Michael Wolffsohn
Zivilcourage
Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt
Deutscher Taschenbuch Verlag
Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947 in Tel Aviv, stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die 1939 nach Palästina fliehen musste. Seine Eltern kehrten 1954 nach Deutschland zurück. Von 1981 bis 2012 war er Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversität München. Michael Wolffsohn veröffentlicht regelmäßig in nationalen und internationalen Medien und hat über 30 Bücher vorgelegt, unter anderem ›Wem gehört das Heilige Land?‹ (13. Aufl. 2015), zuletzt: ›Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf‹ (2. Aufl. 2015)
Wir leben in einem revolutionären Zeitalter. Es finden gewaltige politische, wirtschaftliche, ideologische und kulturelle Umwälzungen statt. Wenn wir unsere Maßstäbe und Werte erhalten wollen, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen. Und wir müssen dafür sorgen, dass zentrale Kriterien für ein demokratisches Staatswesen erhalten bleiben. Der Staat muss seine Aufgaben erfüllen: für die Sicherheit der Bürger sorgen, damit sie ein Leben in Freiheit führen und sich dem »Streben nach Glück« widmen können, wie es schon die Erfinder der modernen Demokratie gefordert haben. Der Staat schafft sich jedoch selbst ab, wenn er die Sorge für ihre Sicherheit den Bürgern selbst überlässt. Das ist der Kern der Forderung, mehr Zivilcourage zu zeigen. Denn »angewandte Zivilcourage ist eine Variante der Selbstjustiz« und verlagert Konfliktlösungen vom Parlament auf die Straße. Auf dieser provozierenden These baut Michael Wolffsohn seine Streitschrift auf.
Originalausgabe 2016
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-42962-7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34885-0
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ISBN (epub) 9783423429627
Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Band II, Frankfurt am Main 1969, S. 322.
Elias, Band II, S. 325.
Jan-Philipp Reemtsma, Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet, in: Mittelweg 36, Heft 4/2015, S. 11.
Das Salz der Erde ist segensreich. An sich. Eine Überdosis Salz kann tödlich sein. Mit einem Küchenmesser kann man Feinstkost zubereiten – aber auch Menschen töten. Zivilcourage ist eine Tugend. Ohne Wenn und Aber. Leider kann Zivilcourage auch tödlich oder selbstmörderisch sein.
Der Aufruf von Politik, Polizei, Gesellschaft, Erziehern und medialen Volkspädagogen, man möge »Zivilcourage zeigen«, kommt letztlich einem Aufruf an die Bürger gleich, Leib und Leben zu riskieren. In bester Absicht treibt dabei »der« Staat, überspitzt ausgedrückt, seine Bürger in den Selbstmord.
Lang und länger wird die Opferliste der Zivilcourage. Im Jahre 2014 war es Tuğçe Alabayrak. Die junge, mutige deutschtürkische Studentin Tuğçe wollte jungen Frauen helfen, die von Männerpack belästigt wurden. Das Männerpack wurde dann zum Mordpack. Tuğçe war ihr Opfer.
Das Täter-Opfer-Klischee sah bis zur Silvesternacht in Köln so aus: Der (natürlich) rassistische Täter ist dumm, dumpf, teutonisch, nazistisch und auf jeden Fall »weißer«, inländischer Herkunft. Das Opfer oder dessen Vorfahren sind fremdstämmig, gegebenenfalls schwarz und meistens semitisch. Jüdisch-semitisch oder arabisch-semitisch, muslimisch, aber keinesfalls deutsch. Heilige Einfalt. Richtiger: unheilige Einfalt.
Blicken wir ein paar Jahre zurück. Am 2. Oktober 2000 wurde ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge verübt. Wie in Deutschland aus historischen Gründen naheliegend, richtete sich der Verdacht sofort auf deutsche Rechtsextremisten. Zwei Tage danach bekundete Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Betroffenheit nicht nur mit Worten. Er begab sich an den Tatort, wo er – Politiker müssen reden – dann aber doch das Wort als Waffe der Anständigen benutzte. Gegen jene Unanständigen, die Brandstifter der Synagoge (unausgesprochen: gegen diese altneuen deutschen Nazis) sei ein »Aufstand der Anständigen« nötig.
