Buch
Lieutenant Eve Dallas sieht sich mit einem ihrer schlimmsten Feinde konfrontiert – der Büroarbeit. Gerade als sie sich fast schon wünscht, ein neuer Fall würde sie von den Papierbergen erlösen, passiert etwas, das fast schlimmer ist als ein Mord. Isaac McQueen, ein gewalttätiger Pädophiler, den Eve kurz nach ihrer Ausbildung gefasst hat, ist aus dem Gefängnis geflohen. Es war einer ihrer ersten Fälle, als sie noch Uniform trug, und einer der grausamsten, denn McQueen war buchstäblich ein Monster. Dieses Mal hat er sich ein weiteres Ziel gesetzt: Er will sich an Eve rächen, die seinem grausamen Spiel damals Einhalt gebot und ihn dort hinschickte, wo er hingehörte: hinter Gitter. Sein perfides Katz- und Mausspiel führt Eve und ihren Mann Roarke ausgerechnet nach Dallas, Texas. In dieser Stadt, die Eve einst ihren Namen gab, treffen die Dämonen ihrer bewegten Vergangenheit auf die akute Gefahr, die von McQueen ausgeht, und nur zusammen mit Roarke und ihrer Mitarbeiterin Peabody kann sie ihn fassen.
Autorin
J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.
Liste lieferbarer Titel
Rendezvous mit einem Mörder · Tödliche Küsse · Eine mörderische Hochzeit · Bis in den Tod · Der Kuss des Killers · Mord ist ihre Leidenschaft · Liebesnacht mit einem Mörder · Der Tod ist mein · Ein feuriger Verehrer · Spiel mit dem Mörder · Sündige Rache · Symphonie des Todes · Das Lächeln des Killers · Einladung zum Mord · Tödliche Unschuld · Der Hauch des Bösen · Das Herz des Mörders · Im Tod vereint · Tanz mit dem Tod · In den Armen der Nacht · Stich ins Herz · Stirb, Schätzchen, stirb · In Liebe und Tod · Sanft kommt der Tod · Mörderische Sehnsucht · Ein sündiges Alibi · Im Namen des Todes · Tödliche Verehrung · Süßer Ruf des Todes · Sündiges Spiel · Mörderische Hingabe
Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas
Nora Roberts ist J. D. Robb
Ein gefährliches Geschenk
J. D. Robb
In Rache
entflammt
Roman
Deutsch von Uta Hege
Die Gegenwart ist die lebendige Gesamtsumme
der ganzen Vergangenheit.
Thomas Carlyle
Im Ernst, ich frage mich, was taten du und ich,
bevor wir liebten?
John Donne
1
Lieutenant Dallas sah aus ihrem winzig kleinen Fenster in das sommerliche Unwetter hinaus und sehnte sich nach einem Mord.
Nur eine anständige, möglichst blutige Gewalttat könnte sie von der Bearbeitung der unzähligen Akten, die sich vor ihr auf dem Schreibtisch stapelten, erlösen. Natürlich war es ihre eigene Schuld, dass der Papierberg derart angewachsen war, doch sie hatte in den letzten Wochen pausenlos ermittelt und verschiedene Mörder überführt und deswegen einfach keine Zeit für Dinge wie Finanzpläne, Spesenabrechnungen und die dämlichen Bewertungsbögen für die Leute ihres Teams gehabt.
Es nützte ihr auch nichts, sich zu sagen, dass das eben Teil der Arbeit war. Literweise Kaffee zu trinken, nachdem sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, um die Sache anzugehen, linderte die Qual auch nicht. Warum also brachte nicht endlich jemand einen anderen um die Ecke, um sie von dem grässlichen Bürokram zu befreien?
Natürlich wünschte sie nicht wirklich, dass ein Mensch ermordet würde. Andererseits murksten doch ständig irgendwelche Menschen andere ab, warum also nicht hier und jetzt?
Sie starrte auf den Bildschirm, bis sie Kopfschmerzen bekam. Fluchte, schmollte, wütete, dann kürzte, fälschte, strich, addierte und manipulierte sie die Zahlen, bis das Ergebnis annähernd dem lächerlich bescheidenen Budget des Dezernats entsprach.
Sie waren zwar Mordermittler, dachte sie erbost, aber die Abteilung lebte schließlich nicht von Blut.
Als der Finanzplan stand, wandte sie sich den Spesenabrechnungen ihrer Leute zu.
Glaubte Baxter etwa allen Ernstes, dass sie fast vierhundert Dollar für ein Paar Schuhe lockermachen würde, nur weil seine eigenen Schuhe seit einer Verfolgungsjagd durch einen Abwasserkanal hinüber waren? Und warum zum Teufel hatte Reineke einer Bordsteinschwalbe für Informationen fast das Doppelte wie üblich bezahlt?
Sie unterbrach die Arbeit, holte sich den nächsten Becher Kaffee und starrte ein paar Minuten in das Unwetter hinaus. Zumindest war sie nicht dort draußen und musste sich wie ein nasser Korken in einen der ruckeligen Pendelflieger quetschen oder sich mit ihren Ellenbogen einen Weg durch das Gedränge auf einem der Bürgersteige bahnen, auf denen inzwischen knöchelhoch das Wasser stand. Dann wäre sie bis auf die Haut durchnässt und würde dampfen wie ein Schornstein, denn trotz des höllischen Gewitters war auch dieser Sommertag des Jahres 2060 brütend heiß.
Mit solchen Überlegungen versuchte sie nur, Zeit zu schinden, dachte sie erbost, und stapfte zurück an ihren Arbeitsplatz. Schließlich wollte sie mit der Arbeit vor Beginn der Feier fertig sein. Ihr und ihrer Partnerin würden an diesem Nachmittag Medaillen verliehen. Dabei hätte Peabody viel mehr verdient, immerhin hatte sie dafür gesorgt, dass ein Ring korrupter Polizisten entlarvt worden war.
