Paul Heyse

Andrea Delfin

Eine venezianische Novelle

Paul Heyse

Andrea Delfin

Eine venezianische Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-74-8

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Inhaltsverzeichnis

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4

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1

In je­ner Gas­se Ve­ne­digs, die den freund­li­chen Na­men Bel­la Cor­te­sia trägt, stand um die Mit­te des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ein ein­fa­ches, ein­stö­cki­ges Bür­ger­haus, über des­sen nied­ri­gem Por­tal, von zwei ge­wun­de­nen höl­zer­nen Säu­len und ba­rockem Ge­sims ein­ge­rahmt, ein Ma­don­nen­bild in der Ni­sche thron­te und ein ewi­ges Lämp­chen be­schei­den hin­ter ro­tem Glas her­vor­schim­mer­te. Trat man in den un­te­ren Flur, so stand man am Fuße ei­ner brei­ten, stei­len Trep­pe, die ohne Win­dung zu den obe­ren Zim­mern hin­auf­führ­te. Auch hier brann­te Tag und Nacht eine Lam­pe, die an blan­ken Kett­chen von der De­cke her­ab­hing, da in das In­ne­re nur Ta­ges­licht ein­drang, wenn ein­mal die Haus­tür ge­öff­net wur­de. Aber trotz die­ser ewi­gen Däm­me­rung war die Trep­pe der Lieb­lings­auf­ent­halt von Frau Gio­van­na Da­nie­li, der Be­sit­ze­rin des Hau­ses, die seit dem Tode ih­res Man­nes mit ih­rer ein­zi­gen Toch­ter Ma­ri­et­ta das er­erb­te Häu­schen be­wohn­te und ei­ni­ge über­flüs­si­ge Zim­mer an ru­hi­ge Leu­te ver­mie­te­te. Sie be­haup­te­te, die Trä­nen, die sie um ih­ren lie­ben Mann ge­weint, hät­ten ihre Au­gen zu sehr ge­schwächt, um das Son­nen­licht noch zu ver­tra­gen. Die Nach­barn aber sag­ten ihr nach, dass sie nur dar­um von Mor­gen bis Abend auf dem obe­ren Trep­pen­ab­satz ihr We­sen trei­be, um mit je­dem, der aus- und ein­gin­ge, an­zu­bin­den und ihn nicht vor­über­zu­las­sen, ehe er ih­rer Neu­gier und Ge­sprä­chig­keit den Zoll ent­rich­tet habe. Um die Zeit, wo wir sie ken­nen ler­nen, konn­te die­ser Grund sie schwer­lich be­we­gen, den har­ten Sitz auf der Trep­pen­stu­fe ei­nem be­que­men Ses­sel vor­zu­zie­hen. Es war im Au­gust des Jah­res 1762. Schon seit ei­nem hal­b­en Jahr stan­den die Zim­mer, die sie ver­mie­te­te, leer, und mit ih­ren Nach­barn ver­kehr­te sie we­nig. Dazu ging es schon auf die Nacht, und ein Be­such um die­se Zeit war ganz un­ge­wöhn­lich. Den­noch saß die klei­ne Frau be­harr­lich auf ih­rem Pos­ten und sah nach­denk­lich in den lee­ren Flur hin­ab. Sie hat­te ihr Kind zu Bett ge­schickt und ein paar Kür­bis­se ne­ben sich ge­legt, um sie noch vor Schla­fen­ge­hen aus­zu­ker­nen. Aber al­ler­lei Ge­dan­ken und Be­trach­tun­gen wa­ren ihr da­zwi­schen ge­kom­men. Ihre Hän­de ruh­ten im Schoß, ihr Kopf lehn­te am Ge­län­der, es war nicht das ers­te Mal, dass sie in die­ser Stel­lung ein­ge­schla­fen war.

