Druck: Reálszisztéma Dabasi Nyomda Zrt., Ungarn

Printed in the EU

ISBN Print 978-3-86881-606-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-857-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-856-9

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INHALT

PROLOG:

ALLES IST MARKE – UND OHNE MARKE IST ALLES NICHTS

1 DIE NEUEN VERKÄUFER:

VON MENSCH ZU MENSCH

Bauchladenfreie Zone

The Return of the Küchentisch

Verschwiegene Champions: Weniger ist manchmal mehr

Anonymität ist sein Kryptonit

Ein Fenster zur Brand Community

Das neue Verkaufen: Eine Love Affair

Was Ernstes finden: Tipps für beziehungswillige Marken

2 DIE NEUEN ERLEBNISWELTEN:

INTERESSANZ STATT INTERMEZZO

Das Diesel-Leben leben

On Finnishness and beyond: Ein Land für jeden

Seelendiamanten: Auch Weltbürger wollen nach Hause kommen

Bewegen durch Bewegung: Instaconcerts auf dem Gipfel

Meeting Points: Präsentationsflächen ade

Erlebnis-Pull statt Produkt-Push: Bausteine für neue Erlebniswelten

3 DIE NEUEN KOLLABORATEURE:

GOLDENE ALLIANZEN

Neuer Partner, neue Freunde

Kollaboration mit Überraschungseffekt

Neues Spiel, neue Regeln

Das Image neu erfinden

Angst frisst Marke auf

Goldene Bündnisse

Den richtigen Partner finden

Die Kollaboration zum Thema machen

Gemeinsam auffallen: Tipps für Kollaborationen, die Aufsehen erregen

4 AUS KUNDEN WERDEN PARTNER:

WERTE STATT WORTE

Der freizügige Kunde

Ansprüche auf Augenhöhe: Vertrauen ist die neue Währung

The message is personal again

Klischees sind zum Spielen da

Im Boot mit dem Kunden

Rein ins echte Leben

Diplomatie unter Kumpels

No more promises: Tipps für gelingende Vertrauensbildung

5 AUS KOMPETENT WIRD TALENT:

DER REMIX MACHT‘S

Kommunikation ist Geschmackssache

Telefonieren kann das Ding auch

Unser Talent: Deine Kreativität

Back to school

Kommunikation im ReMIX

Das Oldie-Image abschütteln: Tipps für neue Ohrwürmer

6 AUS KAMPAGNEN WERDEN BRANDED STORYS:

GESCHICHTE(N) SCHREIBEN

Shared Value statt Shareholder Value

Ein Role Model etablieren: Der Entrepreneur und die Ziege

Das Produkt immer neu interessant machen: Alles für die blöde Kapsel

An Kunst und Entertainment annähern: Das Genre Markenfilm

Virale Story gleich gute Story?

Der Mythos von der zufälligen Viralität

Warum Branded Storys?

Geschichten erzählen: Tipps für Branded Storys, die Eindruck machen

7 DIE ZUKUNFT GESTALTEN:

AUS KULT WIRD KULTUR

Die Zukunft gestalten: The Sky is the Limit

MarkenKultur statt MarkenKult

Corporate Social Responsibility: Kostenneutral – ergebnisneutral

Ein Spielfeld finden: Relevant ist, was authentisch ist

Das Engagement nutzen: Gutes tun und darüber reden

Die Marke kulturell anreichern: Tipps für die Abkehr vom Markenkult

8 DER BLICK HINTER DIE KULISSEN:

MAKING-OF MARKE

Warum so freizügig?

Im Bett mit deiner Marke

The Big Bang Cookery

Mach dir dein Making-of doch selbst!

Making-of Männertraum

Making-of Motivation

Du bist die Marke!

Making-of Brandship-Faktor: drei Meilensteine der Beziehungsanbahnung

Gestatten: Zukunft. Ihre Zukunft

Backstage mit Bond

9 TATEN STATT WORTE:

DESTINATION DIGITAL

Einfach nur digital?

Einfach nur sinnlos!

Drei Denkfehler bei der Digitalisierung von Marken

Es geht auch zu digital

Die Menschen proaktiv mitnehmen

Den Kunden auf seiner digitalen Reise begleiten: GoPro

Die Perspektive des Digitalen: »Bauer sucht Cloud«

Die eigene Marke digitalisieren: Tipps für nachhaltige Strategien

10 DIE NEUE FREIHEIT:

COMMITMENT DURCH CONTENT

Flexibler Content für unabhängige Marken

Wenn Marken zu Medien werden – und Medien zu Marken

Content Marketing und andere Gütesiegel: Der Weisheit letzter Schluss?

Vom Bittsteller zum Inhaltslieferanten

Mit Content committen: Navigationshilfen am neuen Kommunikationsmarkt

EPILOG:

TRANSFORMATION DURCH TRANSPARENZ

ÜBER DEN AUTOR

Endnoten

GLOSSAR

PROLOG:

ALLES IST MARKE – UND OHNE MARKE IST ALLES NICHTS

 

Kopenhagen ist der ideale Rückzugsort für Brandbuilder. Oder ihre ganz persönliche Vorhölle. Je nachdem, wie Sie dazu stehen, was Werbung heute ist und welche Zwecke sie verfolgt, kann Kopenhagen für Sie eine Inspiration sein oder ein Albtraum.

In Kopenhagen gibt es nämlich keine Werbung. Jedenfalls nicht draußen im öffentlichen Raum. Die dänische Hauptstadt ist quasi eine werbefreie Zone. Nicht durch irgendeinen merkwürdigen Zufall, oder weil die umweltbewussten Dänen keine Bäume mehr für Plakate opfern wollen. Sondern weil die Stadt ihre eigene Marke sein soll, und keine kolossale Werbefläche. Natürlich lebt auch Kopenhagen nicht zuletzt von seinen Marken. Skandinavisches Design ist schon wieder, immer noch, eigentlich immer hipp. Auch viele spannende Werbetrends sind über die Jahre aus Skandinavien zu uns rübergeschwappt – in diesem Buch werden Sie einigen Beispielen begegnen.

