Entwickelt auf einer geschützten Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig Maximilians-Universität, München, Direktor: Prof. Dr. med. P. Falkai
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1. Auflage 2015
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-026092-4
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In den letzten Jahren wurde in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig Maximilians-Universität in München ein Konzept zur Behandlung schwerst erkrankter PatientInnen mit Anorexia nervosa entwickelt. Begonnen wurde die spezielle Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa auf einer geschützten Station unter Leitung von Prof. Dr. em. G. Laakmann, der als Oberarzt für die Station zuständig war.
Die Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa auf einer geschützten Station in einer Klinik für Allgemeinpsychiatrie ist sicherlich eine Besonderheit, da die störungsspezifische Psychotherapie doch als Behandlung der ersten Wahl gilt. Auch werden nahezu ausschließlich Erwachsene mit Anorexia nervosa hier behandelt. Auf der Station sollte ein Angebot für PatientInnen geschaffen werden, die sich aufgrund der Erkrankung in einem lebensbedrohlichen und im medizinischen Sinne intensivpflichtigen Zustand befinden. Die PatientInnen kommen meist mit einem Körpergewicht entsprechend einem Body-Mass-Index (im Folgenden BMI) von weniger als 13 kg/m2 zur Aufnahme, was nach der üblichen Einteilung als extremes Untergewicht bezeichnet wird. Beispielsweise kommen PatientInnen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mit einer Körpergröße von 165 cm bei einem Körpergewicht von 30 kg zur Behandlung.
Bei der Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa stehen zunächst einerseits die Wiederherstellung des Körpergewichts und andererseits die Veränderung des Essverhaltens als Behandlungsziele im Vordergrund. Im folgend dargestellten Konzept zur Behandlung bei extremem Untergewicht ist vor allem die Wiederherstellung des Körpergewichts Fokus der Behandlung, um – wie noch näher dargestellt – physiologische Prozesse wieder zu ermöglichen. Aus diesem Grunde ist in der folgenden Darstellung der Anorexia nervosa besonders auf seelische und körperliche Veränderungen bei extremem Untergewicht bzw. einem Refeeding und weniger auf allgemeine Ergebnisse zur Häufigkeit von bestimmten Symptomkomplexen eingegangen worden. Beispielsweise wird eine bestimmte Art von depressiver oder Angstsymptomatik häufiger bei Untergewicht als bei Normalgewicht festgestellt, so dass ein Vorhandensein eines bestimmten Symptomkomplexes in vielen Fällen auch als vom Körpergewicht abhängig vorgestellt werden kann.
Das Konzept sieht zunächst die Klärung der rechtlichen Grundlage der Aufnahme und Behandlung vor. Oft können die PatientInnen sich die Gefahr und die damit verbundenen Risiken für ihr Leben nicht eingestehen und erwarten von einer Behandlung anderes als die Therapeuten. Manche PatientInnen können überzeugt werden, die angebotene Behandlung anzunehmen. Sollte dies nicht der Fall sein, wird ein Antrag auf richterliche Unterbringung und ggfs. Zwangsbehandlung beim Amtsgericht gestellt. Des Weiteren wird die Anlage einer mittels perkutaner endoskopischer Gastroenterostomie (im Folgenden PEG) angelegten Sonde zur Unterstützung der oralen Nahrungsaufnahme mit hochkalorischer Sondenkost dringend empfohlen und mit den PatientInnen besprochen. Zuletzt wird ein möglichst individuell gestalteter Therapievertrag abgeschlossen, in dem Körpergewicht mit Reduktion der Sondenkost, Ausgangsregelung und weiteren Therapiemöglichkeiten verknüpft werden.
Nachdem diese Methode der Behandlung eingeführt worden war, wurde dieses Therapieprogramm in den letzten Jahren weiterentwickelt und besonders durch psychotherapeutische Angebote ergänzt sowie von Seiten des pflegerischen Teams (pflegerische Leitung der Station von Frau Marion Dorn), Informationsblätter für die PatientInnen und Zusammenfassungen der Behandlungsregeln erstellt. In der folgenden Darstellung sind die verschiedenen Vorarbeiten einheitlich zusammengefasst sowie die Weiterentwicklungen berücksichtigt.