Sie war auch heu­te nahe dar­an, als drei lang­sa­me, aber nach­drück­li­che Schlä­ge an die Haus­tür sie plötz­lich auf­schreck­ten. »Mi­se­ri­cor­dia!«,1 sag­te die Frau, in­dem sie auf­stand, aber un­be­weg­li­che ste­hen blieb, »was ist das? Hab’ ich ge­träumt? Kann er es wirk­lich sein?«

Sie horch­te. Die Schlä­ge mit dem Klop­fer wie­der­hol­ten sich. »Nein«, sag­te sie, »Orso ist es nicht. Das klang an­ders. Auch die Sbir­ren2 sind es nicht. Lass se­hen, was der Him­mel schickt.« – Da­mit stieg sie schwer­fäl­lig hin­un­ter und frag­te durch die Tür, wer Ein­lass be­geh­re.

Eine Stim­me ant­wor­te­te, es ste­he ein Frem­der drau­ßen, der hier eine Woh­nung su­che. Das Haus sei ihm gut emp­foh­len; er hof­fe, lan­ge zu blei­ben und die Wir­tin wohl zu­frie­den zu stel­len. Das al­les wur­de höf­lich und in gu­tem Ve­ne­zia­nisch vor­ge­tra­gen, so dass Frau Gio­van­na, trotz der spä­ten Zeit, sich nicht be­dach­te, die Tür zu öff­nen. Der An­blick ih­res Gas­tes recht­fer­tig­te ihr Ver­trau­en. Er trug, so­viel sie in der Däm­me­rung se­hen konn­te, die an­stän­di­ge schwar­ze Klei­dung des nie­de­ren Bür­ger­stan­des, einen le­der­nen Man­tel­sack un­ter dem Arm, den Hut be­schei­den in der Hand. Nur sein Ge­sicht be­frem­de­te die Frau. Es war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dun­kel­braun, die Stirn fal­ten­los, die Au­gen feu­rig, da­ge­gen der Aus­druck des Mun­des und die Art zu spre­chen müde und über­lebt, und das kurz ge­scho­re­ne Haar in selt­sa­mem Ge­gen­satz zu den noch ju­gend­li­chen Zü­gen völ­lig er­graut.

»Gute Frau«, sag­te er, »ich habe Euch schon im Schla­fe ge­stört, und so­gar viel­leicht ver­ge­bens. Denn, um es gleich zu sa­gen, wenn Ihr kein Zim­mer habt, das auf einen Kanal hin­aus­geht, bin ich nicht Euer Mie­ter. Ich kom­me von Bre­s­cia, mein Arzt hat mir die feuch­te Luft Ve­ne­digs emp­foh­len für mei­ne schwa­che Brust; ich soll überm Was­ser woh­nen.«

»Nun Gott sei Dank!«, sag­te die Wit­we, »so kommt doch ein­mal ei­ner, der un­se­rem Kanal Ehre an­tut. Ich hat­te einen Spa­nier vo­ri­gen Som­mer, der aus­zog, weil er sag­te, das Was­ser habe einen Ge­ruch, als wä­ren Rat­ten und Me­lo­nen dar­in ge­kocht wor­den! Und Euch ist es emp­foh­len wor­den? Wir sa­gen wohl hier in Ve­ne­dig:


Was­ser vom Kanal.
Ku­riert ra­di­kal.

Aber es hat einen ei­ge­nen Sinn, Herr, einen bö­sen Sinn, wenn man be­denkt, wie man­ches Mal auf Be­fehl der Obe­ren eine Gon­del mit Drei­en auf die La­gu­nen hin­aus­fuhr und mit Zwei­en wie­der­kam. Da­von nichts mehr, Herr – Gott be­hüt’ uns alle! Aber habt Ihr Eu­ren Pass in Ord­nung? Ich könnt’ Euch sonst nicht auf­neh­men.«

