Für dich, den Leser –
dafür, dass du mir bis hierher gefolgt bist.
EINS
Charles’ Hand lag auf meinem Rücken, während wir unter den Augen der Gäste ein Mal, dann ein zweites Mal durch das Konservatorium wirbelten. Ich hielt den Blick über seine Schulter gerichtet, um seinem schweren Atem auszuweichen. Der Chor stand am hinteren Ende des Kuppelsaals und trällerte die ersten Weihnachtslieder des Jahres. »Frohe Weihnachten«, sangen sie und ihre Münder bewegten sich in völligem Einklang, »frohe frohe frohe frohe …«
»Lächle wenigstens«, flüsterte Charles nah an meinem Hals, als wir eine weitere Runde über die Tanzfläche drehten. »Bitte?«
»Tut mir leid, mir war nicht klar, dass mein Unglück dir etwas ausmacht. Ist es so besser?« Ich hob mein Kinn und lächelte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Amelda Wentworth, eine ältere Dame mit rundem, wächsernem Gesicht, starrte uns fragend an, als wir an ihrem Tisch vorbeikamen.
»So war das nicht gemeint, und das weißt du auch«, sagte Charles. Wir drehten uns schnell weiter, damit Amelda nicht noch mehr sah. »Es ist nur … die Leute bemerken es. Sie reden schon über uns.«
»Sollen sie doch«, gab ich zurück, auch wenn ich in Wahrheit viel zu erschöpft war, um mich zu streiten. In den meisten Nächten erwachte ich noch vor Sonnenaufgang aus meinen Albträumen. Seltsame Schatten zogen sich um mich zusammen und umzingelten mich, immer wieder rief ich nach Caleb, weil ich vergaß, dass er fort war.
Das Lied dudelte weiter vor sich hin. Charles wirbelte mich erneut über die Tanzfläche. »Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Du könntest es wenigstens versuchen.«
Versuchen. Darum bat er mich ständig: Dass ich versuchen sollte, mich in der Stadt einzuleben, dass ich versuchen sollte, über Calebs Tod hinwegzukommen. Konnte ich nicht versuchen, den Turm zu verlassen und jeden Tag ein paar Stunden an die Sonne gehen? Konnte ich nicht versuchen, alles was passiert war, hinter mir, hinter uns zu lassen?
»Wenn du willst, dass ich lächle«, entgegnete ich, »sollten wir vielleicht nicht gerade diese Unterhaltung führen – nicht hier.«
Wir bewegten uns zur anderen Seite des Saals, wo die Tische mit blutroten Tischtüchern bedeckt und mit Weihnachtskränzen geschmückt waren. Die ganze Stadt hatte sich in den vergangenen Tagen verwandelt. Lichterketten wanden sich um die Laternenpfähle und Baumstämme, die die Hauptstraße säumten. Nachgemachte Plastiktannen, deren dünne Zweige kahle Stellen aufwiesen, waren vor dem Palast aufgestellt worden. Wo immer ich hinkam, stand ein dämlich grinsender Schneemann oder hing eine grellbunte Schleife mit Goldrand. Mein neues Zimmermädchen hatte mich für den heutigen Abend in ein rotes Samtkleid gesteckt, als wäre ich Teil der Dekoration.
Es war zwei Tage nach Thanksgiving, einem Feiertag, von dem ich schon gehört, den ich jedoch vorher noch nie gefeiert hatte. Der König hatte an einer langen Tafel gesessen und sich darüber ausgelassen, wie dankbar er für seinen neuen Schwiegersohn Charles Harris war, den Entwicklungsleiter der Stadt aus Sand. Er war dankbar für die anhaltende Unterstützung der Bürger des Neuen Amerika. Er hatte sein Glas erhoben, die von dunklen Schatten umrahmten Augen auf mich gerichtet und betont, wie außerordentlich dankbar er für unsere Wiedervereinigung sei. Ich glaubte ihm kein Wort, nicht nach allem, was geschehen war. Und auch er war misstrauisch, er ließ mich nicht aus den Augen, als warte er beständig auf ein Anzeichen von Verrat.
»Ich verstehe nicht, warum du das durchgezogen hast«, flüsterte Charles. »Was hat das für einen Sinn?«
»Was hatte ich denn für eine Wahl?«, entgegnete ich und wandte den Blick ab, in der Hoffnung, dass unser Gespräch damit beendet wäre. Manchmal fragte ich mich, ob er hinter die Wahrheit kommen würde: die regelmäßigen Interviews, die ich mit Reginald führte, der am Tisch meines Vaters saß und als sein Pressechef auftrat, in Wahrheit jedoch Moss, der Anführer der Rebellen, war. Ich weigerte mich, im selben Bett wie Charles zu schlafen, und wartete stattdessen jede Nacht, bis er sich auf die Couch der Suite zurückzog. Ich hielt seine Hand nur in der Öffentlichkeit und ging so weit wie nur irgend möglich auf Abstand zu ihm, sobald wir allein waren. Erkannte er nicht, dass die vergangenen Wochen, ja, seine ganze Ehe nur Tarnung waren?
Das Lied ging zu Ende und die Musik wurde von vereinzeltem Klatschen hier und da abgelöst. Die Bediensteten umkreisten die Tische mit Tabletts voll rot glasiertem Kuchen und dampfendem Kaffee. Charles hielt weiter meine Hand, während er mich zu der langen Tafel zurückführte, an der der König saß. Mein Vater war standesgemäß gekleidet, die offene Jacke seines Smokings gab den Blick auf einen blutroten Kummerbund frei. An seinem Revers steckte eine Rose, deren Blütenblätter an den Rändern bereits welkten. Moss saß zwei Plätze weiter. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er stand auf, um mich zu begrüßen. »Prinzessin Genevieve«, sagte er und bot mir seine Hand an. »Darf ich um den nächsten Tanz bitten?«
»Ich vermute, Sie wollen mir wieder eine Bemerkung über den schönen Abend abringen«, antwortete ich mit einem nervösen Lächeln. »Also gut. Aber treten Sie mir diesmal nicht auf die Zehen.« Ich legte meine Hand in die von Moss und hielt erneut auf die Tanzfläche zu.
