Wolfgang Schäuble

Mitten im Leben

Copyright

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PeP eBooks erscheinen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2000 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: Dieter Bauer/FOCUS
ISBN 978-3-89-480681-1
V002
www.pep-ebooks.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
I. Vor der Wahl 1998 – Der Weg in die Niederlage
1. 16 Jahre Regierungszeit fordern ihren Tribut
2. Ermüdungsprozesse in der Koalition
3. Reformpolitik und SPD-Blockade
4. Leipziger Parteitag 1997: Wie man eine Reformdebatte verhindert
5. Kanzlerkandidat Schröder
6. Zukunftsprogramm – oder: Wie man eine Chance vernichtet
7. Letzte Versuche, die Niederlage abzuwenden.
8. In Sorge um die CDU –Überlegungen für die Zeit nach der Wahl
II. Nach der Bundestagswahl – Eine Volkspartei auf der Intensivstation
1. Vom Wahlabend zur Kandidatur
2. Die Zeit der Besserwisser – Ratschläge und Forderungen
3. CDU und CSU – ein pflegebedürftiges Verhältnis
4. Bewahren und Erneuern – Die Führungsaufgabe
5. Düstere Perspektiven für das Wahljahr 1999
6. Personelle Erneuerung in Fraktion und Partei
7. Parteitag November 1998 – Start in die Opposition
III. Erste Schritte – Die Zeit der Rekonvaleszenz
1. Die Wiederentdeckung des politischen Gegners
2. Der Doppelpass – Steilvorlage aus der rot-grünen Koalition
3. Die Unterschriftenaktion – Integration konkret
4. Der Überraschungscoup: Dagmar Schipanski kandidiert gegen Rau
5. Erneuerung in den Ländern: Die CDU macht mobil
IV. Hessen als Zäsur – Es geht wieder aufwärts
1. Das Ende des Doppelpasses und die Chaostage der Regierung Schröder
2. Lafontaines Rücktritt
3. Krieg im Kosovo: Die Union hält Linie
4. Vor der Europawahl – Fallgruben für Regierung und Opposition
5. Triumph für die Union – Die Europawahl und die Folgen
6. Der Erfurter Parteitag – Arbeitsprogramm für die Opposition
7. Schröders »Neue Mitte«: Überholt die CDU links?
V. Erfolge im Herbst – Der Siegeszug der CDU
1. Elefant im Brüsseler Porzellanladen – Schröders Rücksichtslosigkeiten
2. Rot-Grün in der Krise
3. Auf der Welle des Erfolgs – CDU im Überschwang. Wende bei der SPD
4. Die neue Macht der Opposition – Strategien für den Bundesrat
VI. Die Krise
1. Der Paukenschlag – Eine Million im Koffer und die Folgen
2. Die Schatten der Vergangenheit – Enthüllungen über »schwarze Kassen«
3. Kohl, Terlinden und das Weyrauch-System
4. Stochern im Nebel – Nach Kohls Fernsehgeständnis
5. Die Krise in der Krise – Schreibers 100000-DM-Spende
6. Erste Zuspitzung – Das Ende eines Ehrenvorsitzes
7. Nervöse Partei: Die Krise frisst sich fest
VII. Ende und Neuanfang – Der See rast und bekommt sein Opfer
1. Keine Chance für Politik – Immer wieder Schreiber
2. Sensationelle Enthüllungen: Weyrauch und Lüthje packen aus
3. Zweite Zuspitzung. Der Autoritätsverlust ist nicht zu stoppen
4. Entscheidung – Der Rückzug von Fraktions- und Parteivorsitz
5. Weichenstellungen I – Neuanfang in der Fraktion
6. Weichenstellungen II – Der Weg zum Essener Parteitag
7. Die CDU am Rande des Ruins – Konsequenzen aus der Finanzaffäre
8. Abschied – Die letzte Rede als Parteivorsitzender
9. Zwangsläufigkeiten – Das Problem der politischen Führung
10. Mediale Prozesse – Kritische Anmerkungen aus gegebenem Anlass
VIII. Die Tagesordnung der Zukunft – Warum die Union gebraucht wird
1. Neue Fragen – welche Antworten?
2. Schicksal Europa: Wir brauchen die öffentliche Debatte
3. Gemeinsame Verantwortung für gemeinsame Sicherheit
4. Migration und Einwanderung – Ein deutsches Intermezzo
5. Europa richtig machen – Subsidiarität und Verfassungsfrage
6. Deutsche Hausaufgaben – Föderalismus im Reformstau
7. Die neue soziale Frage – Bildung, Familie und Generationenvertrag
8. Maß und Mitte – Der Auftrag der CDU
Personenregister

Vorwort

Es ist fast genau zwei Jahre her, dass die CDU die schlimmste Wahlniederlage in ihrer Geschichte erlitt. Sie war seit Monaten absehbar gewesen, und sie war nicht mehr zu verhindern. Zu vieles hatte sich nach 16 Jahren erfolgreicher Regierungszeit aufgestaut – bei den Wählern und in den Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP –, um das Wunder eines durchschlagenden Stimmungsumschwungs noch einmal schaffen zu können. Der Abschied aus der Regierungsverantwortung bedeutet nicht nur für die CDU Deutschlands einen wesentlichen Einschnitt. Die Monate danach waren voll Turbulenzen. Der Union wurden düstere Prognosen gestellt über ihr Schicksal. Machtkämpfe würden sie lähmen, erbitterter Streit über Kurs und Inhalte sie zerreißen. Und sollte sie das alles einigermaßen glimpflich überstehen, würde sie doch auf lange Sicht keine Chance mehr haben, die Regierungsverantwortung zurückzuerobern.

Jetzt, im Spätsommer 2000, intonieren die Kommentatoren und Leitartikler eine ähnlich klingende Melodie. Und das Studium der Meinungsumfragen scheint tatsächlich den Schluss nahe zu legen, die Union stehe wieder dort, wo sie nach der Bundestagswahl war. Doch die Parallelität der Zahlen erlaubt nicht ohne weiteres die Vergleichbarkeit der Situationen. Zu viel ist seit der Bundestagswahl geschehen, zu unterschiedlich waren die Entwicklungen davor und danach, um nun lediglich einen Status quo ante zu diagnostizieren.