»Ich hab’ ihn schon drei Mal prä­sen­tiert, gute Frau, in Me­stre, bei der Wacht­gon­del drau­ßen und am Traghet­to. Mein Name ist An­drea Del­fin, mein Stand rechts­kun­di­ger Schrei­ber bei den No­ta­ren, als wel­cher ich in Bre­s­cia fun­giert habe. Ich bin ein ru­hi­ger Mensch und habe nie mit der Po­li­zei gern zu schaf­fen ge­habt.«

»Um so bes­ser«, sag­te die Frau, in­dem sie jetzt ih­rem Gas­te vor­an die Trep­pe wie­der hin­auf­stieg. »Bes­ser be­wahrt als be­klagt, ein Aug’ auf die Kat­ze, das an­de­re auf die Pfan­ne, und es ist nütz­li­cher, Furcht zu ha­ben als Scha­den. O, über die Zei­ten, in de­nen wir le­ben, Herr An­drea! Man soll nicht drü­ber nach­den­ken. Den­ken ver­kürzt das Le­ben, aber Kum­mer schließt das Herz auf. Da seht, und sie öff­ne­te ein großes Zim­mer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohn­lich? Dort das Bett, mit mei­nen ei­ge­nen Hän­den hab’ ich’s ge­näht, als ich jung war, aber am Mor­gen kennt man nicht den Tag. Und da ist das Fens­ter nach dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber de­sto tiefer, und das an­de­re Fens­ter dort nach der klei­nen Gas­se, das Ihr zu­hal­ten müsst, denn die Fle­der­mäu­se wer­den im­mer dreis­ter. Seht da überm Kanal, fast mit der Hand ab­zu­rei­chen, der Palast der Grä­fin Ami­dei, die blond ist wie das Gold und durch eben­so viel Hän­de geht. Aber hier steh’ ich und schwat­ze, und Ihr habt noch we­der Licht noch Was­ser und wer­det hung­rig sein.«

Der Frem­de hat­te gleich beim Ein­tre­ten das Zim­mer mit ra­schem Blick ge­mus­tert, war von Fens­ter zu Fens­ter ge­gan­gen und warf jetzt sei­nen Man­tel­sack auf einen Ses­sel. »Es ist al­les in der bes­ten Ord­nung«, sag­te er. »Über den Preis wer­den wir uns wohl ei­ni­gen. Bringt mir nur einen Bis­sen und, wenn Ihr ihn habt, einen Trop­fen Wein. Dann will ich schla­fen.«

Es war et­was selt­sam Ge­bie­te­ri­sches in sei­ner Ge­bär­de, so mil­de der Ton sei­ner Wor­te klang. Ei­lig ge­horch­te die Frau und ließ ihn auf kur­ze Zeit al­lein. Nun trat er so­fort wie­der ans Fens­ter, bog sich hin­aus und sah den sehr en­gen Kanal hin­ab, der durch kein Zit­tern sei­ner schwar­zen Flut ver­riet, dass er teil­ha­be an dem Le­ben des großen Mee­res, dem Wel­len­schlag der al­ten Adria. Der Palast ge­gen­über stieg in schwe­rer Mas­se vor ihm auf, alle Fens­ter wa­ren dun­kel, da die Vor­der­sei­te nicht dem Kanal zu­ge­kehrt war; nur eine schma­le Tür öff­ne­te sich un­ten, dicht über dem Was­ser­spie­gel, und eine schwar­ze Gon­del lag an­ge­ket­tet vor der Schwel­le.

Das al­les schi­en den Wün­schen des neu­en An­kömm­lings durch­aus zu ent­spre­chen, nicht min­der auch, dass man ihm durch das an­de­re Fens­ter, das nach der Sack­gas­se ging, nicht ins Zim­mer se­hen konn­te. Denn drü­ben lief eine fens­ter­lo­se Wand ohne an­de­re Un­ter­bre­chung als ei­ni­ge Vor­sprün­ge, Ris­se und Kel­ler­lö­cher hin, und nur den Kat­zen, Mar­dern und Nacht­vö­geln konn­te die­ser düs­te­re Win­kel an­ge­nehm und wohn­lich er­schei­nen.

