Charlotte Lyne

Die Glocken von Vineta

Historischer Roman

4

Der Einarm hatte einen Boten geschickt. Er wolle, so hieß es in dem Schreiben, auf König Waldemars Geheiß hin kein Risiko eingehen und sich in Anbetracht der Lage nicht in die Stadt begeben. „Quamvis sunt sub aqua sub aqua maledicere temptant“, prangte es in der Mitte des Pergaments. „Sagt diese Losung meinem Mann an Eurem Tor, dann weist er Euch den Weg.“

Bole schleuderte das Dokument in den Ofen, wo der Bogen sogleich Feuer fing und zu stinken begann. Das Wetter war grauenhaft. Die feuchte, windgebeutelte Kälte saß ihm in den Knochen. Ihm würde dennoch nichts übrigbleiben, als den Falben zu satteln und zum Bronzetor zu reiten. Als er dies tat, unter dem Vordach, um das Pferd so lange wie möglich vor der Witterung zu schützen, kam Lara. „Ihr müsst fort, Vater? Wann kommt Ihr wieder?“

„Das weiß ich nicht.“ Bole hielt im Satteln inne und nahm sich Zeit, sie zu betrachten. Wenn in dem ganzen verfluchten Dasein mir eines gelungen ist, dann dieses Kind. Er hatte um seinen Neffen, den taghellen Stani, geweint. Obgleich er der Schlange Natalia jedes Unglück der Welt hätte gönnen müssen, konnte er nicht anders, als den Verlust dieses Lebens zu betrauern. Das Leben eines Jungen, der ihn hätte lieben, der zum Trost seines Alters hätte heranwachsen können. Seine Lara aber würde ihm Enkelsöhne schenken, um das Verlorene zu ersetzen.

„Kann es sein, dass Ihr für Tage wegbleibt?“

„Ja, Lara, selbst das kann sein.“

„Dann habe ich Euch etwas zu sagen. Ich gehe von hier fort. Schon morgen.“

„In der Tat, das tust du.“ Bole legte dem Pferd den Sattel über. „Wir gehen beide. Wann das allerdings sein wird, kann ich dir nicht sagen, und ich bitte dich auch, davon zu schweigen.“

Er wollte die Riemen festzurren, doch seine Tochter ergriff ihn beim Arm und zwang ihn, sich ihr noch einmal zuzuwenden. Vom eisigen Nieselregen schimmerten ihr die Wangen. Ihre Augen versprachen einen neuen Sommer, irgendwo, an einer anderen Küste. „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Vater. Ihr wollt auch fort? Von der Mutter, von Eurem Sitz im Rat und vom Haus?“

„Von allem.“ Bole riss seinen Blick von ihr los und zog sich in den Sattel. „Lass uns später reden. Jetzt muss ich mich eilen oder ich komme zu spät und treffe niemanden mehr an.“

Sie legte ihm ihre Hand auf den Schenkel. „Ich muss jetzt reden, Vater. Wenn du zurückkommst, werde ich vielleicht nicht mehr hier sein. Und Anton auch nicht. Wir gehen zusammen aus Vineta fort, nach Venedig oder in eine andere Stadt im christlichen Oberitalien.“

„Was sagst du? Wir gehen nach Roskilde. Der Mann deiner Schwester Lutiza nimmt uns fürs erste auf.“ Bole schlug sich auf den Mund. Wie laut hatte er in seiner Erregung gesprochen? Mühsam dämpfte er die Stimme. „Und was hat Anton damit zu schaffen? Anton ist getauft, ja? Dass er deshalb von hier fort will, lässt sich verstehen, aber ich kann nur mitnehmen, wem ich rückhaltlos vertraue.“

„Vater“, sagte Lara, die Schnalle seiner Spore, die er wohl übersehen hatte, an seinem Stiefel schließend. „Anton und ich sind beide getauft, und wenn auch du dich taufen lässt, vor den vergebenden Gott trittst wie ein verlorenes Kind, dann wäre ich sehr glücklich. Nach Roskilde aber gehe ich nicht mit dir. Wir sollen Vater und Mutter verlassen. Ich gehe mit Anton, weil ich seine Frau sein will.“

Eine Regenbö stob unter das Vordach und ließ den Falben steigen. Bole wollte nach Laras Schulter greifen, aber musste sich mit beiden Händen in die Mähne des Tieres krallen. Seine Tochter gab ihm noch einen Blick, dann drehte sie sich um und rannte über den Hof davon. Im selben Moment fügte sich ein Bild und Bole fiel ein, dass er Antons Pferd den Morgen über nicht gesehen hatte. In seinem Unterleib bildete sich ein Klumpen, der nicht aus Stein, sondern aus Eis gemacht schien und seinen Körper erstarren ließ. Lara, wollte er schreien, meine Lara, das darfst du mir nicht antun, nicht du, nicht die einzige Hoffnung, die mir bleibt! Lara aber war längst durch das Hoftor verschwunden.

Er zwang sich, sein Pferd in Trab zu treiben. Denk jetzt nicht daran, fuhr er sich an. Du hast den Einarm zu treffen, du hast dies hinter dich zu bringen, und danach wird sich alles finden. Die Lara war seine Tochter, sie hatte ihm zu gehorchen. Um einen Mann für sie würde er sich kümmern, um einen, den keine Tochter ausschlagen könnte. Einen Vetter von König Waldemar. Der Einarm schließlich hatte das alles und noch mehr in Aussicht gestellt.

Seine Augen waren blind, von Schleiern überzogen. In seinem Kopf herrschte Schwindel. Kaum gelang es ihm, den Falben zu lenken, auf das Bronzetor zu, an dem Waldemars Leute als vinetische Wachposten gekleidet standen. Danach wird sich alles finden. Der vergebende Gott schließt selbst einen vom Leben müden Lumpen in die Arme wie ein verlorenes Kind. Jetzt erkannte er durch die Schleier den Turm, die Stadtmauer, die rötlichen Torflügel. „Ich bin Boleslaw, der Herr dieses Tores“, rief er dem Wächter durch den Regen zu. „Los, sperr auf, lass die Brücke herunter.“

Der Wächter, in vinetischem Waffenrock, wiegte den behelmten Kopf.

Bole ballte die Fäuste um die Zügel. Die verdammte Losung, das lateinische Gewäsch fiel ihm nicht ein, und das Schreiben hatte er ins Feuer geworfen. Am liebsten hätte er den Kerl über den Haufen geritten, nur hätte ihm das nichts genützt: Sein Pferd wäre gegen das Bronzerelief geprallt, auf dem ein Tysjatschnik von Vineta in einem Boot den verwundeten Dänenkönig Blauzahn zum Sterben in den Schutz seiner Burg geleitete. Bole war machtlos. Die bronzenen Schlüssel für die Riegel hatte er dem Einarm ausgehändigt.

Hinter ihm patschten Pferdehufe durch den noch hier und da überfrorenen Boden. Ehe er herumfuhr, tauchten der Kopf eines dickfelligen Schimmels und gleich darauf das von der Kapuze verschattete Gesicht des Einarms auf. Solange er den Mann kannte, hatte Bole ihn noch nie zu Pferd gesehen.

„Vergebung, mein Freund. Ich vergaß: Ihr versteht ja kein Latein.“

„Und ich dachte, Ihr wolltet nicht in die Stadt. Wozu mache ich mir eigentlich all die Mühe?“

„Ruhig Blut, mein Guter. Sich in der Stadt zu zeigen, so kurz vor dem Ende, ist in der Tat nicht der klügste Schachzug. Ich konnte euch aber nicht mit den quakenden Fröschen hier im Regen stehen lassen, richtig?“ Er warf den Kopf zurück, dass die Kapuze in den Nacken rutschte, und brach in Gelächter aus.