Denn obwohl uns nach dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 schwere Zeiten vorhergesagt wurden, gelangen uns – nicht nur wegen der Anfangsfehler der rot-grünen Regierungskoalition – 1999 von wenigen für möglich gehaltene Erfolge: Spektakuläre Wahlsiege in Serie, und im Herbst des Jahres Umfragezahlen, wie sie noch nie von einer Partei erreicht wurden. Dann kam die Krise um das Finanzgebaren des früheren Bundeskanzlers, und die Karten wurden neu gemischt. Dazwischen lagen der Krieg im Kosovo und das Ringen um die politische Struktur einer größer werdenden Europäischen Union.

Die Vielfalt von Informationen und Medien führt dazu, dass sich öffentliche Aufmerksamkeit und Erregung immer mehr auf jeweils ein Thema konzentrieren, wobei die Themen oft wechseln. Das für wichtig Gehaltene gewinnt zeitweise sogar Ausschließlichkeitscharakter, um dann genauso abrupt wieder aus der allgemeinen Wahrnehmung zu verschwinden. Als Folge davon leidet das öffentliche Gedächtnis. Deshalb scheint mir wichtig, Erfahrungen aus der Perspektive eines unmittelbar Beteiligten festzuhalten und zu versuchen, die rasch wechselnden Erregungszustände in Entwicklungslinien einzuordnen und zu bewerten. Das ist ein Anliegen dieses Buches.

Die andere Absicht, die ihm zugrunde liegt, speist sich aus der Sorge um Rolle und Zukunft der Union in der deutschen Demokratie und deren europäischem Schicksal. Das war die zentrale Frage, vor der ich am Anfang meiner Amtszeit als Parteivorsitzender stand, und die sich an deren Ende vor der Folie der existenziellen Krise und des Vollzugs des Neuanfangs in der CDU mit neuer Intensität stellte. Die Integrationskraft der großen Volkspartei CDU wird gebraucht, auch wenn manche ihrer Gegner, die plötzlich neue Chancen wittern, das anders sehen. Durch vordergründige Medieninszenierungen einer scheinbar neuen Mitte ist diese Integrationskraft jedenfalls nicht zu ersetzen. Klientelorientierter Opportunismus lässt sich nicht einfach in einen auf Mäßigung zielenden Ausgleich unterschiedlicher Interessen umwidmen. Insofern ist die Union nicht zu ersetzen, ja nicht einmal zu kopieren, weil das, was sie aus ihren Wurzeln heraus bündelt und entwickelt, nur durch dieses Wurzelwerk möglich wird.

Auf einer festen Grundlage immer neue Antworten auf die sich rasant verändernde Lebenswirklichkeit zu suchen und so die Gestaltungskraft einer auf Werte gegründeten, zur Mitte hin integrierenden Volkspartei zu erhalten, das war mein Anliegen nicht nur in den 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierung, sondern vor allem auch angesichts der sich abzeichnenden Wahlniederlage und der neuen Aufgabe in der Opposition. Auch dieses Buch soll dazu einen Beitrag leisten.

Die Höhen und Tiefen, welche die CDU und auch ich persönlich seit dem 27. September 1998 durchlaufen haben, die dramatischen Ereignisse der Finanzaffäre, Entwicklungen, die sich plötzlich miteinander verschlingen und zuspitzen, und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass sich historische Prozesse im Alltag immer scheinbar zufällig, manchmal auch ganz banal vollziehen, haben für dieses Buch nur die Form eines Berichts zugelassen. Er ist – zwangsläufig – subjektiv, dabei aber in dem steten Bemühen geschrieben, sich streng an die objektiv überprüfbaren Fakten zu halten und Mutmaßungen – wenn überhaupt – nur dort anzustellen, wo sie zur Einordnung des Sachverhalts unverzichtbar sind. Er enthält die Gedanken und Überlegungen des verantwortlichen Politikers angesichts zu lösender Probleme ebenso wie die Schilderung von Ereignissen und Geschehensabläufen. Es ist – kurzum – ein Bericht, der politisch wie menschlich »mitten im Leben« spielt, in all seinen Facetten, positiven wie negativen.

Walter Bajohr, der mir achteinhalb Jahre ein vorzüglicher Pressesprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, hat mir wieder mit kritischen Korrekturen und Ergänzungen geholfen.

Gengenbach / Berlin, im September 2000

Wolfgang Schäuble

I. Vor der Wahl 1998 – Der Weg in die Niederlage

1. 16 Jahre Regierungszeit fordern ihren Tribut

Als am 27. September 1998 um Punkt 18 Uhr die Prognosen der Meinungsforschungsinstitute zum Ausgang der Bundestagswahl über die Fernsehschirme flimmerten, wurde es zur Gewissheit: Die CDU hatte die Wahl verloren – nach 16 siegreichen Jahren das erste Mal. Dass es so kam, war für mich zwar nicht mehr überraschend. Doch mit dem Ausmaß der Niederlage hatten nur wenige gerechnet. In der Schlussphase des Wahlkampfs hatten die Umfragen eine Aufholjagd der Union signalisiert, in den Medien wurde über ein Kopf-an-Kopf-Rennen spekuliert, und viele Wahlkämpfer klammerten sich an den Strohhalm, das Wunder, gemeinsam mit der FDP erneut eine Mehrheit zu erzielen, sei doch noch zu schaffen. Zumindest könnten CDU und CSU knapp vor der SPD landen, das hielten selbst seriöse Kommentatoren für nicht ganz ausgeschlossen. Folglich strapazierten sie bis zum Wahltag mit Verve ihr Lieblingsthema »große Koalition«.

Meine Skepsis gegenüber den Zahlenspielereien wich jedoch nicht. Da auch nach dem 27. September mit fünf Fraktionen im Bundestag zu rechnen war, hätte es schon einen enormen »last minute swing« geben müssen, um die Union in die Lage zu versetzen, den Kanzler stellen zu können. Und davon war trotz einer guten Schlussmobilisierung unserer Anhänger nichts zu spüren. So kam es, dass wir das schlechteste Wahlergebnis seit 1949 einfuhren. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein Regierungswechsel unmittelbar durch eine Wahl ausgelöst.