Anders als der lästige Papierkram, der ein Nachteil ihrer Position als Lieutenant war, war das Recht, verdienstvolle Kolleginnen oder Kollegen für eine besondere Ehrung vorzuschlagen, eindeutig ein Vorteil ihres Jobs. Sie könnte den Moment der Verleihung reinen Gewissens und mit freiem Kopf genießen, wenn sie bis zum Nachmittag mit dem verdammten Schreibkram fertig war.
Sie wünschte sich, sie hätte einen Schokoriegel, aber bisher hatte sie noch keinen neuen Platz gefunden, wo ihr Süßigkeitenvorrat vor dem hundsgemeinen Schokoriegeldieb zumindest halbwegs sicher war. Vor allem aber wünschte sie, sie könnte Peabody einen Teil des lästigen Papierkrams überlassen wie damals, bevor sie ihre Partnerin geworden war.
Doch diese Zeiten waren endgültig vorbei.
Sie versuchte, wieder Zeit zu schinden, gab sie widerstrebend zu, und fuhr sich mit den Fingern durch das wirre, kurze braune Haar.
Schließlich kämpfte sie sich weiter durch die Spesenabrechnungen und schickte sie den zuständigen Stellen. Jetzt waren sie nicht mehr ihr Problem, sagte sie sich und atmete erleichtert auf. Sie hatte wirklich viel geschafft. Für die dämlichen Bewertungsbögen wäre später auch noch Zeit.
»Computer aus«, wies sie die Kiste an.
Ungültiger Befehl.
»Ich bin mit meiner Arbeit fertig.«
Diese Aussage ist falsch. Laut vorherigem Befehl müssen sämtliche Berichte und Bewertungen vollständig abgeschlossen sein, bevor der Computer heruntergefahren werden kann. Dieser Befehl von Lieutenant Eve Dallas kann nur aufgehoben werden, falls ein Feuer ausbricht, Terroristen diese Wache überfallen, es eine Invasion durch Aliens gibt oder ein aktueller, noch nicht abgeschlossener Fall ihre Aufmerksamkeit verlangt …
Hatte sie das tatsächlich angeordnet?
»Ich habe es mir anders überlegt.«
Ein Meinungswechsel, Müdigkeit, Langeweile oder irgendwelche anderen lahmen Ausreden werden auf Ihren eigenen Befehl nicht akzeptiert …
»Ach, leck mich doch …«, murmelte Eve.
Ungültiger Befehl …
»Meinetwegen, also gut. Computer, dann spuck alle bisherigen Bewertungen in alphabetischer Reihenfolge für sämtliche Beamten der Abteilung aus.«
Entschlossen arbeitete sie sich durch die Dateien. Denn schließlich hatte sie den dämlichen Befehl extra gegeben, damit sie gezwungen wäre durchzuhalten – und weil jeder ihrer Leute verdient hatte, dass er von ihr eine solide und gerechte Beurteilung bekam.
Sie hatte Baxter und die zwei Carmichaels abgehakt, doch ehe sie mit Jenkinson beginnen konnte, klopfte es an ihrer Tür und Peabody betrat den Raum.
Stirnrunzelnd hob sie den Kopf. »Was ist? Haben wir eine Alieninvasion?«
»Nicht dass ich wüsste, nein. Aber hier ist ein junger Mann. Er ist völlig fertig und behauptet, dass er nur mit Ihnen sprechen darf. Er sagt, es gehe um Leben und Tod.«
»Ach ja?«, erkundigte sie sich und wies dann ihre Kiste fröhlich an: »Computer, es geht um Leben und Tod. Also speicher die Daten gefälligst ab und fahr dann runter, ja?«
Ich brauche eine Bestätigung dafür, dass das keine faule Ausrede von Ihnen ist.
»Peabody, sagen Sie diesem blöden Kasten, dass da draußen jemand steht, der dringend meine Hilfe braucht.«
»Ah, Computer. Detective Delia Peabody erbittet die Hilfe des Lieutenants in einer dringenden Angelegenheit.«
Bestätigung akzeptiert. Daten werden gespeichert und Computer wird dann ausgestellt …
Eve schlug mit der flachen Hand auf das Gerät. »Es ist einfach erbärmlich, wenn der eigene Computer einem so misstraut.«
»Das haben Sie ihm selbst befohlen, um keine Möglichkeit zu haben, sich vor der Büroarbeit zu drücken.«
»Trotzdem … Na, dann schicken Sie den jungen Mann mal rein.«
Stolpernd kam er angerannt. Ein dünner junger Kerl von vielleicht Ende zwanzig mit verfilzten Dreadlocks, schlabberigen roten Shorts, Gel-Flipflops, silbernem Lippenpiercing sowie einem schmuddeligen weißen Tanktop, unter dem man tätowierte Oberarme sah. Sein schmales, kreidiges Gesicht glänzte vor Schweiß.
»Sind Sie Dallas? Lieutenant Eve Dallas, Mordermittlerin bei der New Yorker Polizei?«
»Genau die bin ich. Worum …«
Er brach in lautes Schluchzen aus. »Er hat gesagt … er hat gesagt … ich dürfte nur mit Ihnen reden. Ich müsste zu Ihnen gehen. Er hat sie in seiner Gewalt. Er hat Julie in seiner Gewalt. Und wenn Sie nicht mitkommen, bringt er sie um. Er hat gesagt, wir hätten eine Stunde Zeit, und ich habe schon eine halbe Stunde gebraucht, um hierherzukommen.«
Seine Stimme überschlug sich, und er zitterte wie Espenlaub.