„Reißt Euch zusammen, Thore. Ihr wollt etwas von mir, nicht umgekehrt.“

„Und habt Ihr es?“

„Erst erklärt mir, was Ihr für einen Unsinn schwatzt.“

Der Einarm zog die Kapuze wieder über den Kopf. „Quamvis sunt sub aqua sub aqua maledicere temptant“, sagte er so laut, dass der Wächter ihn hörte. Der wandte sich zum Tor und machte sich an den Riegeln zu schaffen und rief dem Posten auf dem Turm ein Kommando zu. „Sagt bloß, das klingt nicht wie Froschgequake? Aber nun auf, mein Freund. Steht Euch der Sinn nach einem tüchtigen Galopp? Man hört, Ihr wart in Eurer Jugendzeit ein großer Reiter.“

Kaum lag die Zugbrücke hinter ihnen, ließen sie den Pferden die Zügel schießen und jagten in halsbrecherischer Gangart über das flache Land. Trotz allem genoss Bole den Ritt. Den schneidenden Wind auf den Wangen, sein Fauchen in den Ohren, das Geprassel der Hufe, die Leere, die vorbei flog. Wie schön es hier war. Wie schön es hätte sein können. Bole genoss den Ritt, bis er merkte, wohin der Weg führte. Sofort nahm er die Zügel auf, und der Falbe fiel stolpernd in Schritt. „Was soll das, Thore? Wohin reiten wir?“

Der Einarm war ein paar Sprünge weiter geritten, ehe er ebenfalls sein Pferd zügelte und zu Bole herumlenkte. „Was ist Euch denn?“ Dem Ton des ewig Gelassenen war Unwille anzumerken. Sein regennasses Gesicht wirkte auf einmal alt. „Da vorn ist ein ausgebranntes Gehöft, dort halten sich unsere Leute verborgen.“

Ausgebrannt also war das Gehöft. An dem Einarm vorbei starrte Bole auf die schwarzen Umrisse des niedrigen Gebäudes, in dem die einstige Geliebte gelebt hatte. Durch die Regentrommeln vermeinte er ein Singen zu hören, ein Lied, das süßer schmeckte als Schlehenwein. Wäre er ihrem Hilferuf gefolgt und hätte ihr beigestanden, hätte er sie retten können? Nur ruhig jetzt, fuhr er sich an. Für jede Reue ist später Zeit, wenn du als erschöpftes Kind vor den vergebenden Gott trittst. „Ich komme nicht mit.“ Seine Stimme ließ das Lied verstummen.

„Aber König Waldemar …“

„König Waldemar kann mir noch diese paar Tage lang gestohlen bleiben. Ich übergebe Euch das, was Ihr fordert, hier. Die Abschrift der Deichpläne, die ich für Euch angefertigt habe. Wie ausgemacht garantiert ihr mir dafür Geleit und Schutz. Ich werde niemanden mitbringen, nur meine Tochter, die bereits Christin ist. Ich selbst verlange, so schnell als möglich getauft und mit den Rechten eines Bürgers von Roskilde ausgestattet zu werden.“

Bole griff in den Beutel an seinem Sattel und zog eine in Öltuch gewickelte Rolle Pergamente heraus. Über den geduckten Kopf seines Pferdes hinweg hielt er sie dem Einarm hin. Der zögerte kurz. Dann nickte er und trieb seinen Schimmel die zwei Schritte zurück. „Wir reiten geradewegs nach Lübeck, den kämpfenden Truppen voraus. Dort erwarten uns Schiffe. Wenn Ihr es wünscht, kann Eure Taufe noch vor der Weiterreise vollzogen werden.“

Boles Hand verkrampfte sich um die Pergamente. Der Einarm musste seinen Zügel loslassen, um danach zu greifen. Einen Herzschlag lang hielten sie beide, jeder an einem Ende, daran fest. Dann öffnete Bole seine steifen Finger. „Und wann?“

So eilig es mit einer Hand möglich war, stopfte der Däne die Rolle in den Halsausschnitt seiner Kutte. „Morgen.“

„So schnell?“

„Der Nordwind ist dabei, auf Nordost zu drehen. Die Eisschollen sind bald zwei Zoll dick und werden jetzt, wo der strenge Frost weicht, in Windeseile schmelzen. Unsere Truppen stehen bereit und obendrein fällt seit Tagen Regen. Eine bessere Gelegenheit bekommen wir nie.“

„Hic Rhodos hic salta“, murmelte Bole.

„Wie bitte?“

„Nichts. Mir fehlt nur Euer ewiges Sprücheklopfen.“

Der Einarm warf den Kopf in den Nacken, doch statt des Auerhahnlachens entrang sich seiner Kehle ein Husten. „Und da sagt Ihr, Ihr versteht kein Latein. Aber gesprungen seid Ihr ja schon, mein guter Freund, und wir Streiter Christi werden Euch das nicht unvergolten lassen. Man wird Euch das vereinbarte Zeichen senden. Sodann bleibt Euch eine Stunde Zeit, Euch mit Eurer Tochter am Tor einzufinden. Seid pünktlich. Für den, der zu spät kommt, hat Wasser keine Balken mehr.“

Bole nickte müde. Der Regen wurde stärker, peitschender Wind ließ die Mähne des Falben stieben. „Hier, nehmt dies.“ Von irgendwoher zog der Däne einen schmalen Dolch. „Zu Eurer Sicherheit. Ich weiß, Ihr seid es gewohnt, wie Juden und Knäblein unbewaffnet einher zu stapfen, aber derlei Gewohnheiten legt Ihr besser beizeiten ab. Ist dann alles besprochen?“

„Nein.“ Ohne hinzusehen stopfte Bole sich den Dolch in den Gurt. „Ich verstehe kein Latein. Was bedeutet der Unsinn mit den Fröschen?“

Quamvis sunt sub aqua? Ist es nicht reizend? Es stammt aus einem Gedicht des Meisters Ovid über unentwegt nörgelnde Bauern. Kommt Euch nicht zuweilen in den Sinn, welch unsägliche Torheit Eure Mitbürger begingen, als sie Euren Herrn Bruder zum Teufel jagten? Der schöne Wartislaw ist doch ein schlauer Kopf. Hätte er den Stab in der Hand behalten und Euer Heidenparadies hübsch langsam in die neue Zeit hinübergleiten lassen, so hätten wir ihm keinen Stein der Welt in den Weg rollen können. Jetzt aber, wo die Wunderstadt sich mit all ihren Kräften ins Alte krallt, pflücken wir sie wie einen Egel von der Haut, den man zerquetscht.“

Bole schüttelte sich. In Stößen fuhr der Wind in seine triefnassen Kleider. „Ich muss zurück. Was heißt das Gequake?“

„Obwohl sie unter Wasser sind, versuchen sie noch, unter Wasser zu schimpfen. Die Menschheit gedenke Vinetas.“ Der Einarm wendete sein Pferd und sprengte in Richtung der Ruine davon.