Neben dieser Darstellung des auf der Station entwickelten Konzeptes zur Behandlung dieser schwerkranken PatientInnen sollte hiermit auch eine Einführung für Interessierte, auch neu auf der Station eingesetzte KollegInnen in das Behandlungskonzept, aber auch das komplexe Störungsbild der Anorexia nervosa gegeben werden. Im klinischen Alltag begegnet man oft den seelischen Auswirkungen dieser schweren Erkrankung, wenn die PatientInnen berichten, »… je weniger ich gewogen habe, desto dicker habe ich mich gefühlt …«. PatientInnen, die sobald sie ihr Zimmer verlassen, über Wochen ihren Körper in Decken einhüllen. Andere PatientInnen, die berichten, »… inhaltlich und auch vom Aussehen her perfekt sein …« zu müssen, oder äußern, dass Farben und Muster auch beim Essen stimmen müssten. Weniger offensichtlich sind die körperlichen Veränderungen, die aber bei den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen auffallen. Veränderungen der Konzentrationen von Elektrolyten im Blut und Veränderungen des Blutbilds sowie Veränderungen des EKG werden bei den Untersuchungen deutlich und müssen entsprechend interpretiert werden. Aber auch subtilere Veränderungen wie bei der Regulation des Hormonhaushalts bei PatientInnen mit Anorexia nervosa wurden besonders in den letzten Jahren erforscht. Wegen des Schwerpunkts der Wiederherstellung des Körpergewichts und der Aktualität der Forschungsergebnisse ist ausgewählten Hormonen ein eigener Abschnitt eingeräumt.
Es kann dabei nicht der Anspruch erhoben werden, dass die Darstellung der Anorexia nervosa in all ihren Facetten vollständig ist. Auch war es nicht die Absicht, ein Lehrbuch zur Anorexia nervosa zu verfassen, sondern es sollte ein Behandlungskonzept dargestellt werden, wie es in den letzten Jahren entstanden ist, sowie die Herangehensweise einleitend begründet werden. Bei der Zusammenstellung wurde besonders auf die Aktualität der Literaturhinweise mit Schwerpunkt auf aktuelle Forschungsergebnisse sowie auf die klinische Relevanz mit Bezug zum Refeeding wert gelegt. Die Darstellung sollte möglichst engen Bezug zum klinischen Alltag haben. In diesem Sinne sind auch die Hinweise auf die bei der alltäglichen Arbeit auf der Station vorkommenden Probleme und in den Text eingearbeiteten Beispiele zu verstehen.
Hautala und Mitarbeiter fanden in einer epidemiologischen Studie zu Essstörungen bei Jugendlichen, dass sich bei 24 % der Mädchen und bei 16 % der Jungen, die an der Studie teilnahmen, Symptome einer Essstörung fanden (Hautala et al. 2008). Solche Ergebnisse epidemiologischer Studien mögen die Bedeutung der Essstörungen verdeutlichen. Frühere Studien hatten ergeben, dass bis zu 25 % der normalgewichtigen Mädchen ihren Körper als zu dick einschätzten und bis zu 50 % ungesunde Methoden benutzten, um ihr Körpergewicht zu regulieren.
Essstörungen werden als Störungen des Verhaltens beschrieben, die zur Bewältigung unangenehmer oder schwieriger Gefühle, einer Regulation des Affekts, eingesetzt werden. Früh konnte bereits gezeigt werden, dass eine Restriktion der Nahrung bedeutende Auswirkungen auf das psychische und besonders emotionale Erleben von Menschen hat. In den Studien von Ancel Keys (The Biology of Human Starvation 1950) im Rahmen des Minnesota Starvation Experiments wurde Mangelernährung bei psychisch gesunden Menschen untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass es zu gravierenden emotionalen Veränderungen bei Nahrungsrestriktion kommt (Depression, Angst etc.). Diese Symptome bestanden teilweise auch nach ausreichender Ernährung weiter (zitiert nach Kalm et al. 2005).