Viel spannender für mich als Brandbuilder ist aber die skandinavische Haltung zur Markenkommunikation, die sich zum Beispiel in einer werbefreien Hauptstadt ausdrückt: Wenn alles Marke ist, wozu dann die omnipräsente Werbedröhnung?

Ja ja, doch, ich führe eine Agentur für Markenkommunikation. Nicht trotzdem, sondern genau deshalb finde ich Kopenhagen erholsamer als New York oder Ibiza. Inspirierender sogar. Kopenhagen vermittelt mir einen lebendigen Eindruck davon, wie viel angenehmer ich durch den Tag komme, wenn ich nicht an jeder Hausecke mit Werbung belästigt werde, die mich nicht interessiert und die ich überhaupt nicht sehen will.

Ich will gar nicht leugnen, dass der Ausflug in die werbefreie Zone mich anfangs auch ein bisschen erschreckt hat. Denn er hat mir deutlich vor Augen geführt, wie sehr meine Branche die Menschen nervt. Und ich kann sie verstehen.

In Kopenhagen sind Marken für die Menschen da. Und deshalb oft eben nicht da. Hier ist alles um die Menschen herumgedacht: um die Fußgänger, um die Fahrradfahrer, um die Metro-Nutzer. Hier haben Marken, Märkte, Investoren nicht um jeden Preis die Vorfahrt. Sie integrieren sich so ins Leben der Menschen, wie die Menschen es brauchen. Keine aufdringlichen Verkäufer an jeder Ecke. Nicht auf der Straße, nicht auf Plakaten, nicht auf Häuserwänden. Selbst die Gebäude müssen hier nämlich, per Verordnung, eine visuelle Bereicherung sein. Städtebauliche und anderweitig gesellschaftlich verankerte Projekte sollen für die Allgemeinheit lukrativ und spannend sein, nicht nur für Venture Capital Investment Fonds.

Kopenhagen steht für eine ganz neue Balance zwischen den physischen und gedachten Räumen, die eine Gesellschaft ausmachen. Für ein neues Zusammenspiel zwischen Menschen und Märkten.

In Kopenhagen sind Marken für die Menschen da.

Ich glaube, dass wir alle uns eine neue Balance wünschen. Und ich beobachte jeden Tag, dass sie auch zunehmend eingefordert wird. Die Bedürfnisse, die in Kopenhagen zur Werbefreiheit geführt haben, gibt es nicht nur dort. Auch in Deutschland sind die Menschen genervt von dem, was wir »Werbung« nennen. Nicht immer natürlich, und nicht von allen Werbemaßnahmen gleichermaßen. Aber von der aufgezwungenen Dröhnung, die viele Marken uns immer noch verpassen, als gäbe es keine Alternativen.

Noch kommen viele damit durch. Aber die Zeiten ändern sich. Die Werbewelt ist in einem radikalen Wandel begriffen. Dieser Wandel ist das Thema dieses Buches. Es liefert Antworten auf die Frage, wie Marken in Zukunft erfolgreich kommunizieren.

Natürlich können Sie als Brandbuilder die Meinung vertreten: Warum etwas ändern? Funktioniert doch noch, jedenfalls oft genug. Oberflächlich betrachtet mag das stimmen. Menschen lieben Marken, und die meisten sind bereit, echte Beziehungen zu ihren Marken einzugehen. Was sie allerdings nicht lieben und immer weniger dulden, sind Marken, von denen sie unfreiwillig nach den immer gleichen alten Mustern zugedröhnt werden. Das ist nicht anders als in jeder anderen Beziehung: Wer nervt, fliegt raus.

Und nichts nervt mehr als vieles von dem, was wir früher als »kreativ« bezeichnet haben. Die Tage der Werbung, wie wir sie kannten, sind gezählt. Sie funktioniert nicht mehr.

Die »kreative« Kampagne, der geniale Wurf, das nie dagewesene Key Visual, die Knaller-Idee: Das war früher der heilige Gral der Werber. Wer den Vogel abschoss, oder wenigstens den Melittamann, durfte sich auf den zahlreichen Preisverleihungen der Branche feiern lassen.

Manche Unternehmen glauben bis heute, dass die eine kreative Kampagne reicht, um ein Produkt zu verkaufen und quasi nebenbei die Marke unsterblich zu machen. Und manche Agenturen leben davon – bis heute.

Hinter den Kulissen aber rumort es seit Langem gewaltig. Sowohl bei den Werbern als auch bei den Marken, die allen Grund haben, an der Allmacht des genialen Wurfs zu zweifeln. Weite Teile der Agenturlandschaft fallen seit Jahren schleichend in sich zusammen. Der Albtraum vom Agentursterben sorgt insbesondere bei den Branchenriesen für schlaflose Nächte.

Die Unternehmen haben gemerkt, dass mit den alten Mitteln oft nicht mehr die Marktdurchdringung zu erzielen ist, die den großen Aktivierungskampagnen traditionell zugeschrieben wurde. Was nicht heißt, dass es diese Kampagnen nicht mehr gibt. Es gibt sie nur viel seltener, und es gibt plötzlich so viele andere Möglichkeiten als das politische zentrierte Mediageschäft um die TV-Sendeplätze und das Anzeigengeschäft.

Und warum das alles? Weil das, was wir früher Werbung nannten, weder die Bedürfnisse der Konsumenten noch die Bedürfnisse der Marken zu bedienen in der Lage ist. Einfach nur werben – das reicht nicht mehr. Den Menschen da draußen, den neuen hybriden Kunden, ein Produkt einfach aufdrücken zu wollen, ist immer öfter vergebliche Liebesmüh: Sie lassen sich davon nicht mehr beeindrucken. Sie wollen verstanden werden. Nicht angeworben, sondern ins Bild gesetzt. Über die Marke, über das Warum und Wozu. Sie wollen da kaufen, wo man auf gleicher Wellenlänge ist, wo man sich für sie interessiert, und nicht nur für ihre Kreditkarte.

