Dr. med. Mirriam Prieß
Burnout kommt nicht nur von Stress
Warum wir wirklich ausbrennen – und wie wir zu uns selbst zurückfinden
Vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe 2020
© 2013 by Südwest Verlag, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Projektleitung: Andrei-Sorin Teusianu
Redaktion: Clemens Sorgenfrey
Korrektorat: Susanne Schneider
Layout & Satz: Bernhard Heun
Covergestaltung: *zeichenpool, München
unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/Alekcey
ISBN 978-3-641-10377-4
V003
»Ob ich mich für mich interessiere?«, wiederholte ein beruflich erfolgreicher wie mittlerweile ausgebrannter Manager meine Frage. Er dachte einen Augenblick lang nach, sah mich dann an und fragte: »Wie definieren Sie ›Interesse‹?«
»Ob ich mit mir im Dialog stehe?«, fragte der erschöpfte Geschäftsführer eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmens. Nach einem Moment des Schweigens sagte er: »Woher soll ich das wissen?«
Was wäre, wenn ich Ihnen diese Frage stellen würde – wenn ich Sie fragen würde: »Interessieren Sie sich für sich?« Was würden Sie mir darauf antworten?
Gehen wir einmal davon aus, dass Sie die Frage mit Ja beantworten würden – interessieren Sie sich denn auch so weit für sich, dass Sie in den sechs zentralen Lebensbereichen mit sich und mit Ihrer Umwelt im Dialog stehen? Würden Sie sagen, dass Sie dort stehen, wo Sie stehen wollen, und ein Leben leben, das Ihnen entspricht?
Wir befinden uns in einer Zeit, in der sich immer mehr Grenzen auflösen und die Menschlichkeit zunehmend verloren geht – in der Politik, in der Wirtschaft, im beruflichen genauso wie im privaten Bereich. Unsere Welt ist längst eine Welt der Superlative geworden. Eine Welt, in der immer mehr möglich ist und alles machbar sein soll. »Grenzen sind dazu da, um überschritten zu werden«, lautet oft die Devise. Doch gilt dies für alle Grenzen?
Wie selbstverständlich werden Prozesse und Menschen stetig optimiert, nicht selten um jeden Preis und häufig bis zum bitteren Ende. Jede zweite Ehe wird geschieden und manche fast so schnell, wie sie geschlossen wurde.
Kinder entstehen in vitro und nach Plan, Freundschaften werden mittlerweile mit einem Klick und in automatischer Potenzierung geschlossen und nicht wenige haben über 1000 davon. Wir umrunden die Welt nicht mehr in 80, sondern in weniger als zwei Tagen, und viele tun dies mehrmals in einem Monat. Alles muss machbar sein. Wir sind rund um die Uhr für jeden erreichbar – doch uns selbst erreichen wir nicht mehr.
»Können Sie mir keine Technik zeigen, anhand der ich merke, was ich fühle?«, fragte mich eine 45-jährige erfolgreiche Maklerin und Mutter von drei Kindern, die ausgebrannt war.
Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? lautet der Titel eines vergangenen Bestsellers. Die Frage nach der eigenen Identität wird immer deutlicher gestellt und ist mittlerweile symptomatisch für den Zustand unserer Gesellschaft geworden – die absurde Frage nach der Anzahl der »Identitäten« ebenfalls.
Immer mehr Menschen verlieren sich beim Versuch, vieles gleichzeitig anzugehen, und vermeiden dabei zugleich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie stehen weder mit sich selbst noch mit ihrer Umwelt im Dialog und vergessen die entscheidende Frage: Was ist meine Identität, was ist für mich möglich und was nötig?
Menschen, Partnerschaften, Teams und Unternehmen – ganze Systeme brennen aus, weil sie diese Frage für sich entweder gar nicht oder falsch beantworten.
Burnout ist längst zu einem gesellschaftlichen Problem der westlichen Kultur geworden und verursacht nicht nur jährlich Milliardenschäden, sondern auch großes persönliches Leid. Das Erschreckende dabei ist, dass kaum jemand weiß, worin diese neue Zivilisationskrankheit wirklich begründet ist.