Eine der ersten Beschreibungen der Anorexia nervosa lieferte Sir Richard Morton 1684 und bezeichnete sie als »nervöse Atrophie« (Liechti 2008). Im 17. Jahrhundert beschrieb auch Marcé eine Essstörung und bezeichnete sie als »hypochondrisches Delirium«. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieb Sir William Whitey Gull die »apepsia hysterica«, die er später in Anorexia nervosa umbenannte (Pearce 2006; Treasure 2006). Einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Anorexia nervosa lieferte in den 1970er Jahren Hilde Bruch. In den gegenwärtig gängigen Klassifikationen wurden die Essstörungen erst 1980 in der heutigen Form in der DSM-III und ICD-9 beschrieben (Walsh 2010). Es werden Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sowie ihre Unterformen nach der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (ICD-10 und DSM-IV bzw. DSM-V) unterschieden.
Hier sei nur auf die Anorexia nervosa eingegangen, weil das folgend dargestellte Behandlungskonzept für die Therapie von PatientInnen mit Anorexia nervosa und extremem Untergewicht ausgelegt ist. Die Anorexia nervosa ist eine schwere psychische Erkrankung. In der ICD-10 werden
• die Anorexia nervosa ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (F50.00; restriktiver Typ) und
• die Anorexia nervosa mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (F50.01; mit Erbrechen, Abführen etc.) sowie
• die atypische Anorexia nervosa (F50.1; es sind nicht alle diagnostischen Kriterien vorhanden) unterschieden.
Die bulimische Form der Anorexia nervosa unterscheidet sich von der Bulimia nervosa insbesondere durch eines der Hauptsymptome – das geringe Körpergewicht.
1. das tatsächliche Körpergewicht liegt mindestens 15 % unter dem erwarteten,
2. der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt,
3. das Vorliegen einer Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung,
4. eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse liegt vor (Amenorrhoe bzw. Libido- und Potenzverlust),
5. bei Beginn vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt.
Fairburn stellte die epidemiologischen Merkmale der Anorexia nervosa in einem Seminar zusammen. Es handelt sich um eine vorzugsweise in westlich orientierten Gesellschaften vorkommende Erkrankung, an der vor allem Frauen im Jugend- und frühen Erwachsenenalter erkranken. Das Geschlechterverhältnis beträgt etwa 90 Frauen zu 10 Männer (Fairburn et al. 2003). Dieser bedeutende Unterschied lässt weitere Differenzen zwischen den Geschlechtern vermuten. Allerdings fanden Crisp und Mitarbeiter bei der Auswertung der Untersuchungsergebnisse bei 751 Frauen und 62 Männern nur ein leicht höheres Lebensalter der Männer bei Beginn der Erkrankung und eine Tendenz für einen etwas häufigeren Missbrauch von Laxanthien bei Frauen, während bei Männern häufiger die Bevorzugung einer veganen Ernährung gefunden wurde (Crisp et al. 2006).
Die Inzidenz der Anorexia nervosa wird mit zwischen 4,2 bis 8,3 pro 100 000 Patientenjahre und die Punktprävalenz wird mit etwa 0,3 % angegeben, während die Lebenszeitprävalenz zwischen 1,2 % und 2,2 % der Gesamtbevölkerung geschätzt wird. Die Inzidenzrate der Anorexia nervosa ist am höchsten bei Frauen zwischen dem 15. und 19. Lebensjahr. Außerdem wurde berichtet, dass die Inzidenz der Anorexia nervosa zwischen 1935 und 1999 anstieg (Bulik et al. 2006; Herpertz-Dahlmann 2009; Hoek et al. 2003; Keski-Rahkonen et al. 2006; Miller et al. 2010).
Ätiologisch wird für die Essstörungen bisher ein komplexes Zusammenspiel genetischer, biologischer und sozio-kultureller Faktoren angenommen. So wird die Vererblichkeit einer genetischen Belastung mit über 50 % und eine starke Überlappung mit genetischen Merkmalen für zwanghafte, depressive und Angststörungen sowie Abhängigkeitserkrankungen gefunden. Biologisch ist besonders von einer Vulnerabilität des Gehirns auszugehen, dass auch bei Gesunden etwa 20 % der gesamten Kalorienaufnahme in Anspruch nimmt. Im Gehirn sind vor allem Systeme, Regelkreise in Hirnstamm und Thalamus, die mit Homöostase, Antriebsregulation und Selbstkontrolle zu tun haben, betroffen. An von der Umgebung abhängigen Faktoren wurden perinatale Komplikationen sowie Stigmatisierungen, übermäßige Kritik gegenüber Idealisierungen in Verbindung mit einem minderen Selbstbewusstsein gefunden (Treasure et al. 2010).