*

Eine Nacht und einen halben Tag lang hatte er nach Lara gesucht. Außer Wein, den er in einem Schlauch bei sich trug, hatte er nichts zu sich genommen. Die Kälte spürte er nicht mehr. In nassen Fetzen hing ihm seine Kleidung vom Leib. Sogar zum Haus seines Bruders ging er. Versuchte sein Bruder nicht von je her, seine Kinder zu stehlen? Eines jedoch, das Goldkind Stani, hätte Bole ihm stehlen können, wäre es ihm nicht grausam entrissen worden. Bole begriff nicht, warum er so viel an Stani dachte, warum er um Stani trauerte. Stani, der Sohn, den ich nicht haben durfte. Aber Stani war tot, und Lara lebte und würde ihm Enkel schenken. Alles fiele ins Lot, wenn er das Mädchen nur fand.

Im Haus seines Bruders, seinem einstigen Vaterhaus, öffnete eine Magd mit braunem Haar die Tür, die ihn wohl für einen Säufer hielt. Sie führte Kasi, das Tier, den Krüppel, den die unverzeihlichen Götter ihm, Bole, als Strafe auferlegt hatten, an einem Halsstrick mit sich. Der Umnachtete versuchte, durch den Türspalt zu entwischen, aber die Frau riss ihn zurück. „Niemand zu Hause“, rief sie schnell und schlug die Tür wieder zu. Bole hatte ohnehin genug gesehen. Das letzte Kind in diesem Haus war das Tier. Von Lara oder Anton gab es keine Spur. Als er sich schließlich auf den Weg zu seinem Haus machte, um zu sehen, ob Lara inzwischen dort eingetroffen sei, fühlte er sich halb irr vor Furcht.

Er riss die Tür auf. Seine Halle lag im grellen Licht. Vor dem Ofen hockte eine Gestalt, eine Frau mit ins Schläfenband gebundenen Flechten. „Lara!“ Vor dem Ansturm der Erleichterung stürzte Bole auf die Knie.

Die Frau drehte sich um. Ihr Gesicht war uralt, das Haar in der Stirn zerrauft, die Wangen rot verschmiert. Ihr Mund stand offen. Sie hatte schöne Zähne, weiß und scharf. Welcher Wahn ließ ihn das ausgerechnet jetzt bemerken? Von ihren Lippen troff Blut. „Jula, um alles in der Welt, wo ist Lara?“

„Lara? Die blonde Christenmetze, die dein Dämon von Bruder mir gemacht hat?“

War das die Wahrheit? War Lara nicht sein Blut, war sie somit frei, sich zu verbinden, mit wem sie wollte? Kaum hatte die Hoffnung sich in ihm aufgerichtet, da sackte sie schon wieder zusammen. „Du verdammtes Lügenmaul.“ In der Nacht, in der Lara gezeugt worden war, hatte sein Bruder Natalia zur Frau genommen, und welcher Mann, der Natalia haben konnte, legte sich zur Jula ins Bett? „Wo ist meine Tochter?“

„Deine Tochter? Wo soll deine Dreckstochter sein?“ Sie hob ihm die Handflächen entgegen, die vor Blut klebten. „Da, wo der andere Bastard ist, das Balg von der roten Hure. Der Gott von Strafe und Vergeltung hat sie sich geholt.“

Das Lachen, das aus ihr herausbrach, schien die Mauern des Hauses durchzurütteln wie einst die Sturmglocken die dünnen Bretterwände. Bole, der noch immer am Boden kauerte, spürte, wie etwas sich ihm in die Seite bohrte. Etwas Hartes. Ehe er denken konnte, hatte er es umklammert. Den Griff des Dänendolchs. Er sprang auf und rannte auf Jula los.

Sie hatte ihm Stani genommen. Sie hatte ihm Lara genommen. Vor seinen Augen erstanden auf einmal Hunderte von Julas und drehten sich im Kreis. Einst liebte ich dich. Mein ganzes Leben ging mir in Stücke, meine Kinder, mein Bruder, meine Stadt, weil ich dich liebte. Blindlings packte er zu und hieb in den sich drehenden Wirbel von Julas hinein, hieb und hieb, bis etwas Dunkles, Sämiges ihm in die Augen spritzte.

Vor dem Schmerz ließ er los. Mit einem Poltern schlug das Messer, mit einem dumpfen Platschen der Körper auf. Bole rieb sich die Augen. Das Bild hatte aufgehört sich zu drehen, flimmerte nur noch ein wenig im Licht bewegter Kerzen. Vor ihm lag Jula. Den Mund wie blöde verzogen, die Augen aufgerissen, starrte sie ihn an. Die Masse, die ihr Körper gewesen war, hing über einer anderen blutigen Masse, dem Kadaver eines Hammels, dessen gehörnter Kopf unversehrt neben beiden lag.

Bole brauchte lange, ehe er seinem schmerzenden Körper gebieten konnte, sich auf den Dielen niederzusetzen. Er stützte den Kopf, der ebenfalls schmerzte, in die Hände. Er hatte sich geirrt. Jula hatte nicht seine Lara, sondern lediglich einen fetten Hammel geschlachtet. Seine Lara war geflohen, an der Seite des einzigen Mannes, den sie nicht haben durfte. Seine Lara war fort. Er konnte sie nicht einmal fragen, ob der vergebende Gott auch einen Mörder aufnahm. Aber bin ich ein Mörder? Hat nicht Jula mich seit Jahr und Tag dazu getrieben, war es nicht das, was sie von mir wollte, dass ich einmal Kraft bewies?

Er nestelte sich den blutverschmierten Weinschlauch vom Gurt, setzte ihn an die Lippen und ließ gierig die letzten Tropfen in seine Kehle rinnen. Er würde mehr Wein brauchen, viel mehr und zwar bald. Die Gesichter der Frauen, die er in seinen Armen gehalten hatte, tanzten in seinem dröhnenden Schädel umeinander. Jula, Lenka, Natalia. Aber Natalia hatte er nicht gehalten, sie gehörte noch immer Warti, obgleich sie ihn verlassen hatte. In seine wirren Gedanken hinein drang das Pochen des Türklopfers. Wie gestochen fuhr Bole in die Höhe. Er konnte doch unmöglich jetzt jemanden in sein Haus lassen! Genauso wenig aber konnte er vorgeben, er sei nicht da. Was, wenn es Lara war, seine Lara, die in dem Weltuntergangswetter auf seiner Schwelle wartete?

Mühsam, den Blick auf den blutigen Haufen vor dem Ofen meidend, schleppte Bole sich zur Tür. „Wer da?“

„Die Losung.“

Bole erschrak bis ins Mark. War es möglich? War dies seine Wirklichkeit? „Waldemar“, presste er heraus.

„Waldemar“, wiederholte der dänische Bote hinter der Tür. „Waldemar ante portas. Alles Weitere wisst Ihr.“

Das vereinbarte Zeichen. Ans Holz der Tür gelehnt hörte Bole zwischen Trommelwirbeln des Regens, wie die Schritte des Boten sich entfernten. Noch eine Stunde blieb ihm, und seine Lara war über alle Berge. Vielleicht würde er sie nie mehr sehen, ginge allein in die Fremde, ohne einen Menschen, der seinen Namen, der die Häuser und Gassen kannte, in denen er gelebt hatte. Er würde es nicht schaffen. Eine Stunde blieb ihm und er hatte keinen Wein mehr, keinen Gott und keinen Menschen.

Und dann zuckte wiederum ein Bild vor seinen Augen auf, und mit dem Bild kam der erlösende Gedanke: Natalia. Er würde zu Natalia gehen. Als er das letzte Mal zu ihr gekommen war, hatte er ihr nichts geboten als eine windschiefe Hütte. Heute aber brachte er ihr, was kein anderer ihr jetzt noch zu geben hatte: ihr Leben. Sie konnte ihn nicht abweisen. Ohne nach trockenen Kleidern zu suchen, lief Bole quer durch die Halle, an der Toten vorbei in den Hof.

