Copyright der Originalausgabe 2020:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

All rights reserved.

Covergestaltung: Daniela Freitag

Satz und Gestaltung: Manuel Schäfer

Lektorat: Karla Seedorf

Korrektorat: Elke Sabat

ISBN 978-3-86470-724-7

eISBN 978-3-86470-764-3

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: buecher@boersenmedien.de

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenbuchverlage

www.instagram.com/plassen_buchverlage

Für Darian, Sebastian und Gabriel.

And for May Kou.

MARIO HERGER

CORONA
ALS
CHANCE

Was nach der Krise anders sein wird

Inhalt

Einleitung

KAPITEL 1

Vorgehensweise

KAPITEL 2

Umfrage

KAPITEL 3

Vorhersagen

Endnoten

Bildnachweis

Autor & Literatur

Einleitung

„Die Zukunft hat viele Namen:

Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare;

für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte;

für die Tapferen ist sie die Chance.“

– Victor Hugo

Die Welt durchläuft aktuell mit der Coronavirus-Krise eine Schocktherapie, die eine Reihe von direkten und indirekten Auswirkungen hat und haben wird. Wie immer bei derartigen Ereignissen ändern sich Prioritäten, Verhaltensweisen und unser Verständnis vom Funktionieren der Welt in nachhaltiger Weise. Während die Covid-19-Pandemie ganz konkrete beklagenswerte Auswirkungen auf viele Menschen hat, die entweder am Virus erkranken, daran sterben oder gezwungen sind, sich in Heimisolation zu begeben, ist der Effekt auf die wirtschaftliche und finanzielle Situation von Unternehmen und Menschen bislang nur teilweise erfassbar. Ganz eindeutig ist das Wirtschaftsleben in vielen Ländern fast vollständig zum Erliegen gekommen, Schulen und Geschäfte sind geschlossen und eine große Anzahl von Menschen hat ihren Job und/oder signifikante Teile ihres Einkommens eingebüßt.

Das Spezielle an diesem Moment ist, dass sich die Ereignisse nicht auf eine überschaubare Weltregion beschränken, sondern weltweit ähnliche Maßnahmen eingeführt wurden. Ausgangsverbote, Grenzschließungen, Panikkäufe, Straßensperren oder der abrupte Stopp des Wirtschaftstreibens und damit der Wegfall von Einkommen für viele Teile der Bevölkerung sind weltweit zu beobachten. Die gesamte Menschheit macht gerade die gleichen Erfahrungen.

In dieser Studie wollen wir uns auf die Zeit nach dem Ende der Pandemie konzentrieren und Szenarien aufzeigen, wie diese Krise sich auf Politik und Gesellschaft, die Wirtschaft, Technologien und andere Bereiche nachhaltig auswirken könnte. Anhand von Daten, Signalen, Umfragen und der Anwendung von Foresight-Mindset-Methodologien aus der Zukunftsforschung werden unterschiedliche Szenarien diskutiert.

Die Ergebnisse sollen als Entscheidungsgrundlage für Politiker, Gewerbetreibende, Vordenker, Investoren, Manager und sonstige Entscheidungsträger dienen. Damit können heute Maßnahmen ergriffen werden, um sich für die Zukunft besser vorzubereiten und sie aktiv beeinflussen zu können. Dazu stellt die Studie unter anderem Fragen wie diese:

Was wird sich ändern, was wird gleich bleiben?

Welche Änderungen werden sich beschleunigen?

Welche bisherigen Trends werden zum Stillstand kommen oder eine andere Richtung einschlagen?

Was muss getan werden?

Feldversuch

Die Coronavirus-Krise lässt viele von uns bequem von der Couch daheim den wohl größten Feldversuch der Menschheitsgeschichte aus erster Hand miterleben. Oder vielmehr, eine ganze Reihe von Feldversuchen, welche die Wissenschaft noch Jahre beschäftigen wird. Es würde mich nicht verwundern, wenn Forschungsergebnisse über die von dem Lockdown generierten Daten und Einsichten einen oder mehrere Nobelpreisträger hervorbrächten.