Ein Licht­strahl aus dem Flur drang ins Ge­mach, die Tür öff­ne­te sich, und mit der Ker­ze in der Hand trat die klei­ne Wit­we wie­der ein, hin­ter ihr die Toch­ter, die in der Eile noch ein­mal hat­te auf­ste­hen müs­sen, um beim Empfang des Gas­tes zu hel­fen. Die Ge­stalt des Mäd­chens war fast noch klei­ner als die der Mut­ter, er­schi­en aber doch durch die höchs­te Zier­lich­keit und kaum ge­reif­te Schlank­heit al­ler For­men grö­ßer und wie auf den Fuß­spit­zen schwe­bend, wäh­rend man auch im Ge­sicht die­sel­be Ähn­lich­keit und den­sel­ben Un­ter­schied, der auf Rech­nung der Jah­re kam, auf den ers­ten Blick er­kann­te. Nur der Aus­druck in bei­den Ge­sich­tern schi­en nie­mals ein­an­der ähn­lich wer­den zu kön­nen. Es war zwi­schen den dich­ten Brau­en der Frau Gio­van­na ein Zug von Span­nung und kum­mer­vol­lem Har­ren, der auch mit den Er­fah­run­gen des Al­ters auf Ma­ri­et­tas kla­rer Stirn nie dau­ernd eine Stät­te fin­den konn­te. Die­se Au­gen muss­ten im­mer la­chen, die­ser Mund im­mer ein we­nig ge­öff­net sein, um je­den Scherz un­ver­züg­lich hin­aus­zu­las­sen. Es war un­end­lich drol­lig zu se­hen, wie jetzt in die­sem Ge­sicht­chen Ver­schla­gen­heit, Über­ra­schung, Neu­gier und Mut­wil­le mit­ein­an­der kämpf­ten. Sie bog beim Ein­tre­ten den Kopf, des­sen lose Flech­ten mit ei­nem schma­len Tuch um­wun­den wa­ren, seit­wärts, um den neu­en Haus­ge­nos­sen zu se­hen. Auch sei­ne erns­te Mie­ne und sein grau­es Haar stimm­ten ihre Mun­ter­keit nicht her­ab. Mut­ter, flüs­ter­te sie, in­dem sie einen großen Tel­ler mit Schin­ken, Brot und fri­schen Fei­gen und eine halb vol­le Fla­sche Wein auf den Tisch stell­te, er hat ein ku­rio­ses Ge­sicht, wie ein neu­es Haus im Win­ter, wenn der Schnee aufs Dach ge­fal­len ist.

»Schweig, du schlim­me Hexe!«, sag­te die Mut­ter rasch. »Wei­ße Haa­re sind falsche Zeu­gen. Er ist krank, musst du wis­sen, und du soll­test Re­spekt ha­ben, denn Krank­hei­ten kom­men zu Pfer­de und ge­hen zu Fuß, und Gott be­hü­te dich und mich, denn die Kran­ken es­sen we­nig, aber die Krank­heit frisst al­les. Hole nur ein we­nig Was­ser, so­viel wir noch ha­ben. Mor­gen müs­sen wir früh auf und neu­es kau­fen. Sieh, er sitzt da, als ob er schlie­fe. Er ist müde von der Rei­se, und du bist müde vom Still­sit­zen. So ist die Welt ver­schie­den.«

Wäh­rend die­ser halb­lau­ten Re­den hat­te der Frem­de am Fens­ter ge­ses­sen und den Kopf in die Hand ge­stützt. Auch als er jetzt auf­sah, schi­en er die Ge­gen­wart des zier­li­chen Mäd­chens, das ihm eine Ver­beu­gung mach­te, kaum zu be­mer­ken.