Noch immer werden Symptome für Ursachen gehalten, das Thema an sich verleugnet oder lächerlich gemacht.
»Burnout gibt es gar nicht«, lautet die Parole vieler, die sich dabei lange Zeit auf das Diagnosesystem der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (ICD) berufen konnten. Mit der neuesten Revision dieser Klassifikation vom Mai 2019 hat in Bezug auf Burnout ein längst überfälliges Umdenken stattgefunden. Im ICD-11 erkennt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Burnout als eigenständige Diagnose an.
Doch im Dschungel aus vermeintlichen Ursachen und entsprechenden Diagnosen scheitern viele Burnout-Behandlungen und die Erkrankungsrate nimmt weiter zu. Längst brennen immer mehr junge Menschen aus, nicht selten finden Betroffene nicht wieder zurück in den beruflichen Alltag und manchmal auch nicht zurück ins Leben. Meiner Erfahrung nach muss dies nicht sein. Jeder von uns hat die Chance, seinen Möglichkeiten entsprechend gesund und leistungsfähig zu sein oder es im Falle eines Burnouts auch wieder zu werden. Niemand muss ausbrennen, wenn er entscheidende Punkte beachtet. Die Grundlage dafür ist jedoch, die tatsächliche Ursache für ein Burnout zu kennen und das, was offensichtlich ist, ernst zu nehmen.
Denn wie wollen wir dieses Problem lösen, wenn wir es lächerlich machen oder als nicht existent klassifizieren – anstatt es zu verstehen und ihm auf den Grund zu gehen?
Ich werde in diesem Buch zeigen, dass Burnout ein ernst zu nehmender Ausdruck unserer heutigen Zeit ist und dass die bisher angenommenen Ursachen lediglich Symptome sind.
Ich werde versuchen zu erklären, wo die wahre Ursache verborgen liegt, und Ihnen die entscheidenden Schritte auf dem Weg in ein Burnout – aber auch aus dem Burnout heraus – aufzeigen. Burnout ist kein Schicksal und es entsteht nicht über Nacht. Niemand muss ausbrennen, nur weil er Leistung erbringen will. Burnout ist heilbar.
Dieses Buch ist aus meiner jahrelangen Behandlungserfahrung mit Menschen, die ausgebrannt waren, entstanden. Es basiert auf der Erkenntnis, dass gesundheitlich relevante Phänomene auch unabhängig von Klassifikationen und Systemen existieren und dass eine Problemlösung und Heilung nur dann stattfinden kann, wenn wir das, was ist, ohne moralische Bewertung ernst nehmen und ihm auf den Grund gehen. Die Inhalte basieren auf der in der Praxis gewonnenen Überzeugung, dass Burnout kein Ausdruck von Schwäche ist, sondern vielmehr ein gesunder Selbstregulierungsversuch. Ein gesunder Selbstregulierungsversuch von Menschen, die den Dialog mit sich selbst und mit ihrer Umwelt verloren haben und die ein Leben leben, das ihrem eigenen Wesen widerspricht.
Burnout ist meiner Erfahrung nach weit mehr als nur ein Ausdruck von Überforderung. Burnout ist eine Aufforderung. Es ist die Aufforderung zu leben, anstatt zu funktionieren. Die Aufforderung zur Authentizität und zu einem wesensgemäßen Leben.
Hamburg, im Dezember 2019
Die meisten Menschen sind der Ansicht, dass Burnout durch zu viel Stress entsteht. Gibt man sich als Betroffener zu erkennen, so kommt automatisch die Frage »Hast du zu viel Stress gehabt?«.
»Sie wollen Burnout verhindern? Vermeiden Sie Stress«, lautet die Empfehlung vieler Ratgeber. Stress und Burnout als Prinzip von Ursache und Wirkung werden wie selbstverständlich in einem Atemzug genannt.
Doch ist das tatsächlich so? Ist Stress wirklich der einzige Auslöser, der zu einem Burnout führt, oder steckt hinter diesem Auslöser noch ein weiterer? Wie kommt es überhaupt zu Stress? Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, den jeder von uns selbstverständlich verwendet und der als zentraler Punkt bei der Entstehung von Burnout gehandelt wird?