Wir erhalten dabei Erkenntnisse zu den Auswirkungen des weltweiten Lockdowns auf …

die Verbreitung einer Pandemie und die Reaktionen von Ländern;

die Verhaltensänderungen von Menschen;

das Wirtschaftstreiben und Wirtschaftsverständnis;

das Schulwesen;

häusliche Gewalt;

die Umwelt und das Klima;

Kriminalität;

die medizinische Forschung sowie die Praxis und Zulassung von Medikamenten;

das Transportwesen;

systemerhaltende Berufe und Wirtschaftsgruppen;

digitale Dienstleistungen und digitale Transformation;

soziale Verteilungsmechanismen wie das bedingungslose Grundeinkommen für Individuen und Bail-outs für Unternehmen;

das soziale Gefüge, Unterschiede und (Un-)Gerechtigkeiten;

die Bedeutung und den Wert von Kulturschaffenden und Journalismus;

Manche der aufgezählten Themen konnten bislang nicht ausreichend in Feldstudien untersucht werden und Diskussionen dazu waren vor allem theoretischer Natur. Gleichzeitig erleben wir ein Niederreißen von vorher unüberwindbar scheinenden ideologischen Schranken. Selbst die vehementesten Gegner der Einmischung des Staates in das Privat- und Wirtschaftsleben fordern nun staatliche Hilfe an. Das könnte den Weg für eine von allen Seiten weniger ideologiebelastete und mehr auf Fakten und Daten basierende Diskussion um Konzepte und Technologien ebnen.

Dauerhafte Konzepte und Technologien werden dabei nicht nur beispielsweise umweltfreundlicher, einfacher, billiger oder schneller, sondern auf längere Sicht gefühlt oder tatsächlich in wichtigen Eigenschaften besser sein müssen. Menschen ändern ihre Verhaltensweisen nicht so sehr wegen der hehren Ziele hinter einer Idee, sondern weil die neue Lösung in bestimmten, wichtigen Bereichen besser ist als die alte oder überhaupt erst neue Lösungen gefunden werden. Die Bildqualität und -auflösung der ersten kommerziell erfolgreichen Digitalkameras waren nicht besser als Analogfilm, aber sie lösten andere Probleme: Sie erlaubten, die Bilder sofort zu betrachten, so viele wie notwendig ohne weitere Kosten zu schießen und sie sofort per E-Mail mit anderen zu teilen. Teslas Elektroautos sind nicht so erfolgreich, weil sie umweltschonender sind, sondern weil sie einfach ein besseres Fahrerlebnis bieten und vollständig digital sind. Impossible Burger oder Beyond Meat sind mit ihrem Fleischersatz nicht deshalb erfolgreich, weil sie einen geringeren CO2-Fußabdruck aufweisen, sondern weil ihre Produkte wirklich gut, ja, sogar fast besser als echtes Fleisch schmecken. Der erste Schritt ist allerdings, dass die Menschen die neue Technologie, den neuen Prozess, die neue Dienstleistung selbst ausprobieren. Ab dann findet eine völlig andere Diskussion darüber statt.

Mit der Coronavirus-Krise passiert genau das jetzt in vielen Ländern. Überraschend viele Menschen erleben zum ersten Mal Videokonferenzen, Homeoffice oder Distanzlernen. Nach einigen Anpassungsschwierigkeiten, die meistens technischer Natur sind und das Lernen eines effektiven Verhaltens erfordern, akzeptieren es und gewöhnen sich die Menschen daran und werden diese Möglichkeiten in Zukunft nicht mehr missen wollen.

„Das hat bei Corona damals auch funktioniert!“ wird wohl zu einer der meistgesagten Phrasen werden, wenn Widerstände zu neuen Initiativen und Technologien vorgebracht werden. Verhinderer werden zukünftig einen schweren Stand haben, weil man sich und allen anderen bewiesen hat, dass man auch anders kann.