Moss wartete, bis wir uns in der Mitte des Raumes und rund zwei Meter entfernt vom nächsten Tanzpaar befanden, bevor er zu sprechen begann. »Du wirst immer besser«, sagte er und lachte. »Andererseits kann man wohl sagen, du hast vom Meister persönlich gelernt.« Er sah anders aus, kaum wiederzuerkennen. Es brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, woran das lag – er lächelte.
»Stimmt«, flüsterte ich und warf einen prüfenden Blick auf seinen Ärmel, an die Stelle, wo sein Manschettenknopf befestigt war. Ich erwartete, ein kleines Giftpäckchen an seinem Handgelenk zu sehen. Ricin. Moss wartete seit Monaten auf das Mittel, das ihm ein Rebell aus den Außenbezirken beschaffen sollte. »Deine Kontaktperson ist durchgekommen?«
Moss blickte zum Tisch des Königs. Meine Tante Rose unterhielt sich angeregt und wild gestikulierend mit dem Leiter der Finanzabteilung, während mein Vater ihr zusah. »Besser«, entgegnete er. »Das erste Lager ist befreit worden. Die Revolte hat begonnen. Ich bin heute Nachmittag vom Pfad informiert worden.«
Das waren die Neuigkeiten, auf die wir seit Monaten gewartet hatten. Nun, da die Jungs in den Arbeitslagern frei waren, würden die Rebellen auf dem Pfad sie in den Kampf führen. Es gab Gerüchte, dass sich im Osten eine Armee von Verbündeten aus den Kolonien sammelte. Bis zur Belagerung der Stadt konnten es nicht mehr als ein paar Wochen sein. »Eine gute Nachricht. Aber du hast immer noch nicht von deiner Kontaktperson gehört.«
»Sie haben es für morgen angekündigt«, antwortete er. »Ich muss dann nur noch einen Weg finden, um es an dich weiterzugeben.«
»Es wird also wirklich passieren.« Obwohl ich zugestimmt hatte, meinen Vater zu vergiften – ich war die Einzige, die unbewacht Zugang zu ihm hatte –, konnte ich mir nicht vorstellen, was es bedeuten würde, den Plan tatsächlich durchzuführen. Er hatte so viele Menschenleben auf dem Gewissen, darunter auch Calebs. Die Entscheidung hätte mir leichtfallen müssen, ich hätte es mir stärker wünschen müssen. Doch nun, da es unmittelbar bevorstand, breitete sich ein dumpfes Gefühl in meiner Magengrube aus. Er war mein Vater, mein Blutsverwandter, der einzige Mensch außer mir, der meine Mutter geliebt hatte. Lag in dem, was er zu mir gesagt hatte, nicht doch ein Körnchen Wahrheit, selbst jetzt, nach Calebs Tod? War es möglich, dass er mich tatsächlich liebte?
Wir drehten eine langsame Runde um die Tanzfläche, wobei wir versuchten, möglichst leichtfüßig zu wirken. Mein Blick blieb für einen Moment am König hängen, der über etwas lachte, das Charles gesagt hatte. »In ein paar Tagen ist es vorbei«, flüsterte Moss so leise, dass er über dem Klang der Musik kaum zu hören war. Ich wusste, was es bedeutete. Kämpfe entlang der Stadtmauern. Revolten in den Außenbezirken. Weitere Tote. Ich konnte noch immer die flüchtige Rauchwolke sehen, die erschienen war, als Caleb erschossen wurde, konnte noch immer den Gestank des Blutes auf dem Betonboden des Flugzeughangars riechen. Wir waren gefasst worden, als wir aus der Stadt fliehen wollten, nur Minuten bevor wir in einen der Tunnel hatten hinabsteigen können, die die Rebellen gegraben hatten.
Moss sagte, sie hätten Caleb nach seiner Verwundung in Gewahrsam genommen. Der Gefängnisarzt stellte den Tod um elf Uhr dreißig an jenem Morgen fest. Ich erwischte mich immer wieder dabei, wie ich die Uhr zu dieser Zeit beobachtete und darauf wartete, dass sie für eine Minute auf den Ziffern stehen blieb, während der Sekundenzeiger leise seine Runde zog. Caleb hatte so viel Raum in meinem Leben eingenommen, dass es mir nun vorkam, als gebe es nichts, was die allumfassende Leere in mir füllen könnte. In den vergangenen Wochen hatte ich sie bei allem, was ich tat, gespürt. Sie lag in dem unsteten Strom meiner Gedanken, den Nächten, die ich nun alleine verbrachte, den kalten Laken neben mir. Das war sein Platz, dachte ich jedes Mal. Wie soll ich nur mit dieser Leere leben?
»Die Soldaten werden nicht zulassen, dass die Stadt eingenommen wird«, sagte ich, während ich versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die mir plötzlich in die Augen gestiegen waren. Ich heftete meinen Blick auf meinen Vater, der seinen Stuhl zurückgeschoben hatte und nun durch den Ballsaal ging. »Es spielt keine Rolle, ob er tot ist oder nicht.«
Moss schüttelte kaum merklich den Kopf, um anzuzeigen, dass jemand in Hörweite war. Ich sah über meine Schulter. Keinen Meter von uns entfernt tanzte Clara mit dem Leiter der Finanzabteilung. »Ihr habt recht, der Palast scheint um diese Zeit des Jahres regelrecht zum Leben zu erwachen«, sagte Moss laut. »Schön gesagt, Prinzessin.« Als das Lied endete, trat er einen Schritt von mir zurück, ließ meine Hand los und verbeugte sich rasch.
Einige Menschen in der Menge applaudierten, während wir die Tanzfläche verließen. Ich brauchte einen Moment, bis ich meinen Vater ausgemacht hatte. Er stand am Hinterausgang und sprach mit einem Soldaten.
Moss folgte mir, und nachdem wir einige Schritte gegangen waren, kam das Gesicht des Soldaten in Sicht. Ich hatte ihn seit über einem Monat nicht mehr gesehen, aber seine Wangen waren immer noch eingefallen, sein Haar immer noch kurz geschoren. Seine Haut hatte von der Sonne ein tiefes Braun angenommen, das leicht ins Rötliche ging. Der Lieutenant starrte mich an, während ich meinen Platz an der Tafel einnahm. Er senkte die Stimme, aber bevor das nächste Lied anfing, konnte ich hören, wie er etwas über die Arbeitslager sagte. Er war gekommen, um die Nachricht von der Revolte zu überbringen.