»Kommt und esst et­was, Herr An­drea«, sag­te die Wit­we. »Wer nicht zu Nacht isst, hun­gert im Traum. Seht, die Fei­gen sind frisch, und der Schin­ken zart, und dies ist Zy­per­wein, wie ihn der Doge nicht bes­ser trinkt. Sein Kel­ler­meis­ter hat ihn uns selbst ver­kauft, eine alte Be­kannt­schaft noch von mei­nem Mann her. Ihr seid ge­reist, Herr. Ist er Euch nicht ein­mal be­geg­net, mein Orso, Orso Da­nie­li?«

»Gute Frau«, sag­te der Frem­de, in­dem er ei­ni­ge Trop­fen Wein ins Glas goss und eine der Fei­gen auf­brach, »ich bin nie über Bre­s­cia hin­aus­ge­kom­men und ken­ne kei­nen die­ses Na­mens.«

Ma­ri­et­ta ver­ließ das Zim­mer, und man hör­te sie, wäh­rend sie die Trep­pe hin­un­ter­flog, ein Lied­chen mit hel­ler Stim­me vor sich hin sin­gen.

»Hört Ihr das Kind?«, frag­te Frau Gio­van­na. »Man hiel­te sie nicht für mei­ne Toch­ter, ob­wohl auch eine schwar­ze Hen­ne ein wei­ßes Ei legt. Im­mer sin­gen und sprin­gen, als wä­ren wir hier nicht in Ve­ne­dig, wo es gut ist, dass die Fi­sche stumm sind, weil sie sonst re­den wür­den, was ei­nem das Haar sträub­te. Aber so war ihr Va­ter auch, Orso Da­nie­li, der ers­te Ar­bei­ter auf Mu­ra­no, wo sie die bun­ten Glä­ser ma­chen, wie nir­gend auf der Welt. Ein fröh­lich Herz macht rote Wan­gen, das war sein Spruch. Und dar­um sag­te er ei­nes Ta­ges zu mir, ›Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich hal­t’ es hier nicht aus, die Luft schnürt mir die Keh­le zu, ges­tern erst ist wie­der ei­ner er­dros­selt und mit dem Fuß an den Gal­gen ge­henkt wor­den, weil er freie Re­den ge­führt hat ge­gen die In­qui­si­to­ren3 und den Rat der Zehn.4 Man weiß, wo man ge­bo­ren wird, aber nicht, wo man stirbt, und man­cher denkt auf dem Pfer­de zu sit­zen und sitzt auf der Erde. Also, Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich will nach Frank­reich, Kunst bringt Gunst, und der Hel­ler läuft dem Bat­zen nach. Mei­ne Sa­che ver­ste­he ich, und wenn ich’s drau­ßen zu was ge­bracht habe, kommst du nach mit un­se­rem Kind.‹ – Das war da­mals acht Jah­re alt, Herr An­drea. Es lach­te, als es der Va­ter zu­letzt küss­te; da lach­te er auch. Ich aber wein­te, da muss­te er wohl mit­wei­nen, ob­wohl er ganz lus­tig weg­fuhr in der Gon­del, ich hör­t’ ihn noch pfei­fen, als er schon um die Ecke war. So ging es ein Jahr. Und was ge­sch­ah? Die Si­gno­ria ließ nach ihm fra­gen; es dür­fe kei­ner von Mu­ra­no sein Ge­werk ins Aus­land tra­gen, da­mit sie es dort ihm nicht ab­sä­hen; ich soll­t’ ihm schrei­ben, dass er wie­der­käme, bei To­dess­tra­fe. Über den Brief lach­te er; aber den Her­ren vom Tri­bu­nal war’s nicht spaß­haft. Ei­nes Mor­gens, da wir noch zu Bett wa­ren, wur­de ich ab­ge­holt, das Kind mit mir, und hin­auf­ge­schleppt un­ter die Blei­dä­cher, und muss­te ihm wie­der schrei­ben, wo ich wäre, ich und un­ser Kind, und dass ich da blei­ben wür­de, bis er sel­ber mich ab­for­der­te in Ve­ne­dig. Nicht lan­ge, so hat­te ich sei­ne Ant­wort, das La­chen sei ihm ver­gan­gen, er wan­de­re dem Brief auf den Fer­sen nach. Nun, ich hoff­te täg­lich, dass er es wahr­ma­chen wer­de. Aber Wo­chen und Mon­de ver­gin­gen, und mir ward im­mer we­her ums Herz und krän­ker im Haupt, denn da dro­ben ist die Höl­le, Herr An­drea, nur dass ich das Kind hat­te, das nichts von dem Jam­mer be­griff, au­ßer dass es schlecht aß und über Tag heiß hat­te; aber den­noch sang es, um mich lus­tig zu ma­chen, dass mich’s vollends an­griff, die Trä­nen zu ver­hal­ten. Erst im drit­ten Mo­nat wur­den wir her­aus­ge­holt, es hieß, der Glas­blä­ser Orso Da­nie­li sei in Mai­land am Fie­ber ge­stor­ben, und wir könn­ten nach Hau­se ge­hen. Ich habe es auch von an­de­ren ge­hört – aber wer das glaubt, kennt die Si­gno­ria nicht. Ge­stor­ben? Stirbt man auch, wenn man Frau und Kind un­ter den Blei­dä­chern sit­zen hat und sie her­aus­ho­len soll?«