Eilig stand Eve auf und drückte ihn auf ihren Schreibtischstuhl. »Immer mit der Ruhe. Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Wie heißen Sie?«
»Tray. Tray Schuster.«
»Wer ist er?«
»Keine Ahnung. Er war einfach da, in meiner Wohnung. Unserer Wohnung. Julie ist erst letzte Woche bei mir eingezogen. Als wir wach wurden, stand er an unserem Bett und hat uns dort gefesselt. Dann hat er gefrühstückt, und er … ach, egal. Wenn Sie nicht mitkommen, bringt er Julie um. Ich habe ganz vergessen, dass ich Ihnen noch was sagen soll. Und zwar: ›Damit läutet er die zweite Runde ein.‹ Bitte, er hat ein Messer. Er wird sie damit in Stücke schneiden. Wenn Sie sich nicht innerhalb von einer Stunde blicken lassen oder jemand anderes an Ihrer Stelle kommt, bringt er Julie um.«
»Wo sind die beiden jetzt?«
»In meiner Wohnung. Unserer Wohnung, meine ich.«
»Und wo ist Ihre Wohnung, Tray?«
»258 Murray Street.«
Die Adresse sagte ihr etwas. Plötzlich drehte sich ihr Magen um. »Apartment 303?«
»Ja, genau.« Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Woher wissen Sie …«
»Bleiben Sie hier, Tray.«
»Aber …«
»Bleiben Sie sitzen, ja?«
Sie ging hinüber in ihr Dezernat und sah sich suchend um.
»Peabody, Baxter, Trueheart, Carmichael, Sanchez. Egal, was Sie gerade machen, hören Sie damit auf und kommen Sie mit. Ein gewisser Isaac McQueen hat eine Frau als Geisel. 258 Murray Street, Apartment 303. Der Verdächtige ist bewaffnet und extrem gefährlich. Weitere Informationen gibt es unterwegs, da uns der Verdächtige ein Zeitlimit gesetzt hat. Carmichael, Sanchez, holen Sie den Zeugen aus meinem Büro und nehmen Sie ihn in Ihrem Wagen mit. Peabody, Sie fahren mit mir. Auf geht’s!«
»Isaac McQueen?« Peabody musste fast rennen, um nicht hinter Eve zurückzufallen. »Der Sammler? Aber der sitzt doch in Rikers. Lebenslänglich.«
»Überprüfen Sie das kurz. Entweder ist er – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr dort, oder jemand gibt sich als er aus. Das war seine Wohnung. Dort hat er …«
… all die jungen Mädchen festgehalten. Jede Menge junger Mädchen.
»Er hat sich die Mitbewohnerin des jungen Kerls geschnappt«, erklärte sie und zwängte sich entschlossen in den überfüllten Lift. »Er hat ihn ausdrücklich zu mir geschickt. Weil er von mir in dieser Wohnung festgenommen worden ist.«
»Es gibt keine Meldung, dass er … warten Sie.« Peabody wischte mit einem Finger über ihren Handcomputer. »Es gibt nur eine interne Meldung. Bisher haben sie noch nicht mal die Gefängnisaufsicht informiert. McQueen ist gestern abgehauen. Hat einen der Pfleger auf der Krankenstation ermordet und ist dann einfach in dessen Uniform und mit dessen Ausweis rausspaziert.« Sie sah kurz auf. »Ist einfach so dort rausspaziert.«
»Wir werden dafür sorgen, dass er umgehend wieder dort reinspaziert.« Eilig joggte Eve in Richtung ihres Wagens. »Informieren Sie Commander Whitney, damit er der Gefängnisleitung schon mal Feuer unterm Hintern machen kann. Er hat Julie noch nicht umgebracht.« Sie lenkte ihren Wagen aus der Tiefgarage auf die Straße und gab Gas. »McQueen ist nicht geflüchtet, weil er irgendeine Frau aufschlitzen will. Er ist intelligent, organisiert, hat Bedürfnisse und einen Plan. Er bringt die Frauen nicht um – außer wenn sie zusammenbrechen oder er mit ihnen unzufrieden ist. Er ist ein Sammler. Diese Julie interessiert ihn nicht. Sie ist zu alt.«
Peabody schrieb eilig eine Mitteilung an den Commander und sah wieder auf. »Sie ist ein Lockvogel. Für Sie.«
»Ja, auch wenn das keinen Sinn ergibt. Denn so landet er auf jeden Fall wieder im Knast.«
Es ergab ganz einfach keinen Sinn, sagte sich Eve erneut, bat aber ihre Partnerin, noch ein paar Streifenpolizisten als Verstärkung zu bestellen.
Dann nutzte sie das Handy in der Armbanduhr, die ein Geschenk von ihrem Mann war. »Carmichael, Sie und Sanchez bauen sich hinter dem Gebäude auf. Verstärkung ist unterwegs. Baxter, Sie und Trueheart gehen mit mir und Peabody ins Haus. Aber ziehen Sie vorher Ihre schusssicheren Westen an. Weil er uns erwartet.«
Sie schüttelte den Kopf und zwängte sich in eine kleine Lücke im Verkehr. »Er wird nicht dort sein. Weil er ganz bestimmt nicht in der Falle sitzen will. Er weiß sicher, dass ich komme, und zwar nicht allein.«
»Vielleicht sollen Sie das ja gerade denken, weil er Sie in eine Falle locken will.«
»Das werden wir gleich sehen.«
Sie betrachtete das riesige Gebäude, das ein Überbleibsel aus der Zeit der innerstädtischen Revolten war. Man hatte es in Apartments aufgeteilt, und obwohl die beste Zeit des Hauses bestimmt seit hundert Jahren vorüber war, hielt es mit den verblichenen, pinkfarbenen Backsteinmauern und den reich verzierten Gittern vor den Fenstern dem Verfall tapfer stand.