Es ist absolut lobenswert, in Wort und Tat gegen Nazis aufzutreten. Aber nicht alle Verbrechen dieser Art, auch nicht in Deutschland, werden von Nazis, alt oder neu, verübt. Damals waren die schnell gefassten und geständigen Täter Muslime. Der eine deutscher Staatsbürger marokkanischer Herkunft, der andere Palästinenser aus Jordanien. Beide wollten an deutschen Juden (fernab vom nahöstlichen Schuss) Rache für Israels Militäraktionen üben. Ihre »Nazis« waren und sind Juden. Historisch absurd, aber politisch wirksam. Wie man weiß, nicht nur unter solchen Brandstiftern.
Als Gerhard Schröder zum »Aufstand der Anständigen« aufrief, kannte er den oder die Täter noch nicht. Dennoch benannte der gelernte Jurist den wahrscheinlichen Täterkreis. Das war unklug, aber politisch opportun. Es war ein wahrscheinlicher Täterkreis, aber eben kein realer. Es war ein Klischee, das hier reproduziert wurde. Ein Klischee bestimmte im Februar 2013 auch das Denken des damaligen deutschen Botschafters in Israel, Andreas Michaelis. In seinem Grußwort zu einem Kongress über die Geschichte der Juden in der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Tel Aviv stellte er den im August 2012 von Islamisten in Berlin verübten Anschlag auf Rabbiner Daniel Alter und seine siebenjährige Tochter in die Kontinuität nationalsozialistisch-deutscher Geschichte. »Nie wieder!« … Dankbar registrierten die israelischen Zuhörer: Danke, Deutschland, dass Nazis verdammt und gejagt werden. Ja – aber auch diese Täter waren keine deutschen Nazis, sondern Islamisten. Sie bekämpften das neue, humane Deutschland und Juden gleichermaßen.
Anders als der Kanzler im Jahre 2000 wusste 2013 der Botschafter genau, wer die Täter waren. Aber sie passten nicht in sein Klischee, und politisch opportun(istisch) schien ihm selbstkritische Inbrunst angebracht. Ich hielt den Eröffnungsvortrag und hatte so die Gelegenheit, den politisch, aber leider nicht sachlich korrekten Botschafter korrigieren und mahnen zu können. Er stieg bald danach höher auf der Karriereleiter und wurde 2015 für seine Verdienste mit der Leitung der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes belohnt. Fehldiagnosen mögen nicht der Karriere schaden, wohl aber der Therapie. Mit falschen Diagnosen kann man keine erfolgreiche Therapie einleiten. Das gilt nicht nur für Juden und in Deutschland. Wer Klischees für Diagnose hält, wird gesellschaftliche und politische Krankheiten nicht heilen, weil ein Klischee und als Klischee ist jedes Klischee falsch. Nie gibt es die Wirklichkeit wieder, es spiegelt eine falsche vor. Und doch hat fast jedes Klischee, auch dieses, seinen Ursprung in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit dieses Klischees ist der revolutionäre, also die Wirklichkeit fundamental verändernde Übergang von der einst vergleichsweise einheitlich nationalstaatlichen Gesellschaft zum Vielvölkerstaat. Wir können deshalb das Thema »Zivilcourage in Gegenwart und Zukunft« nicht von der demografischen (bevölkerungspolitischen) Revolution trennen.
Das Klischee traf weder im Falle Tuğçe Alabayrak noch Dominik Brunner zu. Dominik Brunner hatte im September 2009 auf dem S-Bahnhof des Münchner Nobelviertels Solln vier Schüler vor anderen Jugendlichen schützen wollen. Die Angreifer wandten sich schließlich ihm zu. Er wurde ermordet. Die Totschläger des Dominik Brunner waren blutjunge »Weiße« (ein Markus und ein Sebastian, kein Hassan oder Achmed), die Deutschtürkin Tuğçe wurde von Jugendlichen ausländischer Herkunft getötet. Der gebürtige Ghanaer Kofi A. wollte in Berlin eine Mutter und ihre Tochter vor böllernden jungen Männern beschützen. Daraufhin traten ihn zwei junge Männer namens Oliver und Marcel nieder. Jetzt geht er an Krücken. Das war der »Lohn« für seine Zivilcourage.