»Und was meint Ihr, dass aus Eu­rem Mann ge­wor­den sei?«, frag­te der Frem­de.

Sie sah mit ei­nem Blick ihm ins Ge­sicht, der ihn dar­an ge­mahn­te, dass die arme Frau lan­ge Wo­chen un­ter den Blei­dä­chern ge­lebt hat­te. »Es ist nicht rich­tig«, sag­te sie. »Man­cher lebt und kommt doch nicht wie­der, und man­cher ist tot und kommt doch wie­der. Aber da­von wol­len wir schwei­gen. Ja, wenn ich es Euch sag­te, wer steht mir da­für, dass Ihr nicht hin­geht und es vor dem Tri­bu­nal aus­plau­dert? Ihr seht aus wie ein Galan­tuo­mo; aber wer ist noch recht­schaf­fen heut­zu­ta­ge? Von tau­send ei­ner, von hun­dert kei­ner. Nichts für un­gut, Herr An­drea, aber Ihr wisst wohl, wie es in Ve­ne­dig heißt:


Mit Lug und Lis­ten kommt man aus,
Mit List und Lü­gen hält man haus.«

Es ent­stand eine Pau­se. Der Frem­de hat­te längst den Tel­ler weg­ge­scho­ben und der Wit­we ge­spannt zu­ge­hört.