Historischer Kontext

Im aktiven kollektiven Gedächtnis gibt es eine Krise, die zum Umdenken und zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung geführt hat: die Ölkrise von 1973. In kurzer Zeit hatten sich die Energiepreise vervierfacht und zu teils drastischen Maßnahmen geführt – wie Fahrverbote für Autos an bestimmten Tagen oder dem teilweisen Abschalten von Industrien. Auch wenn die monatelange Ölkrise weniger durch Energiemangel als vielmehr durch politische Drohgebärden verursacht worden war, wurden weiträumige Energiesparmaßnahmen in Gang gesetzt, die zwischen 1990 und 2015 die deutsche Energieeffizienz um 50 Prozent gesteigert haben.1

Die Spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1919 in weiten Teilen des Globus grassierte und bis zu 50 Millionen Menschen dahinraffte, ist ein gutes Beispiel, wie sich Pandemien weltweit auswirken können und vor Grenzen nicht haltmachen. Historische Daten zeigen deutlich die Verbreitung von Pandemien und die Wirksamkeit von Vorkehrungsmaßnahmen. Das bekannteste Beispiel für gegensätzliche Reaktionen von Behördenvertretern ist das der beiden US-Städte St. Louis und Philadelphia.2 Während St. Louis bereits zwei Tage nach dem ersten bekannten Grippefall eine Ausgangssperre verhängte, ignorierten die Verantwortlichen in Philadelphia die Warnungen und ließen eine Parade zur Unterstützung der Truppen an den Weltkriegsfronten wie geplant abhalten. Innerhalb von zwei Tagen begann die Spanische Grippe Tausende dahinzuraffen. Insgesamt starben in Philadelphia 16.000 Menschen, während St. Louis die Todeszahlen auf ein paar Hundert beschränken konnte. Ähnlich wirtschaftsfixierte Entscheidungen, auf eine Pandemie nicht oder nur verzögert zu reagieren, hat auch ein Choleraausbruch in Hamburg 1892 gezeigt. Die hanseatischen Kaufleute wollten die Wirtschaftsaktivitäten nicht reduzieren, was verheerende Auswirkungen hatte. Als einzige westeuropäische Stadt kam es dort zu einem weitreichenden Ausbruch der Krankheit, der viele Menschenleben forderte.3

Noch ist nicht ganz klar, wie die Aufhebung der Ausgangssperre in vielen Ländern vor sich gehen wird. Wie bei der Spanischen Grippe zu sehen war, kam es nach der Hauptwelle und der Beendigung der sozialen Distanzierung zu mehreren kleineren Ausbrüchen.4

Abbildung 1: Ausbruchswellen bei der Spanischen Grippe 1918–1920

Selbst nach einer Aufhebung der Beschränkungen und der Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeiten wird die Geschwindigkeit der Erholung nicht nur von verfügbaren Impfstoffen abhängig sein, sondern auch vom Vertrauen der Menschen. Erst 1922, vier Jahre nach dem Beginn und zwei Jahre nach Ende des Ausbruchs, fühlten sich die Menschen wieder sicher genug, Teil einer größeren Menschenansammlung zu sein.

In Bezug auf die Wirtschaft wird nicht die Angebotsseite die große Unbekannte sein, sondern die Nachfrage. Ein längerer Stopp der wirtschaftlichen Tätigkeiten führt unweigerlich zu Änderungen der Verhaltensweisen bei der Bevölkerung, die ähnlich sein könnten wie bei der lang anhaltenden Wirtschaftskrise in den 1920er- und 1930er-Jahren. Menschen, die diese Krise erlebt hatten, tendierten zu höherer Risikoaversion und legten mehr Wert auf Widerstandsfähigkeit als auf Effizienz.

Werden die Menschen nach dem Ende der Coronavirus-Krise den Rückstau an Konsum sofort nachholen oder erst später oder vielleicht sogar gar nicht? Oder wird eine Nachfrage nach neuen Arten von Produkten und Dienstleistungen ein Ergebnis dieser Krise sein?

Die Natur dieser Krise unterscheidet sich von anderen Krisen der letzten Jahrzehnte. Bei der Finanzkrise von 2008 kam es zu einem Zusammenbruch von Vertrauen und damit der Kreditvergabe. Es wurde Liquidität aus dem Markt genommen, weil Anlagen und Wertpapiere auf einen Schlag wertlos geworden waren. Damit sank die Nachfrage und es kam zu einem Kapazitätsabbau. Es dauert einige Zeit, bis abgebaute Kapazitäten bei Bedarf wieder hochgefahren werden können.