Natürlich können auch Risikofaktoren für die Entwicklung einer Essstörung benannt werden. Hier kommen etwa weibliches Geschlecht, weiße Hautfarbe, Alter, ein bestimmter familiärer Interaktionsstil und ähnliches in Frage und wurden in Studien untersucht, doch erscheint es hier wichtig, zwischen variablen und kausalen Risikofaktoren zu unterscheiden, wobei besonders kritisiert wurde, dass es hinsichtlich der Forschung zu Risikofaktoren nicht genügend longitudinale Studienergebnisse gebe und festgestellt wurde, dass bisher kein kausaler Risikofaktor benannt werden könne (Jacobi et al. 2004). Es werden die Risikofaktoren von Faktoren unterschieden, die den Krankheitsprozess aufrechterhalten.
In Studien zum Langzeitverlauf von PatientInnen mit Essstörungen wurde gefunden, dass zwischen 47 % und 67 % von ihnen nach fünf Jahren gesund seien. Bei längerem Follow-up steige der Anteil der symptomfreien ehemaligen PatientInnen (zitiert nach Attia 2010). Demgegenüber ergab das Follow-up von 51 PatientInnen mit in der Adoleszenz einsetzender Anorexia nervosa über 18 Jahre, dass 54 % der PatientInnen nach 18 Jahren frei waren von störungsspezifischem Verhalten, 22 % bestimmte Nahrungsmittel vermieden (z. B. Fleisch) und bei 39 % Kriterien für eine andere psychische Störung (meist Zwangsstörung) erfüllt waren, während bei 12 % noch eine Essstörung diagnostiziert wurde (Wentz et al. 2009). Rigaud und Mitarbeiter untersuchten 484 erwachsene PatientInnen mit Anorexia nervosa nach 13,5 Jahren. Sie fanden, dass 60,3 % der PatientInnen gesund und 25,8 % relativ gesund waren, während je 6,4 % ein schlechtes oder sehr schlechtes Outcome hatten (Rigaud et al. 2011).
In einer folgenden Untersuchung von Rigaud und Mitarbeitern wurde das Outcome nach sechs Jahren von 41 initial extrem unterernährten PatientInnen mit Anorexia nervosa (initialer BMI bei Aufnahme 10,1 ± 0,57 kg/m2) mit 443 PatientInnen, die ein weniger deutliches Untergewicht bei Aufnahme hatten, verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass von den 41 PatientInnen 5,8 % mehr verstorben waren, 19% mehr ein schlechtes Outcome hatten und 21 % weniger die Gesundheit wiedererlangt hatten, obwohl alle PatientInnen mit einem Refeeding behandelt worden waren (Rigaud et al. 2012). Zudem ist ein niedrigeres Körpergewicht bei Entlassung insgesamt mit einer erhöhten Zahl an Rehospitalisationen assoziiert gefunden worden (Castro et al. 2004). Auch bei der Analyse des Zustands der PatientInnen aus fünf Studienkohorten fanden Lock und Mitarbeiter für Erwachsene, die wegen einer Anorexia nervosa hospitalisiert worden waren, dass das Erreichen eines Körpergewichts von mehr als 86 % des idealen Körpergewichts (ideal body weight; IBW) bei Entlassung den besten Prädiktor für ein Erreichen des Normalgewichts darstellte (Lock et al. 2013). Somit scheint es mehrere Verlaufsprädiktoren für die Prognose bzw. das Outcome von PatientInnen mit Anorexia nervosa zu geben. Hierzu gehört die nach oben dargestellten Studienergebnissen einerseits das Körpergewicht bei Aufnahme als auch das Körpergewicht bei Entlassung aus der stationären Behandlung.