Weil wir alle vernetzt sind und auch von Marken erwarten, dass sie jederzeit zugänglich sind, kann kein Unternehmen sich diesem Anspruch dauerhaft entziehen. Der Kunde sucht nicht, der Kunde will gefunden werden. Seine Aufmerksamkeit bekommen wir nur, wenn wir ihn mit Content abholen, für den er sich tatsächlich interessiert. Seine Interessen lässt er sich nämlich genauso wenig aufdrücken wie ein Produkt.

Ach so, Content, na dann ist ja gut. Content können wir, wir sind ja kreativ. Pflastern wir das Netz mit Content und machen uns unübersehbar!

Alles, bloß das nicht. An diesem Punkt wird es nämlich interessant: Ja, Marken müssen sich zu erkennen geben, müssen zugänglich und spürbar und offen sein, und sie müssen auf ihre Kunden zugehen. Gleichzeitig dürfen sie eins aber auf gar keinen Fall: aufdringlich sein. Nervige Werbung ist im Zeitalter der Digitalisierung der Todesstoß für das Markenimage. Dabei ist »nervig« gar nicht mal so subjektiv, wie man meinen könnte: Für die Erkenntnis, dass Banner und Pop-ups nerven, brauche ich keine statistische Erhebung.

Und jetzt haben wir den Salat: Auf der einen Seite haben wir es mit aufgeklärten Konsumenten zu tun, die als Kunden in keine Schublade mehr passen und mit den alten Mitteln nicht mehr abgeholt werden können. Alles, was Werbung früher war, schlägt bei diesen Kunden keine Saite mehr an. Marketing und PR, wenn sie sich der gleichen alten Glaubenssätze bedienen, genauso wenig. Und auf der anderen Seite sind wir aufseiten der Unternehmen mit einer wachsenden Zahl von Entscheidern konfrontiert, die das gemerkt haben und nach neuen Lösungen lechzen. Die wollen, dass ihre Marken wieder wahrgenommen werden und den Sprung in die neue Markenwelt schaffen. Das betrifft jeden, der heute mit Aufgaben der Markenkommunikation betraut ist – ob im Unternehmen selbst oder in den Agenturen. Wir haben es mit neuen Anforderungen zu tun, und wir müssen ihnen gerecht werden.

Die neue Markenwelt gibt es nämlich längst.

Die neue Markenwelt gibt es nämlich längst. Wo auch immer Sie gerade sitzen, schauen Sie sich mal um: Ich wette, Sie müssen noch nicht mal den Arm ausstrecken, um mittendrin zu sein in der Markenmatrix. Heute ist alles Marke, und ohne Marke ist alles nichts. Wir sind nicht nur von Marken umgeben, wir sind auch selbst welche. Markenkommunikation ist für viele längst mehr als eine Arbeitstechnik; es ist eine Lebenshaltung geworden. Sich am Markt – an welchem Markt auch immer – durchzusetzen, wird jeden Tag schwieriger, und gleichzeitig jeden Tag begehrlicher.

Egal, ob wir als Brandbuilder extern in Agenturen sitzen, innerhalb eines Unternehmens mit Kommunikationsaufgaben betraut oder als Markenentscheider mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind: Wir brauchen Lösungen, und wir brauchen sie schnell.

Was wir brauchen, ist ein Programm, das wir nicht morgen wieder über Bord schmeißen müssen. Eines, das adaptiv ist und Marken in die Lage versetzt, sich genauso flexibel zu verhalten wie die neuen Konsumenten, ohne dafür jede Woche die Marke neu zu erfinden. Auch darauf stehen die Konsumenten nämlich gar nicht: Genauso wie sie müssen auch Marken dazu stehen, wer sie sind. Sie müssen ihren Markenkern kommunizieren können.

Blöd, wenn man dann nichts zu sagen hat. Ganz blöd auch für den Absatz. Der Kunde will nämlich was hören. Nicht über eure Produkte, liebe Marken, nicht über eure USP. Sondern darüber, was euch mit ihm verbindet. Warum er sich mit euch auf eine Beziehung einlassen sollte. Wenn ihr in sein Wohnzimmer wollt, an seine Wäsche und in sein Bett, dann müsst ihr ihm erst mal den Hof machen. Er mag morgen mit jemand anderem schlafen, aber einziehen darf nur, wer auf seiner Wellenlänge ist. Unter all den austauschbaren Angeboten an den ausdifferenzierten Märkten müssen wir bei ihm die Bereitschaft erzeugen, sich ernsthaft mit euch auseinanderzusetzen, damit er euch richtig kennenlernt. Damit er merkt, dass ihr es ernst mit ihm meint und eine Rolle in seinem Leben übernehmen wollt.

Ihr wollt sein Commitment? Committet euch. Hört auf zu nerven und nur aufzutauchen, wenn ihr was wollt. Übernehmt Verantwortung und lasst euch endlich auf eine echte Beziehung ein: Brandship.

Was brauchen Marken dafür? Die Einsicht, dass wir (fast) alles vergessen müssen, was Werbung früher war. Markenkommunikation ist mehr als ein Satz an Kreativtechniken, nämlich eine Haltung. Brandship ist das Ziel, und es ist auch der Weg. Ein Programm, das im Kern der Marke ansetzt und nach außen abstrahlt. Das hat massive Auswirkungen auf die Anlässe, die Inhalte und die Formen der Kommunikation – und auch auf die Job-Beschreibung all jener, die Markenkommunikation betreiben. Sowohl im Unternehmen als auch in den Agenturen.

Wir brauchen neuen Content für neue Konsumenten – und die Bereitschaft, ständig mit Updates zu experimentieren. Wir brauchen neue Partner – auch und gerade solche, die mit Markenkommunikation eigentlich nichts am Hut haben. Wir brauchen Botschaften – nicht zwingend »neue«, sondern echte. Wir brauchen Geschichten, aber wir müssen sie nicht mehr erfinden. Wir brauchen die Bereitschaft, den Vorhang zu lüften. Wir brauchen neue Verkäufer, die den Kunden neue Erlebniswelten anbieten. Wir brauchen neue Prozesse, die lange vor der eigentlichen Kommunikationsmaßnahme ansetzen. Wir brauchen, ja, auch einen Ansatz fürs Digitale – nur nicht den, nach dem alle gerade verzweifelt suchen. Und wir brauchen neue Talente, die ganz anders kreativ sind als die »Werber« der alten Schule.