Es goss, als sei der schwarze Himmel zerplatzt. Der Wind hatte einer jungen Eiche die Krone abgerissen und vor seine Stalltür geschleudert. Achtlos trat Bole darüber hinweg. Im Handumdrehen hatte er den Falben gesattelt. Heute Nacht würde er Vineta verlassen, mit Natalia an der Seite. Er saß auf, hieb dem Tier die Sporen in den Leib und ritt durch den Regen vom Hof. Sein Triumph über Warti würde heute Nacht vollkommen sein.

*

„Mokosch, die Göttin der Fruchtbarkeit!“ Jurans Vetter, der nach Fisch stank, grabschte ihr zwischen die Brüste, hob die Statuette aus ihrem Ausschnitt und wiegte sie in der Hand, die er dabei wie zufällig an ihren Brüsten rieb. Er musste schreien, um sich verständlich zu machen, so laut tosten der Lärm der Zecher und die Musik um sie. „Die kenne ich. Meine Mutter betet auch zu ihr.“

„Deine Mutter sollte dir, so lang wie du bist, den Arsch versohlen.“ Natalia lachte, gab dem Jungen einen Klaps auf die Hand und schnappte ihm die Statuette weg. Dann wirbelte sie herum zu anderen Gästen, Dorschfischern, die ihr johlend zutranken. „Die Götter seien mit dir, Natalia, schönste Rusalka von Vinetas Strand. Einen hübschen Bernstein hast du da, und er ruht zwischen noch hübscheren Dünen.“

Natalia wusste nicht, warum sie das getan, warum sie die Statuette an einen Riemen aus Leder gebunden und sich um den Hals gehängt hatte. Den Morgen über hatte sie zu viel Wein getrunken, bis ihr im Schankraum übel geworden war. Verschwommen erinnerte sie sich: Die Magd hatte ihr die Stiege hinauf geholfen, an ihrer eigenen Kammer vorbei, aus der Natalia Geräusche vernahm. Es war ihr zu elend ergangen, um eine Frage zu stellen, aber die Mala war dennoch vor Schrecken erstarrt. „Eine Glaubensschwester“, hatte sie gestammelt. „Bitte nehmt es mir nicht krumm. Sie braucht für ein paar Nächte Unterschlupf, dann holt ihr Bräutigam sie ab und reist mit ihr in christliches Gebiet.“

Ein den Eltern entlaufenes Mädchen also. Nun, Natalia, sollte es recht sein. Erklärungen stotternd half die Mala ihr aufs Bett, wo sie bis in den Nachmittag schlief. Als sie mit schmerzendem Schädel erwachte, fiel ihr erster Blick auf die Statuette, die zwischen ihrer Schatulle und den Pisanki aus Nowgorod auf dem Nachtkasten lag. Was sie bewogen hatte, sie um den Hals zu legen, war ihr selbst nicht klar. Sie war aufgestanden, hatte sich im Hof mit schmelzendem Eis erfrischt und ihr heiderotes Kleid angezogen. Heute feiern wir, als sei es der letzte Tag, der uns bleibt. Die Welt steht in Flammen, aber wir Vineter bauen uns Buden zum Pogodafest.

Trotz des Wetters war bald das gesamte Hafenviertel zusammengeströmt. Ein paar Burschen waren auf einen Tisch gesprungen und spielten Gusli und Flöte. Natalia achtete nicht darauf, wer bezahlte, sondern schenkte aus, was sie hatte. Unentwegt eilten Mala und Juran mit frisch gefüllten Krügen aus der Küche. Sie selbst packte einen überschwappenden Becher, setzte ihn an und leerte ihn in einem Zug. Unter dem Jubel der Trinkkumpane warf sie ihn an die Wand, wo er zersprang. „Es lebe das Leben!“

Becher flogen. „Es lebe Vineta und ihre schönste Rusalka!“

„Der Perun hol den Starosten! Fässer sind zum Stechen da!“

Weitere Trinksprüche gingen in grölendem Gelächter unter. Karel, der sich neben sie gedrängt hatte, legte ihr den Arm um die Schultern. „Sag mal, da wir vom Perun sprechen“, stieß er dicht an ihrem Ohr heraus, „schläft der eigentlich? Die Sturmglocken hätten doch seit spätestens gestern läuten müssen.“

Natalia verspürte ein winziges, warnendes Zucken in der Kehle, aber schluckte es herunter. Dieser Karel war kein unschöner Mann, das Haar noch dunkel, die Haut nussbraun gegerbt, die Arme bepackt mit Muskelsträngen vom Zerren und Schleppen der Reusen. „Der Perun ist wie wir“, rief sie ihm mit lauter Fröhlichkeit ins Gesicht. „Er trinkt gern mal einen über den Durst. Außerdem ist der Sturm vielleicht nicht so schlimm.“

„Ho ho, das glaub mir mal, meine Rusalkinka. Wenn der Herings-Karel in seinem Leben schlimme Stürme gesehen hat, dann den, der sich da draußen austobt, und den in seiner Bruech.“

Karel griff ihr ins Hinterteil, und Natalia versetzte ihm lachend einen Streich mit dem Ende ihres Schultertuchs. Von dem Sturm vor den Fenstern und dem Lachen dahinter schien das Häuschen zu wackeln. Dicht beim Eingang sprang eine bärenhaft gebaute Hübschlerin aus der Umarmung zweier Kerle in die Höhe. „Igitt, wer hat den Göttern zu viel Suff gegeben? Meine Füßchen tappen im Feuchten.“

Sofort senkten sich aller Blicke zum Boden. Die Musik setzte aus. Natalia sah das Wasser, das von der Tür her durch den Saal kroch, gerade als es ihre Füße erreichte. Mehrere kreischten. Eine Hübschlerin und ihr ausländischer Freier stiegen auf einen Tisch. „Kein Grund, guten Wein versauern zu lassen“, rief Karel in die Menge. „Sagt bloß, ihr habt in euren Häusern noch nicht bis zum Arsch in Wasser gestanden? Das fließt auch wieder ab, also los, Musik, heizt uns ordentlich ein.“

„Kann es denn wirklich so regnen?“, fragte Natalia gedämpft.

„Und ob es kann. Komm, trink noch eins, mein Schönes. Du hast nur zu lange da oben im Trockenen gewohnt und hier unten noch keinen echten Sturm erlebt.“ Karel wollte eben den Musikern auf dem Tisch ein Handzeichen geben, als die Tür aufflog. Natalia griff sich einen Becher vom Schanktisch und stürzte die Flüssigkeit hinunter. Das Geschenk eines Schiffsreisenden aus Pisa: Gebrannter, unverdünnter Wein. Eine Lohe schien ihr die Kehle zu versengen und schoss ihr gleich darauf in den Kopf. „Guten Abend, Fremder!“, rief sie mit nicht ganz sicherer Stimme über sämtliche Köpfe hinweg. „Was verschafft dieser glanzlosen Hütte die Ehre?“ In der Tür, hereingeschleudert auf einer Böe von Regen, stand Anton.