Es war also völlig klar, dass dieser 27. September 1998 eine tiefe Zäsur markierte, deren Auswirkungen zunächst gar nicht voll zu übersehen waren, die aber die CDU auch über das Jahr 2000 hinaus noch beschäftigen werden. Die Niederlage beendete 16 Jahre Regierungsverantwortung, eine für westliche Demokratien ebenso ungewöhnlich lange wie erfolgreiche Zeit. In der ersten Hälfte dieser 16 Jahre hatten wir mit den klassischen Mitteln der sozialen Marktwirtschaft eine wirtschaftliche Dynamik in Gang gesetzt, die zu großen Erfolgen am Arbeitsmarkt und bei der Geldwertstabilität führte. Der europäische Einigungsprozess gewann gegen verbreitete Skepsis neue Fahrt und steuerte mit der 1986 verabschiedeten Einheitlichen Europäischen Akte die Vollendung des Binnenmarkts an, die nächste Etappe auf dem Weg zum ehrgeizigen Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion. Die atlantische Solidarität wurde vor allem durch unseren unbeirrbaren Kurs in der Nachrüstungspolitik der NATO deutlich gestärkt und führte zusammen mit der Überlegenheit freiheitlicher Ansätze in der Wirtschaft und im gesellschaftlichen System des Westens zur Implosion des kommunistischen Herrschaftsbereichs. Der Kalte Krieg wurde friedlich entschieden. Kulminationspunkte dieser sich immer mehr beschleunigenden Entwicklung waren der symbolträchtige Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung.

Die zweite Hälfte der sechzehnjährigen Regierungszeit der Union stand im Zeichen der Vollendung der deutschen Einheit, des weiteren Ausbaus der europäischen Einigung und der mühsamen Suche nach einer neuen Weltordnung. Der Sieg der Freiheit, das Ende der Bipolarität eröffneten eine Welt mit ganz neuen Chancen. Aber damit einher gingen in den Neunzigerjahren auch dramatische Veränderungen in dieser entgrenzten Welt, beschrieben mit dem Begriff »Globalisierung«. Revolutionäre Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung, insbesondere bei den Kommunikationstechnologien mit kaum zu überblickenden Folgen für Märkte und Arbeitswelt, schufen neben all den positiven Möglichkeiten auch zunehmend Verunsicherung bei vielen Menschen. Allein die neuen Kommunikationsformen, symbolisiert durch den atemberaubenden Siegeszug von Handy und Internet, erzeugten einen sich verstärkenden Modernisierungsdruck, der mit immer größerer Wucht auf die eher behäbigen und teilweise sogar beharrenden gesellschaftlichen Befindlichkeiten drückte. Zwar nahm das kollektive Bewusstsein, in einem enormen Reformstau zu stecken, in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre rapide zu. Doch zugleich wehrte man sich im Alltag gegen Veränderungen. Daraus entwickelte sich eine diffuse Grundstimmung, das eigentliche Übel sei die Politik, die nichts zuwege bringe und schlicht reformunfähig sei. Zusammen mit einem zunehmenden Überdruss an »immer denselben Gesichtern« an der Spitze der Regierung wuchs allmählich die Bereitschaft zum politischen Wechsel samt Quittung für alle Unzufriedenheiten. Der 27. September 1998 wurde zum Zahltag.

2. Ermüdungsprozesse in der Koalition

Das Wahlergebnis war im Grunde also für die Union ebenso vorhersehbar wie unvermeidlich. Alarmzeichen hatte es ja schon viel früher gegeben. Bereits in der Mitte der Legislaturperiode 1990 bis 1994 war die Koalition von CDU/CSU und FDP in ein tiefes Meinungsloch gefallen. Der anfängliche Wiedervereinigungsbonus schmolz wie Schnee in der Sonne, Enttäuschungen vor allem in den neuen Bundesländern machten sich breit. Hinzu kamen wirtschafts- und finanzpolitische Probleme, die nicht nur, aber doch zum überwiegenden Teil mit den enormen Folgelasten von 40 Jahren Teilung und Sozialismus zusammenhingen. Nach einer dramatischen Aufholjagd, die durch schwere Fehler des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Scharping begünstigt wurde, gelang es der Koalition, die Bundestagswahl doch noch zu gewinnen, allerdings nur mit hauchdünnem Vorsprung. Lediglich durch Überhangmandate konnten wir uns einen Zehn-Stimmen-Vorsprung im Bundestag sichern – eine Mehrheit, die keineswegs so komfortabel war, wie sie auf den ersten Blick aussah. Im Gegenteil, angesichts der enormen Probleme, die es zu lösen galt, begann damit ein permanenter Stresszustand, weil diese knappe Mehrheit bei oft widerstreitenden Interessen im Regierungslager immer wieder neu organisiert werden musste. Wer aus Erfahrung lernen wollte, konnte damals nachträglich die Lage der spd-FDP-Koalition von 1969 studieren mit ihrer ähnlich schmalen Mehrheit.

Der Wahrheit halber muss noch angemerkt werden, dass die Regierungszeit der Union mit allergrößter Wahrscheinlichkeit bereits 1990 geendet hätte, wenn nicht der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung die Karten völlig neu gemischt hätten. Gleichwohl machte uns die Verantwortung für die deutsche Einheit unter dem Gesichtspunkt politischer Stimmung schon wenige Jahre nach der Einheit nicht mehr nur eitel Freude. Die Mühen um den Aufbau Ost und die vielfältigen Enttäuschungen und Brüche in Ost und West haben auch in der Legislaturperiode bis 1998 die Zustimmung zur Politik der Bundesregierung immer wieder eingetrübt.