Bye, bye, alte Werbewelt! Deine Zeit ist gekommen. Jeder Gassenhauer nervt irgendwann. Wir müssen auf zu neuen Ufern: Werbung, jetzt auch ohne Werbung.

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DIE NEUEN VERKÄUFER:

VON MENSCH ZU MENSCH

 

Gewagte Outfits: High Heels, Neon, Schlangen-Print: Vier Tage lang wurde sie fotografiert und gefilmt, vier Outfits musste sie dafür aus ihrem Schrank fischen. Und Tag für Tag trat die 44-Jährige in gewagteren Kleidern vor die Presse. […] Während sie zum signalroten Dress lilafarbene Pumps kombinierte, fiel ihr Schlangenkleid durch einen neongelb gefärbten Saum auf.1

Da hat jemand der Presse einen echten Hingucker geliefert. Die Fashion-Analyse von Red-Carpet-Events ist ja längst zu einem zentralen News-Genre avanciert. Kaum ein gesellschaftliches Ereignis bleibt davon verschont – ganz gleich, ob Lady Gaga, Michelle Obama oder Uschi Glas über den Filz paradieren. Sogar Oma will das wissen: Was trägt sie heute? Ist sie auf meiner Wellenlänge? Hat sie mir etwas zu sagen?

Die Sache ist nur: Hier geht es nicht um die Fashion Week, nicht um Heidi Klum für Schwarzkopf, ja nicht mal um einen roten Teppich. Der Ausriss stammt aus der Berichterstattung über den Uli-Hoeneß-Prozess im Frühjahr 2014 in München. »Sie« ist kein Model, kein Hollywoodstarlet und auch keine First Lady. »Sie« ist die Judikative.

Richterin Andrea Titz, Gerichtssprecherin des Oberlandesgerichts München, ist die Justitia für das 21. Jahrhundert. Die Frau, die ihren Berufsstand vom Barbara-Salesch-Trauma erlöst. Die Ikone, mit der keiner gerechnet hat, und die genau deshalb gefühlt mehr Neuigkeitswert hat als das vorhersehbare Urteil im Promi-Steuerprozess. Sie steht hinter diesem Urteil, vor der Kamera und für die gerechte Sache, denn die Rechtsprechung vertritt den Willen des Volkes. Andrea Titz verkauft uns diesen Prozess, als ginge er uns wirklich etwas an. Diese Richterin blickt uns in die Augen und spricht Recht. Von Mensch zu Mensch.

Die Justiz ist nicht der einzige Schnittpunkt von Individuum und Gesellschaft, an dem es plötzlich menschelt. Überall poppen Gesichter auf, wo früher Logos waren. In der Werbung sowieso. Doch nicht nur dort. Sogar Google, die omnipotente Datenkrake, verhält sich plötzlich wie ein Welpe mit großen Knopfaugen: Der tut nix, der will nur spielen. Schau, der läuft in deinem Haus rum und schnüffelt an jeder Schublade. Wie kann man da böse sein? Welpen sind so, und trotzdem Teil der Familie. Ist Google auch, mittendrin im Smart Home, und erfreut die Familie mit seiner Anhänglichkeit. Grenzenlos loyal, so ein Hündchen; dem verweigern wir schließlich auch nicht das Futter, wenn er mal Mist baut.

»Sie« ist die Judikative.

Es gibt solche und solche Menschen, und deshalb gibt es auch solche und solche Beziehungsstrategien in der Markenkommunikation. Überall tauchen sie auf, diese neuen Verkäufer, manche aggressiv oder direkt und manche ganz subtil.

Was tragen sie? Sind sie auf unserer Wellenlänge? Was haben sie uns zu sagen?

BAUCHLADENFREIE ZONE

Offensichtlicher ist, was die neuen Verkäufer uns nicht zu sagen haben: Sie reiben uns keine Produkte mehr unter die Nase. Oft treten sie uns mit leeren Händen unter die Augen. Stattdessen blicken sie tief hinein, als wollten sie suggerieren: Alles, was du wissen musst, steht mir ins Gesicht geschrieben.

Und tatsächlich: Oft steht es da, mehr oder weniger unmissverständlich, manchmal auch nur dem treuen Follower zugänglich. Nichts ist so aufreizend subtil wie eine stille Übereinkunft. Um USP, Schwarz auf Weiß und mit Soundeffekt, geht es dabei nicht. Andrea Titz kommt in Rot und mit einer Botschaft. Angelina Jolie, UNICEF-Botschafterin und Übermutter, in Schwarz – und mit einer Botschaft. TechNick kommt mit Bart – und einer Botschaft.

Die mehr oder weniger konsequente Produktlosigkeit ist der augenfälligste Unterschied zu den alten Verkäufern, denn die waren stets mit Bauchladen unterwegs. Heidi Klum mit schussbereiter Spraydose. George Clooney mit dem Espresso in der Hand. Barbara Schöneberger hat für die Backstage-Schwofe zwischendurch immer den Kartoffelsalat in der Handtasche.

Und Andrea Titz hat immer was an, aber darum geht es nicht. Angelina Jolie hat manchmal wenig an, doch das ist nicht der Punkt. Emma Watson hat Stil, doch vor allem hat sie eine Meinung. Die Brand Ambassadors sind nicht wegen des Geldes gekommen, sondern wegen der Aufmerksamkeit für ihre Botschaft.

Das ist der New Deal zwischen Marken und ihren Botschaftern: ehrliche Identifikation und glaubhaftes Engagement gegen Plattform und Öffentlichkeit. Die unschätzbare Rendite aus diesem Deal ergibt sich für beide Seiten von selbst – durch den Faktor Publicity.

