Melissa Jäger

Raetia

Das Wunder der Geburt

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil I

Monat August, am XIV. Tag vor den Kalenden des Septembers, Vinalia rustica

Monat August, am VI. Tag der Kalenden des Septembers, Volturnalia

Monat August, am V. Tag vor den Kalenden des Septembers, Festtag der Göttin Victoria

Monat August, am IV. Tag der Kalenden des Septembers

Monat August, am Tag vor den Kalenden des Septembers

Monat September, Kalenden des Septembers, Festtag der Göttin Tellus Mater

Monat September, am IV. Tag vor den Nonen des Septembers

Monat September, am III. Tag vor den Nonen des Septembers

Monat September, am VIII. Tag vor den Iden des Septembers, III. Tag der Ludi Romani

Monat September, am VII. Tag vor den Iden des Septembers, Tag IV der ludi Romani

Monat September, VI. Tag vor den Iden des Septembers, Tag V der ludi Romani

Monat September X. Tag vor den Kalenden des Oktober, XIX. Tag der ludi Romani

Monat September, IX. Tag der Kalenden des Oktober, XX. Tag der ludi Romani

Monat September, VII. Tag vor den Kalenden des Oktober

Monat September, IV. Tag vor den Kalenden des Oktober

Monat Oktober, XVII. Tag vor den Kalenden des November

Monat Oktober, VII. Tag vor den Kalenden des Novembers

Teil II

Monat April, IV. Tag vor den Nonen des April

Monat April, III. Tag vor den Nonen des April

Monat April, VII. Tag vor den Iden des April, IV. Tag der Megalesia

Monat April, VI Tag vor den Iden des April, V. Tag der Megalesia

Monat April, V. Tag vor den Iden des April, VI. Tag der Megalesia

Monat April, IV. Tag vor den Iden des April, VII. Tag der Megalesia

Monat April, III. Tag vor den Iden des April

Monat April, III. Tag vor den Kalenden des Maius

Glossar

Impressum neobooks

Teil I

Ab urbe condita 845, im zwölften Regierungsjahr von Kaiser Titus Flavius Domitianus, unter den Konsuln C. Iulius Silanus und Q. Iunius Arulenus Rusticus

Monat August, am XVI. Tag vor den Kalenden des Septembers, Portunalia


Anspannung machte sich im Raum breit, noch ehe der Hirte rief und an die Tür klopfte. Mit einem Schlag war zu spüren, dass die Angst des Mannes durch alle Ritzen der Holztüre kroch und den Wohnraum des Langhauses in Besitz nahm. Perthas Augen verrieten die sofortige Änderung ihrer Gefühlslage hin zu gespannter Aufmerksamkeit. Ohne jegliches äußeres Anzeichen von Unruhe oder gar Angst, öffnete sie die Tür und ließ den aufgeregten Mann ein. Pithamne Helanu war Anfang dreißig, doch hätte man ihn auf Grund seiner wettergegerbten Haut durchaus einige Jahre älter geschätzt. Er trug die Tracht der raetischen Kelten, eine karierte Tunika und einen groben Kapuzenumhang. Keuchend vor Anstrengung und Anspannung stieß er hervor: „Pertha, es ist soweit! Du musst dringend kommen, das Kind ist unterwegs. Die Wehen sind ganz plötzlich gekommen, wir waren schon zu Bett gegangen!“

Pertha nickte fachmännisch und legte Pithamne beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Fein“, sagte sie. „Dann werde ich mal alle nötigen Dinge packen! Habt ihr jemanden, der helfen kann?“

Der Mann schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein, dass ist ja das Unglück! Phrimas Schwester ist krank, sie liegt mit Fieber im Bett!“

Pertha nickte wieder, und man konnte sehen, wie sie im Kopf die Möglichkeiten durchspielte.

„Ich kümmere mich darum! Geh du schon mal zurück zu deiner Frau und bereite mir warmes Wasser und einige Tücher vor. Ich komme gleich nach! Mach dir keine Sorgen, wir werden das auch so schaffen! Und vor allem – beruhige dich! So machst du es deiner Frau gewiss nicht leichter!“

Aufmunternd zwinkerte Pertha dem Hirten zu, dann wandte sie sich zum Schlafraum des Langhauses. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Die erfahrene alte Hebamme öffnete den Vorhang zum Schlafraum und kletterte auf das Podest, auf dem ihre Familie schlief. Lasthe, ihr Mann und Alpina, ihre Enkelin, lagen auf dem Lager aus Fellen und Decken. Alpina war zwölf und verbrachte die Sommerzeit, wie immer, bei ihren Großeltern. Pertha kniete sich nieder und schüttelte Alpina sanft. Es dauerte eine Weile, bis das Mädchen die Augen öffnete und ihr verschlafen zuraunte. „Was ist?“ Pertha flüsterte, um Lasthe nicht zu wecken. „Liebling, ich brauche deine Hilfe! Phrima, die Frau des Hirten Pithamne bekommt ihr Kind, die Wehen haben eingesetzt und es wird Zeit, dass ich ihr beistehe. Kannst du mir bitte helfen, sie haben sonst niemanden, der das übernehmen könnte.“

Alpina war blitzartig hellwach und schälte sich sogleich aus den Decken. Noch nie hatte Pertha sie zu einer Entbindung mitgenommen! Zwar durfte sie ihr beim Sammeln, Trocknen und Verpacken der vielen Heilkräuter helfen, die Pertha für ihre Arbeit benötigte, und ab und an hatten sie sich schon über die Gefahren der Geburtshilfe unterhalten, den seidenen Faden zwischen Glück und Unglück bei einer Geburt, aber dieser Vertrauensbeweis machte Alpina stolz. Sie tastete im Dunkeln nach ihrer Tunika, schlüpfte hinein und griff sich dann auch noch das dickere, wollene Überkleid und die Schuhe. Der August ging langsam zu Ende und die Nächte waren bereits frisch. Vorsichtig tastete sie sich aus dem Zimmer in den Wohnraum. Hier erhellte das Feuer auf dem Herd den Raum ein wenig. Pertha hatte einen Korb in einer Ecke des Raumes stehen, in dem die wichtigsten Utensilien zur Geburtshilfe bereits vorbereitet waren. Neben Tüchern und verschiedenen Döschen mit Kräutern enthielt der Korb auch noch ein Instrumentenbündel. Darin waren eine Schere, eine Sonde, Nadel und Faden und zwei Messer untergebracht. Die Großmutter nickte Alpina aufmunternd zu. Dann verließen sie gemeinsam das Haus.