Wenn ich Sie fragen würde, was für Sie Stress bedeutet – was würden Sie mir darauf antworten? Und was würden Sie dazu sagen, warum Sie überhaupt unter Stress geraten?
Befragt man eine Reihe von Menschen, was sie persönlich unter Stress verstehen, so sind die Antworten vielfältig:
•»Unter Stress verstehe ich Arbeitsüberlastung, Zeitdruck, Termindruck, zu viele Aufgaben auf einmal, keine Pausen, Lärm, Streit et cetera.«
•»Stress ist, wenn mir alles zu viel wird und ich nicht mehr hinterherkomme.«
•»Ich bin im Stress, wenn ich meine Kinder in den Kindergarten bringen muss und eigentlich schon im Büro sein müsste.«
•»Mich stresst der Blick meines Chefs.«
•»Mich stresst, wenn ich abends nach Hause komme und nicht meine Ruhe haben kann, sondern meiner Frau Rede und Antwort stehen muss.«
•»Mich versetzt es in Stress, wenn ich im Stau stehe.«
•»Ich bin im Stress, wenn ich die Projektleitung habe und einige im Team meinen, das Leben sei ein Wunschkonzert.«
•»Ich gerate vor großen Kundenpräsentationen in Stress.«
•»Ich bin regelmäßig zweimal im Jahr während der heißen Phasen im Stress«, antwortete ein 42-jähriger Wirtschaftsprüfer, der sich nach der achten heißen Phase wegen eines Burnouts in Behandlung begeben musste.
Unter dem Begriff »Stress« wird allgemein ein subjektiver Zustand verstanden, in dem der Betroffene sich einer für ihn unangenehmen Situation oder Umständen ausgesetzt fühlt, die er weder vermeiden noch in seinem Sinne beeinflussen kann. Entweder fehlen ihm für die Bewältigung die Kompetenzen oder ihm stehen nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung.
Stress muss vom Individuum jedoch nicht zwangsläufig als negativ erlebt werden. Hans Selye, der die Anfänge der Stressforschung maßgeblich mitbestimmt hat, unterschied zwischen positivem und negativem Stress und prägte dafür die Begriffe »Eu-« und »Disstress«. Die Vorsilben »eu« und »dys« beziehungsweise »dis« kommen aus dem Griechischen und bedeuten »gut« beziehungsweise »schlecht«. Positiver, »guter« Stress wird beschrieben als ein angeregter Zustand, wie er etwa in Verliebtheitsphasen vorkommt; doch was im Allgemeinen unter »Stress« verstanden wird, ist negativer, »schlechter« Stress. Dieser ist Ausdruck einer als unangenehm empfundenen Belastung, die sowohl durch Überforderung als auch durch Unterforderung einer Person entstehen kann.
Wenn in den folgenden Ausführungen der Begriff »Stress« verwendet wird, so ist hier grundsätzlich der negative Stress gemeint.
Ein zentrales Kriterium für Stress ist, dass es sich hierbei immer um einen subjektiven Zustand handelt, der maßgeblich vom Gefühl der Hilflosigkeit geprägt ist. Je unkontrollierbarer eine Situation für eine Person erscheint, je hilfloser sie sich fühlt, desto stärker ist das Gefühl von Stress. Die subjektive Bewertung spielt hierbei die entscheidende Rolle. Angelehnt an Sätze wie »Die Welt ist das, was wir in Gedanken aus ihr machen« oder »Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt« (Buddha) kategorisieren wir die jeweiligen Situationen als Stress – oder nicht. Dabei löst erst das Gefühl von unzureichenden Ressourcen und das damit verbundene Gefühl der Hilflosigkeit eine entsprechende Stressreaktion aus (Richard Lazarus). Stress entsteht also nicht allein durch die Situation an sich, sondern durch das, was wir aus der Situation machen. Erst wenn wir das Gefühl haben, einer Situation nicht gewachsen zu sein, geraten wir unter Stress.