Die direkt am Bürgersteig gelegene Haustür war nur minimal gesichert. Die Arbeiter, die hauptsächlich dort wohnten, kamen abends wahrscheinlich heim, machten es sich dann mit einem Bier vor ihrem Fernseher bequem und achteten nicht sonderlich darauf, was im Haus geschah.
Aus diesem Grund hatte auch niemand mitbekommen, was in einem der Apartments fast drei Jahre lang geschehen war. McQueen hatte in seiner Wohnung die Leben von 26 Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren dauerhaft zerstört.
»Er hat den Sichtschutz aktiviert«, erklärte sie. »Falls er dort oben ist, weiß er, dass wir jetzt hier draußen sind. Er hat im Gefängnis sicher Freundschaften geschlossen. Denn er ist einnehmend, charmant und sehr gewieft. Ich nehme an, dass er mit mehr als einem Messer in die Wohnung eingedrungen ist. Also zieht die Köpfe ein und bewegt euch möglichst schnell.«
Sie überprüfte, ob Carmichael in Position gegangen war und winkte ihre anderen Leute Richtung Haus.
Verdrängte die Erinnerung an das Geschehen damals und lief mit gezückter Waffe durch das Treppenhaus. Mit trockenem Hals, gedanklich aber völlig präsent.
»Am besten überprüfe ich noch kurz die Wohnungstür.« Peabody zog ihren Handrechner hervor. »Vielleicht hat er sie ja manipuliert.«
»Direkt hinter der Tür liegt ein Wohnbereich, dahinter die Küche und dann rechter Hand das Esszimmer. Außerdem gibt’s links und rechts noch je ein Schlafzimmer, und verbunden mit dem rechten Zimmer ein Bad. Links von der Küche ist noch ein kleines Bad. Die Wohnung ist echt groß, bestimmt hundert Quadratmeter.«
»Die Tür ist offensichtlich sauber«, klärte Peabody sie auf.
»Baxter, Sie gehen direkt nach hinten durch. Trueheart, Peabody, Sie beide gehen nach links und ich nach rechts.« Sie nickte Trueheart zu, der den Rammbock in den Händen hielt, und klappte nacheinander drei von ihren Fingern um.
Die Tür brach aus den Angeln, und das Schloss zerbarst mit einem lauten Knall.
Eve konzentrierte sich nicht mehr auf die Vergangenheit, sondern einzig auf das Hier und Jetzt, sprang in gebückter Haltung in den Flur, und ihre Leute folgten ihr.
Sie öffnete die Tür des ersten Schlafzimmers, schwenkte ihre Waffe hin und her und obwohl sie sah, dass jemand auf dem Bett lag, durchsuchte sie zunächst den Raum und dann das angrenzende Bad, während ihre Leute riefen: »Niemand da!«
»Hier drinnen«, brüllte sie und trat ans Bett.
»Jetzt ist alles gut. Wir sind die Polizei.«
Sie zog den Knebel aus dem blutigen, geschwollenen Mund der jungen Frau, doch außer wirrem Flüstern sowie rauem Stöhnen brachte die nicht viel heraus.
Entsprechend seiner bisherigen Vorgehensweise hatte er der Frau den Schlafanzug vom Leib gerissen, doch bevor Eve etwas sagen konnte, hatte Trueheart bereits mitfühlend die dünne Bettdecke vom Boden aufgehoben und sie darin eingehüllt.
»Jetzt ist alles gut«, erklärte er ihr sanft. »Jetzt sind Sie in Sicherheit.«
»Er hat mir wehgetan. Er hat mir wehgetan.«
Jetzt betrat auch Peabody den Raum und öffnete den Knoten in dem Laken, mit dem Julies Hände von McQueen an einem Haken an der Wand gefesselt worden waren. »Jetzt kann er Ihnen nichts mehr tun.« Sie setzte sich aufs Bett und zog die schluchzende Frau an ihre Brust.
»Er hat versprochen, mir nicht wehzutun, wenn Tray macht, was er sagt, aber trotzdem hat er es getan. Trotzdem hat er es getan. Er hat mich vergewaltigt und mir wehgetan. Und er hat mir das hier hinterlassen.«
Eve hatte es bereits gesehen. Das perfekt geformte Herztattoo und die blutrote Zahl auf Julies linker Brust.
»Der Krankenwagen kommt«, erklärte Baxter und wandte der Frau, die schluchzend in den Armen der Kollegin lag, den Rücken zu, damit sie seine nächsten Worte nicht verstand. »Eine Psychologin steht bereit. Soll ich die Spurensicherung bestellen, damit sie sich die Bude ansieht?«
Es spielt keine Rolle, dachte Eve. Denn falls er irgendetwas zurückgelassen hätte, hätte er das absichtlich gemacht. Trotzdem nickte sie. »Sagen Sie dem Freund, dass sie gerettet ist und dass er sie ins Krankenhaus begleiten kann. Sie und Trueheart gehen jetzt bitte erst einmal raus. Peabody, holen Sie Julie ein paar Kleider. Die können Sie zwar nicht sofort anziehen«, wandte sie sich an die junge Frau, »weil man Sie erst noch untersuchen muss und wir Ihnen noch ein paar Fragen stellen müssen. Das ist bestimmt nicht einfach für Sie. Aber Sie müssen wissen, dass Ihr Freund, so schnell wie er konnte, aufs Revier gekommen ist, um mich zu holen.«
»Er wollte mich hier nicht alleine lassen. Hat ihn angefleht, dass er an meiner Stelle ihn als Geisel nimmt. Er wollte mich hier nicht alleine lassen.«
»Ja, ich weiß. Der Mann, der Ihnen das angetan hat, heißt McQueen. Isaac McQueen. Er hat Ihnen doch bestimmt etwas gesagt, was Sie mir weitergeben sollen.«
»Er hat gesagt, ich wäre nicht die Richtige. Wäre nicht … frisch genug, aber er würde eine Ausnahme machen. Ich konnte ihn nicht daran hindern. Er hat mich gefesselt und mir wehgetan.« Zitternd streckte sie die Arme aus, damit Eve die Schürfwunden an ihren Handgelenken sah. »Ich konnte nichts dagegen tun.«
»Ich weiß, Julie. Ich bin übrigens Lieutenant Dallas. Eve Dallas. Was sollen Sie mir von Isaac ausrichten?«
»Dallas? Sie sind Dallas?«
»Ja. Was sollen Sie mir sagen?«
»Dass Sie ihm was schuldig sind und jetzt die Zeit für die Begleichung dieser Schuld gekommen ist. Ich will zu meiner Mom.« Sie warf sich die Hände vors Gesicht. »Ich will zu meiner Mom.«
Es war vollkommen idiotisch, doch es kam ihr vor, als hätte sie versagt. Sie hätte nicht verhindern können, was der armen Julie und Tray Schuster widerfahren war. Genauso wenig konnte sie ändern, dass das Leben dieser beiden Menschen nach dem brutalen Überfall nicht mehr dasselbe war.