Der Weg zum kleinen Holzhaus der Hirtenfamilie war im Dunkeln nicht leicht zu finden. Zunächst ließen sie auf der Straße, die den Fluss Wirmina begleitete, die letzten Häuser von Bratananium hinter sich. Dann mussten die Zwei Acht geben, den richtigen Pfad über die Wiesen zu nehmen, die sich rund um die Ansiedlung ausbreiteten. Pertha war bereits einmal zu einer Entbindung in der Hütte des Hirtenpaares gewesen. Der Sohn der beiden war nun etwa zwei Jahre alt. Phrima, die Frau des Hirten, war noch sehr jung gewesen, als sich das erste Baby ankündigte – erst 15 Jahre alt. Pertha erinnerte sich noch gut an die Geburt des kleinen Klevie. Sie hatte ihn seither einige Male gesehen und er hatte sich zu einem kräftigen Jungen mit gesunden roten Bäckchen entwickelt. Dieses Mal würde Pertha ohne die Hilfe von Phrimas Schwester auskommen müssen und war froh, dass Alpina sie begleitete. Auch wenn sie bislang keine Erfahrung in der Geburtshilfe hatte, war sich Pertha sicher, dass ihre Enkelin die Gabe ihrer Mutter und Großmutter geerbt hatte. Sie würde eine ebenso versierte und geschickte Hebamme werden wie sie und die Familientradition fortsetzten. Alpina hatte ein ruhiges und besonnenes Wesen. Sie war für ein Mädchen von zwölf Jahren erstaunlich reif. Ihre wachen Augen begleiteten jeden Handgriff der Großmutter, und sie hatte schon viele Kenntnisse über die Wirkung der Heilpflanzen erworben, die Pertha in den Sommermonaten mit ihr sammelte und verarbeitete.


Pithamne erwartete die beiden bereits. Er hatte Fackeln um das Haus verteilt. Das war eine Maßnahme, um böse Geister und Dämonen von der schutzbedürftigen Gebärenden und dem erwarteten Kind fernzuhalten. Der Bund mit Dost, den die Familie über der Tür angebracht hatte, diente demselben Zweck. Den beiden Geburtshelferinnen war das Licht der Fackeln ein guter Wegweiser im Dunkel der Nacht. Pithamne öffnete ihnen die Tür der Hütte. Es roch streng nach den Schafen, deren Blöken und unruhiges Fußgetrappel sie begrüßte. Der Stall grenzte direkt an den kleinen Wohnraum. Der Wohnraum der Hütte wurde nur durch den Schein des Feuers auf dem gemauerten Herd erhellt. Alpina konnte die Kreißende in der Dunkelheit zunächst gar nicht erkennen. Es gab keinen eigenen Schlafraum, wie in Perthas Haus. Phrima lag auf einem Lager an der Wand zum Stall. In der Mitte des Raumes war der niedrige Herd. Ein kupferner Kessel hing an einem Galgen über dem Feuer. In ihm dampfte heißes Wasser.


Schon kurze Zeit nachdem sie eingetreten waren, erschütterte ein gellender Schrei die Hütte. Mit wenigen Schritten war Pertha bei der jungen Frau. Alpina folgte ihr, blieb aber respektvoll ein wenig im Hintergrund, um die Großmutter nicht zu stören.

„Mehr Licht, ich brauche mehr Licht!“ kommandierte Pertha. Sie blickte Pithamne erbost an. „Wie soll ich denn bei dieser Grabbeleuchtung arbeiten!“

Zerknirscht nickte der Hirte und brachte zwei Kienspanlampen. Pertha guckte ihn entgeistert an.

„Hast du keine Öllampen?“

Pithamne schüttelte den Kopf. „Nein, so etwas haben wir nicht! Ich könnte aber noch Fackeln holen“, bot er sich an. Pertha nickte resigniert und wandte sich der jungen Frau auf dem Lager zu.

„Phrima, wie geht es? Wie regelmäßig sind denn die Wehen jetzt?“

Phrima versuchte zu lächeln, man konnte deutlich sehen, dass sie dankbar war, die erfahrene Hebamme an ihrer Seite zu haben.

„Es ist ganz anders diesmal, Pertha, die Wehen waren gleich ganz stark und ich finde, sie sind auch schon sehr regelmäßig. Ich habe aber noch kein Wasser verloren! Das macht mich unruhig! Ist das normal?“

Sie blickte fragend zu Pertha. Die Hebamme nickte und schlug die Decke zurück, mit der Phrima sich bedeckt hielt.

„Lass mich mal testen, wie weit der Muttermund schon geöffnet ist!“

Pertha zog das Nachtkleid der jungen Mutter bis zur Brust hoch und schob die Schenkel sanft auseinander, um einen Blick auf den Unterleib zu bekommen.

„Es gibt nichts, was es nicht gibt, wenn es um das Gebären von Kindern geht!“, murmelte sie.

Konzentriert tastete die erfahrene Hebamme den Bauch der Raeterin ab und legte dann ihr Ohr auf, um die kindlichen Herztöne zu hören. Pithamne kam mit zwei Fackeln zurück und postierte sie in der Nähe der Lagerstatt, damit Pertha besser sehen konnte.

„Wo ist Klevie?“ fragte sie.

„Er schläft bei Phrimas Schwester. Zum Glück! Ich habe ihn schlafend zu ihr getragen. Er hat einen guten und tiefen Schlaf! Noch nicht mal die kühle Luft und die Unruhe haben ihn wecken können!“ Zum ersten Mal konnten Pertha und Alpina eine Spur von einem Lächeln auf dem Gesicht des Hirten erkennen.

„Ich habe Alpina, meine Enkelin, mitgebracht“, erklärte Pertha dem Hirtenpaar die Anwesenheit des jungen Mädchens. „Sie kann mir zur Hand gehen und mir in dieser Düsternis helfen, das zu erkennen, was meine alten Augen nicht mehr schaffen.“

Phrima lächelte Alpina schwach zu, und auch der Hirte nickte zustimmend.

„Alpina, komm einmal näher!“

Pertha hatte sich zu Phrima auf das Lager gesetzt und lehnte sich nun ein wenig zur Seite, um Alpina Platz zu machen. Die Hebamme hatte eine Dose aus dem Korb geholt und sich die Hände mit Fett eingeschmiert. Sie bestrich auch den Unterleib der Kreißenden damit und weitete die Scheide vorsichtig. Dann führte sie vorsichtig die rechte Hand ein und betastete den Muttermund der Gebärmutter.

„Es wird noch ein wenig dauern, fürchte ich“, sagte sie beruhigend zu Phrima. „Der Muttermund ist noch nicht weit genug offen.“

„Aber die Wehen sind schon so stark!“, jammerte Phrima. „Ganz anders als beim letzten Mal! Ich habe das Gefühl, das Kind will sofort geboren werden.“

„Ja, das kann sich so anfühlen. Der Kopf ist schon im Becken, aber dadurch, dass die Fruchtblase noch nicht gerissen ist, kann die Geburt nicht so schnell gehen. Jetzt drückt der Kopf bei jeder Wehe auf den Muttermund, und das tut so weh!“

Pertha versuchte mit ihrer Erklärung Phrima zu beruhigen. „Wir müssen noch ein wenig warten. Ich werde dir einen Trank bereiten, der dir helfen wird.“


Als Pertha aufstand, um den Trank zu machen, krümmte sich Phrima erneut vor Schmerzen. Sie schrie, und ihr schönes, junges Gesicht verzerrte sich. Pithamne wich ein wenig zurück.