Infolge der Inflation des Star-Begriffs eignen sich heute bei Weitem nicht nur Promis als Markenbotschafter. Im Gegenteil: Normalos menscheln leichter. Oft braucht es gerade kein bekanntes Gesicht, sondern die Familie von nebenan, der wir beim Frühstück durch die Terrassentür zuschauen können. Schwere Zeiten für Stars und Sternchen.

THE RETURN OF THE KÜCHENTISCH

Nichts ist sozialer als Essen. Unsere Mahlzeiten teilen wir mit Menschen, die uns wichtig sind – ganz besonders beim Familienfrühstück. Wer Zugriff auf unser Frühstück hat, gehört praktisch zur Sippe. Für eine Marke im Frühstücksbusiness ist das eine Steilvorlage.

Bei Nutella, der Frühstücksmarke schlechthin, übernimmt die Ansprache von Mensch zu Mensch seit 2011 die Nutella-Familie – vier Menschen wie du und ich, die sich eigentlich nur durch ihre sympathische Durchschnittlichkeit auszeichnen. Die Normalos lösten einen prominenten Markenbotschafter ab: die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Ein Rückschritt, könnte man meinen. Doch die Werbewelt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Immer mehr Marken definieren sich nicht mehr ausschließlich über Awareness, sondern zusätzlich immer häufiger über die Nähe zum Kunden. Die Abkehr vom bekannten Promi-Gesicht und die Hinwendung zum vertrauten Gesicht von nebenan ist für viele Marken ein logischer Schritt auf diesem Weg. Das Mantra lautet nicht mehr: Kenn ich, kauf ich, sondern: Glaub ich, kauf ich. Glaubwürdigkeit ist nicht mehr Kür, sondern Pflicht, wenn eine Marke bei mir mit am Küchentisch sitzen will. Wie realistisch ist schließlich die Vorstellung, sich morgens mit Manuel Neuer ums Nutella-Brot zu streiten?

Das bigger nicht better ist, wenn es ums Essen geht, haben auch andere Marken inzwischen realisiert. Die industrielle Abstraktion, die die Nahrungsmittelbranche in den vergangenen Jahrzehnten geprägt hat, ist mit den neuen Ansprüchen der Konsumenten an ihre Ernährung nicht mehr kompatibel. Schon gar nicht mit der Renaissance der sozialen Funktion von Mahlzeiten. Die Unzahl von Kochshows im Fernsehen, deren Hauptprotagonisten oft gerade nicht prominent sind, ist dafür nur ein Indiz.

Ein anderes sind die zahllosen Ausprägungen des Food Socializings, allen voran das Konzept der Running Dinners: Zum Teil wildfremde Menschen nehmen jeweils einen Gang bei einem Gastgeber ein, bevor sie aufstehen und den nächsten Gang gemeinsam bei einem anderen Teilnehmer serviert bekommen, und so weiter. Das Essen ist der Star, doch die Verbindung entsteht durch die Begegnung am Esstisch. Die Nutella-Familie setzt auf denselben Effekt. Gemeinsam essen heißt: auf derselben Wellenlänge sein.

Auf die Intimität der Ernährung setzt auch ein Konzept, das erst kürzlich aus Frankreich nach Berlin Kreuzberg geschwappt ist: der Bauernmarkt 2.0.2 Er steht für die Aufhebung der industriellen Abstraktion der Nahrungsmittelkette durch die Wiederannäherung zwischen Konsument und Erzeuger. Über Jahre war die Präsenz der Lebensmittelkonzerne in den Medien vor allem von wechselnden Skandalen geprägt, die so gar nicht zu den hübschen, stilisierten Kampagnen passen wollten. Wer sollte angesichts Schweinepest-News und Vogelgrippe-Schlagzeilen noch die Mär vom glücklichen Schwein glauben, dass rosa und gesund über eine grüne Wiese bummelt? Die Konsumenten wendeten sich ab. Seitdem rücken immer mehr neue Erzeuger nach und drängen in die Vertrauenslücke. Für große Lebensmittelkonzerne mit Massenproduktion dagegen wird es immer schwerer, kritische Konsumenten davon zu überzeugen, dass ihre Produkte gesundheitlich unbedenklich, landwirtschaftlich nachhaltig und ethisch vertretbar sind. Selbst Johannes B. Kerner hat nach acht Jahren eingesehen: Gutfried kann gar nicht gut für mich sein.

Vorhang auf für die neuen Bauern: Der Bauernmarkt ist wieder da. Nur anders als früher, ökologischer als je zuvor und verdammt modern. Die neuen Lebensmittelverkäufer setzen auf das uralte Hand-in-Hand-Prinzip der Nahrungsmittelkette.

»Im Grunde handelt es sich um Netzwerke, innerhalb derer Leute mit den gleichen Interessen zusammenfinden und sich mit guten, sauberen und fairen Lebensmitteln versorgen. Sie sind Teil einer neuen Esskultur, zu der ein Hobby namens Genuss gehört und die das Lebensmittelhandwerk, Hofläden sowie Markthallen wiederentdeckt. Das Internet hilft dabei.«3

Das Internet? Ja, genau. Zu den erfolgreichsten Modellen unter den transparenten Erzeugern gehört Food Assembly. Letztlich handelt es sich um einen Onlineshop – nur dass man nicht bei unbekannten Lieferanten einkauft, sondern direkt bei Bauern aus dem Umland. Die online bestellten und online bezahlten Lebensmittel landen an einem Versammlungspunkt um die Ecke, wo man sie beim wöchentlichen Zusammentreffen, »moderiert« von einem Gastgeber, persönlich abholen kann. »Gib deinem Bauern die Hand!« ist das Motto der Plattform.4

Vom Bauern direkt in den Einkaufskorb – kürzer könnte der Draht für den anspruchsvollen Städter nicht sein. 2010 in Frankreich gegründet, hat das Netzwerk heute europaweit bereits über 100.000 Mitglieder.5 Schon elf Anlaufstellen gibt es in Deutschland, wo das Modell erst kürzlich gestartet ist; allein in Berlin sind bereits sieben weitere im Aufbau. Vorteil für die Bauern: Im Vergleich zu den winzigen Margen, die sie von Großkonzernen bekommen, können sie bei der Assembly Mindestbestellmengen festlegen und so sicherstellen, dass der Deal sich lohnt. Für den Konsumenten wird es im Schnitt trotzdem nicht teurer als im Bio-Supermarkt. Lange Transportketten entfallen, die Produkte sind nie weiter als 250 Kilometer gereist. Das Modell treibt die Forderung nach Nachhaltigkeit auf die Spitze.