Doch wie gelangen wir überhaupt zur Bewertung einer Situation? Warum wähnen wir uns bestimmten Situationen gewachsen und anderen nicht? Warum geben wir in einigen Situationen innerlich auf und ziehen uns zurück, während wir in anderen entschieden das vertreten, was wir denken und wollen? Diese Fragen werden an späterer Stelle des Buches aufgegriffen und in ihrer Bedeutung für die Entstehung und Behandlung von Burnout ausführlich diskutiert.
Lassen Sie uns jedoch zunächst auf den Begriff »Stress« und auf seine entscheidenden Faktoren zurückkommen.
Wie könnte man daraus nun eine auf den Alltag anwendbare, leicht verständliche und allgemeingültige Definition bilden – eine Beschreibung, die dazu verhilft, Stress in alltäglichen Situationen leichter zu erkennen und zu verstehen?
Mit diesem Ziel bin ich im Laufe meiner ärztlichen und psychotherapeutischen Tätigkeit zu folgender Definition gekommen: Stress tritt dann auf, wenn es nicht so läuft, wie ich es will. Das heißt nicht, dass immer dann, wenn es nicht so läuft, wie ich es will, Stress auftritt; aber immer, wenn ich unter Stress gerate, dann läuft es nicht so, wie ich es will.
Wenn Sie mögen, überlegen Sie doch einmal, wann und in welchen Situationen Sie unter Stress standen – würden Sie mit dieser Definition übereinstimmen?
Stellt man Menschen diese Frage, so erhält man zunächst höchst unterschiedliche Antworten. Stress scheint überall und nirgends auftreten zu können. Je nach Antwort und Person findet Stress zwischen Kollegen statt oder mit dem Ehepartner oder mit dem Chef, mit den Kindern oder dann, wenn neue Anforderungen gestellt werden. Stress kann aber auch im Stau oder auf dem Bahnhof auftreten – die Möglichkeiten scheinen endlos und vielfältig. Betrachtet man die einzelnen Aussagen jedoch genauer, so erkennt man, dass die vielfältigen Situationen auf eine Gemeinsamkeit zurückzuführen sind: Der meiste Stress tritt in Beziehungen auf – in der Beziehung zu sich selbst oder in der Beziehung zur Umwelt. Ob im Straßenverkehr, im Supermarkt, am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Partnerschaft oder mit sich selbst – der Mensch befindet sich fortwährend in (sozialen) Beziehungen.
Als soziales Wesen bewegt er sich permanent in einem Spannungsfeld zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Anforderungen, zwischen Individualität und Prägung, dem Wunsch nach Zugehörigkeit und der Angst vor Ablehnung, und er befindet sich dementsprechend in einem Zustand von Zufriedenheit, Entspannung, Anspannung oder Frustration. Leben ist Beziehung. Dieser fundamentalen Tatsache zollen die zahllosen Empfehlungen, Ratgeber und Behandlungsmethoden für Burnout-Patienten jedoch wenig Aufmerksamkeit. So wird die Ursache einer Burnout-Erkrankung nach wie vor hauptsächlich in dem Fakt der Überlastung und einer ausgeprägten Erschöpfung gesehen. Doch warum es überhaupt zu einer Überlastung kommt, warum ein Mensch jahrelang über seine Grenzen gelebt hat und worüber sich immer mehr Menschen eigentlich erschöpfen – diese Fragen werden vermieden. Stattdessen wird ein Symptom für die Ursache gehalten, die Lösung häufig allein in rationalen Erkenntnissen und in technischen Verhaltensänderungen gesehen und dadurch eine schnelle Heilung erhofft – meist vergeblich.
Wer glaubt, eine Burnout-Erkrankung mit Technik, Tools und allein durch seinen reinen Willen heilen zu können, der täuscht sich. Burnout ist kein Ausdruck von schwacher Willenskraft.