„Ich glaube es ist besser, wenn du dich anderweitig beschäftigst, Pithamne. Vielleicht kümmerst du dich um deine Schafe. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich!“ Mit diesen Worten schob Pertha den Hirten aus dem Raum. Zu Alpina gewandt sagte sie: „Hol´ mir doch bitte aus dem Korb die Dose mit der Kräutermischung für Geburten. Es ist die große Birkenrindendose, du wirst sie gleich finden!“

Alpina trat an den Korb und fand die gesuchte Dose sofort. Sie nahm den Deckel ab und schnupperte, welche Kräuter ihre Großmutter zusammengestellt hatte. Melisse und Verbene konnte sie riechen und als sie näher ans Feuer trat, konnte sie erkennen, dass auch Frauenmantel dabei war. Pertha nahm einen Tonbecher vom Regal an der Wand und gab mit geübten Fingern die passende Menge Kräuter in die Tasse. Das Wasser in dem Kessel überm Feuer siedete bereits, und so konnte sie mit dem hölzernen Schöpflöffel die benötigte Menge Wasser über die Kräuter gießen. Der Duft des Gebräus verbreitete sich im ganzen Raum. Pertha half Phrima beim Aufsetzen und reichte ihr den Becher.

„Ich denke, es wäre gut, wenn du ein wenig läufst.“ Perthas Nachdruck in der Stimme duldete keine Widerrede. „Du wirst sehen, das bringt uns voran!“

Sie stützte die schwerfällige junge Frau und half ihr hoch. Phrima begann am Arm der Älteren durch die Stube zu gehen. Wenn die Wehen sie überfielen, stützte sie sich schwer auf Pertha. Alpina löste ihre Großmutter ab und wanderte mit der Kreißenden weiter durch den Raum. Sorgenfalten zeigten sich auf Perthas Stirn. Wieder und wieder legte sie ihr Ohr an den Bauch der Schwangeren, um die Herztöne des Kindes zu prüfen.


Als die Ungeduld Phrimas immer stärker wurde, und der Geburtsverlauf weiterhin stagnierte, brachte Pertha ihr den magischen Geburtsstein, den sie von einem wandernden Händler aus dem hohen Norden gekauft hatte. Er bestand aus feuerrotem, polierten Bernstein, war flach wie die Mondscheibe und hatte ein großes Loch. Der Mann hatte ihr versichert, dass dieser Stein schon vielen Gebärenden geholfen hätte. Phrima blickte den schimmernden Stein ehrfurchtsvoll an, und Pertha hatte sofort das Gefühl, dass er auch heute wieder Glück bringen würde. Während sie der Kreißenden das Amulett umhängte, sang sie die alten Gebete der Vorfahren, pries die Güte der Großen Mutter und rief deren göttliche Macht in den Talisman. Im Laufe der Zeit wechselte sie immer wieder die Position des Amulettes: mal band sie den Stein mit Stoffbinden auf den Bauch, dann wieder an den Oberschenkel der Frau.


Viele Stunden waren verronnen, und der emporsteigende Morgen tauchte das Innere der Hütte in ein seltsam weiches Licht. Phrimas Nerven lagen blank, sie weinte und schrie, abwechselnd fluchte und flehte sie. Sie rief die Götter um Hilfe an und gelobte der Stammesgöttin ein neues Kleid mit schönen Gewandspangen als Dankopfer, wenn sie ihr beistehen würde, das Kind gesund zur Welt zu bringen. Auch ihr Mann Pithamne wurde immer unruhiger, es hielt ihn kaum mehr bei seinen Schafen. Wieder und wieder kam er in den Wohnraum und blickte der Hebamme verzweifelt ins Gesicht. Die jedoch gab ihm mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln zu erkennen, dass er nicht helfen könne. Stattdessen bat sie ihn, von der frischen Schafsmilch, die er in den frühen Morgenstunden gemolken hatte, ein Opfer an die Große Mutter zu bringen. Gemeinsam sprachen sie die Gebete über der Schüssel frischer Milch. Dann trug Pithamne die Schale zu dem Hollerbusch hinter dem Haus und tränkte die Wurzeln mit der Milch. Inbrünstig betete er zu der Göttin, der man nachsagte, die Seelen der kleinen Kinder zu hüten, und flehte sie an, die Seele seines ungeborenen Kindes freizugeben.

Phrima war mittlerweile zu schwach, um noch länger zu laufen. Sie musste immer häufigere und längere Pausen machen. Pertha war die wachsende Unruhe nicht anzusehen, doch Alpina bemerkte ihre regelmäßigen Kontrollgriffe nach dem Bauch und Unterleib der Kreißenden. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich zusehends, und die Falten zwischen den Augenbrauen verstärkten sich.

Schließlich ging ein Ruck durch die alte Hebamme. Sie nickte sich und Alpina Mut zu und forderte ihre Enkelin auf, den Tisch näher ans Feuer zu schieben und Phrima zu helfen, sich auf die Tischkante zu setzen. Für sich selbst holte Pertha den stabilsten Stuhl im Wohnraum und platzierte ihn so vor den Tisch, dass sie das wenige Licht der Feuerstelle und des einzigen, winzigen Fensters der Hütte nutzen konnte. Die ersten Strahlen der Morgensonne erhellten den Raum spürbar. Dann befahl sie Alpina, sich hinter die junge Frau auf den Tisch zu setzten und sie von hinten zu stützen. Alpina half Phrima dabei, ihre Oberschenkel an den Körper zu ziehen. Pertha blickte unverwandt auf die Vagina der Frau, die bereits den geöffneten Muttermund präsentierte. Sie nahm die Nadel und die Schere aus dem Futteral und hielt beides kurz in die Flamme auf dem Herd. Dann setze sie sich auf den Stuhl vor die Gebärende, spreizte deren Vagina so weit es ihr möglich war und eröffnete beherzt die Fruchtblase. Das Fruchtwasser ergoss sich mit einem Schwall über die sitzende Hebamme und den Boden vor ihr. Sofort war zu sehen, wie sich der Kopf des Kindes in den Geburtskanal senkte. Pertha hielt ihn mit der linken Hand fest und dehnte mit der rechten Hand die Vagina und den Damm. Sie half dem Kind, sich in die richtige Position zu drehen und forderte die Phrima auf zu pressen.

„Ist alles in Ordnung? Sag doch, Pertha! Ist alles normal? Ich habe so Angst! Bitte sag doch was!“, schrie Phrima in Panik.

„Konzentriere dich jetzt auf deine Arbeit, sonst kommt dieses Kind nie zur Welt!“, fuhr Pertha die Kreißende an und versuchte angespannt, den Damm so weit wie möglich zu dehnen. Der Kopf schien nicht durchpassen zu wollen. Pertha versuchte wieder und wieder das Gewebe mit den Fingern aufzuspreizen, aber die nervöse Verkrampfung der jungen Frau führte zusätzlich zu einer Verhärtung der Muskulatur. Pertha wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Die Herztöne waren schon sehr schwach gewesen, als sie diese das letzte Mal abgehört hatte und seit dem waren schon wieder einige Minuten vergangen. Ihre rechte Hand ließ den Damm los und griff nach der bereitliegenden Schere. Die Wehen brachen nun in sehr kurzen Abständen mit voller Gewalt über die Gebärende herein. Pertha wartete die nächste Wehe ab und im Höhepunkt des Schmerzes schob sie das Kind vorsichtig beiseite und schnitt mit der Schere den Damm ein. Phrima schrie entsetzt auf, bäumte sich auf und verhalf durch diese unwillkürliche Reaktion ihrem Kind zu einem Schub nach unten.