Woraus wir lernen: Brutalität, Aggressivität, Dummheit und Vorurteile gibt es leider überall und immer, in jeder Gruppe. Es gibt daher weder »die« guten noch »die« schlechten Deutschen, Ausländer, Weißen, Schwarzen, Gelben, Christen, Juden, Muslime. Es gibt nur den oder die Einzel-Guten oder -Schlechten.
Dies festzuhalten ist wichtig, denn unausgesprochen schwingt beim Appell an Zivilcourage immer mit, dass die Aggressoren »weiße« Inländer sind. Das ist oft, aber eben nicht immer der Fall. Ebenso wie es richtig ist, dass derzeit die meisten Terroristen Muslime, aber gewiss nicht alle Muslime Terroristen sind. Die Pauschalisierung von Tätern und Opfern ist falsch, dumm und, am schlimmsten, gesellschaftspolitisch schädlich, weil jedes scheinbar beweisende Beispiel für gute oder schlechte Gesinnung mühelos durch ein Gegenbeispiel entkräftet werden kann. Pauschalisierer machen sich unglaubwürdig. Sie sind unglaubwürdig.
Unverdrossen ermuntert in Bayerns gewiss braver Hauptstadt München der Polizeipsychologe die Bürger, »Zivilcourage« zu zeigen. Landauf, landab dominieren diese scheinklugen Empfehlungen. »Tipps für mehr Zivilcourage« bietet jedes Blatt oder jeder Blog an, der etwas auf sich hält. Die Zivilcourage-Industrie boomt, »Kurse und Workshops für mehr Zivilcourage« haben Konjunktur.
Keiner wird behaupten wollen, Dominik Brunner habe sich 2009 geopfert, weil er Gerhard Schröders Aufruf zum Aufstand der Anständigen aus dem Jahre 2000 befolgen und verwirklichen wollte. Er hatte aber den Geist jenes Aufrufs verstanden, verinnerlicht und umgesetzt. Bis zur letzten Konsequenz, an die der Wortschöpfer und Staatslenker offenbar nie gedacht hatte. Wenn man auf diese Weise zum Aufstand anfeuert, befeuert man, zu Ende gedacht, Bürgerkrieg. Jeder kann zu den Waffen greifen. Staatliches Gewaltmonopol? Das war einmal. Wohlgemerkt, zu Ende gedacht. Ganz so weit sind wir trotz der Kanzler-Schröder-Torheit nicht.
Nach seinem Tod erhielt der ermordete Schutzengel Dominik Brunner zahlreiche Auszeichnungen für seine Zivilcourage. Gleiches erwartete – nach ihrem Tod – Tuğçe Alabayrak.