Beim Platzen der Internetblase in der New Economy um 2000 waren die Bewertungen der Internetunternehmen viel zu hoch. Als das sichtbar wurde, trocknete der Markt aus, Kapital wurde abgezogen.

In dieser Krise wurde eine auf Hochtouren laufende Wirtschaft von einem Tag auf den anderen angehalten. Wie schnell, das sieht man an den Arbeitslosenzahlen in den USA. In den wenigen Monaten seit dem Beginn des Shutdowns meldeten sich über 40 Millionen Amerikaner arbeitslos. Das gab es in der gesamten Geschichte der USA noch nie. Mittlerweile gehen Experten davon aus, dass zwischen 20 und 30 Prozent der erwerbstätigen US-Bevölkerung arbeitslos sind. Allein in den ersten vier Wochen gingen mehr Arbeitsplätze verloren als in der gesamten Wirtschaftskrise in den 1920er- und 1930er-Jahren. Ähnliches spielte sich in anderen Ländern ab, wobei wir in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Kündigungsfristen, der Möglichkeit zur Kurzarbeit und anderen Maßnahmen eine verzögerte Reaktion sehen.

Kein Wunder, dass die Hilfspakete beispiellose Größen annehmen. Die USA allein gaben in einer ersten Tranche zwei Billionen Dollar (2.000 Milliarden Dollar) frei, gefolgt von mittlerweile zwei weiteren Billionen-Dollar-Hilfspaketen. Die Hilfspakete haben mehr den Charakter einer Katastrophenhilfe als eines Finanzstimuluspakets.5 So gehen diesmal verstärkt Zahlungen direkt an die Bürger und nicht nur an Unternehmen, auch wenn hier immer noch die erwerbstätige Bevölkerung zugunsten von Unternehmen stark benachteiligt wird.

Verhalten & Gewohnheiten

Anfang des Jahrtausends kam ein Mann in eine Target-Filiale in der Nähe von Minneapolis und wollte den Filialleiter sprechen. In der Hand hielt er Coupons, die seine Tochter mit der Post erhalten hatte. Sie ging noch in die Highschool und diese Coupons enthielten Rabatte auf Babykleidung und Kinderwagen. Der offensichtlich erzürnte Vater wollte vom Filialleiter wissen, ob Target seine Tochter zu einer Schwangerschaft ermutigen wolle. Der Filialleiter war genauso verblüfft und ahnungslos wie der Vater und meinte, es müsse sich um ein Versehen gehandelt haben. Ein paar Tage später rief er den Vater an, um sich nochmals zu entschuldigen, worauf dieser ihm mitteilte, er hätte mittlerweile mit seiner Tochter gesprochen und sie erwarte im August ein Baby.6

Diese Begebenheit hatte Charles Duhigg, Autor des Buches „Die Macht der Gewohnheit: Warum wir tun, was wir tun“, von Andrew Pole erfahren, der damals Datenanalyst bei Target war. Der Händler hatte nicht nur zu identifizieren versucht, welche Produkte die Kunden gemeinsam mit anderen kaufen, sondern ob man anhand der gekauften Produkte auf eine Änderung der Lebensumstände rückschließen könne. Kaufen schwangere Frauen Produkte, wonach Target feststellen kann, dass sie ein Kind erwarten? Genau das hatte Target analysiert und dann eigens zusammengestellte Couponhefte an seine Kundinnen geschickt.

Warum interessiert sich ein Händler wie Target für veränderte Lebensumstände seiner Kunden? Bei einem lebensverändernden Ereignis wie einer Hochzeit, einem Hochschulabschluss, einem Umzug in eine andere Stadt, einer Scheidung oder eben einer Geburt ändern sich auch die Gewohnheiten. In diesem Moment werden Menschen flexibler. Man sucht sich ein neues Café, geht in neue Läden, andere Kinos oder beginnt zu trainieren. Und genau das ist der Zeitpunkt, zu dem ein Einzelhändler die größte Chance hat, einen Einkauf in seinem Laden zu einer Gewohnheit werden zu lassen, indem man Anreize bietet, immer wieder zu kommen.