„Der Kopf ist schon fast geboren!“ munterte die Hebamme die weinende junge Frau auf. „Los! Pressen! Gleich hast du es geschafft!“

Alpina hielt den Atem an. Ihre Finger waren eiskalt vor Aufregung und sie fürchtete vor Angst umzukippen. Doch als sie den strengen Gesichtsausdruck ihrer Großmutter sah, riss sie sich zusammen und flüsterte Phrima ins Ohr: „Pressen! Pressen! Es geht um das Leben deines Kindes! Du schaffst es!“

Unterstützt von einer Presswehe schob sich das Köpfchen ans Licht und mit einem weiteren Aufbäumen Phrimas rutschte auch der Rest des Kindes ins Freie.


Einen Moment lang herrschte atemlose Stille. Alle drei warteten auf ein Lebenszeichen des Kindes. Pertha hielt das blutverschmierte Bündel erst in die Luft, dann legte sie es sich quer auf den Oberschenkel und klopfte ihm rhythmisch auf den Brustkorb. Phrimas Augen waren angstvoll aufgerissen, ihr ganzer Gesichtsausdruck: „Ist es tot?“ Doch sie brachte keinen Ton über die Lippen. Keiner sprach ein Wort, nicht einmal die Hebamme.

Nach einer Ewigkeit hörten sie ein röchelndes Geräusch, dann ein ersticktes Husten. Perthas Gesicht entspannte sich, sie klopfte weiter. Das Röcheln und Prusten wurde lauter, und man konnte sehen, dass Bewegung in das Bündel auf dem Schoß kam. Phrima atmete tief ein, und Alpina lockerte ihren Griff. Sie hatte sich vor lauter Anspannung wohl mehr selbst an der Gebärenden festgehalten, als Halt für diese zu bieten.

„Es lebt doch, nicht wahr?“ fragte Phrima zaghaft und unsicher.

„Ja, Phrima, sie ist ein tapferes kleines Mädchen!“ In Perthas Gesicht zeigten sich nun viele freundliche Lachfältchen. Die junge Mutter entspannte sich. „Alpina, bitte bring mir ein Tuch aus dem Korb, eines der dickeren, warmen, damit wir sie gut einpacken können! Außerdem noch von der Wolle in dem Stoffsack! Wir müssen die Blutung des Damms stoppen. Ich bin hier noch nicht ganz fertig.

Nachdem Pertha ihre Anweisungen gegeben hatte, drehte sie das kleine Mädchen auf den Rücken, so dass es zum ersten Mal von allen gebührend bewundert werden konnte. Die Reste der weißen Schutzschmiere, die das Kind im Mutterleib umgeben hatte, vermischten sich mit Blut und Schleim und wirkten wie eine Körperbemalung. Darunter schimmerte die noch marmorierte Haut des Mädchens durch, die jedoch zusehends rosiger wurde.

Alpina half Phrima, sich weiter auf den Tisch zu ziehen, um sich besser abstützen zu können. Sie sprang vom Tisch herunter und holte ein grobes, warmes Wolltuch und den Beutel mit der Naturwolle aus dem Korb. Beides brachte sie Pertha beides, und sah gebannt zu, wie die Hebamme das Kind in das Tuch bettete. Dann drückte Pertha die Wollwatte auf die Wundeder Mutter.

„Jetzt müssen wir die Nabelschnur durchtrennen“, erklärte sie, während sie das Kind zu seiner Mutter auf den Tisch legte. „Bring mir bitte den Wollknäuel, Liebes!“

Alpina führte auch diese Anweisung gewissenhaft aus und beobachtete neugierig, wie ihre Großmutter zwei Wollfäden vom Knäuel abtrennte und damit die Nabelschnur nahe am Kindesbauch und in einer Handbreit Entfernung noch einmal abband. Dann nahm Pertha die Schere und durchtrennte die Verbindung zwischen Mutter und Kind. Sie schickte Alpina erneut zum Korb, diesmal um eine Leinenbinde zu holen. Versiert deckte sie den Nabelstumpf mit ein wenig Wollwatte ab und verband den Babybauch. Danach schlug sie das Tuch wieder fest um das kleine Mädchen, welches sie wach zu beobachten schien. Es wimmerte leise. Pertha drückte das restliche Blut aus der Nabelschnur und ließ es auf den Lehmboden der Hütte tropfen.

Jetzt bat sie die Wöchnerin, wieder näher an die Tischkante zu rutschen und die Füße auf dem Stuhl abzustützen. Sie trat näher, entfernte die Wollwatte, griff mit einer Hand an den leeren Unterbauch der Frau, mit der anderen hielt sie die Nabelschnur. Alpina hatte vor Aufregung ganz vergessen, dass die Plazenta noch nicht geboren war. Natürlich! Die Geburt war noch gar nicht zu Ende! Sie erkannte die Kontraktionen der Gebärmutter, die versuchte die Nachgeburt auszustoßen. Pertha zog ganz sanft an der Nabelschnur und massierte zugleich den Unterbauch. Sie schien mit der Hand die Gebärmutter nach unten auszustreichen. Es folgten mehrere Nachwehen und schließlich löste sich die Plazenta und fiel über die Tischkante in die bereitgestellte Schüssel. Alpina blickte angeekelt auf das dunkle, blutige Stück Fleisch, das die Schüssel fast gänzlich ausfüllte. Die Nabelschnur hing über den Rand. Alpina konnte sich nicht vorstellen, dass dieses tote Gewebe monatelang ein Kind ernährt hatte.

Pertha goss Wein aus einem mitgebrachten Schlauch in die Schale mit dem heißen Wasser, dann nahm sie Wollwatte, tauchte sie ein und säuberte die Dammwunde. „Es wird jetzt noch ein paar Mal weh tun!“ erklärte sie Phrima, „Ich muss den Schnitt nähen, den ich gemacht habe. Keine Sorge, es ist gleich vorbei, dann kannst du auf dein Lager und dich ausruhen. Leg´ dich bitte zurück, damit ich besser sehen kann. Alpina, bring mir noch ein Extralicht, es ist noch immer so schummrig hier!“.

Alpina beobachtete fasziniert die sicheren Handgriffe der Hebamme, die mit drei kurzen Stichen den Dammschnitt vernähte. Phrima zuckte zwar bei jedem Mal zusammen, doch sie ertrug tapfer den Schmerz der Nadelstiche. Erschöpft sank sie anschließend in die Decken und Felle und warf sehnsuchtsvolle Blicke zu ihrem Neugeborenen.

„Du bekommst sie gleich!“ beruhigte Pertha die Frau. „Wir müssen sie aber noch waschen und neu verbinden. Sicher hast du schon Tücher bereitgelegt, in die wir sie dir nachher einwickeln sollen, nicht wahr?“ Phrima nickte und deutete auf einen Korb neben ihrem Lager. „Diese könnt ihr nehmen. Sie sind frisch gewaschen, und eines davon habe ich sogar neu gewoben!“


Vorsichtig wusch Pertha alle Rückstände der Geburt im klaren Wasser ab.

Jetzt endlich begann die Kleine zu schreien. Anfangs noch zaghaft, doch zunehmend kräftiger. Das kalte Wasser schien sie zum Leben zu erwecken.