Burnout entsteht nicht im Verstand und kann auch nicht allein über den Verstand gelöst werden. Im Gegenteil: Viele Betroffenen wissen sogar theoretisch, wie sie sich im Sinne der eigenen Gesundheit verhalten müssten – die Intelligenz ist bei Burnout-Patienten meist das geringste Problem –, sie verkennen jedoch, dass notwendige Veränderungen nicht über eine rein rationale, vom Gefühl isolierte Erkenntnis zu erreichen sind.
Auf der emotionalen Ebene blockiert, bleibt das Wissen Theorie, und die praktische Umsetzung gelingt nicht. Dass viele Burnout-Behandlungen genau daran scheitern, dass sie nicht über die rationale Ebene hinausgehen, und welche grundsätzlichen Konsequenzen dies nach sich zieht, darauf wird im zweiten Teil des Buches eingegangen.
Dass Menschen, die ausgebrannt sind, überlastet sind, ist unbestritten. Doch was liegt hinter diesem Symptom? Was ist der Auslöser für Burnout? Wo liegt die Ursache für dieses Phänomen, das trotz zahlloser Behandlungsangebote immer häufiger auftritt und längst zu einem gesellschaftlichen Problem geworden ist?
Während meiner Tätigkeit, ob in der Klinik oder in der Praxis, waren es weder Alltags- noch Arbeitsüberlastungen, die bei den Patienten ursächlich zu einem Burnout geführt hatten. Es waren vielmehr negative oder fehlende positive Beziehungen zum Umfeld sowie die fehlende Beziehung zu sich selbst, welche die Betroffenen hatten ausbrennen lassen. All diejenigen, die an einem Burnout erkrankt und bei mir stationär, teilstationär oder ambulant in Behandlung waren, befanden sich in konfliktreichen und spannungsgeladenen Beziehungen und/oder verfügten entweder über keine sozialen Kontakte mehr oder nur noch über oberflächliche. Die wenigsten befanden sich noch in einer gesunden Partnerschaft und niemand, der mit einem Burnout in die Behandlung kam, stand noch in guter Beziehung zu sich selbst.
Wie wichtig der Beziehungsaspekt bei der Burnout-Entstehung ist, beginnen mittlerweile auch wissenschaftliche Studien zu erforschen. Dort wird zum Beispiel der reinen Arbeitsüberlastung nur noch eine Nebenrolle in der Krankheitsentstehung und im Krankheitsgeschehen zugeschrieben.
Leben ist gelingende Beziehung. Gelingt Beziehung, gelingt unser Leben. Auch wenn unser Leben von ständiger Beziehung geprägt ist, jeder von uns fühlt, wie wichtig es ist, zumindest eine gute Beziehung zu haben, so können doch die meisten von uns gar nicht so genau benennen, was eigentlich Beziehung ausmacht. Was heißt Beziehung? Was ist die Grundlage für eine gute Beziehung? Was heißt es überhaupt, mit sich selbst in Beziehung zu sein? Ab wann ist eine Beziehung schlecht – und wie kann dadurch ein Burnout entstehen?
Befinden wir uns im Dialog, befinden wir uns im Austausch. Es besteht ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben (das heißt, ich gebe so viel, wie ich bekomme) – und es besteht ein Gleichgewicht zwischen Ich, Du und Wir. Merkmal des Dialogs ist, dass wir die Situation anders verlassen, als wie wir sie begonnen haben. Sei es mit einem neuen Gedanken, einer neuen Idee oder einer neuen Einstellung. Dialog lässt Neues entstehen. Dialog bedeutet Wachstum.
Damit Ich und Du im Gleichgewicht bleiben, damit Austausch und Wachstum möglich sind, müssen einige Grundvoraussetzungen erfüllt sein: Interesse, Offenheit, Augenhöhe, Empathie, Respekt beziehungsweise Wertschätzung. Diese fünf Voraussetzungen müssen von beiden Parteien eingebracht werden – fehlt eine dieser Voraussetzungen, dann kann kein Dialog stattfinden.
Die meisten von uns verstehen den Dialog als eine verbale Kommunikationsform – in meiner Definition ist er weit mehr als das: Er beschreibt eine Haltung sich selbst, der Umwelt und dem Leben gegenüber.