Der König hatte den Kopf geneigt, sodass sein Ohr auf gleicher Höhe war wie der Mund des Lieutenants. Ich wagte es nicht, Moss anzusehen. Stattdessen hielt ich den Blick auf die Spiegelwand mir gegenüber gerichtet, wo ich das Spiegelbild meines Vaters sehen konnte. In seinem Ausdruck lag eine Nervosität, wie ich sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Er hatte die Hand ans Kinn gelegt und seine Wangen hatten sämtliche Farbe verloren.
Ein neues Lied setzte ein und das Konservatorium füllte sich mit den Stimmen des Chors. »Auf die Prinzessin«, sagte Charles und hielt einen schmalen Kelch mit Apfelwein in die Höhe. Ich stieß mit ihm an, dachte dabei jedoch nur an Moss’ Worte.
Binnen einer Woche würde mein Vater tot sein.
ZWEI
Zunächst war ich nicht sicher, was ich hörte: Das Geräusch waberte durch die verschwommene Welt meiner Träume. Ich zog die Decke unters Kinn, doch der Lärm hielt an. Langsam nahm das Zimmer um mich herum Gestalt an. Der Kleiderschrank und die Stühle wurden von dem sanften Licht erhellt, das von draußen hereinfiel. Charles schlief wie immer auf der Couch in der Ecke, wobei seine Füße ein Stück über das kurze Polster hinausragten. Immer wenn ich ihn so daliegen sah, zusammengerollt, die Gesichtszüge im Schlaf entspannt, überfiel mich ein schlechtes Gewissen. Dann musste ich mir wieder bewusst machen, wer er war, warum wir beide hier waren und dass er mir nichts bedeutete.
Ich setzte mich auf und lauschte. Das schrille Quietschen von Bremsen, das hin und wieder erklang, war von hier oben nur schwach wahrzunehmen, aber doch unverkennbar. Ich hatte es gehört, als wir westwärts Richtung Califia gezogen waren, und immer wieder auf der langen Fahrt in die Stadt aus Sand. Ich ging zum Fenster und sah auf die Hauptstraße hinunter, wo sich eine Reihe von Regierungsfahrzeugen durch die Stadt schlängelte und mit ihren Scheinwerfern die Nacht erhellte.
»Was ist los?«, fragte Charles.
Von hier oben, viele Stockwerke über der Erde, konnte ich gerade noch die schattenhaften Gestalten auf den Ladeflächen ausmachen. »Ich glaube, sie bringen die Leute aus der Stadt«, antwortete ich, während ich zusah, wie die Jeeps sich langsam auf der Straße in Richtung Süden fortbewegten. Die Fahrzeugschlange erstreckte sich in beide Richtungen, so weit das Auge reichte; ein Wagen reihte sich an den nächsten.
Charles rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie das tatsächlich tun würden«, murmelte er.
»Was meinst du?« Ich drehte mich zu ihm um, aber er weigerte sich, mich anzusehen. »Wohin bringen sie sie?«
Er stellte sich neben mich ans Fenster. Unsere Spiegelbilder waren in dem Glas kaum auszumachen. »Sie fahren nicht raus, sie kommen«, sagte er schließlich. Er deutete auf das verlassene Krankenhaus in den Außenbezirken. »Die Mädchen.«
»Welche Mädchen?« Ich beobachtete, wie die Jeeps sich auf der Hauptstraße bewegten, anhielten und wieder anfuhren. Einige Soldaten standen auf der Fahrbahn und wiesen sie ein. Es waren gut und gerne mehrere Dutzend Fahrzeuge. Mehr Autos, als ich jemals auf einem Fleck gesehen hatte.
»Die Mädchen aus den Schulen«, erklärte er. Er legte mir die Hand an den Rücken, als könne mich allein diese Geste beruhigen. »Ich habe deinen Vater heute darüber sprechen hören. Es hieß, es handle sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme infolgedessen, was in den Lagern passiert ist.«
Der König hatte sich nach dem Abendessen mit seinen Beratern in seinem Büro verschanzt. Ich wusste, dass sie sich eine Verteidigungsstrategie überlegen würden, so viel war klar, aber ich hätte niemals vermutet, dass sie so weit gehen würden, die Schulen zu evakuieren. Noch bevor ich diese Erkenntnis verarbeiten konnte, sammelten sich Tränen in meinen Augen und meine Sicht verschwamm. Sie waren hier, endlich, unglaublicherweise – Ruby, Arden und Pip.
»Alle Mädchen? Wie viele insgesamt?« Ich huschte durchs Zimmer, zog einen Sweater aus dem Schrank und schlüpfte in eine schmal geschnittene Hose. Ich zog sie unter meinem Nachthemd an, anstatt wie sonst ins Badezimmer zu gehen. Dann drehte ich Charles meinen nackten Rücken zu, als ich das Nachthemd gegen den weichen beigefarbenen Sweater eintauschte.
Als ich mich wieder umdrehte, starrte er mich mit geröteten Wangen an. »Ich glaube, alle. Bis zum Sonnenaufgang wollen sie fertig sein. Sie wollen nicht, dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommt.«
»Das ist nicht möglich.« Über seine Schulter hinweg warf ich einen Blick auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite. In einigen Apartments waren die Lichter angegangen. Silhouetten zeichneten sich hinter den Vorhängen ab, die sich das Geschehen unten auf der Straße ansahen.
Er antwortete nicht. Stattdessen musterte er mich aufmerksam, als ich die glänzenden schwarzen flachen Schuhe vom Boden meines Kleiderschranks aufhob und anzog. Alina, mein neues Zimmermädchen, erlaubte mir so gut wie nie, sie in der Öffentlichkeit zu tragen, sondern bestand auf den förmlichen Pumps, die mir die Zehen einquetschen und in denen ich das Gefühl hatte vornüberzukippen. »Du kannst nicht gehen – denk an die Sperrstunde«, sagte Charles, als er erkannte, was ich vorhatte. »Die Soldaten werden dich nicht rauslassen.«
Ich zog ein Jackett von einem der Kleiderbügel, gefolgt von der Hose, die darunter gefaltet lag. »Und ob sie das werden«, entgegnete ich und reichte sie ihm nacheinander, »wenn du mich begleitest.«
Er sah erst mich an, dann die Kleider, die sich an seiner Brust zusammenknüllten. Langsam, ohne ein Wort, ging er ins Badezimmer, um sich umzuziehen.