Pertha beendete den Reinigungsprozess. Anschließend trocknete sie das Kind mit einem Handtuch ab, verband den Nabel erneut und wickelte das Kleine in die bereitgelegten Wolltücher. Dann brachte sie der glücklichen Mutter ihr kleines Mädchen. Das Wimmern der Kleinen wich schnell einem zufriedenen Schmatzen. Phrima hatte sie an die Brust gelegt und blickte verliebt in das Gesicht ihres Kindes. Alpina fand, dass die junge Mutter wunderschön aussah, so glücklich und zufrieden. Verstohlen blickte sie zu ihrer Großmutter und erkannte an deren Gesichtsausdruck, dass auch sie das Glück der jungen Mutter teilte. Für Alpina stand in diesem Augenblick fest, dass sie in die Fußstapfen ihrer Großmutter und auch ihrer Mutter treten wollte. Ja – sie wollte und würde Hebamme werden!

„Wir sollten den frisch gebackenen Papa holen“, sagte Pertha und bedeutete Alpina, mit in den Stall zu gehen. Dort, in der Nähe des einzigen Fensters, saß Pithamne auf einem Schemel und molk ein Schaf. Die Milch rann in einen Holznapf. Erschrocken blickte der Hirte von seiner Arbeit auf. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich jedoch, sobald er die freundlich lächelnden Augen der Hebamme sah.

„Ist alles gut gegangen?“ fragte er, während er gewissenhaft seine Arbeit beendete. „Sind beide gesund?“

Pertha nickte und gratulierte ihm zur Geburt seiner hübschen Tochter. Pithamne nickte. Er stellte den Hocker zur Seite und folgte den Geburtshelferinnen in die Wohnstube.

„Sieh nur, wie schön sie ist!“ empfing ihn Phrima. Sie streichelte liebevoll den Kopf der Kleinen. Pithamne setze sich zu den beiden auf das Lager und betrachtete das Neugeborene liebevoll.

„Wunderschön“, sagte er, „genau wie die Mutter! Hast du dir schon einen Namen überlegt?“

Phrima schüttelte den Kopf. „Da werden wir noch ein wenig nachdenken müssen. Oder hast du einen Namen, der zu ihr passt?“

Doch auch Pithamne schien auf Anhieb kein passender Name für die Kleine einzufallen. Er drehte sich stattdessen zu Pertha um.

„Du hast wie immer gute Arbeit geleistet, Pertha, wir sind dir zu großem Dank verpflichtet!“

Pertha nickte, wie zur Bestätigung und erinnerte Pithamne daran, dass es nun an ihm sei, das Kind anzuerkennen. Das Aufheben des Kindes, war nach römischem Recht gleichzusetzen mit einem Akt der Anerkennung durch das Oberhaupt der Familie. Pithamne sah Pertha kopfschüttelnd an. „Wir müssen das römische Kaiserreich doch nicht bis in unsere Hütte eindringen lassen, oder? Pertha, ich habe mit den Römern nichts am Hut! Ich interessiere mich nicht für ihre Bräuche und Riten! Du weißt genau, dass ich mir nichts aus ihnen mache! Ich werde dieses Kind, wie seinen Bruder auch, mit den Ritualen unserer Vorväter in die Stammesgemeinschaft aufnehmen lassen – beim nächsten Opferfest.“


Perthas Aufgaben waren noch nicht beendet. Sie musste noch die Plazenta kontrollieren, um sicher zu gehen, dass Phrima nicht an einer unstillbaren Blutung starb. Pertha begutachtete das Gewebe der Plazenta. Zum Glück war keine Fehlstelle zu sehen. Sie erklärte Alpina genau, worauf man bei der Untersuchung der Plazenta achten musste. Als Pithamne hinter sie trat, konnte sie ihm die gute Nachricht gleich mitteilen. Er fragte, ob er die Plazenta nun vergraben dürfte, wie es Tradition war. Pertha nickte zustimmend und reichte ihm die Schüssel. Gemeinsam betraten sie erneut den Wohnraum, und Pertha ging zum Lager der jungen Mutter, um sich zu verabschieden. Die Kleine lag friedlich schlafend in ihrem Arm. Sie sah sehr zufrieden aus, und auch Phrima schien sich ein wenig erholt zu haben.

Pertha nahm eine Dose mit einer Kräutermischung aus ihrem Korb und bat den Hirten um ein Gefäß. Dann warf sie eine gute Hand voll Kräuter hinein.

„Deine Frau sollte heute und in den kommenden Tagen ein bis zwei Becher roten Wein trinken. Sie kann ihn mit etwas Wasser verdünnen, wenn sie möchte. Das Wasser, das sie die nächsten Wochen trinken sollte, holst du aus der heiligen Quelle, zwei Meilen von hier flussaufwärts. Es sollte aber alle zwei Tage frisch geholt werden. Außerdem darf Phrima die nächsten zwei bis drei Wochen keine schwer verdaulichen Gerichte, vor allem keine Bohnen oder Linsen essen. Auch mit Zwiebeln soll sie vorsichtig sein.“ Pertha blickte die junge Frau streng an. „Ich werde in den nächsten Tagen täglich kommen, um sicher zu gehen, dass sich alles gut entwickelt. Sollte Fieber auftreten oder der Wochenfluss nicht zuverlässig fließen, schicke sofort nach mir! In etwa einer Woche ziehe ich die Fäden.“

Phrima streckte sich zu Pertha hin und umarmte die alte Frau herzlich. „Danke, danke für alles!“ Dann wandte sie sich an Alpina und strich ihr liebevoll über den Arm. „Du hast das wundervoll gemacht, Alpina! Danke auch dir für deine großartige Hilfe! Du wirst bestimmt eine ebenso gute Hebamme wie deine Großmutter und deine Mutter! Alle Frauen in eurer Familie haben magische Hände! Jede von euch kann Wunder vollbringen!“ Dann nahm sie den Lochstein von ihrem Hals und händigte ihn Pertha aus. Dankbar und ehrfurchtsvoll betrachtete sie ihn noch einmal. Pertha ließ ihn in seinem Ledersäckchen verschwinden und steckte ihn in ihren Korb.

Als sie gehen wollten, trat Pithamne an Pertha heran. Er trug ein Bündel in der Hand.

„Das hier ist euer Lohn. Ich danke euch von Herzen für alles, was ihr für meine Frau getan habt!“

Auch Pertha bedankte sich und übergab dann Alpina das Bündel. Sie selbst nahm ihren Korb.