Unser eigentliches Problem jedoch waren die ansteigenden Arbeitslosenzahlen. Bei den vielen Diskussionen um Lösungswege gerieten immer wieder die Sozialpolitiker mit den Wirtschaftsliberalen aneinander. Die Konfliktlinien liefen sowohl quer durch die Unionsfraktion als auch zwischen CDU/CSU und FDP. In der Presse wurde häufiger prognostiziert, der »Vorrat an Gemeinsamkeiten« in der Koalition sei aufgebraucht, das Regierungsbündnis werde sich nicht mehr lange halten können. Und umgehend stieg wieder das Gespenst der großen Koalition aus seiner Modergruft. Ich habe das immer für Unsinn gehalten, vor allem, weil es nach wie vor zwischen CDU/CSU und FDP eine Übereinstimmung in den grundsätzlichen Fragen unserer Politik gab. Dass die Nerven dennoch öfter blank lagen, ist allerdings auch wahr, und das hatte etwas damit zu tun, dass die Akzeptanz dessen, was wir auf den Weg brachten, in der Öffentlichkeit nicht besser werden wollte. Zwar wurde in der Legislaturperiode 1994 bis 1998 eine Vielzahl von Reformen auf den Weg gebracht (Einkommensteuer, Gesundheit, Rente, Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz), und der Zuwanderungsdruck mit all den heiklen Folgen für die innenpolitische Diskussion beruhigte sich weitgehend, nachdem die Änderung des Asylrechts ihre Wirkungen entfaltete. Auch die Verstetigung des Aussiedlerzugangs trug zur Entspannung einer wenige Jahre zuvor noch äußerst labilen und deshalb nicht ganz ungefährlichen Stimmungslage bei. Immerhin hatten wir es geschafft, die jährliche Zuwanderung von Aussiedlern auf maximal 200000 zu begrenzen, wobei die tatsächlichen Zugangszahlen im Laufe der Neunzigerjahre weiter zurückgingen. Aber dennoch standen wir vor dem Phänomen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung unsere Reformansätze einerseits als zu spät oder zu zögerlich eingeschätzt wurden, andererseits aber fast jeder konkrete Reformschritt den meisten Menschen schon wieder zu weit ging. Was erfolgreich zustande gebracht worden war, wurde in der Öffentlichkeit als erledigt betrachtet, ohne dass uns daraus ein längerfristig wirksamer Bonus erwachsen wäre. Dafür wirkten die ungelösten Probleme zusammen mit dem subjektiven Ärger über die eine oder andere Belastung infolge der beschlossenen Reformen massiv gegen uns.

Es war wohl unser größter Fehler in diesen vier Jahren, dass wir es nicht geschafft hatten, unsere Reformen in einen den Menschen plausiblen Gesamtzusammenhang zu stellen. Immer wieder waren wir konfrontiert mit enervierenden und die Ressourcen bindenden Detaildebatten. Über die Frage einer äußerst maßvollen Besteuerung von Spitzenrenten brachten es unsere eigenen Leute fertig, den großen Wurf unseres Petersberger Steuerreformkonzepts – Reduzierung aller Steuersätze um zirka ein Drittel bei Abschaffung zahlreicher Ausnahmen von der Besteuerung und einer Nettoentlastung in einer Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden Mark – schon gleich zu Anfang kaputtzureden. Die Zuzahlung bei Medikamenten auf Rezept, eine wesentliche Voraussetzung, aber insgesamt nur ein Teil unseres Gesamtkonzepts für den dringend erforderlichen Einspareffekt im Gesundheitswesen, war nicht nur der Boulevardpresse dicke Schlagzeilen wert, sodass wir auch hier ständig in Abwehrkämpfen gegen Unterstellungen und andauernden Erklärungszwängen standen. Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, wie eine an vielen Problemstellen ansetzende und in eine Gesamtkonzeption eingebettete Reformpolitik im öffentlichen Kleinkrieg zerschlissen werden kann.

Außerdem kamen wir mit unseren Reformkonzepten erst in der Mitte der Legislaturperiode über. Nach der Wahl 1994 hatten wir in den Koalitionsverhandlungen Zeit verloren. Um die Neuordnung des Staatsangehörigkeitsrechts hatten wir buchstäblich bis zur Erschöpfung gerungen, mit der Folge, dass sich niemand an die Umsetzung des erarbeiteten Kompromisses machen wollte. Eine große Steuerreform mochte Theo Waigel 1995 noch nicht in Angriff nehmen, weil zunächst durch ein Verfassungsgerichtsurteil die Steuerfreiheit des Existenzminimums und des Familienlastenausgleichs zum 1. Januar 1996 in Kraft treten musste. Waigel fürchtete zu Recht, dass diese Operation – es handelte sich immerhin um ein Finanzvolumen von rund 30 Milliarden DM – im Bundesrat an der rot-grünen Mehrheit scheitern würde, wenn zusätzliche Reformelemente damit verbunden würden. Lafontaine, damals Wortführer der SPD-geführten Landesregierungen, der so genannten »A-Länder«, warnte nämlich vorsorglich schon vor einem »Draufsatteln«. Und schließlich stritten wir innerhalb der Union und in der Koalition kräftig um die Berücksichtigung ökologischer Elemente in der Steuerpolitik. Weil Reformen in der Politik immer zunächst auf Widerstand stoßen, wurde der Zeitverlust innerhalb der Legislaturperiode zum zusätzlichen Problem – sowohl innerhalb der Regierungskoalition als auch hinsichtlich der verbesserten Chancen der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat, gegen Ende der Legislaturperiode eine Blockade durchzuhalten.

Viel Kraft kostete uns zudem die Diskussion um die Einführung des Euro. Der Abschied von der D-Mark war ein Prozess, in den sich viele Menschen gerade in den neuen Bundesländern, aber natürlich auch in der älteren Generation nur mühsam einfanden. Das latente Misstrauen in der Bevölkerung blieb nicht ohne Wirkungen in der Union. Insbesondere der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber mahnte eindringlich vor einer zu schnellen Einführung, weil er fürchtete, dass die eher lasche Haushaltspolitik einiger Beitrittsaspiranten den Euro auf Kosten der D-Mark zur Weichwährung machen und damit erst recht das breite Wasser der Vorbehalte in Deutschland auf die Mühlen rechtsradikaler Kräfte lenken könnte. Der CSU-Vorsitzende und Finanzminister Theo Waigel geriet dadurch ein ums andere Mal intern wie international in unangenehme Zwickmühlen, die er schließlich nur dadurch umgehen konnte, dass er in zäh und mit bewundernswerter Zielstrebigkeit geführten Verhandlungen mit den europäischen Partnern einen Stabilitätspakt zustande brachte, der die Euro-Teilnehmer auch nach der Erfüllung der zur Teilnahme berechtigenden Stabilitätskriterien zur stringenten Haushaltspolitik verpflichtete.