* * *
Wir benötigten fast eine Stunde, bis wir das Krankenhaus in den Außenbezirken erreichten. Auf der Hauptstraße reihten sich immer noch die Fahrzeuge, daher eskortierte uns ein Soldat zu Fuß. Ich lief mit gesenktem Kopf, die Augen auf den sandigen Boden gerichtet. Das letzte Mal, als ich mich in dieser Gegend befunden hatte, war ich auf dem Weg zu Caleb gewesen. Die stille Nacht hatte mich umfangen, während mich die Vorstellung eines gemeinsamen Lebens außerhalb der Mauern angetrieben hatte. Die Vorstellung, dass es ein Wir geben könnte. Nun erhoben sich in der Ferne die vagen Umrisse des Flughafens. Meine Augen fanden den Hangar, in dem wir übernachtet hatten. Die dünnen Flugzeugdecken hatten nur wenig Schutz gegen die Kälte geboten. Caleb hatte meine Hand an seine Lippen gehoben und jeden Finger einzeln geküsst, bevor wir aneinandergeschmiegt eingeschlafen waren …
Ein überwältigendes Gefühl von Übelkeit und Nervosität überfiel mich. Ich hielt die kalte Luft in meinen Lungen zurück, in der Hoffnung, das Gefühl würde vergehen.
Während wir weiter in die Außenbezirke vordrangen, wanderten meine Gedanken von Caleb zu Pip. Es war viele Wochen her, seit ich das letzte Mal mit meinen Freundinnen gesprochen hatte. Das war während des »offiziellen« Besuchs gewesen, den ich meinem Vater abgerungen hatte. Nachdem ich zugestimmt hatte, vor den jüngeren Schülerinnen dort eine patriotische Rede zu halten, hatte ich an unsere Schule zurückkehren dürfen, um sie zu sehen.
Pip und ich hatten gleich hinter dem fensterlosen Ziegelbau gesessen, wo Pip so lange mit den Fingern gegen den steinernen Tisch getrommelt hatte, bis sie feuerrot waren. Sie war so wütend auf mich gewesen. Es war mehr als zwei Monate her, dass ich Arden den Schlüssel zum Seitenausgang der Schule zugeschoben hatte. Aber ich hatte nichts von einem Fluchtversuch gehört.
Ich fragte mich, ob Arden ihn immer noch zwischen ihren wenigen Habseligkeiten verborgen aufbewahrte oder ob jemand ihn gefunden hatte.
Als wir uns dem Krankenhaus näherten, wurde das Tuckern der Motoren um uns herum lauter. Eine Reihe von Jeeps schmiegte sich an die Wand des steinernen Gebäudes. Ihre Scheinwerfer boten eine willkommene Abwechslung zur Dunkelheit der restlichen Stadt. Ein Stück voraus standen drei Soldatinnen vor Glastüren, die zur Hälfte mit Sperrholz verbarrikadiert waren. Das Krankenhaus war seit der Zeit vor der Epidemie nicht mehr benutzt worden. Selbst jetzt noch waren die Büsche in der Umgebung verdorrt und kahl und der Sand türmte sich an den Wänden auf. Zwei der Soldatinnen diskutierten mit einer älteren Frau in einer leuchtend weißen Bluse und schwarzen Hosen – die Uniform, die die Angestellten im Stadtzentrum trugen.
»Wir können Ihnen nicht helfen«, sagte eine Soldatin, auf deren Wange ein rotes ovales Muttermal prangte. Eine andere Soldatin, eine Frau Mitte dreißig mit dünnen Augenbrauen und einer kleinen, schnabelähnlichen Nase, befahl der Person am anderen Ende der Funkverbindung zurückzubleiben.
Die Frau vom Stadtzentrum stand mit dem Rücken zu uns, aber ich erkannte den schmalen goldenen Ring, den sie am Finger trug, mit einem einfachen grünen Stein in der Mitte. Dies waren dieselben Hände, die meine eigenen gehalten hatten, als ich zum ersten Mal im Palast ankam, dieselben Hände, die mit dem Waschlappen behutsam mein schmutzverkrustetes Gesicht abgerieben und vorsichtig die Knoten aus meinem feuchten Haar gelöst hatten. »Beatrice«, rief ich. »Wie bist du hierhergekommen?«
Sie drehte sich zu mir um. Obwohl seit unserer letzten Begegnung lediglich zwei Monate vergangen waren, sah sie älter aus. Tiefe Falten umrahmten ihren Mund wie Klammern einen Satz. Die Haut unter ihren Augen war dünn und grau. »Es ist so schön, dich zu sehen, Eve«, sagte sie und kam auf mich zu.
»Prinzessin Genevieve«, korrigierte Charles und streckte die Hand aus, um sie aufzuhalten.
Ich ignorierte seine Reaktion und schob mich an ihm vorbei. Nachdem am Morgen der Hochzeit mein Verschwinden bemerkt worden war, hatte Beatrice meinem Vater gestanden, dass sie mir bei der Flucht aus dem Palast geholfen hatte. Der König hatte sie und ihre Tochter bedroht, die seit frühester Kindheit in einer der Schulen war. Aus Angst um das Leben ihrer Tochter hatte Beatrice ihm verraten, wo ich mich mit Caleb treffen wollte, und damit den Standort des ersten der drei Tunnel preisgegeben, die die Rebellen unter der Mauer hindurchgegraben hatten. Sie war der Grund, weswegen sie uns an jenem Morgen gefunden hatten, der Grund, weswegen sie uns gefangen und Caleb getötet hatten. Seitdem hatte ich sie nicht mehr gesehen.