Monat August, am XIV. Tag vor den Kalenden des Septembers, Vinalia rustica

Am Tag nach der Entbindung suchten Pertha und Alpina die Hirtenhütte erneut auf, um die Wöchnerin und das Baby zu untersuchen. Phrima war in guter Verfassung. Der Wochenfluss war gut, die Selbstreinigung der Gebärmutter schien Fortschritte zu machen. Einzig die Dammnaht machte der Hebamme ein wenig Sorgen. Sie war noch stark gerötet und ein wenig schmierig. Um den Heilprozess zu unterstützen, riet Pertha zu einem Sitzbad in Eichenrindensud. Sie bereitete der jungen Frau das Sitzbad in dem Eimer, den sie zum Baden des Kindes verwendet hatte. Pertha bat Phrima, noch eine Woche lang jeden Tag ein Sitzbad zu machen.
Nachdem Alpina der jungen Frau geholfen hatte, sich abzutrocknen und das Wasser entsorgt war, durfte sie unter Anleitung der Hebamme den Bauch der liegenden Wöchnerin abtasten. Pertha erklärte ihr, wie man die Größe der Gebärmutter tastete und führte ihre Hand, damit sie sich ein Bild vom Zustand des Uterus machen konnte.
Als sie fertig waren, setzte sich Pertha zu Phrima ans Bett und sprach die Vorzeichen an, die die Geburt des Mädchens begleitet hatten. Dazu waren der Stand der Planeten, die Mondphase und das Wetter aussagekräftig. Hinzu kamen noch die Zeichen des so genannten Angangs, der Begegnungen in den ersten Minuten oder Stunden des ersten Lebenstages. Pertha fasste die Zeichen für sie zusammen.
„Das Wetter weist auf eine ungewisse Zukunft hin. Es war gestern wolkenverhangen und regnete dann gegen Abend. Das bedeutet, dass sie es nicht immer leicht haben wird im Leben. Aber die Amseln, die wir auf dem Heimweg gesehen haben, pickten eifrig. Also wird sie immer genug zu essen haben. Und der Gesang der Vögel hat uns fröhlich gestimmt. Es steht zu vermuten, dass auch deine Tochter eine schöne Gesangsstimme haben wird und damit die Menschen erfreuen kann.“
Phrima hatte aufmerksam zugehört und dabei ihr kleines Mädchen gedankenvoll betrachtet. „Ich danke dir“, sagte sie nachdenklich.

***

Die Tage vergingen wie im Flug, und Alpina versuchte den Gedanken an das Ende des Sommers weit von sich zu schieben. Ende August würde ihr Vater kommen und sie zurück nach Augusta Vindelicum bringen. In seiner Funktion als Beneficiarius Legati musste er regelmäßige Inspektionsreisen unternehmen, die an zentralen Punkten stationierten Beneficiarii besuchen und nach dem Rechten sehen. Er musste zollrechtliche und polizeiliche Überprüfungen vornehmen, Protokolle und Listen ansehen, den Straßen- und Brückenzustand überwachen und bei kleineren Verbrechen die Strafen festlegen. Außerdem hatte er nach jedem halben Jahr die Ablösung und Versetzung der Beneficiarii zu organisieren und zu begleiten. In der Regel reiste er mit einem weiteren Beneficiarius, einem Adiutor und zwei Reiter zu Pferd. Nur wenn er Dinge transportieren musste, nahm er den Reisewagen. Alpinas Mutter würde wahrscheinlich mitkommen. Sie nutzte jede Gelegenheit, ihre Eltern zu sehen. Augusta Vindelicum, die Provinzhauptstadt Raetiens, war etwa zwei Tagesreisen von Bratananium entfernt. Ein Reiter konnte die Strecke auch an einem Tag zurücklegen, doch im Reisewagen setzte man sich nur ungern einer solchen Strapaze aus. Etwa auf halbem Weg gab es eine Mutatio mit einem Rasthaus, einer Werkstatt und einer Schmiede. Alpinas Mutter Elvas blieben meist nur wenige Stunden, um sich mit ihren Eltern auszutauschen. Deshalb genoss sie diese Zeit. Sie suchte den Kontakt zu ihrem Heimatort und dem Stamm ihrer Vorfahren. Besonders zu den großen Stammesfesten versuchte Elvas nach Bratananium zu kommen. Sie liebte die einfache bäuerliche Festlichkeit der Raeter, die so anders war, als der oft steife, rituelle Festablauf bei den römischen Festen. Die Feste der Raeter orientierten sich an den Jahreszeiten, den Aussaat- und Erntezeiten sowie den Zeichen der Sonne. Als nächstes stand das Fest zur herbstlichen Tag-und-Nachtgleiche an, was zudem das letzte Erntefest des Jahres war.Bei den Römern gab es unglaublich viele Feste, die an einen strikten Festkalender gebunden waren. Viele der römischen Göttinnen und Götter waren der einheimischen Bevölkerung Raetiens gänzlich unbekannt. Eine professionelle oder ehrenamtliche Priesterschaft überwachte den ordnungsgemäßen Ablauf der Zeicheninterpretation und der Opferhandlungen. Zwar erlaubten die Römer, dass die Raeter und Vindeliker ihre Götter weiterhin verehrten und die eigenen Stammesfeste feierten, doch war die Priesterschaft der Druiden offiziell verboten worden. Am liebsten sahen es die Römer, wenn man die einheimischen Götter unter dem Namen einer römischen Gottheit verehrte. Elvas Vater war raetischer Druide gewesen. Er entstammte einer angesehenen Familie, war wohlhabend und verfügte in seinem Stamm über großen Einfluss. Seit der Übernahme Raetiens durch die Söhne des Augustus war den Druiden offiziell die Ausübung ihrer Religion verboten worden. Natürlich hatte sich zunächst keiner daran gehalten, doch die Kaiser Tiberius und Claudius hatten schließlich damit begonnen, die Einhaltung des Verbots zu überwachen und zu drastischen Maßnahmen gegriffen, um die starke Position der Druiden in dem freiheitsliebenden Volk zu brechen. Lasthe Susinu war schließlich unter Kaiser Vespasianus, als Dank für seine hervorragenden Dienste als Übersetzer und Ratgeber der römischen Statthalter, zum Sacerdos des römischen Gottes Merkur ernannt worden. So konnte er weiterhin dem Kult seines Stammesgottes Bratananius, nun unter dem Namen Merkur, vorstehen, den neu gebauten Tempel versorgen und seinem Stamm als Ratgeber und religiöses Stammesoberhaupt dienen. Besonders hilfreich war ihm dafür Elvas Ehe mit dem römischen Soldaten Caius Iulius Achilleus. Diesen hatte Lasthe bei seiner Tätigkeit als Dolmetscher in Diensten der römischen Armee kennen gelernt. Caius hatte sich in Elvas verliebt, als er die Straßen- und Brückenstation von Bratananium versorgte. Elvas und er hatten schließlich nach raetischem Brauch geheiratet, da Caius offiziell keine Frau haben durfte, solange er Soldat in der römischen Armee war. Im Anschluss an seine Dienstzeit würden Elvas und die gemeinsamen Kinder als römische Bürger anerkannt werden. Damit würde die Ehe dann endlich legitimiert. Caius machte schnell Karriere. Er war ein gewissenhafter Beneficiarius gewesen, hatte jahrelang den Dienst an den Straßenknotenpunkten der Provinz versehen oder im Officium des Procurators gearbeitet. Inzwischen war er als Beneficiarius Legati, als direkter Untergebener des Statthalters, für die Beneficiarii in der ganzen Provinz Raetia zuständig. Er durfte sich sogar Hoffnungen machen, bald zum Centurio befördert zu werden.

Monat August, am VI. Tag der Kalenden des Septembers, Volturnalia

In den vergangenen Tagen waren Pertha und ihre Enkelin noch einige Male zu der Wöchnerin gegangen, hatten die Rückbildung des Uterus, die Dammnaht und die Nabelheilung des Kindes überwacht. Die Dammnaht heilte seit den regelmäßigen Sitzbädern zusehends besser. Pertha entfernte am siebten Tag die Fäden. Nach sechs Tagen fiel der Nabelrest am Bauch der Kleinen vollständig ab. Die Haut darunter war noch dünn und hellrosa, aber trocken und reizlos.

Das Elternpaar hatte sich für einen Namen entschieden. Sie nannten das Mädchen Lika. Die Einführung in die Stammesgemeinschaft und die Opfer für die glückliche Geburt würden bei den nächsten Opferfeiern stattfinden, die zur Tag-und-Nacht-Gleiche im Herbst anstanden. Alpina versprach, dass sie ihre Eltern darum bitten würde, kommen zu dürfen.