Eine entscheidende Grundlage eines jeden Dialogs ist die Begegnung mit dem anderen auf Augenhöhe – unabhängig von seinem Alter, seinem Geschlecht, seinem Besitz, seiner Position oder seiner Religion. Obwohl dies auf den ersten Blick einfach erscheint, wird es im Alltag nur selten umgesetzt. Schauen Sie einmal auf sich und Ihre Beziehungen und überlegen Sie, ob Sie in diesem Sinne Ihren Alltag gestalten. Was meinen Sie, wie häufig Sie im Dialog sind und wie oft Sie oder Ihr Gegenüber lediglich monologisieren?
Vergessen Sie bei Ihrer Überlegung nicht, dass die Quantität an gemeinsam verbrachter Zeit kein Maßstab für einen Dialog ist. Sie können stundenlang zusammensitzen, ohne jemals im Dialog gewesen zu sein.
Gerade im beruflichen Bereich sind die persönlichen und wirtschaftlichen Reibungsverluste bemerkenswert hoch, die durch das alltägliche Miteinander-Monologisieren entstehen.
Ob in Form von Telefonkonferenzen oder Teamsitzungen, oft sind es stundenlange, häufig mehrmals in der Woche stattfindende Besprechungen, in denen einer beziehungsweise viele vor sich hin monologisieren. Das bestmögliche Resultat am Ende dieser Veranstaltungen ist dann häufig: »Schön, dass wir darüber mal gesprochen haben« – und alles bleibt, wie es ist. Obwohl fast alle Beteiligten sich dessen bewusst sind und diesen Zustand mehr oder weniger offen beklagen, ist eine Änderung meist nicht in Sicht: »Irgendwie kriegen wir es nicht hin, gemeinsam auf den Punkt zu kommen«, »Jeder will seinen Senf dazugeben«, »Wenn Herr Schmidt redet, dann redet Herr Schmidt und sonst lange Zeit niemand«, »Wenn die Führungskräfte nicht mit uns reden, warum sollen wir dann mit ihnen reden?« – das sind einige der typischen Aussagen zum innerbetrieblichen »Miteinander«. Dabei weiß jeder: Teams können nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich im Dialog befinden – sowohl untereinander als auch mit ihrer Führungskraft.
Das Gleiche gilt für Präsentationen, Vorträge oder Kundenmeetings. Ein erfolgreiches Ergebnis steht und fällt mit der Dialogfähigkeit der Beteiligten. Warum es in vielen der obersten Führungsetagen noch immer nicht zum Selbstverständnis gehört, sich auf Augenhöhe auszutauschen, offen für das Gegenüber zu sein und nicht übereinander, sondern miteinander zu sprechen, warum diese Kommunikationskompetenz von Führungskräften bestenfalls auf dem Papier, in der Realität zumeist aber nicht von Beginn an als Grundvoraussetzung eingefordert wird, diese Fragen bleiben mit wachsender Brisanz offen.
Gerade jene mit dem größten Redeanteil oder der größten Verantwortung sollten über die Fähigkeit verfügen, nicht nur zum Gegenüber, sondern auch mit ihm zu sprechen, grundsätzlich und im Besonderen, wenn dieses sich in der Zuhörerposition oder der geführten Position befindet. Dies macht sowohl die Kunst eines erfolgreichen Vortrags aus als auch erfolgreiches Leadership.
Leider ist die Fähigkeit zum Dialog nicht immer anzutreffen. Blickt man auf die Reibungsverluste, die Tag für Tag durch Kommunikationsstörungen entstehen, so wird deutlich: Unternehmen kranken an ihrer Kommunikationskultur und verbrennen dadurch nicht nur ihre Mitarbeiter, sondern auch ihr eigenes System.
Die Fähigkeit zum Dialog ist jedoch nicht nur für erfolgreiche Führung und für gesunde und zufriedene Mitarbeiter Voraussetzung, sondern auch für das langfristige Gelingen einer Partnerschaft. Jeder weiß: Die Herausforderung für die Partnerschaft ist der Alltag. Sich im Alltagsgeschehen nicht zu verlieren, sodass aus einem ursprünglichen Miteinander ein einsames Nebeneinander wird – dies kann Ihnen nur gelingen, wenn Sie im Dialog bleiben.