»Es gab ein Gerücht im Zentrum«, flüsterte Beatrice. »Ich habe einige Transporter vorbeifahren sehen und bin ihnen gefolgt. Das sind die Mädchen aus den Schulen, nicht wahr?« Mit zitternder Hand deutete sie auf das Gebäude hinter sich, auf die Fenster, die mit Sperrholz bedeckt waren. »Ich habe recht, oder?«
Die Soldatin mit dem Muttermal trat vor. »Sie müssen gehen oder ich werde Sie wegen Übertretens der Sperrstunde verhaften müssen.«
»Du hast recht«, unterbrach ich sie. Beatrice war schlussendlich von allen Vorwürfen der Kollaboration mit den Dissidenten freigesprochen worden, nachdem ich mich bei meinem Vater für sie eingesetzt und ihm versichert hatte, dass sie nichts von Caleb gewusst hatte, außer dass wir geplant hatten, zusammen die Stadt zu verlassen. Sie hatten sie ins Adoptionszentrum versetzt, wo sie sich nun um einige der jüngeren Kinder der Geburteninitiative kümmerte. »Aus dem Grund sind wir auch gekommen.« Ich wandte mich an die Soldatin. »Ich wollte meine Freundinnen aus der Schule sehen.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht genehmigen«, sagte sie kurz angebunden, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen. Trotz aller Bemühungen, die Geschichte nicht nach außen dringen zu lassen, schien es, als wüssten die Soldaten, was geschehen war: Ich hatte versucht, mit einem der Dissidenten zu entkommen. Ich hatte von einem Tunnel unter der Mauer gewusst und meinem Vater diese Information trotz des Risikos für die allgemeine Sicherheit verheimlicht. Keiner von ihnen traute mir über den Weg.
Sie deutete auf Charles und den Soldaten, der uns zum Krankenhaus eskortiert hatte. »Erst recht nicht mit den beiden an Eurer Seite. Ihr müsst gehen.«
»Sie kommen nicht mit«, beharrte ich.
Eine kleinere Soldatin mit einem abgebrochenen Schneidezahn hielt den Daumen auf ihr Funkgerät gedrückt, aus dem beständiges Rauschen drang. Am anderen Ende der Verbindung war das leise Murmeln einer weiblichen Stimme zu hören, die wissen wollte, ob sie bereit seien, einen weiteren Jeep zum Entladen in Empfang zu nehmen. »Wir wissen längst Bescheid über die Absolventinnen«, ergänzte ich laut und mit einem Kopfnicken in Richtung Beatrice. »Wir beide. Ich habe die Mädchen mit Erlaubnis meines Vaters bereits in den Schulen besucht. Es besteht also keinerlei Sicherheitsrisiko.«
Die Frau mit dem Muttermal rieb sich den Nacken, als denke sie über meine Worte nach. Ich wandte mich an Charles, um zu sehen, ob er sie umstimmen konnte. Sein Wort hatte immer noch Gewicht innerhalb der Stadtmauern, selbst wenn meine Loyalität angezweifelt wurde. »Wir können hier auf sie warten«, sagte er leise und trat einige Schritte vom Gebäude zurück.
»Wir müssen uns darum kümmern, auch die letzten von ihnen hineinzubringen«, sagte sie schließlich. Dann gab sie den Weg zu den Glastüren frei. »Zehn Minuten, mehr nicht.«
* * *
Nur einige wenige Lichter brannten in der Eingangshalle. Die meisten Glühbirnen waren defekt, ein paar flackerten unaufhörlich und taten mir in den Augen weh. Beatrice ging dicht hinter mir. Ein Teil der Stühle im Wartezimmer war umgekippt und der dünne, abgewetzte Teppich roch nach altem Staub. »Zurück auf die Zimmer, meine Damen«, hallte eine Frauenstimme durch den Flur. Ein Schatten huschte an der Wand vorbei, dann war er verschwunden.
Jemand hatte eilig versucht, die Böden zu wischen, dabei jedoch nur den Dreck verteilt, sodass die Fliesen im Flur mit schwarzen Streifen verschmiert waren. Metallene Rollschränke voller Ausrüstungsgegenstände standen an den Wänden aufgereiht, daneben alte Apparate, die mit Papierlaken bedeckt waren. Ich wandte mich zur Seite und betrat einen der abgehenden Korridore, wo eine ältere Frau in einer roten Bluse und einer weiten blauen Hose stand und etwas auf ein Clipboard kritzelte. Ich starrte die Lehrerinnenuniform an, die ich Tausende Male in der Schule gesehen hatte, dann blickte ich in das schmale Gesicht der Frau. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich sie nicht kannte – sie musste von einer anderen Schule stammen. »Ich suche die Mädchen aus Schule 11«, sagte ich. Jahrelang hatte ich meine Schule nur anhand ihrer geografischen Koordinaten gekannt, bevor ich herausgefunden hatte, dass die Stadt jeder von ihnen eine Nummer gegeben hatte.
Beatrice ging auf der anderen Seite des Korridors weiter, hielt vor einer Tür an, dann vor der nächsten, immer auf der Suche nach ihrer Tochter Sarah. Ich schob mich an der Frau vorbei in das schwach beleuchtete Krankenzimmer hinter ihr. Niedrige Feldbetten bedeckten den Boden, der dünne Vorhang war zugezogen. Die Mädchen waren alle jünger als fünfzehn. Die meisten hatten sich einfach in ihren Schuluniformen zusammengerollt und die fusseligen Baumwolldecken über ihre nackten Beine gezogen. Sie hatten nicht einmal die Schuhe ausgezogen.
»Ich bin nicht sicher«, sagte die Lehrerin. Sie musterte mein Gesicht, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen, dass sie mich erkannte. Mit meinem Sweater und der einfachen Hose sah ich aus wie jede andere Frau in der Stadt. »Auf diesem Flur nicht, aber vielleicht in einer der oberen Etagen. Darf ich fragen, was Sie hier machen?«
Ich machte mir nicht die Mühe, ihr zu antworten. Stattdessen ging ich an ihr vorbei in einen separaten Korridor, der durch eine Flügeltür vom restlichen Flur getrennt war. Im ersten Zimmer waren alle Betten belegt, ein Mädchen saß aufrecht auf dem Hochbett, das am Weitesten vom Fenster entfernt stand, ein anderes thronte auf einem verrosteten Apparat, aus dem sich irgendwelche Drähte hervorwanden. Sie hielt ein Himmel-und-Hölle-Spiel aus Papier in der Hand, wie wir sie früher in der Schule gebastelt hatten. Als sie mich hörten, schraken sie auf und huschten unter ihre Decken.