Sie kannte Isaacs Vorgehensweise, seine ganz spezielle Art zu foltern, sie kannte das ganz genau. Er gab seinen Opfern das Gefühl, dass sie ihm hilflos ausgeliefert waren und dass es keine Hoffnung für sie gab, er brachte sie dazu, seine Befehle zu befolgen. Und zwar immer und aufs Wort.
Sie hatte nicht dazu gehört, konnte seine Opfer aber gut verstehen.
Weil sie das Opfer eines anderen gewesen war.
Es nützte nichts, sich daran zu erinnern oder jetzt über die Mädchen nachzudenken, die von ihr gerettet worden waren. Oder die, die sie vor zwölf Jahren nicht mehr hatte retten können, als sie Isaac ins Gesicht gesehen und gewusst hatte, dass er ein Monster war.
Deshalb nahm sie Tray beiseite, als sie in die Klinik kam.
»Die Ärzte müssen Julie erst einmal untersuchen, danach sollte sie mit einer Psychologin reden, weil sie vergewaltigt worden ist.«
»Oh Gott. Oh Gott. Ich hätte sie niemals alleine lassen dürfen.«
»Wenn Sie dort geblieben wären, wären Sie jetzt beide tot. So aber lebt sie noch. Sie ist verletzt und wurde vergewaltigt, aber sie ist noch am Leben. Darauf sollten Sie sich beide konzentrieren, denn das ist das Einzige, was zählt. Sie haben gesagt, er stand neben dem Bett, als Sie vorhin wach geworden sind.«
»Ja.«
»Erzählen Sie mir alles genau.«
»Wir hatten verschlafen, oder zumindest dachte ich …«
»Um wie viel Uhr wurden Sie wach?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich nehme an, so gegen acht. Ich habe mich herumgerollt und dachte: Mist, wir werden beide viel zu spät zur Arbeit kommen. Ich hatte einen dicken Kopf, als hätten wir am Abend vorher wild gefeiert oder so. Aber das haben wir nicht gemacht«, fügte er umgehend hinzu. »Das schwöre ich. Julie kifft nicht mal.«
»Trotzdem werden wir Sie beide auf Drogen untersuchen müssen«, meinte Eve.
»Ich schwöre, wir haben nichts genommen. Wenn wir was genommen hätten, würde ich Ihnen das sagen. Er hat gesagt, dass er ihr was gegeben hat, aber …«
»Offenbar hat er auch Ihnen etwas eingeflößt. Wir werden Sie beide untersuchen, um zu sehen, was es war. Aber Sie werden keinen Ärger wegen irgendwelcher illegalen Drogen kriegen, Tray.«
»Okay. Okay. Es tut mir leid.« Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich bin einfach total fertig. Ich kann nicht mehr denken.«
»Was haben Sie nach dem Aufwachen gemacht?«
»Ich … ich habe zu Julie gesagt, dass sie in die Hufe kommen soll und habe sie geschüttelt. Weil sie vollkommen hinüber war. Ich habe sie auf den Rücken gerollt und sah das Klebeband auf ihrem Mund. Ich dachte, sie macht einen Witz, und wollte gerade anfangen zu lachen, aber plötzlich stand er neben unserem Bett, riss meinen Kopf zurück und drückte mir ein Messer an den Hals. Er hat mich gefragt, ob mir mein Leben lieb ist. Und ob mir auch Julies Leben wichtig ist. Er hat gesagt, es müsste niemandem ein Leid geschehen. Ich müsste einfach tun, was er verlangt. Ich hätte mich wehren sollen.«
»McQueen wiegt locker dreißig Kilo mehr als Sie und hat Ihnen ein Messer an den Hals gedrückt. Glauben Sie, dass Julie noch am Leben wäre, wenn er Sie getötet hätte?«
»Keine Ahnung.« Die Tränen strömten schneller über sein Gesicht, als er sie abzuwischen in der Lage war. »Das heißt, wahrscheinlich nicht. Ich hatte Todesangst. Ich habe ihm gesagt, wir hätten nicht viel Geld, aber er könnte alles nehmen, was er will. Dafür hat er sich so höflich bedankt, dass ich noch größere Angst bekam. Er hatte Plastikhandschellen dabei und hat zu mir gesagt, dass ich mir damit meine Hände fesseln und mich auf den Boden setzen soll. Das habe ich getan, während Julie immer noch bewusstlos war. Er meinte, dass er ihr ein Schlafmittel gegeben hätte, damit wir uns erst einmal in Ruhe kennenlernen können. Meinte, dass ich meine Handschellen an einem Fuß des Betts festmachen soll, und hat mir dann ein zweites Paar für meine Knöchel in die Hand gedrückt. Dann hat er mir meinen Mund mit Klebeband verklebt. Sagte, ich sollte sitzen bleiben und mich nicht bewegen, denn er wäre sofort wieder da.«
»Er hat also den Raum verlassen?«
»Ich habe versucht, die Fesseln abzustreifen, aber das hat nicht geklappt.« Geistesabwesend massierte er die Abschürfungen, die an seinen Handgelenken sichtbar waren. »Ich konnte Kaffee riechen. Dieser Bastard stand in unserer Küche und hat sich erst mal Kaffee gekocht. Dann kommt er wieder und bringt außer einer Tasse Kaffee auch noch eine Schüssel Müsli mit. Zieht das Klebeband von meinem Mund und setzt sich hin. Während des verdammten Frühstücks fragt er mich, wie alt ich bin, wie alt Julie ist, wie lange wir zusammen sind, was wir für Pläne haben, seit wann wir in dieser Wohnung wohnen und ob jemand uns erzählt hat, dass sie eine ganz besondere Geschichte hat.«