Er warf die Tür hinter sich wieder zu. „Ihr Leute geht besser nach Hause“, rief er, als bemerke er Natalia nicht. „Los, packt euch, das Wetter wird schlimmer. Wer jetzt nicht geht, kommt heute Nacht hier nicht mehr raus.“

„Das wär das Übelste nicht.“ Gelächter. Wie von selbst wanderte Karels Hand von Neuem über Natalias Hintern. Sie drehte sich um, doch statt der fälligen Backpfeife drückte sie ihm auf seine ledrige Wange einen Kuss. Die Rechnung ging auf. Wie eine Schnigge durch Wellengang schnitt sich Anton den Weg durch die Menge. Grob packte er sie bei den Armen und riss sie dem anderen weg.

Seine Kleidung war durchnässt. Aus seinem schwarzen Haar, das in die Stirn hing, tropfte es. Natalia schloss die Arme um seinen Hals, zog ihn zu sich herunter und presste ihre Lippen auf seine. Küsste ihn. Schlang seinen Mund mit ihrer Zunge und ihren Lippen auf. Ich habe vieles gegessen und getrunken, das süß schmeckte, aber dieses ist das Süßeste. Meines Sommers Kirschenwein bist du. Da sie nicht erwartet hatte, diese Köstlichkeit noch einmal zu bekommen, schmeckte sie noch süßer.

Dass er sich entziehen wollte, spürte sie. Aber es gelang ihm nicht. Es war ihm nie gelungen. Noch eine angehaltene Ewigkeit lang gehörte er ihr und sie ihm. Dann holte sie Atem und er nutzte den Moment, sich zu befreien. „Bist du verrückt geworden, Natalia? Wir sind nicht allein.“

„Gewitzt erkannt, Meister Anton.“ Derb drosch der Herings-Karel ihm auf ein Schulterblatt. „Aber nichts für ungut. Im Rusalka missgönnt dir keiner, dass du dir schnappst, was jeder begehrt.“

Gelächter. Johlen und Grölen. Endlich Musik. „Schick die Leute nach Hause“, sagte Anton. „Das Wetter ist gefährlich, Natalia. Wer sich jetzt nicht eilt, mag auf dem Heimweg ersaufen.“

„Warum läuten die Sturmglocken nicht?“

Ihre Blicke trafen sich. „Vielleicht hat Ladi, der Hohlkopf, den Glöckner ausgesperrt.“

„Warum bist du gekommen, Zaunkönig?“

„Um dich zu holen. Dich und Lara. Wir brechen heute Nacht auf.“

„Bei diesem Wetter? Und wieso suchst du Lara hier? Sie erscheint mir kaum wie ein Mädchen, das in heidnischen Sünderschenken trinkt.“

„Sie wollte hier herkommen.“ Einen Gast, der aufmerksam lauschte, stieß Anton mit dem Ellenbogen beiseite. „Schick endlich die Leute heim. Wir müssen so schnell wie möglich los, Lara sitzt ihr Vater auf den Fersen, und ich will nur weg, sonst nichts.“

„Über Wasser, Anton?“

„Nein, bis Demmin über Land. Wer bei solchem Sturm versucht, aufs Wasser zu gehen, ist ein Selbstmörder wie Odas Witsach.“

„Oda ist tot“, sagte Natalia. „Noch beim Sterben hat sie an dich gedacht.“ Dann schob sie einen Burschen, der eine Hure auf dem Schoß hielt, von einem Schemel, stieg hinauf und rief durch den Saal: „Das Fest ist zu Ende, geht alle nach Hause, ehe das böse Wetter euch erwischt. Gute Nacht, meine Freunde. Das Rusalka bleibt ein paar Tage geschlossen, bis der Sturm sich gelegt hat. Aber dann sehen wir uns hier wieder zu einem Becher auf den Frühling.“

 Es dauerte eine Weile, bis einer nach dem anderen sich von Kumpanen verabschiedet, seine Neige hinuntergestürzt und seinen Mantel umgeworfen hatte. Natalia überließ Mala und Anton das Austreiben. Während der Raum sich leerte, bemerkte sie, dass das Wasser, dessen Kälte sie kaum noch spürte, gestiegen war. Es spülte ihr jetzt bereits um die Fesseln. „Ist das denn wirklich nur Regen, Anton?“

Anton, der hinter den letzten schwankenden Zechern die Tür verriegelt hatte, drehte sich um und ging in die Hocke. Er tippte einen Finger in das Wasser und legte ihn sich an die Zunge. Dann schüttelte er den Kopf. „Salz. Verdünnt zwar, aber ohne Zweifel. Das bedeutet wohl, es gibt irgendwo einen Bruch im Seedeich.“

„Im Seedeich?“ Natalia fühlte, wie ihr Herz Blut pumpte. „Aber den hat doch Warti überall verstärken lassen.“

Anton stand auf. Sein Gesicht war angespannt. „Es mag so schlimm nicht sein. Ich gehe gleich nachsehen. Zuerst aber muss ich Lara finden.“

„Ich bin hier.“

Aller Blicke flogen in die Höhe. Auf dem Absatz der Stiege, im Zwielicht, stand das Mädchen. Im Gegensatz zu ihnen allen trug sie ein Kleid, das glatt und trocken war. Über ihrem Arm hing ein Reisebündel. „Vergebt mir, Frau Natalia“, murmelte die Mala, die sich ihr gegenüber an die Wand drückte.

„Was hat das zu bedeuten?“

Leichtfüßig eilte das Mädchen die Stiege hinunter und legte der Magd ihren Arm um die Schulter. „Mir habt Ihr etwas zu vergeben, nicht der Mala. Ich hatte plötzlich Angst, mein Vater könnte mich festhalten, also habe ich sie gebeten, mich über Nacht hier zu verbergen. Die Mala ist unsere Schwester im Glauben. Sie mochte es mir nicht abschlagen.“

Natalia war so verblüfft, dass sie rückwärts taumelte und sich gegen die Wand lehnte. Das Wasser patschte bei jedem Schritt. „Hast du mir nicht gesagt, die römische Kirche sei die falsche, du gehörtest der russischen an?“

Verloren zuckte die dicke Magd die Achseln. „Es sollte doch eine Kirche sein. Und ich habe mir gedacht …“ Ihre Stimme verschwamm. „Wenn ich in die Römerkirche geh, vielleicht kann ich später einmal unsern Stani mitnehmen, wo er doch einen Christen zum Vater hat.“

Natalia an der Wand und Anton bei der Tür starrten erst einander und dann die weinende Mala an, der Lara tröstend den Rücken strich. „Dank dir, Mala“, sagte Natalia schließlich. „Für alles. Pack deine Sachen, beeil dich. Du gehst mit Anton und Lara.“

Ein paar Herzschläge lang herrschte Stille, bis auf das verebbende Schluchzen der Frau. Dann sprach Lara. „Nein“, sagte sie.