Fichter et al. (2006) fanden in einem nationalen Patientenkollektiv im Rahmen einer 12-Jahres-Katamnese eine Mortalität von 7,7 %, 20–30 % verstarben durch Suizid, die übrigen 60–70 % durch sekundäre Komplikationen des Hungerns (Fichter et al. 1997, 2006). Die Auswertung schwedischer Sterberegister hinsichtlich ehemals wegen Anorexia nervosa hospitalisierter PatientInnen ergab eine standardisierte Mortalitätsrate von 6,2 entsprechend einer 6-fach erhöhten Mortalität gegenüber der Allgemeinbevölkerung. Es wird angenommen, dass die Anorexia nervosa von allen psychischen Erkrankungen die höchste Mortalitätsrate aufweist (Papadopoulos et al. 2009).
Einerseits sollten die Ergebnisse dieser Studien verdeutlichen, dass eine besondere Notwendigkeit der Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa besteht, insbesondere bei extremem Untergewicht mit einem BMI < 13 kg/m2. Andererseits wurde festgestellt, dass die Möglichkeiten zur Behandlung der Anorexia nervosa unzureichend sind und es nicht genügend Behandlungsmöglichkeiten gibt, insbesondere für die Behandlung schwersterkrankter PatientInnen mit extremem Untergewicht, also einem BMI von weniger als 13 kg/m2 (Diagnostik und Therapie der Essstörungen, S3-Leitlinie der AWMF 2010).
Die folgend dargestellten seelischen Veränderungen bei der Anorexia nervosa scheinen zumindest teilweise nach klinischer Erfahrung von dem Ernährungszustand abhängig, was von einigen aktuellen Forschungsergebnissen unterstützt wird, und sind daher nicht einheitlich vorzustellen. Vielfach wurde auch eine Korrelation dieser Veränderungen mit der Dauer der Erkrankung festgestellt. Dies mag etwa die zwischen den einzelnen Studien mitunter sehr unterschiedlichen Ergebnisse, insbesondere der Häufigkeit dieser Veränderungen erklären.
Bei untergewichtigen Menschen werden vor allem depressive, Angst- und Zwangssymptomatik vermehrt gefunden. Allgemein kommt es durch die komorbid auftretenden Störungen bei Untergewicht meist zu einem sehr komplexen Störungsbild. Die Lebenszeitprävalenz bei PatientInnen mit Essstörungenfür depressive Störungen wird mit bis zu 75 %, für bipolare Störungen mit etwa 10 %, für Angststörungen mit bis zu 20 % und Zwangsstörungen mit bis zu 40 % sowie für Substanzmissbrauch mit bis zu 46 % angegeben. Allerdings muss einschränkend erwähnt werden, dass es schwierig ist, depressive Symptomatik im klinischen Sinne zu diagnostizieren, da die Betroffenen in Abhängigkeit von ihrem Ernährungsstatus ihre Stimmung selbst immer eher als depressiv bezeichnen werden, wobei sie häufig ein Gefühl der inneren Leere und der Stimmungslabilität erleben (Woodside et al. 2006).
In wenigen Studien wurde bisher der Zusammenhang des Ernährungsstatus mit der Psychopathologie im Verlauf der Wiederherstellung des Körpergewichts untersucht, obwohl angenommen wird und klinisch häufig zu beobachten ist, dass die psychische Symptomatik zu einem bedeutenden Anteil auf das Untergewicht bei der akuten Anorexia nervosa zurückzuführen ist. Mattar und Mitarbeiter fassten die Ergebnisse von sieben solcher Studien zum Verlauf in einem Review zusammen. Sie fanden, dass besonders depressive und Angstsymptomatik bei Wiederherstellung des Körpergewichts deutlich zurückgehen (Mattar et al. 2011). Dies konnten die Autoren auch in einer eigenen Studie zeigen, in der sie depressive und Angstsymptomatik sowie Zwangssymptomatik bei 24 Patientinnen untersuchten, die mit einem mittleren BMI von 13,8 kg/m2 zur Aufnahme kamen. Im Ergebnis zeigte sich, dass bis zur Entlassung mit einem mittleren BMI von 17,8 kg/m2 eine Remission der depressiven und Angstsymptomatik, allerdings nicht der Zwangssymptomatik eingetreten war (Mattar et al. 2012).
Nicht selten ist bei Menschen mit extremem Untergewicht (BMI unter 13 kg/m2