Tray holte zitternd Luft und atmete erschaudernd wieder aus. »Dabei hat er die ganze Zeit gelächelt und so interessiert gewirkt, als wollte er uns wirklich kennenlernen.«
»Wie lange haben Sie mit ihm geredet?«
»Keine Ahnung. Hauptsächlich hat er geredet. Wissen Sie, das Ganze war vollkommen surreal. Er meinte, dass das seine Wohnung wäre, dass er aber lange weg war und dass ihm die Farbe, in der wir das Schlafzimmer gestrichen haben, nicht gefällt. Mein Gott.«
Er machte eine Pause und sah auf die Tür des Untersuchungsraums. »Wann kann ich sie endlich sehen?«
»Das wird wahrscheinlich noch ein bisschen dauern. Wann ist Julie wach geworden?«
»Nach dem Frühstück hat er tatsächlich noch das Geschirr zurückgebracht und in der Spüle abgestellt. Als er wiederkam, hat er ihr noch einmal irgendwas gegeben. Woraufhin ich ausgerastet bin. Ich habe geschrien wie am Spieß und an den Handschellen gezerrt. Ich hatte Angst, er bringt sie um. Ich dachte …«
»Doch das hat er nicht getan. Vergessen Sie das nicht.«
»Ich konnte nichts für Julie tun. Er hat mir ein paar Ohrfeigen gegeben. Aber nur ganz leicht, was ebenfalls total unheimlich war. Er meinte, wenn ich mich nicht benehmen würde, wäre er gezwungen, ihr den linken Nippel abzuschneiden, und die Verantwortung dafür wollte ich doch bestimmt nicht übernehmen. Mein Gott. Er hatte einen dieser Haken, die Julie benutzt, um ihre Pflanzen oder irgendwelche anderen Sachen aufzuhängen, den hat er in die Wand gedreht. Dann hat er sie mit dem Bettlaken gefesselt und die Hände über ihrem Kopf an dem verdammten Haken aufgehängt, damit sie saß, als sie endlich wieder zu sich kam. Sie hatte Todesangst. Ich konnte hören, wie sie versucht hat, trotz des Klebebands zu schreien, und sehen, wie sie an dem Bettlaken gerissen hat. Da hat er ihr das Messer an den Hals gedrückt, und sie hat damit aufgehört.«
»So ist’s brav, hat er zu ihr gesagt, dann hat er mir erzählt, dass es zwei Möglichkeiten gibt. Entweder er könnte Julie Nippel, Finger, Ohren und lauter andere kleine Sachen abschneiden und auf den Boden fallen lassen, bis am Ende nichts mehr von ihr übrig ist. Oder ich liefe auf das Hauptrevier der Polizei und käme innerhalb von einer Stunde mit Lieutenant Eve Dallas von der Mordkommission zurück. Wenn ich länger brauchte, wäre Julie tot. Und auch wenn ich versuchen würde, auf der Wache anzurufen, statt Sie dort persönlich abzuholen, wäre Julie tot. Ich habe ihm gesagt, ich würde alles tun, was er von mir verlangt, nur sollte er sie bitte gehen lassen. Er sollte mich als Geisel dort behalten und an meiner Stelle Julie gehen lassen, um Sie abzuholen.«
Er wischte sich die nächsten Tränen fort. »Ich wollte Julie nicht mit ihm alleine lassen. Doch er meinte, wenn ich ihn noch einmal darum bitten oder irgendeine andere Bitte oder Frage an ihn richten würde, schnitte er das erste Stück von ihrem Körper ab. Das habe ich ihm sofort geglaubt.«
»Zu Recht«, versicherte ihm Eve.
»Dann hat er mir gesagt, was ich zu Ihnen sagen soll, und ich musste es mehrmals wiederholen, während er das Messer immer noch an Julies Hals gehalten hat. Schließlich hat er mich losgeschnitten, mir ein paar Klamotten hingeworfen und noch mal gesagt, ich hätte genau eine Stunde Zeit. Eine Minute länger, und sie wäre tot, denn dann hätte ich seine Anweisungen nicht genau genug befolgt. Ich musste rennen, denn ich hatte weder Geld noch eine Karte oder sonst was für ein Taxi oder einen Bus dabei. Vielleicht hätte ich einen anderen Polizisten holen sollen, der schneller hier gewesen wäre. Denn dann hätte seine Zeit womöglich nicht gereicht, um ihr derart wehzutun.«
»Vielleicht. Aber vielleicht hätte er ihr auch einfach die Kehle aufgeschlitzt. Das geht ganz schnell. Sie ist am Leben, das ist das Einzige, was zählt. Ich kenne diesen Mann, und Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass Sie noch glimpflich davongekommen sind.«
Damit drückte sie ihm ihre Karte in die Hand. »Sie sollten unbedingt mit jemandem über die Sache reden. Jemand anderem als der Polizei. Wenn Sie dazu bereit sind, rufen Sie mich an, damit ich Ihnen ein paar Namen nennen kann.«
Sie wandte sich zum Gehen. Sie hatte sich nach einem Mord gesehnt, um dem Papierkram zu entgehen, doch jetzt war etwas deutlich Schlimmeres passiert.