Vor allem aber überzeugt es die Kunden durch Glaubwürdigkeit, denn die Interaktion findet hier wieder mit Augenkontakt statt: »Dadurch, dass beim Treffen selbst kein Geld im Spiel ist, steht der persönliche Kontakt im Vordergrund, der Austausch«, wird Geschäftsführer Blumenthal Vargas zitiert.6

Das Essen kennenlernen und sich über das Essen kennenlernen: Die neuen Direktverkäufer sind am Puls der Zeit. Sie nutzen die Möglichkeiten, die das Netz bietet, und konzentrieren sich dafür wieder auf ihre Kernkompetenz: gutes Essen auf die Tische der Community zu bringen. Wie früher im Dorf. Erzeugerhandel mit Socializing-Bonus – wie damals, als Oma die Eier noch vom Bauern holte und einen Plausch über die Ernte hielt. Von Mensch zu Mensch, und doch ganz 2015.

Die Lebensmittelgroßkonzerne wiederum müssen sich einiges einfallen lassen, um dem Bedürfnis nach Nähe seitens der Kunden zu entsprechen. Coca-Cola hat sich damit zunächst erkennbar schwer getan und ringt noch um eine passende Strategie. Die Marke verliert seit Jahren kontinuierlich an Relevanz. Sie kann die Menschen nicht mehr in derselben Form erreichen wie früher, als Awareness ausreichte. Der Grund ist das McDonald’s-Syndrom: Nahrungsmittel, die die neuen Standards bewusster Ernährung nicht mehr erfüllen, sind bei der wachsenden Zahl der bewussten Esser ganz einfach out. »Genuss mit gutem Gewissen«: So ließe sich das Kriterium umschreiben. Da hat McDonald’s ein Problem, und deshalb seit einiger Zeit Salate. Coke hat ein ganz ähnliches Problem – böser Zucker und so. Und deshalb Coke Zero, für die dann auch der Supersportler Manuel Neuer werben muss.

Nur wird aus Coke auch ohne Zucker kein gesundes Nahrungsmittel mehr. Nicht einmal mit Stevia – dem letzten Hilfeschrei im Sortiment. Die Menschen müssen anderswo andocken, so wie bei Nutella. Coca-Cola muss jedoch zurück an den Küchentisch, wenn die Umsatzzahlen stimmen sollen. Dahin, wo man noch von Mensch zu Mensch spricht. Offline, quality time, Coke auf dem Tisch. Das ist schön. Das menschelt sogar in Muttis Augen ganz herrlich, und die macht schließlich den Einkaufswagen voll.

So zeitgemäß diese Erkenntnis der Coke-Strategen ist: Die Umsetzung ließ bislang noch zu wünschen übrig. Der Multi-Konzern hat also herausgefunden, dass Menschen es gern gesellig haben und Essen mehr ist als Nahrungsaufnahme. Nur versteht der Konsument nicht, was er mit dieser Marktforschungsübersetzungsinitiative in ihrer aktuellen Form anfangen soll. Sich mit einer Kampagne anzubiedern, bei der statt des Coke-Logos statistisch signifikante Vornamen auf der Dose prangen – »Trink ‘ne Coke mit Stefan!« – tut nichts für die nachhaltige Kundenbindung, auch wenn es einen momentanen Kaufimpuls erzeugt. Dass die Dosen weggingen wie warme Semmeln, liegt an ihrem Gag-Faktor und ihrem viralen Potenzial. Für die Absicht, den Anker in der Mitte der Gesellschaft zu werfen, tut die Aktion eher wenig. Der Vorname hätte auch auf jeder anderen Dose, auf jeder Zigarettenschachtel und auf jeder Packung Kaugummi stehen können; die Strategie erzählt mir nichts über die Marke.

Ausgerechnet Nutella versuchte sich an der gleichen Idee, hat in der Umsetzung jedoch weiter gedacht: Der TV-Spot mit dem jüngsten Spross der Nutella-Familie, der für jede seiner Freundinnen ein personalisiertes Etikett aufs Glas klebt, erzählt immerhin eine Geschichte aus dem (Familien-) Leben.

VERSCHWIEGENE CHAMPIONS: WENIGER IST MANCHMAL MEHR

Keine Marke ist näher ans uns dran als eine, über die wir in Verbindung bleiben. Eine Marke, über die wir unsere Kommunikation abwickeln, ist mit besonderen Ansprüchen konfrontiert: Sie soll uns das Quasseln so einfach wie möglich machen und ja keine Silbe verschlampen, dabei aber bloß nicht mithören. Der Whatsapp-Datenskandal hat gezeigt: Wenn es um die Privatsphäre geht, dürfen nicht die Daten der User im Mittelpunkt stehen, sondern die Sicherheit. Online-Artikel über die Privacy-Einstellungen bei Facebook haben mehr Klicks als jene über die europäische Finanzkrise.

Wir wollen dem vertrauen können, dem wir unsere Geheimnisse anvertrauen, um sie unseren Freunden anzuvertrauen. Am besten macht sich der Bote dabei so schlank wie eine unschuldige weiße Brieftaube. Je größer die Company, desto größer die Sorge: Die machen ihre Millionen doch mit meinen Daten! Seit sich herausgestellt hat, dass die amerikanische National Security Agency (NSA) von den meisten (amerikanischen) IT-Konzernen mit Daten beliefert wurde oder wird, ist die Skepsis noch mehr gewachsen.

Wie kann ein Unternehmen kommunizieren, um an diesem Markt Vertrauen zu gewinnen und Menschen zu binden? Die Antwort liefert der größte Gewinner des Whatsapp-Skandals, der Schweizer Chatprovider Threema: so wenig wie möglich.