Theo Waigel gehörte ohnehin zu den am meisten geplagten und geprügelten Politikern der Koalition. Durch die enormen Transferleistungen für den Aufbau Ost, die zunehmend kritischere Situation der Sozialversicherung wegen der hohen Arbeitslosenzahlen und die Auswirkungen der schwierigen Konjunkturlage auf das Steueraufkommen waren die Finanzspielräume der Bundesregierung gleich null. Wenn gespart werden muss, finden das zwar grundsätzlich alle gut, nur nicht die, bei denen dann tatsächlich gespart wird. Waigel konnte es zwangsläufig niemandem recht machen, und so war er bald ins Fadenkreuz aller Kritik geraten, die auf uns einprasselte.

Natürlich hatte sich die Staatsverschuldung im Zuge der Aufbauleistungen für die neuen Bundesländer erhöht. Die Ministerpräsidenten hatten den Bund beim Solidarpakt, der die Verteilung der Sonderlasten für den Aufbau Ost zwischen Bund und Ländern samt Gründung des Fonds Deutsche Einheit und der Einführung des Solidaritätszuschlags regeln sollte, regelrecht über den Tisch gezogen, sodass wir eher mehr denn weniger in die Finanzklemme gerieten. Außerdem hatte der staatliche Zuschuss zur Sozialversicherung wegen der stark angestiegenen Arbeitslosenzahlen und aus strukturellen Gründen nie gekannte Höhen erklommen. Die heftige öffentliche Debatte traf uns umso unangenehmer, als mit dem Thema Staatsverschuldung ein Markenzeichen der Union, nämlich die finanzielle Solidität, in seinem Kern angegriffen wurde.

Es erhielt schon deshalb immer wieder neue Nahrung, weil andauernd darüber spekuliert wurde, ob Deutschland angesichts seiner Schuldenlage die Maastricht-Kriterien bei der Neuverschuldung erfüllen würde, ohne die es keinen Start in die Währungsunion geben konnte. Den – allerdings nicht nur daraus – resultierenden Sparzwang hatten wir 1993 insoweit institutionalisiert, als wir beschlossen, die Ausgaben des Bundeshaushalts Jahr für Jahr zu reduzieren. Das allerdings bescherte uns bei jeder Haushaltsaufstellung heftige interne Diskussionen, weil sich natürlich die Gestaltungsspielräume ständig verminderten. Trotz aller Einsicht in die Notwendigkeiten gab das immer wieder Anlass zu Missmut, der sich vorrangig gegen den Finanzminister richtete. »Sparen für Maastricht«– diese vergiftete Formel fiel auch bei manch einem frustrierten Fraktionskollegen auf nicht ganz unfruchtbaren Boden und machte die Lage nicht leichter.

3. Reformpolitik und SPD-Blockade

Viel stärker wurde die Situation noch dadurch erschwert, dass auch unsere sozialpolitischen Reformdebatten in diese kurzsichtige Optik gerieten. Mit dem ebenso unzutreffenden wie wirkungsvollen Argument von der falschen Finanzierung der deutschen Einheit und der wohlfeilen Erinnerung an das gebrochene Versprechen von 1990, die Wiedervereinigung ohne Steuererhöhungen bewältigen zu können, das die SPD geradezu gebetsmühlenartig wiederholte, wurde in der Öffentlichkeit der Eindruck befördert, die finanzielle Malaise sei nicht aus strukturellen Gründen entstanden, sondern alleinige Schuld falscher Regierungspolitik. Finanzminister Waigel nutzte jede sich bietende Gelegenheit, die Haushaltsspielräume zu vergrößern, insbesondere durch Privatisierungserlöse, wohlwissend, dass sie nur einmal zu Buche schlagen. Der Versuch jedoch, Anfang Mai 1997 über eine maßvolle Neubewertung der Goldreserven der Bundesbank finanzpolitische Handlungsspielräume zu erschließen, wurde zum Desaster. Schon Tage vorher quoll die Gerüchteküche über, die Bundesregierung wolle sich »wegen Maastricht« am Bundesgold »vergreifen«.

Dabei war die Entscheidung sachlich wohl begründet. In Vorbereitung auf die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mussten die Währungsreserven der Bundesbank ohnehin entsprechend den vom Europäischen Währungsinstitut entwickelten Grundsätzen neu bewertet werden. Das lag schon deshalb nahe, weil die meisten anderen europäischen Zentralbanken ihre Goldreserven längst wesentlich höher bewerteten als die Bundesbank. Die Koalition war der Auffassung, dass Deutschland mit der notwendigen Anpassung nicht bis zum Jahr 1999 warten, sondern schon im Frühjahr 1997 damit beginnen und die dadurch frei werdenden Finanzmittel an den Erblastentilgungsfonds weiterleiten sollte. Durch die Verringerung der Lasten, die der Bund hier zu tragen hatte, wären wir der Erfüllung der Maastricht-Kriterien für den Eintritt in die Währungsunion ein gutes Stück näher gekommen.

Aber dieses Vorhaben war offensichtlich schwer zu vermitteln. Und als der Zentralbankrat sich trotz vorheriger Sondierung quer legte, war es geradezu hoffnungslos. Dennoch eilte unmittelbar nach dem entsprechenden Kabinettsbeschluss Theo Waigel in einem überstürzten Hubschrauberflug nach Frankfurt zum Zentralbankrat, um ihm den Wunsch der Regierung zu erläutern, obwohl die Sache bereits gescheitert war. Die Aktion löste einen Aufschrei in den Medien aus. Waigels Hubschrauberflug wurde zum »Raubzug« stilisiert, der Vorgang bescherte den Karikaturisten ein äußerst dankbares Sujet und kostete die Union weiteres Vertrauen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde mir deutlich, dass nicht nur in den Medien, sondern auch in der Mehrheit der Bevölkerung sich langsam aber sicher eine regelrechte Abneigung gegenüber der regierenden Koalition und ihren führenden Repräsentanten festzusetzen begann.