Nun packte Alpina missmutig ihre Sachen. Gerade die letzten Wochen waren so ereignisreich und spannend gewesen! Im September begann erneut der Schulunterricht. Alpina war eine gute Schülerin und sie freute sich auch auf den Schulbeginn. Im Augenblick jedoch war sie noch sehr durcheinander, sie hatte die vergangenen Ereignisse noch nicht ganz verdaut. Die Vorstellung sich in wenigen Tagen wieder den unregelmäßigen Verben und der Dichtung des Ovid zu widmen, verursachte ihr Unbehagen. Sie hatte die Sommerferien über nur raetisch gesprochen und nun ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Latein- und Griechischübungen vernachlässigt hatte. Magister Eirenaios freute sich immer über Alpinas reges Interesse an der lateinischen Sprache und Kultur und er hatte seinen Schülern bereits angekündigt, dass sie in diesem Jahr auch die ersten Bücher auf Latein und Griechisch lesen würden. Bislang hatten sie sich dem Sprach- und Schrifterwerb gewidmet und nur einzelne von ihm ausgesuchte Texte gelesen. Dieses Jahr sollte es ein ganzes Buch sein. Als Grammaticus hatte sich Eirenaios der Vermittlung von literarischen und philosophischen Themen verschrieben.

Es war ein Privileg, dass Alpina und ihre Schwester nicht nur die Grundschule besuchen durften, sondern im Anschluss daran auch noch die Literaturschule. Das war nur den wohlhabenderen Familien der Stadt möglich, und selbst von diesen schickten nur wenige die Mädchen in die Literaturschule.

Alpinas ältere Schwester Ilara hatte überhaupt kein Interesse an Büchern. Sie bereitete sich gedanklich bereits auf ihre Zukunft als Ehefrau irgendeines einflussreichen Römers vor. Meist tauschte sie sich mit ihren Freundinnen über die neuesten Moden, die edelsten Parfums, Kosmetikartikel und die interessantesten jungen Männer der Stadt aus. Literatur und Philosophie hielt sie für reine Zeitverschwendung.

Neben Ilara hatte Alpina noch einen Halbbruder. Caius Iulius Antonius war der Sohn ihres Vaters aus erster Ehe. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt am Fieber gestorben. Jetzt war Caius Iunior bereits zweiundzwanzig. Er hatte die Grundschule, die Literaturschule und sogar die Rhetorikschule erfolgreich abgeschlossen und war dann in die römische Armee eingetreten. Alpina sah ihn nur noch selten, seit er in Obergermanien stationiert war.


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Elvas half Alpina beim Tragen der Korbtruhe. Sie nahm keine Notiz von der Verstimmung ihrer Tochter, da sie wusste, dass Alpinas Laune sich schnell verbessern würde, wenn sie ihre Schwester und die Freunde wieder sah. Das zwölfjährige Mädchen würde sich schon bald wieder in der Provinzhauptstadt eingewöhnt haben. Die Familie besaß ein Stadthaus in Augusta Vindelicum. Früher, als die Kinder noch klein waren, hatte Elvas oft mehrere Wochen im Sommer bei ihren Eltern in Bratananium verbracht. Heute hatte sie so viele gesellschaftliche Verpflichtungen, dass sie meist in der Hauptstadt festgehalten wurde, auch, weil sie, wie ihre Mutter, Obstetrix war, wie die Römer den Beruf der Hebamme nannten.

In den Wintermonaten war das Reisen beschwerlich, so dass Elvas meist zum Ahnenfest im November das letzte Mal zu ihrer Familie reiste. Erst wenn der Schnee taute, und die Straßen wieder besser befahrbar waren, konnte sie erneut die Fahrt nach Bratananium wagen. Dann brachte sie all die Dinge mit, die in der Stadt zu jeder Zeit leichter zu bekommen waren als auf dem Land: edlen Wein, eingelegte, getrocknete oder frische Früchte aus fernen Ländern und feine Webstoffe aus Wolle und Leinen. Ihre Mutter Pertha spann selbst Wolle und wob auf ihrem Webstuhl. Doch diese Stoffe waren in der Regel eher zu grob, um direkt auf der Haut getragen zu werden. Sie dienten als Decken, Überwürfe oder für dicke Mäntel. Auf den Märkten der Stadt ließen sich feine Stoffe aus weicher und farbiger Wolle, Leinen oder Hanf kaufen. Diese eigneten sich wesentlich besser für die tägliche Garderobe. Elvas Gedanken schweiften zu den wunderschönen bunt-karierten Stoffen, die ihre raetischen Familienangehörigen und Bekannten so stolz trugen. Sie waren Identifikationsobjekte, man zeigte mit diesen Stoffen seine Herkunft aus einer raetischen Familie. Nicht wenige Raeter trugen Mäntel und Kleider aus diesen bunten Stoffen, eine bunte Tunika oder zum Teil sogar die typischen keltischen Hosen, um sich von den Invasoren abzugrenzen.

Auch diesmal hatte Elvas wieder einige praktische Dinge mitgebracht, die es nur in der Stadt zu kaufen gab. Ihrer Mutter hatte sie ein sehr schönes Döschen geschenkt, das aus durchscheinendem, dünnwandigem Glas bestand. Es war südlich der Alpen hergestellt worden. Sie konnte es sicher gut für Kosmetik oder Heilmittel verwenden. Für den Vater hatte sie eine Amphore mit teurem gallischem Wein dabei. Caius hatte zwar geschimpft, dass das „schwere Ding“ den Reisewagen unnötig belasten würde, aber Elvas war hart geblieben und hatte sich durchgesetzt.


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Während Elvas und Alpina einpackten, war Caius in Bratananium, der kleinen Siedlung am Kreuzungspunkt zweier wichtiger Fernstraßen unterwegs, um seine Geschäfte zu erledigen. Der Ort war durch die Brücke über die Wirmina, die Kreuzung der Straße zwischen Augusta Vindelicum und Iuvavum in der Provinz Noricum sowie der Straße über Abodiacum nach Cambodunum ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Schon kurze Zeit nach dem Brückenbau und der Stationierung römischer Soldaten durch Drusus und Tiberius war Bratananium zu einer ansehnlichen Siedlung herangewachsen, die sich bald am Fluss entlang ausbreitete. In der Nähe der Brücke befand sich die große Mansio mit Rasthaus, Bad, Pferdewechselstation und Werkstatt in einem Gebäudekomplex. Direkt an das Gebäude angeschlossen war die Statio des örtlichen Beneficiarius.

Caius Iulius Achilleus war dieses Mal in Begleitung seines Helfers, und je zweier Späher und Beneficiarii. Er wollte überwachen, wie die Beamten in Bratananium und am Isaraübergang ihren Dienst versahen. Sie waren erst seit den Iden des Junius auf ihren Posten, und Caius hatte vor, die beiden Beneficiarii, die ihn begleiteten, auf die Arbeit an diesen Stationen vorzubereiten. Clodius Marianus war ein erfahrener Mann. Er sollte die Statio in Bratananium im Winter übernehmen. Tiberius Sabinius Euprepes war hingegen ein Neuling. Er sollte in erster Linie Erfahrungen sammeln und begleitete Caius aus diesem Grund auf seiner Inspektionsreise.