Je größer, präsenter und protziger, desto verdächtiger. Je schlanker, unauffälliger und seriöser, desto sicherer. Die Kommunikation »von Mensch zu Mensch« ist bei Threema. keine Strategie, sondern das Produkt. Und deshalb hält Threema sich zurück, um nicht zu stören. Die Schweizer konzentrieren sich auf ihre Kernkompetenz: Verschlüsselung. Sicherheit. Seriosität. Swissness. »Seriously secure messaging.«7 lautet der Claim, und endet mit einem Punkt, wie auch der Firmenname. Kein Fragezeichen, kein Ausrufungszeichen, ein Punkt. Ganz sachlich. Ganz klar. Keine Fragen.

Die Website der Schweizer8 fällt entsprechend neutral aus: Fast vollständig in schwarz-weiß gehalten, spiegelt sie die minimalistische Philosophie der App: Wir sind keine Plaudertaschen. Nur das Nötigste, ein paar Sätze über Qualität und Verlässlichkeit, ansonsten dicke Mauern. Für die Presse und den anspruchsvollen Sicherheitsfanatiker gibt es statt großspurigen Referenzen ein Whitepaper über Kryptografie.9 Botschaft: Wir wissen, was wir tun.

Fast der einzige Farbtupfer auf der Präsenz: das Schweizerkreuz. Es steht neben dem Satz: »Made in Switzerland.« Heißt: Server in der Schweiz, Software aus der Schweiz. Eine sichere Bank.

Auch die User-Experience zielt auf die Begegnung von Mensch zu Mensch, bewacht von der Schweizer Informatikergarde: Die Threema-ID unserer Kontakte scannen wir von deren Bildschirm, bei der nächsten persönlichen Begegnung. Erst dann bekommen sie drei grüne Punkte, die höchste und für alle User sichtbare Sicherheitsfreigabe. Nicht einmal der Serverbetreiber kann mitlesen, so sicher ist die Verschlüsselung.

Presseabteilung? Ein PDF auf der Website reicht. Marketing? Wird nicht gebraucht. Die Visitenkarte von Threema ist die Mensch-zu-Mensch-Propaganda der Sicherheitsfanatiker nach jedem neuen Datenskandal. Die schweigsamen Schweizer sind die perfekten Boten. Sie sind gar nicht da. Das Menscheln überlassen sie uns. Und doch hat der Nutzer das Gefühl, als könne er sie sehen: eine Handvoll perfektionistische McGyvers mit Schweizermessern in Karohemden hinter der stahlbewerten Tür des Serverraums mit drei Meter dicken Mauern. Mit ernstem Gesicht klicken sie schweigend vor sich hin. Notfalls verteidigen sie ihre Server-Höhle mit den Flinten unter ihrem Bett, das gleich neben den Servern steht. Wie das bei den Schweizern so üblich ist. Das ist mein Grundstück.

Wem vertraue ich mein Liebesgeflüster und andere Interna an: Den verschwiegenen Schweizern oder den Datensammlern und NSA-Handlangern? Klare Sache: Denen, die im Zweifel dichthalten. Sagten sich (und einander flüsternd in allerlei Foren) Zigtausende Nicht-unbedingt-gleich-Verschwörungstheoretiker, als das laute, neongrüne, großspurige Whatsapp eine Sicherheitslücke einräumen musste. Sagte auch die Stiftung Warentest, die bei einem Vergleichstest von Chat-Apps einzig Threema als unkritisch einstufte.10 »WhatsApp in der Vertrauenskrise«, stellte die Presse aus diesem Anlass fest.11 Daten sind nicht mehr egal, und werden es immer weniger sein.

Vertrauen, von Mensch zu Mensch, erwirbt man in der Krise. Manchmal ist Schweigen vertrauensseliger als Reden. Wie es ein guter Freund tun würde, wenn es drauf ankommt: Keine Sorge, bleibt alles unter uns. What happens in Switzerland stays in Switzerland.

Der Null-Ansatz von Threema ist eine Ausnahmeerscheinung der Markenkommunikation – und doch ein Best-Practice-Beispiel für glaubwürdige Kundenbindung. Es gibt Zielgruppen, die erreicht man am besten, indem man die Klappe hält.

ANONYMITÄT IST SEIN KRYPTONIT

Die Klappe zu halten ist nicht jedermanns Sache. Einer wie Richard Branson, omnipotenter Gründer des Virgin-Imperiums und einer der bekanntesten Unternehmer auf dem Planeten, fällt genau dadurch positiv auf, dass er nicht die Klappe hält. Er ist sein eigener Verkäufer. Obwohl inzwischen einer der alten Hasen des Großkapitalismus, menschelt er auf seine eigene Art wie kein Zweiter – und sehr zeitgemäß. Sein Name und sein Gesicht reichen aus, um von Handyverträgen über Flugtickets bis hin zu Weltraumreisen alles zu verkaufen, ohne sich wie ein Verkäufer aufzuführen.

Branson, der Milliardär mit Privatinsel, ist einer von uns. Verrückt, oder? Er kann, was nicht einmal Steve Jobs konnte: Seine eigene Ikone sein, ohne zu mauern. Er ist die Virgin Group, oder »Virgin Family«, wie er sein Unternehmenskonsortium nennt. Mit dem Nachteil, dass Virgin Enterprises ohne ihn nichts ist, denn er ist auch die Story. Der Brite ist immer mitten im Geschehen: Wenn es Rekordzahlen zu verkünden gilt und auch, wenn eine seiner Unternehmungen den Bach runtergeht.