Ich eilte durch einen weiteren Flur, wobei ich in jedes Zimmer auf beiden Seiten des Korridors einen schnellen Blick warf. Hin und wieder schlief eine Lehrerin in einem der muffigen Krankenhausbetten oder auf einem Stuhl in der Ecke. Keine einzige Schülerin war schwanger. Ich wusste, dass sie die Mädchen von der Gebärinitiative getrennt vom Rest untergebracht haben mussten, aber es schien unmöglich herauszufinden, wo.
Ich rannte eine Seitentreppe hinauf. Es war beinahe vollständig dunkel und nur die Scheinwerfer der Jeeps draußen warfen einen schwachen Lichtschein auf die Wände. Ich nahm den ersten Absatz und schob mich durch die Türen – der Flur sah genauso aus wie im ersten Flügel. Ich bahnte mir einen Weg bis zum nächsten Korridor, dann durch diesen hindurch, und hielt nicht an, bevor ich nicht alle Zimmer überprüft hatte. Die Mädchen waren genauso jung wie die anderen, keines ihrer Gesichter kam mir vertraut vor.
Als ich den Absatz im sechsten Stockwerk erreichte, traf ich auf eine Soldatin, die vor der Tür Wache stand. Ich hatte kaum bemerkt, dass ich gerannt war. Meine Augen waren auf den Boden gerichtet, meine Haare klebten an meiner feuchten Haut. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Eine Narbe durchzog ihre Oberlippe, die Haut darauf war weiß.
»Ich muss unbedingt die Mädchen aus einer der Schulen finden«, sagte ich. »Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen namens Pip – rote Haare, helle Haut. Sie müsste ungefähr im fünften Monat schwanger sein.«
Die Soldatin trat an das Treppengeländer und blickte den Hohlraum zwischen den Treppenaufgängen hinab. »Was haben Sie gesagt?«, fragte sie, als sie sich wieder zu mir umdrehte. Sie hielt den Kolben ihres Gewehrs ausgestreckt, nur wenige Zentimeter von meiner Brust entfernt, um mich daran zu hindern weiterzugehen. »Wer sind Sie?«
Ich hob die Hände. »Ich bin Genevieve – die Tochter des Königs. Ich war selbst auf der Schule.«
Die Frau musterte mich. »Die mit den roten Haaren? Aus der Schule im Norden Nevadas?«
Ich nickte und erinnerte mich an die Stadt, die ich auf den Landkarten gesehen hatte. So viele Jahre hatte ich die Schule nur mit ihren Koordinaten bezeichnet, als sei sie das Einzige gewesen, was an diesem Ort existierte. Mir fiel es schwer, mir dort eine wirkliche Stadt vorzustellen, in der vor der Epidemie Menschen gelebt hatten, eine Stadt, die Menschen Zuhause genannt hatten. »Sie kennen sie?«
Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür auf und ging hindurch, wobei sie genügend Platz ließ, dass ich an ihr vorbeigehen konnte.
Nur ein einziges Licht brannte in dem langen Flur. Zwei Soldatinnen waren entlang des Korridors positioniert. Eine von ihnen blickte von einem abgegriffenen Buch mit einem Dinosaurier auf dem Cover auf – Jurassic Park stand darauf. »Kann sein, dass ich weiß, von wem Ihr sprecht«, sagte die Soldatin mit der Narbe. »Sie war in dem Jeep, mit dem ich hierhergekommen bin. Wir hatten rund zehn Mädchen bei uns.«
Das nervöse, flaue Gefühl in meinem Magen kehrte zurück, als ich einen Blick in die Zimmer warf, in denen die Mädchen schliefen. Sie waren alle ungefähr in meinem Alter, einige etwas älter, und ihre Bäuche wölbten sich sichtbar unter den Decken. Sie konnten nicht weiter als im sechsten Monat sein – die Mädchen, die weiter waren, waren vermutlich als zu empfindlich für den Transport befunden worden.
Nun, da ich ihnen so nahe war, kostete es mich alle Mühe, meine Fantasie im Zaum zu halten. Wie oft war ich durch die Stadt gegangen und hatte mir vorgestellt, dass Arden an meiner Seite wäre; wie oft hatte ich während der Teestunde am Nachmittag auf einen der leeren Stühle mir gegenüber gestarrt und mich gefragt, wie es wohl wäre, wenn Pip dort säße. Ich legte noch immer gewohnheitsmäßig ein Stück von meinem Schokoladenkuchen beiseite, weil ich wusste, dass Ruby ihn so mochte. Ich verstand, wie es gewesen sein musste, nach der Epidemie hierherzukommen, einer der Menschen zu sein, die alle Freunde, jedes Mitglied ihrer Familie verloren hatten. Die Geister meiner Freundinnen begleiteten mich zu jeder Zeit, wobei sie auftauchten und verschwanden, wenn ich am wenigsten damit rechnete.
»Sie ist dort hinten«, sagte die Soldatin und deutete auf ein Feldbett am anderen Ende des Zimmers, direkt unter dem Fenster. Ich stand da wie angewurzelt und ließ den Blick über die Gesichter der Mädchen schweifen, deren Augenlider im Schlaf flatterten. Violet, ein dunkelhaariges Mädchen, das im Zimmer neben uns gewohnt hatte, lag auf der Seite, ein Kissen zwischen ihren Knien. Ich erkannte Lydia, die mit mir zusammen im Kunstkurs gewesen war. Sie hatte so viele Versionen immer derselben Tuschezeichnung angefertigt – eine Frau im Bett, die ein Handtuch an ihre Nase drückte, um die Blutung zu stillen.
Es war, als wandle ich durch eine Traumlandschaft; vertraute Gesichter unter veränderten Umständen. Selbst nach allem, was ich wusste, konnte ich es nicht verstehen – selbst jetzt noch nicht. Ich ging auf Pip zu.
Ihr Haar war gewachsen und fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken. Sie lag mit dem Gesicht zur Wand unter dem Fenster zusammengerollt, eine Hand ruhte auf ihrem Bauch. »Pip – wach auf«, sagte ich, während ich mich auf das Feldbett setzte. Ich berührte sie am Ellenbogen und sie fuhr zusammen.