In der unverschlossenen Statio der Beneficiarii, in der ein gewisser Lucius Attius Dienst tat, herrschte eine grauenvolle Unordnung. Obwohl die Lanze der Beneficiarii vor der Tür die Anwesenheit des diensthabenden Soldaten anzeigte, war nirgends eine Menschenseele aufzuspüren, weder im Officium, noch im anschließenden Wohntrakt des Soldaten. Stattdessen lagen im Officium diverse Schriftrollen und Wachstafeln wild durcheinander, während in den Privaträumen des Beneficiarius Amphoren, Becher und weinbefleckte Tuniken ein chaotisches Bild abgaben. Wütend verließ Caius die Statio und machte sich mit seinen Soldaten auf die Suche nach dem pflichtvergessenen Beneficiarius. Zunächst sahen sie in der Mansio nach, doch der Manceps schüttelte nur bedauernd den Kopf. Wenigstens konnte er Caius den entscheidenden Tipp geben: meist war der Beneficiarius in der Caupona eines gewissen Cassius Fortunatus anzutreffen. Er hatte wohl ein Auge auf dessen hübsche Tochter geworfen, wie der Leiter der Raststation mit einem Augenzwinkern hinzufügte. Und tatsächlich: Lucius Attius saß in der nächsten Caupona nur wenige Häuser weiter, am Ufer der Wirmina. Obwohl es erst Nachmittag war, befand er sich in einem erschreckenden Zustand. Der Wein war ihm offensichtlich bereits zu Kopfe gestiegen. Attius hing förmlich in den Seilen, lehnte gelangweilt den massigen Rumpf an die Wand und stierte in den gefüllten Weinbecher, der sinniger Weise den Trinkspruch „reple me – fülle mich erneut!“ trug. Selbst als der Offizier direkt vor ihm stand, schien Attius ihn gar nicht wahr zu nehmen.

„Was fällt dir eigentlich ein, Lucius Attius?“ Caius hatte sich zum Gesicht des Betrunkenen vorgebeugt, roch angewidert dessen Weinfahne und brüllte aus voller Kehle: „Ich bin schockiert! So vertrittst du den römischen Kaiser und den römischen Staat! Schämst du dich denn gar nicht?“

Der rundliche Beneficiarius, der nur noch wenige Haare auf seinem glänzenden Schädel hatte, zuckte merklich zusammen. Schließlich flackerte der Schimmer eines Erkennens in seinen Augen auf. An der Dienstuniform hatte Attius den Vorsetzten offenbar erkannt. Nervös nestelte er an seiner verschmutzten Tunika herum. Einzig die Gürtelschließe wies ihn als Beneficiarius der römischen Armee aus. Er stemmte sich mühsam von der Sitzbank hoch und schwankte bedenklich.

„Ave, Caius Iulius Achilleus!“, lallte er und hatte Mühe, sich verständlich zu artikulieren.

„Folge mir in die Statio! Sofort!“ Der Befehl hallte durch die Caupona. Caius hatte sich breitbeinig vor dem Mann aufgebaut, in seinem Rücken die Soldaten, die ihn begleiteten.

Attius ließ schuldbewusst den Kopf und die Schultern hängen und setzte sich schlingernd in Bewegung. Die zwei Späher, die den Beneficiarius Legati begleiteten, hakten den betrunkenen Mann unter und warteten auf ihren Vorgesetzen, der ins Dunkel des Ladenlokals rief: „Wirt!“

Vorsichtig näherte sich ein kleiner, magerer Mann. Seine Stimme verriet die Angst vor dem Auftritt der römischen Soldaten, als er antwortete:

„Ave, Beneficiarius! Wie kann ich helfen?“

„Wie viel schuldet dir dieser Mann?“, fragte Caius mit einem abfälligen Kopfnicken in Richtung auf Attius.

Nach einigem Zögern, sagte der Wirt leise: „Heute? Oder insgesamt?“

Caius atmete hörbar ein und versuchte die Fassung zu bewahren. Er warf dem Attius einen wütenden Blick zu.

„Sag, dass das nicht wahr ist, Attius!“
Dieser blickte zu Boden und vermied jeden Augenkontakt mit seinem Vorgesetzen. Kein Wort verließ seine Lippen. Caius nickte seinem Adiutor zu und gab ihm dadurch zu verstehen, dass er den Wirt entlohnen sollte. Dann drehte er sich um und verließ mit seinem Gefolge die Caupona in Richtung der Statio der Beneficiarii.


Sie setzten den Betrunkenen auf einen Hocker im Wohnraum der Statio. Einer der Soldaten holte einen Eimer mit kaltem Wasser und schüttete ihn über dem in sich zusammen gesunkenen Mann aus. Die Wirkung war nur mäßig, wie angesichts des Trunkenheitszustands nicht anders zu erwarten war. Dennoch blickten die Augen des Beneficiarius wieder etwas klarer.

„Hast du eine Erklärung für dein Verhalten?“, fragte Caius streng. Attius, ein Koloss von einem Mann, zuckte verlegen die Achseln.

„Wie lange geht das schon so?“, bohrte der Vorgesetzte weiter.

Dann wandte er sich an Tiberius Iustinius, den älteren der beiden Späher, und gab ihm den Auftrag, die Nachbarn und vor allem den Wirt der Caupona über das Verhalten des diensthabenden Beneficiarius zu befragen. Marianus, ein erfahrener Beneficiarius, der schon mehrere Stationen gewissenhaft geleitet hatte, übertrug er die Aufgabe, die Schriftrollen und Wachstafeln oberflächlich zu sichten, um daraus Schlüsse über die Versäumnisse des Attius zu ziehen. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch, Einzelheiten von dem Beschuldigten zu erfahren, beschloss Caius, eine endgültige Entscheidung zu vertagen. Er gab seinem Adiutor Quintus Sacrus den Befehl, mit Hilfe der anderen Soldaten den Betrunkenen zu bewachen, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte, ihn aber keinesfalls aus den Augen zu lassen. Schließlich mussten sie einen Fluchtversuch verhindern, für den Fall, dass Attius in absehbarer Zeit wieder nüchtern würde. Angesichts der Strafe, die ihn erwartete, war ein solcher Versuch absehbar.

„Sacrus, du hältst mich auf dem Laufenden über die Entwicklungen! Wenn Marianus ein brauchbares Ergebnis hat, und Iustinius von seiner Befragung zurück ist, möchte ich Meldung bekommen. Ich begebe mich so lange ins Haus meiner Schwiegereltern. Ihr findet es, wenn ihr die Fernstraße nach Iuvavum überquert und der Straße entlang der Wirmina folgt. Es ist das Haus neben dem raetischen Tempel des Merkur.“

Caius wartete die Wiederholung seines Befehls durch den Adiutor nicht ab, sondern verließ zügig die Statio. Das Sonnenlicht blendete ihn, als er vor die Tür trat. Caius wandte sich nach rechts und ging auf die Fernstraße nach Iuvavum zu. Ein Ochsengespann mit einem einfachen Bretterwagen, überquerte gerade die Brücke. Auf dem Wagenbock saß ein raetischer Bauer in karierter Tunika und dem keltischen Kapuzenmantel. Hinter ihm tüäööäöä