Umgekehrt war es Lafontaine nach dem Putsch auf dem Mannheimer Parteitag im November 1995 gelungen, die SPD wieder zu konsolidieren. Zwar neigte auch ich anfangs zu der Einschätzung, ein bekennender Linker an der Spitze der SPD würde für uns manches leichter machen. Doch Lafontaine schlug nicht so sehr auf die altsozialistische Ideologenpauke, sondern verstand es geschickt, die SPD als Wächter der sozialen Gerechtigkeit zurechtzuschminken, was ihm angesichts des Diffamierungspotenzials, das unsere Reformpolitik zwangsläufig enthielt, erlaubte, hinter dieser Maske pure Destruktion zu betreiben. Der Generalverdacht der sozialen Schieflage war nun mal unser Problem.

Mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit nutzte er die rot-grüne Mehrheitsposition im Bundesrat, um den Eindruck von Reformstau und Bewegungsunfähigkeit der Regierung zu verstärken. Lafontaines Strategie war ebenso einfach wie riskant: Je weniger an Reformen, die in der CDU-/CSU-FDP-Koalition ohnehin stets unter Schmerzen geboren wurden, tatsächlich zustande kam, desto stärker würde der Unmut in der Bevölkerung werden, weil nichts voranging. Die politisch spannende Frage war, ob die Verantwortung dafür eher der SPD wegen ihrer Blockade angelastet würde, oder mehr der Regierung wegen der Unfähigkeit, den Reformstau zu überwinden. Von Monat zu Monat wurde sichtbar, dass – unbeschadet der Zuordnung von Verantwortung – jedenfalls in der politischen Wirkung die Strategie Lafontaines zu Lasten der Regierungskoalition aufging. Aus den Ingredienzien Arbeitslosenzahlen, magere Wachstumsziffern, Reformstau und Streit um soziale Gerechtigkeit, projiziert auf die Folie einer ungewöhnlich lange amtierenden Regierung Kohl, entstand eine für die Koalition und insbesondere die Union am Ende tödliche Melange –Überdruss.

Versuche, die Blockadeposition der SPD aufzulösen oder zu umgehen, scheiterten schon innerhalb der Koalition. Vor allem aber witterten unsere eigenen Leute, stets bereitwillig unterstützt durch die Unkenrufe der FDP, hinter allem Entgegenkommen gegenüber der SPD sofort die heimliche Bereitschaft zu einer großen Koalition. Wenn selbst unverbindliche Sondierungsgespräche mit meinem Fraktionsvorsitzendenkollegen Scharping derart diskreditiert werden konnten, dann musste daraus angesichts der fragilen Machtbalance zwischen CDU und CSU und nicht zuletzt auch innerhalb der CSU ein unüberwindliches Hindernis erwachsen. Den damit verbundenen Verdacht gegen meine Person habe ich ertragen, wenn auch oft genug mit Groll.

Doch auch die Schwäche der FDP verringerte unsere Handlungsspielräume. Dass sie ein ums andere Mal bei Landtagswahlen nicht mehr in die Parlamente zurückkehrte, führte zu heftigem internen Richtungsstreit zwischen den verschiedenen Flügeln. Zuerst musste Kinkel, der deshalb entnervt den FDP-Vorsitz aufgab, dann Gerhardt alle verfügbare Kraft aufbringen, um die Partei einerseits von unüberlegten Selbstmordversuchen abzuhalten, andererseits aber das nötige Maß an Disziplin zu garantieren, ohne das die Mehrheit für die Koalition nicht organisierbar war. Nahezu alle, auch eher unwichtige von der Koalition zu treffende Entscheidungen mutierten für die FDP zur Nagelprobe auf das liberale Profil. Das machte die Entscheidungsfindung gerade in Detailfragen auch für unsere Leute oft genug zur nervenfressenden Feilscherei. Angesichts des seit jeher in der FDP-Fraktion gepflegten Individualismus mit der Gefahr abweichenden Stimmverhaltens im Bundestag waren infolge unserer knappen Mehrheit die Erpressungspotenziale nicht unbeträchtlich, was wiederum auf die Unionsfraktion zwar nicht schulbildend, aber doch frustrierend wirkte. Insbesondere beim Komplex Staatsbürgerschaftsrecht führte das dazu, dass die Koalition nichts Gescheites zu Stande brachte (vgl. auch Kap. III. 2).

Zwar gelang es 1996, im Rahmen unseres Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung eine Vielzahl von Gesetzen, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedurften, mit der so genannten Kanzlermehrheit zur Beschleunigung der Entwicklung von Wirtschafts- und Arbeitsmarkt durchzusetzen. Sie führten auch zu einer spürbaren Minderung der Arbeitslosenzahlen, insbesondere im Verlauf des Jahres 1998. Doch es waren immer wieder Kraftakte, die umso mehr Energie kosteten, je unpopulärer sie waren.