„Was soll das heißen, nein?“

„Vergebt mir noch einmal, Frau Natalia. Ich habe Euch beide heute Abend gesehen, Euch und Anton, ich wollte es einmal erleben, damit ich es glauben kann. Anton liebt Euch. Wenn Ihr nicht mitkommt, gehen Mala und ich allein.“

„Du bist wahnsinnig“, fuhr Anton sie an. „Allein kommt Ihr bei diesem Wetter keine hundert Schritte weit.“

Das Mädchen blieb ruhig, lächelte. „Das war die falsche Antwort. Aber das weißt du, nicht wahr? Wir nehmen dein Pferd, einverstanden? Wir gehen durch das Sturmglockentor und warten dort eine Stunde lang, ob ihr nachkommt. Wenn nicht, schlagen wir zwei Weiber uns mit Gottes Hilfe schon durch.“

Anton öffnete mehrmals den Mund, um etwas zu sagen, aber Lara schüttelte den Kopf. Schon schob sie die verstörte Mala in Richtung Stiege, um deren Sachen zu packen. „Ist es klug, durch das Sturmglockentor zu gehen?“, fragte Natalia. „Wird man Euch nicht aufhalten?“

„Ladi Lubin vertraut dem Blutgott“, erwiderte Lara, hörbar um ihre Stimme kämpfend. „Sein Tor ist so gut wie unbewacht.“

Kaum waren die beiden verschwunden, da stürzte Anton zu ihr und riss sie in die Arme. „Ich flehe dich an, Natalia. Lass uns mit ihnen gehen.“

„Und ich flehe dich an.“ In seinen Armen stand sie steif, als friere sie. „Geh du.“

Sie sahen sich an. Sein Griff tat ihr weh. Kurz darauf kamen Mala und Lara zurück, bis über die Köpfe in geölte Tücher gehüllt. Geweint hatten beide. So unschlüssig standen sie zu viert voreinander, dass Natalia um ein Haar hätte lachen müssen. „Ich wünsche Euch Glück“, half sie schließlich ihnen allen aus der Not. „Anton schicke ich Euch hinterdrein.“

„So oder so“, erwiderte Lara. „Ich wünsche Euch auch Glück, Frau Natalia. Ich habe Euch immer sagen wollen, wie leid es mir um Euren Jungen tut.“

Natalia schluckte. Ich habe mich geirrt, dachte sie. Die Frau, die jemandes Mutter war, bin noch immer ich. Dann ergriff sie mit beiden Händen den Lederriemen, zog ihn sich über den Kopf und hielt Lara die Statuette hin. „Hier. Für deinen Jungen. Oder dein Mädchen. Ich weiß, du bist Christin, aber eine Mutter hat einmal diese Göttin ihrer Tochter gegeben. Das verleiht ihr Kraft.“

Lara nahm die Figur, betrachtete sie kurz in ihrer Hand, dann zog sie sich das Öltuch herunter und legte sich den Riemen um. „Für mich ist es die Mutter Gottes“, sagte sie. „Gott segne Euch, Frau Natalia.“

„Wenn dein Gott ein Kerl ist, dann segnet er dich.“

Zu viert gingen sie zur Tür. Kaum hatte Anton die Riegel zurückgeschoben und die Tür aufgezogen, stob ihnen ein Schwall Wasser entgegen. Draußen auf der Gasse stand es bald kniehoch. Abgerissene Äste trieben auf der dunklen Fläche. Es regnete weiter mit unverminderter Kraft.

Anton begleitete die beiden Frauen in den Hof, um ihnen mit dem Pferd zu helfen, kam durch die Wassermassen zurück gerannt und schlug hinter sich die Tür zu. Ströme rannen an ihm herunter und platschten in das Wasser am Boden. Er kam zu ihr, klammerte sich an ihr fest, als ertrinke er. Vor der eisigen Nässe seines Körpers schauderte sie. „Komm mit mir, Natalia. Ich liebe dich. Ich kann ohne dich nicht leben.“

Weinte er? Sie zog seinen Kopf auf ihre Schulter, streichelte ihn. „Ich liebe dich auch, Anton. Ich will, dass du gehst und dein Leben führst. Als Christ. Wie du es dir wünschst.“

Er hielt sich an ihr fest. Das Brausen des Sturmes schien sie einzuhüllen. Dann schnellte ein Geräusch dazwischen, und das Brausen zersprang. Die Tür und ein neuer Schwall Wasser. Sie hatten vergessen, die Riegel vorzuschieben. „Guten Abend.“

Natalia spürte, wie sich ihr Innerstes verkrampfte. In ihren Armen spannte sich jeder Muskel an Antons Körper. Mühsam würgte sie die Übelkeit hinunter. „Guten Abend, Herr Bole.“

Die Tür fiel zu. „So also ist das.“ Ihr Leben lang hatte Natalia nur Menschen, weder Geister noch Dämonen gefürchtet. Der Mann, der vor ihnen stand, der Schritt um Schritt auf sie zu schwankte, mochte dem Bild von einem Dämon nahekommen, blieb aber ein Mensch. Klein war er, nicht mehr jung und schwächlich gebaut. Einer wie Anton hätte es spielend mit ihm aufgenommen. Zudem schien er betrunken oder angeschlagen. Etwas in seiner Haltung aber verriet Natalia, dass er eine Waffe trug, gegen die sie beide machtlos waren. „So also ist das“, wiederholte seine tonlose Stimme. „Und ich dachte, du bist hinter meiner Tochter her. Los, sag mir, wo hast du meine Tochter versteckt? Meine schwachköpfige Tochter, die glaubt, dass sie dich liebt.“

„Deine Tochter hat mit dir nichts mehr zu schaffen“, erwiderte Anton. „Sie ist Christin. So wie ich.“

„So wie du?“ Zu Natalias Entsetzen blieb der Mann stehen und brach in Gelächter aus. Sein Lachen klang harsch, als schlüge man auf Blech. Klatschend drosch er sich auf den Schenkel. Dann brach das Lachen ab. „Das glaubst du, ja? Dass du Christ bist, Christ durch Blut und Erbe, ein Waisenknabe zwar, aber einer von braven christlichen Eltern?“

„Du hast von meinen Eltern nicht zu sprechen, du Stück Schmutz.“

Anton wollte auf den Kleineren losstürzen, doch Natalia hängte sich mit ihrem Gewicht an seinen Arm. Ihr Blick fiel zu Boden. Während wir hier stehen und uns anblöken wie vom Regen aufgescheuchte Schafe, steigt uns das Wasser über die Knie.

„Von was für Eltern sprichst du denn, Antonius? Von meinem Bruder, dem du Hörner aufsetzt, und seiner Frau, die du besteigst? Oder von dem Stück Schmutz, das vor dir steht, und einer wendischen Bauernschlampe namens Lenka, die prachtvoll sang? Antonius, deinen Namen habe ich dir gegeben, weil ich für römische Feldherren schwärmte. Ich, der Tölpel, der zu blöde war, um Latein zu lernen.“

Das Schweigen schien lauter als Geschrei, darin das Brausen des Sturms wie ein Insekt, das unentwegt gegen Wände stürmt. Natalia ließ Antons Arm, der erschlafft war, los und presste ihre Hand auf seine Brust, dorthin, wo ihm das Herz schlug. Hart und heftig sprang es gegen den Korb der Rippen.

In lautstarken Zügen holte Bole Atem, wie ein Kämpfer, der sich zum nächsten Schlag bereitmacht. Was für ein Schlag aber sollte noch folgen? Der Mann hatte Anton vernichtet, das Haus, das Anton sich ins Wasser gebaut und an dem er sich festgehalten hatte. „Jetzt weißt du es“, sprach der Mann in das Schweigen. „Und jetzt gib mir meine Tochter heraus. Deine Schwester wirst du ja wohl kaum als Zweitfrau hier behalten wollen.“

„Meine Schwester“, murmelte Anton, als wäre er allein. „Ich bin ein Wende aus Vineta und Lara ist meine Schwester?“

Natalia ließ sein Herz los. Sie hätte dem Mann ins Gesicht lachen wollen. Anton war nicht vernichtet. Anton und Lara waren stark genug, sie würden nehmen, was das Leben ihnen hinwarf.