Sie fuhr zurück auf das Revier und briefte ihre Leute über Isaac McQueen.
»Der Verdächtige ist 39 Jahre alt, er hat braunes Haar und blaue Augen, wobei diese Farben regelmäßig verändert werden. Er ist 1,88 Meter groß, wiegt circa 100 Kilo, hat eine Nahkampfausbildung gemacht, beherrscht verschiedene Kampfsportarten und hat im Gefängnis jeden Tag trainiert.«
Sie rief sein Gefängnisfoto auf den Bildschirm und betrachtete die Falten, die ein Dutzend Jahre hinter Gittern ihm in das Gesicht gegraben hatten. Trotzdem fänden Frauen ihn bestimmt noch immer gut aussehend und charmant, vor allem, wenn sie sein verführerisches Lächeln sahen. Zu seinen beinahe femininen Zügen, seinen vollen Lippen und den hübschen Grübchen fassten junge Mädchen leicht Vertrauen.
Damit hatte er schon damals seine Opfer angelockt.
»Am liebsten setzt er Messer entweder als Waffe oder zur Einschüchterung ein. Seine Mutter war ein Junkie und hat ihm als talentierte Trickbetrügerin viel beigebracht. Sie hatten eine inzestuöse Beziehung und haben ihre Opfer oft als Pärchen hinters Licht geführt. Auch seine Sucht nach jungen Mädchen hat sie immer unterstützt. Sie haben ihre Opfer gemeinsam entführt, gefoltert, vergewaltigt und danach verkauft oder entsorgt, bis man Alices Leichnam im Herbst 2040 aus dem Chicago River gezogen hat. Irgendjemand hatte ihr die Kehle aufgeschlitzt, und obwohl McQueen den Mord bis heute nicht gestanden hat, ist davon auszugehen, dass er es war. Er war damals 19 Jahre alt.« Eve seufzte.
»Außerdem wird davon ausgegangen, dass er mindestens zehn junge Mädchen aus den Gegenden um Philadelphia und Baltimore entführt und Carla Bingham, Philadelphia, und Patricia Copley, Baltimore, ermordet hat. Beide Frauen, 45 beziehungsweise 52 Jahre alt, waren Junkies, mit denen McQueen damals in diesen Städten zusammengelebt hat und auf Jagd gegangen ist. Bevor beide mit aufgeschlitzten Kehlen aus dem Fluss gezogen worden sind. Wobei er für diese Verbrechen entweder aus Mangel an Beweisen oder, vielleicht weil die jeweiligen Staatsanwälte keine Eier hatten, nie verurteilt worden ist.«
Doch er hatte sie begangen, dachte sie. Diese Taten und noch mehr.
»Von 2045 bis 2048 war sein Jagdrevier New York. Seine Partnerin hieß Nancy Draper – 44 Jahre alt und drogensüchtig wie die anderen Frauen. In dieser Zeit hat er sein Vorgehen verfeinert und ein paar Extras hinzugefügt. Er und Draper hatten eine Wohnung in der Lower West Side und finanzierten ihren Drogenkonsum und ihr aufwändiges Leben als Falschspieler mit Identitätsdiebstahl und Onlinebetrügereien – lauter Fähigkeiten, die er ebenfalls zu dieser Zeit entwickelt hat. Außerdem hat er seine Opfer zu der Zeit nicht mehr verkauft, sondern behalten. 26 Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren, die er in New York entführt, missbraucht, misshandelt, geschlagen und einer Gehirnwäsche unterzogen hat. Gefangen hielt er sie in seiner schallisolierten Wohnung in einem nicht einsehbaren Raum. Während seiner New Yorker Phase hat er seine Opfer tätowiert. Er hat sie nummeriert und diese Nummern zusammen mit einem Herz über ihren linken Brüsten angebracht. Es wurden 22 Mädchen in dem Raum gefunden.«
Die sie noch immer alle vor sich sah.
»Die übrigen vier wurden niemals gefunden, auch ihre Leichen sind bisher nicht aufgetaucht. Wir wissen nicht einmal, wer sie waren, da er häufig Mädchen, die zu Hause weggelaufen waren, gekidnappt hat.« Eve schauderte.
»Er ist ein hochintelligenter, gut organisierter Soziopath, ein rücksichtsloser Pädophiler, ein Narzisst, der mühelos unterschiedlichste Persönlichkeiten darstellen kann. Die älteren Frauen nutzt er als Helferinnen, zur Tarnung, für sein Ego, und am Schluss bringt er sie um. Nancy Drapers Leiche wurde zwei Tage nach seiner Verhaftung am Ufer des Hudson angeschwemmt. Er hatte sie nur einen Tag vor seiner Festnahme eliminiert. Wahrscheinlich war er also auf dem Sprung und wollte entweder New York verlassen oder vielleicht auch nur eine neue Partnerin finden.«
Ihrer Meinung nach hatte er eine neue Helferin gewollt.