Die meisten Partnerschaften scheitern an der Unfähigkeit zum Dialog und brennen darüber aus. Obwohl sich jeder ein erfülltes Wir wünscht, bemerken die wenigsten das alltägliche Monologisieren rechtzeitig, und viele stellen erst am Ende resigniert fest, dass man sich nichts mehr zu sagen zu hat – es gibt keine Begegnung mehr. Dass dies jedoch nicht über Nacht geschieht, sondern dass es sich hier um eine Entwicklung handelt, die zumeist über Jahre stattfindet, wird leider häufig erst dann registriert, wenn es schon zu spät ist. Dabei erfordert im Dialog zu sein nicht grundsätzlich ein hohes Maß an Zeitaufwand.
Ob beruflich oder privat – Dialog bedeutet nicht, stundenlang miteinander zu reden. Dialog setzt nicht Zeit, sondern Beziehungsfähigkeit voraus. Es reichen oft schon wenige Worte oder Sätze und manchmal auch nur eine Geste aus, um sich zu begegnen, um im Dialog zu sein und im Dialog zu bleiben: ein kleiner Gruß auf einem Notizzettel, einer kleinen Karte, das Teilen einer Situation mit der Frage »Was denkst du darüber?«, das gelebte Interesse daran, wer du in deinem Wesen, in deiner Position bist, und dies verbunden mit der Bereitschaft, den anderen in Offenheit und auf gleicher Augenhöhe willkommen zu heißen und daraus ein Wir gestalten zu wollen. Können Sie sich vorstellen, was diese Qualität eines solchen alltäglichen Miteinanders für die Bewältigung des beruflichen und des privaten Alltags bedeutet?
»Es kann doch auch sein, dass man meint, dass man im Dialog ist, und dann merkt man, dass man sich getäuscht hat«, sagte ein Partner einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. »Es muss doch eine Benchmark dafür geben, dass man im Dialog ist!«
»Es muss doch eine Technik geben, mit der man in den Dialog kommt und anhand derer man merkt, dass man sich im Dialog befindet!«
»Können Sie uns nicht ein paar Übungen zeigen?«
Dies sind einige der Fragen und Forderungen, die bei meinen Vorträgen und in meinen Workshops gestellt wurden. Es muss doch eine Technik für den Dialog geben … Muss es das? Kann es das? Kann man durch Technik Beziehung lernen? Ist es möglich, durch Technik das Wesen Mensch zu erfassen?
Im Dialog zu sein, scheint offensichtlich nicht leicht zu sein. Doch warum ist es eigentlich so schwer? Warum ist es so schwer, im Dialog zu sein? Was geschieht, wenn es nicht gelingt – und was für eine Rolle spielt der Dialog bei der Entstehung eines Burnouts? Um all diese Fragen zu beantworten, möchte ich Ihnen im Folgenden nun ein Modell vorstellen, das ich im Laufe meiner Arbeit mit Burnout-Patienten entwickelt habe. Dieses Modell beschreibt die Entstehung eines Burnouts in vier Phasen.
Es nimmt vor dem oben vorgestellten Hintergrund die zwischenmenschliche Beziehung als Basis für Gesundheit und Krankheit. Dabei ist der Dialog Ausdruck und Voraussetzung von Gesundheit, während der Konflikt Ursache für frühe oder späte Krankheit ist. Anhand dieses Zusammenhangs verdeutlicht das Modell, dass niemand über Nacht ausbrennt, sondern dass jedem Burnout eine Entwicklung vorausgeht: die Entwicklung eines Konflikts.
Mit dem Ziel der Prävention erklärt das Modell die vier Stufen zum Burnout und zeigt präzise, welche Symptome in welcher Phase auf den vier entscheidenden Ebenen des Menschen auftreten: Es beschreibt die Symptome auf der gedanklichen Ebene, auf der Körperebene, auf der Ebene der Gefühle und auf der Verhaltensebene. Dies ermöglicht es Ihnen als Leser, sich selbst einzustufen und mit diesem Wissen in Zukunft rechtzeitig im Sinne der eigenen Gesundheit zu handeln. Gleichzeitig soll es Ihnen dabei helfen, Ihre Wahrnehmung für Ihr Umfeld zu sensibilisieren, Betroffene zu erkennen und einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden.