„Ja, verdammt, sie ist deine Schwester. Glaubst du mir nicht? Dann denk darüber nach, wie du an die pechschwarzen Augen meiner Mutter kommst. Sag mir, wo Lara ist. Die Zeit ist knapp, ich will hier raus, bevor die ganze Drecksstadt ersäuft.“

Natalia begriff auf einen Schlag. Anton aber schien Bole nicht einmal gehört zu haben. Wie um sich wachzurütteln, schlug er sich die Hände an die Schläfen. „Wer hat meine Mutter getötet?“

„Verdammt, das weiß ich nicht. Irgendwelche Plünderer, Christen oder Heiden, was macht das aus? Wo ist meine Tochter, wo hast du Lara versteckt?“

„Eure Tochter ist zu Pferd zum Sturmglockentor“, rief Natalia, ehe Anton ein Wort herausbekam. „Und Ihr eilt besser hinterdrein, falls Eure Leute auch dieses Tor verriegelt haben.“

„Was für Leute?“ Das war Anton.

„König Waldemars Leute.“ Boles Stimme klang leer. „Dieselben, die vor einer Stunde die Deiche an allen wichtigen Punkten durchstoßen und die Pforten geöffnet haben. Waldemar ante portas. Waldemar vor den Toren. Wer nicht auf unserer Seite steht, für den gibt es aus Vineta kein Entkommen mehr.“

Jetzt begriff Anton. Er schrie auf wie ein Tier. Mit einem Satz war er über dem kleinen Mann, warf ihn zu Boden und drückte ihm den Kopf unter Wasser. Natalia schrie auch, wollte hinzustürzen, Anton wegzerren, aber glitt aus und fiel hin, stieß sich die Stirn an einer Tischkante. „Anton!“, schrie sie aus Leibeskräften, „Anton, lass ihn leben oder Lara stirbt!“ Das Brausen des Sturmes, das Toben des Regens schien ihre Worte zu zerfetzen. Sie ließ den Kopf sinken. Auf allen Vieren kniete sie im Wasser und schrie.

Und dann schrie ein anderer. Ließ Wellen aufstieben, war in drei Sprüngen bei Anton und riss ihn in die Höhe. Schloss die Arme um ihn. Hielt ihn an sich gedrückt. Prustend und keuchend rappelte Bole sich auf, warf sich über einen Tisch und spuckte Wasser. Natalia wollte sich fallen lassen. Einfach dort, wo sie hockte, im Wasser versinken und lachen, bis ihr die Luft wegblieb. Eine Ewigkeit, ein ganzes Leben schien zu verstreichen, ehe Warti sprach.

„Du musst dich beeilen, Bole“, sagte er. „Bis zum Bronzetor schaffst du es nicht mehr. Nimm beide Pferde, deines und meines, schlag dich zu den Sturmglocken durch und hoffe darauf, dass König Waldemars Leute dich erkennen.“

Mühsam stützte Bole sich am Tisch ab und starrte den anderen an. Natalia richtete sich auf, ehe das Wasser über ihren Kopf schwappte. Als sie stand, reichte es ihr bis an die Hüfte.

„Ich möchte, dass du Anton und Natalia mitnimmst“, sagte Warti.

„Nein“, riefen Anton und Natalia.

Warti drehte den Kopf. Hob die Brauen. Natalia wollte ihm entgegenlaufen, aber das Wasser, das ihre entgegenströmte, war von unvermuteter Kraft. Sie zauderte, blieb schließlich stehen. „Bitte geht“, sagte Warti. „Mich werden Waldemars Männer um keinen Preis aus der Stadt lassen, und vielleicht will ich das nicht einmal. Was soll einer wie ich in einer Welt, in der Vineta keinen Platz mehr hat? Euch aber lassen sie ziehen, wenn Bole für euch spricht.“

Anton befreite sich aus seinen Armen. „Ich bin ein Wende aus Vineta“, sagte er. „Ich sterbe mit meiner Stadt.“

„Du bist ein Wende aus Vineta, ja. Nimm Natalia und wo immer ihr hingeht, erzählt den Leuten, was Vineta war.“

Natalia zögerte nicht länger. Gegen den Druck des Wassers watete sie zu den zwei Männern, blieb vor ihnen stehen und sah zu ihnen auf. Im selben Moment brach mit ohrenbetäubendem Getöse ein Balken in der Decke. In Schwaden von Regen schlugen zersplitterte Planken neben ihnen ein. Aufspritzendes Wasser löschte die verbliebenen Kerzen.

Natalia stand im Dunkel und begriff: Der Sturm hatte dem Häuschen das Dach weggerissen, ihre Kammer, in der Stani zur Welt gekommen war, die Pisanki und die Schatulle mit dem Hirschen. Vielleicht würde es einmal Menschen geben, die sie fanden und sich von den Gegenständen eine Geschichte erzählen ließen. Ohne Furcht und Reue. Sie nahm Antons Hand. „Geh“, sagte sie. „Hol deine Schwester ein und hilf ihr zu begreifen. Helft eurem Kind.“

„Und ihr?“

„Wir bleiben hier. In Vineta. Warti und ich.“

„Ich will nicht, dass du dich für mich opferst“, rief Warti.

„Das tue ich ja nicht. Mein Leben ist zum Platzen prall, und wie stets nehme ich mir davon, was mir am besten schmeckt.“

Durch das Dunkel blickte Anton von einem zum andern, während der Sturm an den Trümmern der Decke zerrte, der Regen sich in Strömen ergoss und das Wasser stieg. „Ich schaffe es nicht“, jaulte Bole. „Ich muss sterben, ich schaffe es nicht.“

Aus dem Loch in der Decke ergoss sich schlammiges Wasser. Warti kämpfte sich zu seinem Bruder vor, drehte ihn um und zog ihn an den Armen in die Höhe. „Doch, Bole. Mit Anton schaffst du es. Anton kann schwimmen, und er soll hinter unserer Bahre gehen, nicht wir hinter seiner.“

Bole heulte auf wie ein Tier. Der Größere umschlang ihn, zog ihn an seine Brust. „Ich habe Vineta verraten“, heulte Bole. „Das Wasser kommt von überall, vom Fluss, vom Meer, von den Kanälen. Von Vineta bleibt nichts, kein Haus, kein Stein.“

Warti hielt ihn ein Stück von sich weg und sah ihm ins Gesicht. „Es liegt an dir, ob von Vineta etwas bleibt. An dir und Anton und Lara. Rettet euch.“

Das Heulen verstummte. Sie sprachen nichts, sahen einander nur an. Diese zwei, durchfuhr es Natalia, haben womöglich ein Leben lang darum gerungen, des andern Worte zu entschlüsseln. Im Schweigen aber sind sie eins. „Beeilen wir uns“, sagte Warti, als er Bole losließ. „Vergeuden wir keine Kraft mehr mit viel Reden.“

Durch die Schwärze tappend packten sie einen Schlauch Wein und ein Öltuch in einem Bündel zusammen. Als Anton und Bole bereit waren, riss Warti die Tür auf. Natalia, die in der Mitte des Raumes stand, sah nichts als noch tiefere Schwärze, untermalt vom Hungergrollen des Meeres. Wasser stob herein, flutete draußen womöglich schon auf Halshöhe. So laut wütete der Sturm, dass man sein Wort kaum verstand. „Lasst die Pferde“, schrie Warti. „Anton, nimm Bole ins Schlepp und schwimmt.“

„Vater“, schrie Anton, sonst nichts. „Vater, Vater.“

„Und warum wohl nicht?“, brüllte Warti zurück. „Dein Gott behüte dich.“ Dann schob er mit all seiner Kraft gegen den Druck des Wassers die Tür zu.