»Was ist los?« Sie wandte den Kopf und ich konnte in dem schwachen Lichtschein ihr Gesicht sehen. Die hohen Wangenknochen, die dichten dunklen Augenbrauen, die sie immer so ernst erscheinen ließen. Es war Maxine, das Mädchen, das geglaubt hatte, der König würde zu ihrer Abschlussfeier kommen, nachdem sie die Unterhaltung einiger Lehrerinnen belauscht hatte. »Eve?«, fragte sie und setzte sich auf. »Was machst du denn hier?«
»Ich dachte, du wärst Pip«, antwortete ich, während ich auf dem staubigen Feldbett zurückrutschte. »Ich hab dich nicht gleich erkannt.«
Maxine starrte mich nur an. Ihre Haut hatte einen seltsam gelblichen Ton angenommen. Ihre Handgelenke waren wundgerieben, wo die Handfesseln gewesen waren. »Sie sind abgehauen«, sagte sie. »Pip, Ruby und Arden. Seit über drei Wochen hat sie niemand mehr gesehen.«
Ich stand auf und suchte den Raum ein weiteres Mal ab, indem ich mir die Gesichter der Mädchen noch einmal genau anschaute. Als könnte ein zweites Mal hinzusehen ändern, was jetzt offensichtlich war. Warum hatte ich nichts von ihnen gehört? Hatte mein Vater davon gewusst und es vor mir geheim gehalten?
Mein Blick blieb für einen Moment an Maxine hängen, an der blutbefleckten Watte, die in ihrer Ellenbeuge klebte. Ich brachte es nicht über mich, sie zu fragen, was in dem Gebäude passiert war, oder wie die Reise hierher gewesen war. Ich konnte nicht so tun, als stünden wir uns auf einmal nahe. Sie war für mich das Mädchen gewesen, mit dem ich in der Schule immer nur im Vorbeigehen einige Worte gewechselt hatte, um den neuesten Klatsch zu hören, der sich innerhalb der Schulmauern abspielte.
Ich wandte mich zum Gehen, aber sie packte meinen Unterarm und hielt mich zurück. »Du wusstest es«, sagte sie. Sie legte den Kopf schief und musterte mich, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Deshalb bist du abgehauen. Du hast ihnen geholfen zu entkommen, oder?«
»Tut mir leid« war alles, was ich herausbekam.
Die Soldatin betrat den Raum, um besser einschätzen zu können, was gerade passierte. Maxine ließ mich los. Ihre Augen wanderten zu dem Gewehr, das die Hände der Frau umklammerten.
Ich drehte mich um und bahnte mir einen Weg zwischen den Feldbetten hindurch, wobei ich mir das Haar so ins Gesicht fallen ließ, dass die Mädchen, die beim Klang von Maxines Stimme hochgeschreckt waren und sich nun aufsetzten, mich nicht erkannten. Ich hielt den Atem an, bis ich aus dem Zimmer war.
»Wie geht es Eurer Freundin?«, fragte die Soldatin.
Meine Hände zitterten. Der Flur roch nach einer Mischung aus Staub und chemischem Reinigungsmittel. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, erwiderte ich, ohne die Frage zu beantworten.
Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ich war bereits auf dem Weg die Treppen hinab und hielt nicht mehr an, bis ich hörte, wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
Sie waren fort. Das war es, was ich gewollt hatte, aber nun, da sie sich außerhalb der Schulmauern befanden, hatte ich keine Möglichkeit mehr, sie zu erreichen. Ihre beste Chance war Califia, so viel wusste ich, aber sie hätten mehr als drei Wochen gebraucht, um dorthin zu kommen.
Ich hatte keine Ahnung, ob Pip oder Ruby überhaupt in der Lage waren zu reisen, ob Arden schwanger war, wann oder wie sie gegangen waren.
Einen Moment lang hatte ich das Bedürfnis, zu Maxine zurückzugehen, um sie auszufragen, doch dann fielen mir ihre Worte wieder ein. Ich hatte beschlossen, ihnen zu helfen, auch wenn es bedeutete, die anderen im Stich zu lassen. Wie konnte ich nun zu ihr gehen und erwarten, dass sie mir half? Wie konnte ich sie überhaupt nur fragen?
Am Fuß der Treppe konnte ich Beatrice ausmachen. Sie hielt ein Mädchen mit kurzen strohblonden Haaren im Arm, die am Hinterkopf völlig verstrubbelt war, als sei sie gerade eben aufgewacht. Das Gesicht des Mädchens war feuerrot, ihre Augen verquollen. Beatrice wiegte sich vor und zurück, während sie das Mädchen noch enger an sich drückte, und für einen Augenblick legte sich meine Einsamkeit. »Ich hab sie gefunden«, sagte sie und erwiderte meinen Blick. »Das ist meine Sarah.«
DREI
»Das sind die alten Enzyklopädien, um die Ihr gebeten habt«, sagte Moss, indem er mir einen Stapel Bücher in die Arme drückte, »und ein Roman, von dem ich dachte, dass er Euch gefallen könnte.« Es waren insgesamt drei Bände, jeder davon gut fünf Zentimeter dick. »Das sind die, die noch in Eurer Sammlung fehlen. W und J. Ich hoffe, sie sind Euch von Nutzen, wenn Ihr Werwölfe und dergleichen nachschlagen möchtet.« Er tippte mit dem Finger auf den Einband des ersten Buches und bedeutete mir, es aufzuschlagen.
Vorsichtig hob ich den Buchdeckel an, bis mein Blick auf das kleine Päckchen weißen Pulvers fiel, das sich darunter verbarg. Einige Seiten waren ausgeschnitten worden, sodass eine flache Mulde entstanden war. »Würde es dir etwas ausmachen, uns für einen Moment allein zu lassen?«, fragte ich und sah zur Ecke des Salons hinüber. Alina, das Zimmermädchen, das Beatrice ersetzt hatte, war damit beschäftigt, zierliche Tassen auf einem Tablett anzuordnen, um den Tisch nach der morgendlichen Teestunde abzuräumen. Sie war klein, mit lockigem braunen Haar und kleinen, weit auseinanderstehenden Augen. Sie nickte und begab sich zur Tür.
Ich wusste, dass dies eines unserer letzten Treffen war, dass die Dinge in Gang gekommen waren und die Machtverhältnisse sich heimlich, still und leise zugunsten der Rebellen verschoben. Dennoch fiel es mir schwer, hoffnungsfroh zu sein; nachdem ich Maxine gesehen hatte, hatte mich eine seltsame Schwere befallen. Ich war besorgt um meine Freundinnen und fragte mich, wo sie wohl sein mochten – ob sie überleben würden. Ruby und Pip waren mindestens im fünften Monat, vielleicht sogar schon weiter. Warum hatte Arden sich nicht über den Pfad gemeldet?