»Er hat keine dieser Taten je gestanden, wurde aber trotzdem wegen mehrfacher Entführung, Freiheitsentzug, Vergewaltigung und Körperverletzung zu einer mehrfachen lebenslangen Haftstrafe verurteilt und nach Rikers überführt. Wo er als Vorzeigegefangener gegolten hat.«
Sie hörte, wie einer ihrer Männer schnaubte, da sie selbst diese Beschreibung als den reinsten Hohn empfand, wies sie ihn nicht dafür zurecht.
»Bis er gestern einem Pfleger aus dem Krankentrakt die Kehle durchgeschnitten hat und von dort geflüchtet ist. Danach ist er in seine alte Wohnung zurückgekehrt, hat das Pärchen, das dort lebt, gefesselt und bedroht, das männliche Opfer gezwungen, mich zu holen, und die Frau erst vergewaltigt und ihr dann ein Herz mit einer 27 in die Haut tätowiert.« Eve schaute in die Runde.
»Er hat die beiden leben lassen, damit sie mir seine Nachricht überbringen. Nämlich, dass er wieder da ist und die Absicht hat, dort fortzufahren, wo er von mir unterbrochen worden ist. Dies ist kein Mordfall«, fügte sie hinzu. »Also sind wir offiziell nicht zuständig.«
Sie sah, dass Baxter seine Schultern straffte. »Lieutenant …«
»Aber«, fuhr sie mit derselben ausdruckslosen Stimme fort, »wenn mir ein Arschloch wie McQueen eine Botschaft schickt, werde ich die ganz bestimmt nicht einfach ignorieren. Und ich gehe davon aus, dass Sie das ebenfalls nicht tun. Lesen Sie seine Akte. Schauen Sie sich sein Foto an. Womit auch immer Sie im Augenblick beschäftigt sind, mit wem auch immer Sie sich unterhalten – einem Zeugen, einem Informanten, einem Opfer, einem Verdächtigen, einem Kollegen oder meinetwegen auch dem Typ vom Schwebegrill, bei dem Sie Ihre Hot Dogs kaufen – zeigen Sie das Bild herum. Halten Sie die Augen und die Ohren offen. Weil er bereits auf der Jagd nach Opfer Nummer 28 ist.«
Sie machte kehrt und ging in ihr Büro. Sie brauchte einen Augenblick für sich, aber kaum hatte sie die Augen zugemacht, hörte sie Peabodys Schritte hinter sich.
»Ich muss den Bericht schreiben und zum Commander bringen. Lesen Sie in der Zeit schon mal seine Akte, Peabody.«
»Das habe ich bereits getan. Ich habe mich in meiner Zeit an der Akademie eingehend mit dem Fall beschäftigt. Sie hatten selber gerade erst die Ausbildung beendet, als Sie ihn gefunden haben. Waren damals noch in Uniform. Das war Ihre erste große Festnahme. Sie …«
»Ich war dabei, Peabody. Ich kenne die Details.«
Peabody sah sie ruhig aus ihren dunklen Augen an. »Sie wissen, wer und was und wie er ist. Deshalb ist Ihnen klar, dass er mit der Botschaft an Sie von seinem bisherigen Muster abgewichen ist. Ihretwegen saß er zwölf Jahre im Kahn. Wofür er sich auf alle Fälle rächen will.«
»Vielleicht, aber ich bin eindeutig nicht sein Typ. Ich bin schon ewig nicht mehr in der Pubertät. Ich bin weder naiv noch dumm noch wehrlos. Deshalb halte ich es für wahrscheinlicher, dass er sich mit mir messen und mich schlagen will. Wir haben hier eine ganze Stadt voll junger Mädchen, unter denen er frei wählen kann, wenn er mich für die zwölf Jahre zahlen lassen will.«
Sie nahm müde hinter ihrem Schreibtisch Platz. »Er will mich nicht töten, Peabody, zumindest nicht sofort. Er will mir zeigen, dass er schlauer ist als ich. Erst mal will er mich erniedrigen. Will unter anderem deshalb eine neue Sammlung starten, weil er denkt, dass mich das demütigt.«
»Er hat Sie sicher eingehend studiert. Er denkt, dass er Sie kennt, aber da irrt er sich.«
»Jetzt wird er mich kennenlernen. Hören Sie, die Zeit wird langsam knapp. Am besten ziehen Sie sich erst einmal um.«
»Wir können die Zeremonie auch gern verschieben und uns weiter auf die Arbeit konzentrieren.«
Obwohl Eve ganz sicher kein Interesse daran hatte, dass ihr jemand eine dämliche Medaille an die Jacke heftete, solange sie die unglückliche Miene von Tray Schuster und Julies glasige Augen vor sich sah, schüttelte sie nachdrücklich den Kopf.
»Wir verschieben gar nichts, und vor allem ist dies nicht unser Fall.« Auch wenn sie alles daran setzen würde, dass sie ihn bekam. »Jetzt gehen Sie mir nicht länger auf den Keks. Ich muss mich schließlich ebenfalls umziehen. Denn Sie sind nicht die Einzige, die heute ausgezeichnet wird.«
»Ich weiß, dass Sie schon öfter ausgezeichnet worden sind. Freuen Sie sich trotzdem noch?«
»Auf diese Auszeichnung ganz bestimmt. Weil das eine wirklich große Sache war. Und jetzt verschwinden Sie.«
Sie blieb noch kurz sitzen, nachdem Peabody gegangen war. Es stimmte, was die Partnerin gesagt hatte. Das Arschloch kannte sie ganz sicher nicht. Denn sie war nicht erniedrigt, sondern seine Taten machten sie im Herzen, im Magen und auch in Gedanken einfach krank. Doch Gott sei Dank, erkannte sie, hatte der Schweinehund mit diesem Vorgehen ihren heißen Zorn entfacht.
Denn sie arbeitete stets am besten, wenn sie richtig wütend war.