Lassen Sie mich das Modell an einem Beispiel erläutern. Bei diesem Beispiel handelt es sich um eine einfache Situation, die im Folgenden stellvertretend für die unzähligen Situationen des menschlichen Alltags stehen soll, in denen unterschiedliche Bedürfnisse, Ansichten, Vorstellungen oder Erwartungen aufeinandertreffen, die, anstatt im Dialog gelöst zu werden, zu einem Konflikt führen, über den am Ende mindestens einer der Beteiligten und nicht selten auch das ganze System ausbrennt.
Der Weg zum Burnout ist immer ein individueller, der damit verbundene Konflikt komplex. Deshalb kann es individuelle Abweichungen von der vereinfachten Darstellung geben. Wie diese aussehen können, darauf wird im Anschluss an das Beispiel ausführlich eingegangen. Zunächst sei jedoch erst einmal das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, ein grundsätzliches Verständnis dafür zu entwickeln, wie Burnout entstehen kann.
In meinem Beispiel handelt es sich um Herrn Meier und Frau Müller, die miteinander diskutieren, ob sie ins Kino gehen oder Eis essen sollen. Herr Meier (Position A) will ins Kino, Frau Müller (Position B) will Eis essen. Beiden ist die jeweils eigene Position sehr wichtig. Wenn Sie mögen, können Sie sich parallel zu diesem Beispiel ein eigenes vorstellen: eine Situation, in der Sie eine für Sie sehr wichtige, aber andere Vorstellung als Ihr Gegenüber hatten, über die ein Dialog nicht möglich war. Es kann eine Situation am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld sein, zum Beispiel mit Ihrem Chef oder Ihrem Kollegen, einem Freund oder Bekannten oder mit Ihrem Partner beziehungsweise Ihrer Partnerin. Nehmen Sie gerne auch eine andere für Sie bedeutsame Situation als Beispiel und lassen Sie uns dann zurück zu Herrn Meier und Frau Müller gehen.
Nachdem beide ihre jeweilige Position hervorgebracht haben und feststellen, dass ein Dialog nicht möglich ist, beginnen sie, die Situation zu bewerten und einzuschätzen:
Wie wichtig ist mir meine Position? Wie ernst ist der andere zu nehmen? Inwieweit kann ich ihn von dem, was ich will, überzeugen? Sobald beide für sich entschieden haben, die eigene Position nicht aufzugeben, und gleichzeitig erkennen, dass der andere ebenfalls weder offen noch bereit ist, seinen Standpunkt zu verlassen, beginnt die erste Phase – die sogenannte Alarmphase. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass kein offener Austausch mehr stattfindet, sondern eine gegenseitige Positionierung:
Kino! (Position A) versus Eis essen! (Position B).
Die Alarmphase wird folgendermaßen charakterisiert: Auf der Körperebene beginnt das Herz zu rasen, der Herzschlag wird zum Teil unregelmäßig, der Puls flach und schnell. Häufig sind inneres Zittern, eine flache Atmung bis hin zu Luftnot, Schwitzen, kalten, feuchten Händen sowie Harn- und Stuhldrang zu beobachten. Viele Betroffene beschreiben auch einen Kloß im Hals, verbunden damit, dass es ihnen die Sprache verschlägt.
Die Symptome in der Alarmphase sind die klassischen ersten Stresssymptome. Je nach Konstitution und individueller Wahrnehmung des Betroffenen können sie mehr oder weniger ausgeprägt auftreten. Auf der Ebene der Gedanken beginnt das fieberhafte Suchen nach Lösungsmöglichkeiten. Man stellt sich folgende Fragen: Was kann ich tun, um die Situation zu lösen? Wie kann ich die Bedrohung abwenden?