Als die Tür hinter Alina ins Schloss gefallen war, nahm ich die Bücher eins nach dem anderen vom Stapel und warf einen kurzen Blick hinein. Im J-Band der Enzyklopädie steckten eine gefaltete Landkarte und ein Funkgerät mit Kurbel, ähnlich denen, die auf dem Pfad benutzt wurden. »Lustig«, sagte ich, während ich den dicken Roman aufschlug, der obenauf lag und dessen Titel ich nicht kannte. Darin lag ein Messer, dessen Metall im Licht glänzte. »Krieg und Frieden. Verstehe.«
Moss lächelte, als er sich mir gegenüber niederließ. »Ich konnte nicht widerstehen«, flüsterte er. »Es passte einfach so gut. Ich bin gerade dabei, dir eine Pistole zu beschaffen. Aber nun, da die Belagerung bevorsteht, ist es nicht ganz einfach, an Vorräte und Ausrüstung zu kommen. Die Menschen trennen sich nicht gerne von ihren Waffen.«
Moss war fröhlicher, als ich ihn je gesehen hatte. Ich konnte nicht anders, als ihn zu beneiden. Meine Nervosität hatte nur noch zugenommen. Meistens war ich morgens völlig erschöpft. Meine Hände zitterten und mein Magen schmerzte und fühlte sich an, als hätte ihn jemand ausgewrungen.
»Das Ende ist nah«, flüsterte Moss. Dann klopfte er auf die Bücher. »Und du wirst es einleiten.«
»Zu ihm hineinzukommen, sollte ich eigentlich schaffen.« Ich hatte lange darüber nachgedacht, unter welchen Umständen ich in die Suite meines Vaters gelangen könnte: wie ich unter irgendeinem Vorwand darum bitten würde, mit ihm sprechen zu dürfen. »Aber was dann?«
Er strich mit der Hand über den Buchumschlag und fuhr die goldene Prägung nach. »Du musst an die Schubladen neben seinem Waschbecken kommen. Dein Vater hat ein Fläschchen mit Medikamenten gegen Bluthochdruck. Die Kapseln sollten sich in zwei Teile zerlegen lassen, sie sind mit einem weißen Pulver gefüllt.«
»Das ich dann austausche«, ergänzte ich mit einem Blick auf das Buch.
Moss nickte. »Genau. Bei so vielen wie möglich – mindestens sechs oder sieben Kapseln. Aber sei vorsichtig. Gib acht, dass du es nicht einatmest oder etwas davon auf deinen Händen zurückbleibt. Es gab Schwierigkeiten bei der Ricinproduktion – das hier ist getrockneter Oleanderextrakt. Nicht gerade ideal, aber es sollte ausreichen. Leg die Kapseln obenauf, damit er sie schneller einnimmt. Wenige Dosen sollten genügen.«
»Und dann warten wir einfach ab?«
Moss legte die Finger an die Stirn. »Sobald dein Vater erste Krankheitszeichen zeigt, musst du die Stadt verlassen. Mindestens für ein oder zwei Monate, bis die Kämpfe beendet sind. Mit den Truppen aus den Kolonien an unserer Seite haben wir eine größere Chance, den Konflikt schnell zu beenden. Wenn ich als Interimsanführer gefestigt bin und wir Wahlen angesetzt haben, kannst du zurückkehren. Bis dahin ist es hier für dich zu gefährlich. Ich weiß, auf wessen Seite du stehst, aber das werde ich den Rebellen nicht mitteilen – zumindest nicht in der Anfangszeit. Das wäre zu riskant.«
Ich dachte an die verbleibenden Tunnel unter der Mauer hindurch. Nur einer der drei war entdeckt worden, als Caleb erschossen wurde. Moss hatte die Standorte der anderen beiden oft beschrieben, um mich daran zu erinnern, wo sie sich befanden, falls unsere Verbindung jemals ans Licht käme. »Dafür also sind das Funkgerät und die Karte«, sagte ich. »Und das Messer. Ich verlasse die Stadt, sobald er krank wird.« Jeder, der innerhalb der Mauern lebte, würde mich erkennen. Ich war die Erbin des Königs, das Mädchen auf der Titelseite der Zeitung und auf den elektrischen Bildschirmen, die an den Wänden der Luxusbauten hingen. In der Wildnis wäre ich sicherer, nicht so bekannt.
»Es steht etwas Proviant für deine Flucht bereit. Sorg dafür, dass du den südlichen Tunnel benutzt.« Moss sah auf den Tisch hinab und starrte auf die Krümel der Blaubeerscones. Von ihrem trockenen, mehligen Geruch angewidert, hatte ich sie zerpflückt. Er schnipste einen der Krümel auf den Boden. »Er reicht für ein paar Tage, lange genug, damit du aus der Umgebung der Stadt verschwinden kannst, ohne jagen zu müssen. Und bitte – halte dich vom Krankenhaus und den Mädchen fern, zumindest fürs Erste.«
»Woher weißt du, dass ich dort war?«
»Von einer der Rebellinnen. Seema – eine ältere Soldatin mit einer roten Strähne im Haar.« Er sah mich durchdringend an, aber ich konnte mich nicht erinnern, die Frau in der vergangenen Nacht gesehen zu haben. »Dass du dort warst, wirft Fragen auf. Lass uns bei diesem Plan bleiben.«
Ich schob den Stuhl vom Tisch zurück. »Während alle hier sind und den Belagerungsring um die Stadt ziehen, soll ich einfach so fliehen? Bestätige ich damit nicht erst, was alle vermuten?«
»Sobald die Kämpfe eingestellt sind und ich intern eine gewisse Ordnung hergestellt habe, kommst du zurück. Ein, zwei Monate – das ist alles.«
»Falls ich zurückkomme«, sagte ich. »Wie können wir vorhersehen, was nach der Belagerung passiert?« Moss schien zuversichtlich, dass die Stadt sich ganz automatisch auf eine Demokratie zubewegen würde, sobald der König tot war und die Kämpfe beigelegt; dass selbst die Soldaten sich auf die Seite der Rebellen stellen würden, wenn die Bevölkerung die Wahrheit über die Arbeitslager und Schulen hörte.