Die Coronavirus-Krise ist so ein Lebensereignis, das weite Teile der Bevölkerung zu einer Änderung ihrer Gewohnheiten zwingt. Wie wir sahen, gab es mehrere Ausgangssperren unterschiedlicher Dauer, und trotz der seit Ende 2020 vorhandenen Impfstoffe drohen Lockdowns bis weit in das Jahr 2021 hinein. Was aber schon jetzt feststeht, ist, dass die Dauer der Krise zu einer nachhaltigen Änderung von Gewohnheiten in einigen Bereichen führen wird.

Lebenskunst

Hand aufs Herz: Wem war bewusst, wie sehr unser Tag fremdbestimmt und fremdstrukturiert war? Wie sehr Besprechungen und Termine als Ausrede galten, nicht über deren Notwendigkeit und die eigenen Wünsche nachzudenken?

Für manche führt der abrupte Stopp aller gewohnten Tätigkeiten zu einer Sinnkrise. Die ersten Tage versucht man noch krampfhaft, die alten Routinen und die übliche Tagesstruktur aufrechtzuerhalten, indem man Besprechungen nun per Videokonferenz abhält, doch schon nach wenigen Tagen merkt man, dass das nicht funktioniert. Shoppen gehen als Ablenkung, die Kinder zur Schule bringen und abholen, der Kaffeehausbesuch und das Work-out im Fitnesscenter zählten zu diesen Routinen, und man ersparte sich das Denken.

Egal ob Sachbearbeiter oder dynamische Start-up-Gründerin, die eigene Routine hat man nie hinterfragt. Und viele bemerken nun, wie verloren sie sich ohne diese vorkommen. Wir erkennen, wie sehr uns andere unsere Tagesstruktur vorgeschrieben haben. Wir haben das nur nie bemerkt. Vom Kindergarten über die Schule bis hin zur Uni oder beim Militärdienst, bei den Arbeitszeiten als Angestellter wie auch als Geschäftsführer liegt die Hoheit über den eigenen Kalender bei anderen.

Jetzt, wo uns gezwungenermaßen keiner zu einer festen Struktur zwingt, kämpfen wir damit, uns den Tag einzuteilen. Wir kommen morgens nicht aus dem Bett, unser Kleidungsstil und die Körperpflege lassen mehr und mehr zu wünschen übrig, wir verkommen auf der Couch beim Binge-Watching von Netflix-Shows, versinken in sozialen Medien und suchen krampfhaft nach jeder Ablenkung, die uns einfällt, ohne dass wir sie dann wirklich verfolgen. Die ersten Tage fühlt sich das wie ein tiefer Abgrund an, wie Haltlosigkeit, als ob wir die Aussicht auf Beschäftigung mit uns selbst als Bedrohung empfinden.

Als ich mich 2013 selbstständig machte, stand ich vor genau der gleichen Herausforderung. Wie organisiere ich meinen Tag, damit ich produktiv bleibe und doch nicht im Stress ertrinke? Es brauchte einige Zeit, bis ich meine eigene Routine fand und weniger Schuldgefühle hatte, wenn ich sie einen Tag einmal nicht einhalten konnte oder mich unproduktiv fühlte. Heute habe ich mehr oder weniger einen geregelten Arbeitsablauf und meine Art, mich zu motivieren, gefunden. Der Lockdown hat für mich insofern nicht die große Umstellung gebracht wie für so manch andere.

Die Ungewissheit, was die ungewohnte Situation bringt, führt zu Unsicherheitsgefühlen und Depressionen, Schlafproblemen und intensiveren Träumen.7 Routinen und Strukturen bieten Halt. Allerdings scheinen wir gerade das in keiner Phase unseres Lebens wirklich zu lernen, außer eine Krise wie diese zwingt uns dazu.

Um Lebenskunst zu lernen, werden wir verstärkt Menschen konsultieren, die uns dabei helfen können. Zu den Berufen dieser Art gehören Psychotherapeuten, Executive Coaches, Tutoren, Berater, Lebensbegleiter und solche, die Kinder und ältere Menschen betreuen. Der Begriff „Pflegeberufe“ wird in diesem Zusammenhang oft verwendet, ist aber irreführend: Er hat für die „Pflegebedürftigen“ eine negative Konnotation von Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes schrieb schon darüber:

Es werden diejenigen Menschen sein,