Im Juli 1997 einigten wir uns endlich nach langem Widerstand von Norbert Blüm, die Probleme der Rentenversicherung durch Einführung eines demographischen Faktors strukturell anzugehen. Dieser revolutionäre Schritt, der nach Meinung aller Rentenexperten unabdingbar war, wenn man die umlagefinanzierte Rente auf absehbare Zeit erhalten wollte, bot dem politischen Gegner erneut reichlich Möglichkeiten zur Diffamierung. Dass die Renten auch in Zukunft weiter steigen würden, aber nicht mehr so stark wie bis dato, ging im politischen Sperrfeuer unter. In der Logik dieser Reform lag, dass das Rentenniveau innerhalb von zirka 15 Jahren auf etwa 65 Prozent absinken würde. Daraus machte die SPD eine »Rentenkürzung«, was von vielen Medien undifferenziert übernommen wurde und natürlich zu großer Beunruhigung bei den Rentnern führte. Zu erklären, warum eine allmähliche Absenkung des Rentenniveaus keine Rentenkürzung ist und die aktuellen Rentner selbst dadurch keinen Pfennig weniger Rente bekämen, fiel wegen der komplizierten Sachzusammenhänge nicht leicht. Was aber nicht so einfach ist wie ein Kampfbegriff à la Rentenkürzung, konnte in der allgemeinen Aufgeregtheit nicht durchdringen. Also verließ bereits wenige Wochen später die Union wieder teilweise der Mut. Auf dem für September 1997 turnusmäßig angesetzten Strategiegipfel der Unionsschwestern, der diesmal in der Idylle von Kloster Andechs stattfand, verabredete die Führung von CDU und CSU, diese Reform nicht, wie vorgesehen, schon zum 1. Januar 1998, sondern erst nach der Bundestagswahl zum 1. Januar 1999 in Kraft zu setzen. Ich war nicht in der Lage, diese Kehrtwende zu verhindern, weil mich ausgerechnet zwei Tage vorher eine Erkrankung dazu zwang, meine Teilnahme abzusagen – bei einem vergleichbaren Anlass das erste und einzige Mal in 16 Jahren. Allerdings hatte ich auch nicht mit einer solchen Volte gerechnet. Umso größer war mein Ärger. Die Bevölkerung von der alternativlosen Notwendigkeit dieser Rentenreform überzeugen zu wollen, ohne den Mut zu haben, sie auch schon vor der Wahl auf den Weg zu bringen, erschien mir ziemlich aussichtslos. Ja, ich war überzeugt, dass uns das in unseren Chancen zurückwarf, weil wir exakt vorexerzierten, was der Regierung in der Öffentlichkeit immer wieder vorgeworfen wurde: nämlich Führungsschwäche. Ich war so aufgebracht, dass ich nach meiner Genesung wenige Tage später eine schwere und lautstarke Auseinandersetzung im Kreis der Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Koalition suchte, um meine Überzeugung zu vertreten, dass auf diesem Wege die Bundestagswahl 1998 verloren gehen müsse.

Auch die Steuerreform entwickelte sich zu einem Drama, dessen Ende allerdings nicht von uns, sondern dank Lafontaines Blockadestrategie von der SPD-Mehrheit im Bundesrat bestimmt wurde. Um zu verhindern, dass überhaupt nichts zustande kam, schlug ich vor, die Mehrwertsteuer um ein Prozent zu erhöhen, das entsprechende Aufkommen zur Senkung des Rentenversicherungsbeitrags zu verwenden und wenigstens Teile des Steuerreformkonzepts zusammen mit einer weiteren Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge über eine höhere Mineralölsteuer konsensfähig zu machen. Das war nicht ganz aussichtslos, weil die SPD sich in Sachen Lohnnebenkosten ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt hatte und deshalb unter Umständen zu ködern war, zumal die Erhöhung der Mineralölsteuer ihrem Fetisch Ökosteuer entsprach. Doch alle Versuche, in die ich viel Mühe investierte, führten nur zur Anhebung der Mehrwertsteuer und zur entsprechenden Senkung des Rentenversicherungsbeitrags, wobei die SPD unsere Rentenreform mit der demographischen Komponente zwar nicht mittrug, daran aber den Kompromiss – höhere Mehrwertsteuer gegen Beitragssenkung – nicht scheitern ließ. Dagegen gelang eine Einigung über die Steuerreform und die Mineralölsteuer nicht einmal teilweise. Auf Seiten der Koalition war erst Waigel zögerlich, weil der Preis, die Erhöhung der Mineralölsteuer, im Flächenland Bayern viel Ärger versprach. Das überlegt sich ein CSU-Vorsitzender, auch wenn er Finanzminister ist, mindestens zweimal. Als er dann schließlich überzeugt war, hatte sich in der FDP bei Fraktionschef Solms und dem Parteivorsitzenden Gerhardt die Überzeugung durchgesetzt, dass eine Fortsetzung der Konfrontation zwischen Koalition und rot-grüner Opposition den Liberalen für die Wahl 1998 die bessere Überlebensperspektive bot als eine teilweise Auflösung von Bundesratsblockade und Reformstillstand.

Zwar kam es im Dezember 1997 noch zu Gesprächen mit der SPD, die Scharping und ich am 24. November initiiert hatten und für die er sich während des SPD-Parteitags (2. bis 5. Dezember in Hannover) die Legitimation von Lafontaine holte. Doch diesem schwebte kein positives Ergebnis vor, sondern ein weiterer Stillstandsbeweis. In diesem Sinne legten Frau Matthäus-Maier und der damalige hessische Ministerpräsident Eichel, die neben Scharping die SPD vertraten, die Latte für eine Einigung so hoch, dass Waigel, Glos und ich die Skepsis von Gerhardt und Solms nicht mehr ausräumen konnten. Solms teilte mir schließlich am Telefon mit, dass eine Erhöhung der Mineralölsteuer mit der FDP-Fraktion unter keinen Umständen zu machen sei. Damit war mir der Schlüssel für einen Kompromiss endgültig aus der Hand geschlagen.

Immerhin blieb unser Petersberger Steuerreformkonzept, das wir seit dem Steuerparteitag der CDU in Hannover 1996 erarbeitet und im Bundestag nach manchen internen Auseinandersetzungen beschlossen hatten, ein Reformansatz, der auch heute noch den Steuerkonzepten von Eichel überlegen ist. Aber dafür konnten wir uns im Blick auf die Bundestagswahl nichts kaufen, denn in Kraft getreten ist das Gesetz mangels Zustimmung des Bundesrates nicht, und die politische Last des Scheiterns trug jedenfalls im Wahlkampfjahr 1998 nicht mehr die SPD.