Als am 31. Oktober 2014 Bransons Lieblingsprojekt bei einem Testflug abstürzt, leidet keiner mehr als sein Schöpfer. SpaceShipTwo, ein lang gehegter Traum des Exzentrikers, endet als Trümmerhaufen in der Mojavewüste. Der Kopilot kommt ums Leben, der Pilot wird schwer verletzt. Die Bilder gehen um die Welt; der Schriftzug »Virgin Galactic« auf den Fotos ein dramatisches Symbol gescheiterten Unternehmertums. Ein herber Rückschlag für Bransons ehrgeizigstes Projekt. Mindestens 700 Neugierige hatten sich bereits für einen 250.000-Dollar-Weltraumflug angemeldet, darunter Brad Pitt.12

Branson reagiert, natürlich persönlich. Nur Stunden nach dem Absturz tritt er live in der Mojave-Wüste vor die Presse – betroffen, doch aufrecht. In seinem Statement13 spricht er über die Risiken der Raumfahrt, über den Mut der verunglückten Piloten. Vor allem jedoch spricht er über Gemeinschaft: »together« ist, gleich nach »we«, das häufigste Wort in seinem Statement. Und Gemeinschaft heißt bei Branson nicht weniger als »the world at large«: »Wenn ich jeden einzelnen Menschen umarmen könnte, der im Laufe des vergangenen Tages Botschaften der Liebe, der Unterstützung und des Verständnisses gesendet hat, würde ich es tun.«14 Geduldig stellt er sich den Fragen, wendet sich gezielt an die Öffentlichkeit, will reden. Der CEO von Virgin Galactic muss ihn schließlich regelrecht vom Mikrofon wegzerren. Branson hat noch etwas Wichtiges vor: Er will persönlich mit seinen 400 Angestellten in der Mojave-Wüste sprechen.

Andere hätten sich angesichts dieses Desasters versteckt und einen Sprecher vorgeschickt. Bei Branson läuft alles über den direkten Draht. Sein Projekt, seine Verantwortung, seine Tragödie. Er spricht zu den Familien, zu den Angestellten, zu den Journalisten, zu den Kunden. Über den Erfolg und über das Scheitern. Der Mann scheint keine Geheimnisse zu haben. Und deshalb hören wir ihm zu.

Ob Kunden, die sich für einen Raumflug registriert hatten, nun abspringen würden, wird er an jenem Tag in der Wüste gefragt. »Einen oder zwei mögen wir verlieren, aber es sieht nicht danach aus«, sagt er. »Jemand hat sich bewusst gestern als Astronaut angemeldet, um das Programm jetzt zu unterstützen.«15 Dieser eine stützt ihn, dieser eine gibt ihm Kraft. Dieser eine – Kunde.

Man würde sich nicht wundern, wenn er mit jedem der 700 Kunden von Virgin Galactic schon mal einen trinken war. In nichts als Badeshorts gekleidet, so wie er Kamerateams auf seiner Insel herumführt. Als Branson nach dem Absturz von SpaceShipTwo einräumen muss, dass er dem verstorbenen Testpiloten nie begegnet war, ist das für ihn sichtlich der schwerste Moment der ganzen Pressekonferenz. Anonymität scheint sein Kryptonit zu sein.

Branson kann nur persönlich. Gut für ihn, gut für all seine Unternehmen. Jedoch: Kein Branson, keine Story, kein menschlicher Ankerpunkt mehr. Die Genies hinter der Marke, Menschen wie Jobs und Branson sind unter all den neuen Verkäufern die mit der größten Anziehungskraft und dem stärksten Bindungspotenzial. So lange, wie sie da sind. Danach wird es ungleich schwerer für ihre Marken, denn die müssen sich neu erfinden, wenn es ihnen plötzlich an ihrer Persönlichkeit fehlt. Anonymität ist ihr Kryptonit.

EIN FENSTER ZUR BRAND COMMUNITY

Kontinuität im Markenkern – früher hieß das einmal Tradition – wird immer wichtiger, denn sie ist eine Grundbedingung von Glaubwürdigkeit. Deshalb legen immer mehr Marken großen Wert darauf, die richtigen Menschen aus den richtigen Gründen einzustellen. Die besten Markenbotschafter sind schließlich die eigenen Angestellten. Transparenz an den Märkten bringt Transparenz am Arbeitsplatz mit sich. Die Kommunikation eines Unternehmens geht vielerorts längst weit über den nächsten Flight und die nächste Pressemitteilung hinaus. Und deshalb sitzen oder stehen die neuen Verkäufer immer öfter auch an Orten, wo man sie gar nicht erwarten würde. Zum Beispiel in der IT oder am Fließband.

Wie groß das Interesse an den Menschen hinter der Marke ist, zeigt die Entwicklungsgeschichte des Daimler-Blogs.16 Die Kommunikation dieser Marke war jahrzehntelang an Figuren wie Formel-1-Fahrer und andere qualitätsaffine Hochleistungssportler geknüpft. Doch im Zeitalter der Vernetzung bleibt nicht einmal ein Mythos wie der des silbernen Sterns von den Erfordernissen des Employer Branding verschont. Kein Markenauftritt ist komplett ohne Einblicke in das Unternehmen selbst und Zugriff auf seine Menschen, die Ausführenden hinter dem Logo.

Kontinuität im Markenkern wird immer wichtiger.

Genau die sind die Absender beim Daimler-Blog, denn es sind in erster Linie Mitarbeiter aus den verschiedenen Abteilungen, die hier über ihre Projekte und Erlebnisse bloggen. Vom Praktikant über den Werksmitarbeiter bis zum Abteilungsleiter. Etwa 20 Prozent der Artikel verfassen Mitarbeiter sogar aus eigener Initiative, für die übrigen Beispiele sprechen die Macher gezielt Mitarbeiter an.17

Als Daimler den Blog 2007 schaltete, weil man das damals eben so machte, war er noch eher als sekundärer Verwertungskanal für Storys gedacht, die es nicht in die Berichterstattung der konventionellen Medien schafften. Der Gedanke, die Öffentlichkeit hinter die Kulissen blicken zu lassen, war damals schon da. Nur rechnete niemand damit, dass dieser Kanal sich als Zukunftsmotor für das Unternehmen erweisen würde. Die Überraschung kam gleich nach dem Launch: »Die Rubrik Einstieg und Karriere war von Anfang an die beliebteste inhaltliche Kategorie des Blogs«, zitiert t3n Uwe Knaus, Manager Corporate Blogging & Social Media Strategy bei Daimler.