»Ich ver­den­ke es Euch nicht«, sag­te er, »dass Ihr mir Eure Ge­heim­nis­se nicht an­ver­trau­en wollt. Sie ge­hen mich auch nichts an, und zu hel­fen wüsst’ ich Euch oh­ne­dies nicht. Aber wie kommt es, Frau, dass Ihr die­ses Tri­bu­nal, un­ter dem Ihr so viel ge­lit­ten, den­noch Euch ge­fal­len las­set, Ihr und al­les Volk in Ve­ne­dig? Denn ich weiß zwar we­nig, wie es hier aus­sieht – ich habe mich nie in po­li­ti­sche Fra­gen ver­tieft – aber so viel habe ich doch ge­hört, dass erst im vo­ri­gen Jahr hier ein Tu­mult war, um das heim­li­che Tri­bu­nal ab­zu­schaf­fen, dass ei­ner vom Adel selbst da­ge­gen auf­trat und der Gro­ße Rat eine Kom­mis­si­on wähl­te, die Sa­che zu be­den­ken, und al­les in Be­we­gung ge­riet für und wi­der. Ich hör­te da­von so­gar in mei­ner Schreib­stu­be zu Bre­s­cia. Und als end­lich al­les beim al­ten blieb und die Macht des heim­li­chen Ge­richts fes­ter ge­grün­det stand als je, warum zün­de­te da das Volk Freu­den­feu­er an auf den Plät­zen und ver­höhn­te die vom Adel, die ge­gen das Tri­bu­nal ge­stimmt hat­ten und nun sei­ne Ra­che fürch­ten muss­ten? Wa­rum war nie­mand, der es hin­der­te, dass die In­qui­si­to­ren ih­ren küh­nen Feind nach Ve­ro­na ver­bann­ten? Und wer weiß, ob sie ihn dort am Le­ben las­sen, oder ob die Dol­che schon ge­schlif­fen sind, die ihn für im­mer stumm ma­chen sol­len? Ich – wie ge­sagt – weiß nur we­nig hier­von; ich ken­ne auch je­nen Mann nicht, und es ist mir al­les sehr gleich­gül­tig, was hier ge­schieht, denn ich bin krank und wer­de es in die­ser bun­ten Welt oh­ne­hin nicht mehr lan­ge trei­ben. Aber es wun­dert mich doch, die­ses wan­kel­mü­ti­ge Volk zu se­hen, das heu­te die­se drei Män­ner sei­ne Ty­ran­nen nennt und mor­gen frohlockt, wenn die un­ter­ge­hen, wel­che der Ty­ran­nei ein Ende ma­chen woll­ten.«

»Wie Ihr da re­det, Herr!«, sag­te die Wit­we und schüt­tel­te den Kopf. »Ihr habt ihn nie ge­se­hen, den Herrn Avo­ga­do­re An­ge­lo Quer­ini, den sie ver­bannt ha­ben, weil er der heim­li­chen Jus­tiz den Krieg er­klär­te? Nun wohl, Herr, aber ich habe ihn ge­se­hen und die an­de­ren ar­men Leu­te, und sie sa­gen alle, er sei ein recht­schaf­fe­ner Herr und ein großer Ge­lehr­ter, der Tag und Nacht die al­ten Ge­schich­ten von Ve­ne­dig stu­diert hat und die Ge­set­ze kennt, wie der Fuchs den Tau­ben­schlag. Aber wer ihn über die Stra­ße ge­hen oder im Bro­glio mit sei­nen Freun­den ste­hen sah, so an die Säu­le ge­lehnt und die Au­gen halb zu­ge­drückt, der wuss­te, dass er ein No­bi­le war von der Fe­der am Hut bis zu den Schuh­schnal­len, und was er ge­gen das Tri­bu­nal re­de­te und han­del­te, war nicht fürs Volk, son­dern für die großen Her­ren. Den Scha­fen aber ist es gleich, Herr Del­fin, ob sie ge­schlach­tet oder vom Wolf ge­fres­sen wer­den, und


Rauft sich der Ha­bicht mit dem Weih,
Ist das Feld für die Hüh­ner frei.

Seht, Lie­ber, dar­um war die Scha­den­freu­de groß, als das Tri­bu­nal in al­len Rech­ten be­stä­tigt wur­de und nach wie vor nie­man­dem Re­chen­schaft schul­den soll­te als am Jüngs­ten Tage dem Herr­gott und alle Tage dem Ge­wis­sen. Im Kanal Or­fa­no, von Hun­der­ten, die dort ihr letz­tes Ave ge­be­tet ha­ben, lie­gen zehn von den klei­nen Leu­ten ne­ben neun­zig von den großen Her­ren. Aber setzt den Fall, es wür­den ad­li­ge Ver­bre­cher und bür­ger­li­che vom Gro­ßen Rat öf­fent­lich ge­rich­tet und hin­ge­rich­tet – Mi­se­ri­cor­dia! wir hät­ten acht­hun­dert Hen­ker an­statt drei, und der große Dieb häng­te den klei­nen auf.«

Er schi­en et­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­