Der Deutsch-Türke Yavuz Yer ist diplomierter Volkswirt, Sohn von (damals nannte man sie so) »Gastarbeitern« aus Anatolien. Er wohnt und arbeitet an einem der sozialen Brennpunkte Berlins: im Wedding. 2007 machte er seine eigenen Erfahrungen mit dem Thema Zivilcourage. Eines Tages stieß er, als er aus der Küche seines Büros kam, auf einen Mann offensichtlich arabischer Herkunft. Als er ihn fragte, was er da wolle, verließ der Mann fluchtartig den Raum. Im Nebenzimmer war aber noch jemand. Was der andere dort wollte, war Yer gleich klar. Dort war der Tresor. Yer stürmte in den Raum, warf den Einbrecher nieder, drückte ihm das Knie in den Rücken und rief die Polizei. Als die Polizisten kamen, übergab er ihnen den Mann und wollte Anzeige erstatten. Die Anzeige wurde nicht aufgenommen, denn es war ja nichts geraubt worden. Stattdessen fragten die Polizisten den Einbrecher, ob er nicht gegen Yer Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Amtsanmaßung erstatten wolle. Sie berieten ihn ausdrücklich, denn er hatte offensichtlich keine Ahnung, was Amtsanmaßung ist. Zwei Wochen später bekam Yer eine Anzeige. Sie wurde in Moabit verhandelt. Der Richter war einsichtig, teilte aber mit, er müsse aus formalen Gründen eine Strafe wegen Amtsanmaßung verhängen. Man einigte sich auf eine Spende von €800 für wohltätige Zwecke. Zur »Belohnung« galt Yer dann nicht als vorbestraft. Seitdem klärt er vergleichbare Situationen ohne Polizei. Auch Yavuz Yer hatte die Aufforderung von höchster staatlicher Stelle ernst genommen. Er wagte keinen »Aufstand«, aber er zeigte Zivilcourage – und brach auf diese Weise das Gewaltmonopol des Staates. Dafür wurde er bestraft. Bei diesem Fall hat niemand körperlich Schaden genommen, aber er enthält dennoch eine wichtige, weil grundsätzliche Lektion: Wenn der Staat seine Bürger zur Zivilcourage aufruft, will er sie zu moralisch überzeugendem Handeln verleiten. Ein solches moralisch überzeugendes Handeln kann jedoch – absurdes Theater – zum Bruch staatlicher Gesetze und damit zu einer Bestrafung führen. Der Staat gibt faktisch sein Gewaltmonopol preis. Er erlaubt eine Atomisierung der Gewalt, in der letztlich jeder gegen jeden kämpft. Gleichzeitig beharrt er formal auf seinem Gewaltmonopol und bestraft couragierte Bürger, die das ausführten, was der Staat nicht konnte. Verkehrte Welt.
Ich bewundere und verehre Menschen wie Dominik Brunner, Tuğçe Alabayrak oder Yavuz Yer. Sie sind Helden der Menschlichkeit. Ich wage und belege aber eine ketzerische These: Diese Helden der Menschlichkeit sind nicht nur Opfer von Unmenschen, sondern auch von wohlmeinenden Gutmenschen, die immer wieder von den Bürgern Zivilcourage fordern und sie – ungewollt, versteht sich – in Gefahr bringen oder quasi in den Selbstmord treiben.
Wachsamkeit, Hilfsbereitschaft, Hilferufe – ja und ja und ja. Zivilcourage als »Aufstand« durch wen auch immer – nein, weil lebensgefährlich. Nehmt nicht dem Kaiser ab, was des Kaisers ist, sondern verpflichtet den Staat zu dem, was des Staates ist: der Schutz seiner Bürger nach innen und außen.
Ja, es gibt auch Gegenbeispiele, die glücklich ausgingen. Scheinbar widerlegen sie meine These. Im August 2015 plante der marokkanische Islamist (Stichwort »Vielvölkerstaaten in Europa«) Ayoub El Khazani im Thalys-Schnellzug zwischen Paris und Amsterdam ein Blutbad unter den Fahrgästen. Sechs von ihnen stürzten sich beherzt auf den (nachher Terrorabsichten bestreitenden) jungen Mann und überwältigten ihn. Flugs wurden die zivilcouragierten Retter ideell belohnt. Frankreichs Präsident Hollande verlieh ihnen die höchste Auszeichnung der Republik. Sie wurden Ritter der Ehrenlegion. Wortreich pries das Staatsoberhaupt ihre wirklich heldenhafte Tat und ihre vorbildliche Zivilcourage. »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«. Wir kennen diesen klassischen Satz aus Bert Brechts ›Leben des Galilei‹. Der »Sozialist« Hollande hat ihn offensichtlich vergessen oder nicht gekannt. Ja, bedauernswert ist ein Staat, der Helden braucht, um staatliche Aufgaben zu erfüllen, die er nicht leisten kann oder will.