4. Leipziger Parteitag 1997: Wie man eine Reformdebatte verhindert

Das Bedürfnis nach Reformen war auch in der Union groß. Aber es ging unseren Mitgliedern offenbar wie den meisten Menschen: Sie sahen zwar den einzelnen Schritt, nicht aber immer den Gesamtzweck, und deshalb waren sie genauso anfällig für Detailkritik, die dann schnell zur generellen Politikschelte wurde. Dass das starke Bedürfnis nach Reformen und ihr Verständnis durchaus in Einklang zu bringen war, zeigte der Leipziger Parteitag im Oktober 1997. Als Fraktionsvorsitzender hatte ich satzungsgemäß einen Rechenschaftsbericht über die Arbeit der Fraktion zu erstatten. Diesmal nutzte ich die Gelegenheit, die beschlossenen Gesetze und Reformkonzeptionen in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Die Reaktion auf dem Parteitag und in der Öffentlichkeit war überschwänglich. Die stellvertretende Parteivorsitzende Angela Merkel, die neben mir auf dem Podium saß, meinte nach der Rede, nun wisse sie wieder, warum sie in der CDU sei. Und ein Mitarbeiter sagte mir anschließend zu meiner Verwunderung, er habe das Gefühl gehabt, dass die Leute erstmals verstanden hätten, was wir da eigentlich so trieben. Aber wahrscheinlich war es genau das: Was für viele wie Flickwerk ausgesehen hatte, bekam durch die Art der Darstellung plötzlich Sinn und Ziel. Man erkannte mit einem Mal eine Perspektive für die Zukunft. Und danach sehnten sich alle.

Die Reaktion von Kohl allerdings zeigte die spezifischen Fähigkeiten, mit denen er in der Folgezeit – vor und nach der Bundestagswahl 1998 – allen vermeintlichen oder tatsächlichen Ansätzen entgegenwirkte, die seinen beherrschenden Einfluss damals als Bundeskanzler und Parteivorsitzender unmittelbar auf die Geschicke des Landes, später mittelbar auf die Union zu relativieren oder gar einzuschränken schienen. Ich war sofort nach dem Ende des Parteitags gut gelaunt zum Flughafen gefahren, wo ich zusammen mit der damaligen Umweltministerin Angela Merkel und einigen Bundestagskollegen in einer Maschine der Flugbereitschaft der Bundeswehr auf den Rückflug nach Bonn wartete. Doch die Maschine stand und stand, und nachdem ich mich erkundigt hatte, was der Grund für die Verzögerung sei, erfuhr ich, dass wir erst abfliegen dürften, wenn auch die Maschine des Kanzlers gestartet sei. Das war Sicherheitsvorschrift: Sollte nämlich die Kanzlermaschine aus irgendeinem Grund ausfallen, musste eine Ersatzmaschine unmittelbar zur Verfügung stehen. Wir saßen schon über eine halbe Stunde in der Maschine, als endlich die Wagenkolonne des Kanzlers auftauchte und auch wir starten konnten.

Erst als ich am späten Nachmittag in meinem Bonner Büro saß und mein Pressesprecher mir mit bedenklichem Gesicht einige frische Agenturmeldungen hereinreichte, erfuhr ich den Grund für die Verzögerung. Kohl hatte, nachdem die Parteitagsdelegierten sich auf den Heimweg gemacht hatten, ein Fernsehinterview gegeben. Darin hatte er verkündet, dass er mich als seinen Nachfolger im Amt wünsche. Obwohl er das nicht zum ersten Mal in mehr oder weniger offener Form gesagt hatte, wirkte diese Äußerung unter dem Eindruck des beendeten Parteitags auf die Journalisten wie eine Sensation. Meine spontane Einschätzung war, dass er sich und mir damit keinen Gefallen getan hatte. Vor allem er würde sich ab sofort bohrenden Fragen ausgesetzt sehen, wann denn der Wechsel stattfinden werde. Und für mich sah ich natürlich vorher, dass ich nun permanent in der Verlegenheit war, dazu irgendwie Stellung zu beziehen.

Ich rief ihn an und fragte unter Hinweis auf die zu erwartenden Folgen, ob er sich das eigentlich gut überlegt habe. Kohl meinte, er sehe da überhaupt kein Problem. Doch einen Tag später bekundete er öffentlich, bei der Bundestagswahl im September 1998 selbstverständlich für die vollen vier Jahre einer Legislaturperiode antreten zu wollen. Eine Nachfolge fünf Jahre später? Ich hatte jeden Anschein eines »Kronprinzenschicksals« schon seit 1991 entschieden von mir gewiesen. Außerdem war ich der festen Überzeugung, dass Kohl letzten Endes niemals freiwillig abtreten würde. Umso mehr empfand ich den Vorgang als abträglich für ihn und unsere Wahlchancen. Bereits 1994 hatte es kurz vor der Bundestagswahl eine Parallele mit schädlichen Wirkungen gegeben. Damals hatte Kohl, offensichtlich unbedacht, in einem Fernsehinterview angekündigt, dass er eigentlich nicht die ganze Legislaturperiode im Amt bleiben wolle. Zwar sprach er nicht über einen Nachfolger, doch das Echo war auch so problematisch: Kohl als Kanzler auf Abruf.

Die Äußerungen nach dem Leipziger Parteitag ordnete ich zunächst in die Kategorie »Gut gemeint!« ein. Obwohl in der Presse anschließend des Langen und des Breiten über Sinn und Hintersinn der Kohl-Worte spekuliert wurde und auch der Gedanke auftauchte, er habe mich in Wahrheit nach dem großen Erfolg meiner Parteitagsrede wieder einfangen und zeigen wollen, wer der Chef sei, konnte ich mir eine bewusst intrigante Aktion Kohls nicht vorstellen. Andere allerdings urteilten anders und härter.

Für mich hatte die ganze Geschichte die unangenehme Folge, dass nahezu alles, was ich von da ab unternahm oder öffentlich äußerte, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt geprüft wurde, ob ich damit meine Kanzlerkandidatur vorbereite. Jedes Wörtchen wurde auch parteiintern auf der Goldwaage gewogen, und ich musste höllisch aufpassen, nicht plötzlich durch unbedachte Äußerungen in die Rolle des potenziellen Königsmörders zu geraten. Dass ich spätestens seit Leipzig als Hoffnungsträger der CDU galt, fand ich demgegenüber unproblematisch, weil davon auszugehen war, dass sich das eher positiv für die Partei insgesamt auswirkte.