Natalia atmete auf. Als stünde man nicht bis zur Taille in Nässe, sondern verschlösse an einem friedvollen Abend sein Haus. Siehst du keinen von ihnen, Natalia, Waflerin? Sie sah keinen. Nur Warti an der Tür. Anton und Lara würden leben, und was immer ihr Kind für eine Bürde trug, es würde auch leben. Ganz langsam drehte Warti sich um. Natalia rannte. Und Warti rannte auch.

In der Mitte trafen sie sich, schoben das Wasser, das sich zwischen sie drängte, weg, bis ihre Leiber sich berührten. Bis seine Arme sich um sie schlossen. Sachte, wie man sich in ein frisch aufgeschütteltes Bett legt, schmiegte sie sich an ihn. Vernahm sein Herz, das gleichförmig schlug, als trommle es dem Sturmlied den Takt. Dann blickte sie auf. Ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt wie ihre Haut an die Kälte. „Meine Güte, Warti“, entfuhr es ihr. „Ist mein Haar so grau wie deines?“

Er nahm eine der triefenden Strähnen und hielt sie ihr vors Gesicht. „Mächtig nass ist es und ohne Licht eher schwarz. Ich denke, es sieht aus, als sei ein wenig Asche in Salerner Wein gefallen.“

„Ich wünschte, ich wäre nicht Natalia, die nicht weint.“

Seine Hand strich ihr über die Wange. „Tröste dich. Kein Mensch auf der Welt käme im Augenblick darauf, dass du Natalia, die nicht weint, bist.“

Sie küsste ihn. Vergrub die Hände in seinem Haar, zog ihn zu sich und stürzte sich auf seine Lippen. Sein Mund schmeckte nach Salbei. Als sie die Umarmung lockerte, spürte sie, wie ihr das Wasser um die Brüste spülte. Der Regen fiel stetig durch das Leck in der Decke, doch der Sturm schien stiller geworden.

 „Weißt du was, Natalia? Wenn du mich jetzt nicht wegstößt, dann lasse ich dich in diesem Leben nicht mehr los.“

„O doch, mein Liebling“, rief sie, „das wirst du sehr wohl und zwar sofort.“ Sie befreite sich und zog ihr heiderotes Tuch, das schon ins Wasser hing, von ihren Schultern. Mit beiden Händen tauchte sie es ein. Durch die dunkle Flut glitt die Seide wie das Haar einer Rusalka. Natalia tastete nach Wartis Hüften, hatte Mühe, das Tuch gegen die Strömung um ihn zu schlingen, aber schaffte es schließlich und zog den Knoten fest. „Ich, Natalia, Tochter von Mitja und Nona, gürte meinem Herrn die Lenden, wie ich ihn in Tagen des Krieges mit dem Schwert und in Tagen des Friedens mit Liebeslust gürte.“

Er fing sie, hielt sie. Sie ließ sich fallen. Um ihren Hals spülte gischtendes Wasser. Wind und Regen brüllten nicht mehr, sondern sangen, doch ihrem Lied fehlte eine Note. „Was ist mit Kasi?“, fuhr sie auf.

Im nächsten Moment setzte das Dröhnen der Sturmglocken ein.

Sie mussten beide lachen, derweil das Wasser ihr ans Kinn spritzte. Wenn jemand uns findet, in hundert oder tausend Jahren, wird er erkennen, dass wir Natalia und Warti, die lachten, waren? Im Takt der Glockenschläge wiegten sie einander.

„Glaubst du, er läutet dort unten weiter?“ Warti duckte sich, sodass ihre Münder auf gleicher Höhe waren.

„Natürlich. Er ist der Perun von Vineta, oder nicht?“

„Natalia, ich will, dass du weißt …“

Ihr Kopfschütteln ließ Wellen stieben. Sie hob die Hand und verschloss ihm den Mund. Dann wies sie mit der freien Hand auf ihre eigenen Lippen. Er tat es ihr nach. Seine Brauen hoben sich, in seinen Augen blitzte ein Lächeln. So blieben sie stehen, bis das Wasser über ihre Hände schlug.

Epilog

Februar 1158

Mit der Morgendämmerung würde es wärmer werden. In den Mulden des blank geschorenen Feldes erstarrte Wasser glitzernd zu Eis. Dort wo sie entlangzogen, wo sich das müde Pony vor dem Karren quälte, schien der Boden mit jedem Schritt schlammiger zu werden. Lara blieb stehen und blies in ihre Hände. Dann nahm sie die Zügel wieder auf und führte das Pony weiter. Ihre Sohlen schmatzten beim Gehen, und der eisige Regen schlug ihr ins Gesicht. Vor Anstrengung brauste ihr das Blut in den Ohren, übertönte den pfeifenden Wind.

Die Dänen hatten ihnen den Karren gegeben. „Wir gehen nicht mit Euch“, hatte sie selbst sich sagen hören. Vielleicht würde sie diese Worte von sich bis ans Ende ihrer Tage hören. Selbst dort, vor dem Tor, hatten sie bis zu den Knien im Wasser gestanden, ihr Vater und Anton waren halb ertrunken angekommen und das Wutgebrüll des Meeres schien schon die Mauer der Stadt zu erschüttern. Ihre Stimme aber, die Stimme der kleinen Lara, klang stark und fest. „Wir gehen nach Demmin, wie Anton es bestimmt hat.“

Im selben Augenblick, noch ehe die Wächter widersprechen konnten, begannen über ihnen die Glocken zu läuten. „Da ist einer im Turm!“ brüllte ein hünenhafter Däne in gebrochenem Pomoranisch. „Wie kommt man da rauf, wie holen wir den runter?“

„Lasst ihn!“ schrie Lara. „Geht nicht dort hinauf!“

„Glaubst du Christenmädchen etwa, da oben hockt ein heidnischer Gott?“

„Da oben hockt mein Sohn!“ Dass im Körper des Vaters, den Anton wie einen Leichensack vor das Tor geschleppt hatte, noch so viel Kraft steckte, überraschte Lara. Sie hatte den Arm fest um ihn gelegt und ihn vom Turm weggeführt. „Lass ihn, Vater. Er ist, wo er hingehört, und er läutet seine Glocken für die, die jetzt sterben. Wir müssen uns beeilen, das Wasser macht vor der Mauer nicht Halt. Sag den Dänen, sie sollen uns einen Karren, ein paar Schläuche Trinkwasser und noch mehr Öltücher geben. Mehr brauchen wir nicht. Den Rest schaffen wir allein.“

Sie waren aufgebrochen, als das Wasser die Flügel des Tores aufdrückte. Der Lärm, das Rauschen, Splittern, Brüllen brannte sich ihr in die Ohren. Auch die Dänen standen schon zum Rückzug bereit. Sie würden wiederkommen, wenn das Meer sich beruhigt hatte, um zu vollenden, was die Flut begonnen hatte. Mit vereinten Kräften mussten Anton und Lara den Vater hindern, in die geflutete Stadt zurückzustolpern. Als sie den ermatteten Körper endlich auf den Karren gehievt hatten, setzte Lara sich zu ihm. Eine Zeitlang führte die wackere Mala das Pony und Anton ritt auf seinem Feliz nebenher. Das Tier war kostbar. Wo immer sie hingelangten, würden sie es zu einem guten Preis verkaufen können.